Stalking - das Praxishandbuch -  - E-Book

Stalking - das Praxishandbuch E-Book

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Beschreibung

Das Phänomen Stalking erregt große mediale Aufmerksamkeit und stellt neue Herausforderungen an Justiz, Psychiatrie und die gesamte psychosoziale Beratungslandschaft: Wie kann den betroffenen Personen durch unsere Gesellschaft und durch professionelle Helfer Schutz geboten werden? Wie können Menschen, die stalken, zum Aufhören gebracht werden, damit für beide Seiten wieder ein selbstbestimmtes Leben möglich wird? Erfahrene Juristen, Praktiker und Wissenschaftler kommen im Buch genauso zu Wort wie ratsuchende Opfer und Täter selbst. Die Vorstellung wirkungsorientierter Beratungsmodule macht ein bewährtes Vorgehen in der Arbeit mit Menschen, die gestalkt werden und mit Menschen, die stalken, anschaulich. Die beteiligten Berufsgruppen (Rechts- und Staatsanwälte, Polizisten, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter) können diese Module mit ihrer eigenen Expertise verknüpfen und in ihr Praxisfeld integrieren. Von Berufseinsteigern bis hin zu erfahrenen Profis - sie alle profitieren von einem ausführlichen Glossar, in dem Fachbegriffe handlungsbezogen erläutert werden sowie der Dokumentation wichtiger Gesetzestexte - inklusive des neuen Nachstellungsgesetzes §238 StGB!

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Wolf Ortiz Müller (Hrsg.)

Stalking – das Praxishandbuch

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030279-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030281-5

epub:    ISBN 978-3-17-030282-2

mobi:    ISBN 978-3-17-030283-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Danksagung – Das Ganze wäre nichts ohne die Summe seiner Teile!

Grußwort

Dirk Kurbjuweit

I Einführung

1 Das Buch stellt sich vor

Wolf Ortiz-Müller

2 Stalking verstehen Eine Annäherung an ein sozialpsychologisches Phänomen

Wolf Ortiz-Müller

3 Prävalenz, Demographie und Typologien des Stalkings

Olga Siepelmeyer und Wolf Ortiz-Müller

II Stalking, Recht und Strafverfolgung

4 Stalking 2.0 – Das Nachstellungsgesetz im Wandel

Helmut Fünfsinn und Ulf Frenkler

5 Parteilich vertreten

Stalkingverfahren aus der Sicht einer Rechtsanwältin von Betroffenen Christina Clemm

6 Die Gefährderansprache der Berliner Polizei

Thorsten Niemann

7 Stalking bei der Staats-/AmtsanwaltschaftErfahrungen mit dem § 238 StGB von 2007 am Beispiel der Staatsanwaltschaft Freiburg

Heidi Winterer

8 Stalking als Straftatbestand – Neue Tendenzen in den EU-Mitgliedstaaten

Suzan van der Aa Übersetzung aus dem Englischen: Roland Bachmann

III Stalking und Beratungspraxis

9 Hilfe, wo bist du?Ein unvollständiger Überblick eines unvollständigen Beratungsnetzwerks in Deutschland

Olga Siepelmeyer und Wolf Ortiz-Müller

10 Stop-Stalking: Erst die Täter*innen, dann die Opfer?Eine Skizze der Entstehungsgeschichte, der Grundgedanken und der Integration eines Beratungsangebots für Opfer und Täter*innen

Jochen Gladow und Wolf Ortiz-Müller

11 Psychosoziale Beratung von Menschen, die stalken, bei Stop-Stalking

Helene Hille, Olga Siepelmeyer, Jochen Gladow, Marcin Jankowski und Wolf Ortiz-Müller

12 Die Perspektive der Täter auf die Beratung

13 Die Beratung von Stalkingbetroffenen bei Stop-Stalking

Olga Siepelmeyer, Jochen Gladow, Helene Hille, Marcin Jankowski, Wolf Ortiz-Müller

14 Die Perspektive der Opfer auf die Beratung

15 Trennen, was nicht zusammengehört Integrierte Täter-Opfer-Beratung bei Stop-Stalking

Wolf Ortiz-Müller, Helene Hille, Jochen Gladow und Olga Siepelmeyer

16 Die Praxis des Bremer Kriseninterventionsteams Stalking (Stalking-KIT) und seine institutionelle Vernetzung

Frank Winter

17 Aus Betroffenheit zur Expertin-in-eigener-Sache werden Einschätzungen eines Stalkingopfers

Christine Doering auf Fragen von Stop-Stalking

IV Stalking – Facetten der Praxis

18 Bedrohungsmanagement in Fällen von Stalking Ein verhaltensorientierter Ansatz zur Risikoeinschätzung und zur Prävention von psychischer und physischer Gewalt

Jens Hoffmann und Katrin Streich

19 Risikoanalyse bei Stalking

Harald Dreßing

20 Stalking und Forensik

Steffen Lau

21 Behandlung straffällig gewordener Menschen Therapie zwischen Entwicklung, Kontrolle, Risikoeinschätzung und Ressourcenorientierung

Gernot Hahn

22 Vorgebliche Stalkingopfer

Guido Pliska und Marcin Jankowski

V Begleitforschung in der Täterarbeit

23 Hilfe für die Täter*innen Wie wirkt Beratung für Menschen, die stalken?

Johannes Lenk

24 Was sind die Gründe für Stalking? Eine Analyse der Klient*innen von Stop-Stalking Berlin hinsichtlich motivationaler und demografischer Merkmale im Gendervergleich

Silke C. Rabe

25 Stalking als Verhaltenssucht? Eine Online-Untersuchung zu Charakteristiken des Stalkingverhaltens und Merkmalen einer Verhaltenssucht bei Stalker*innen

Wolf Ortiz-Müller, Chantal Mörsen und Andreas Heinz

VI Anhang

26 Glossar juristischer und psychologischer Begriffe

27 Anhang: Sammlung einschlägiger Gesetze und Paragraphen

28 Autor*innen-Verzeichnis

 

Danksagung Das Ganze wäre nichts ohne die Summe seiner Teile!

 

 

Ein Herausgeberband hat viele Eltern und eine mittelgroße Verwandtschaft. Damit meine ich Menschen, die mir als Ideengeber*innen, Ratgeber*innen, Ermutiger*innen, praktische Unterstützer*innen, Anpacker*innen und Durchhalter*innen im langen Entstehungsprozess zur Seite standen.

Eine zentrale Rolle beim vorliegenden Band spielten selbstverständlich die Autor*innen, die bereit waren, ihr Wissen und ihre Expertise so einzubringen, dass sich diese, Mosaiksteinen gleich, zu einem gemeinsamen Bild gefügt haben. Für jeden einzelnen Beitrag möchte ich jeder Autor*in persönlich an dieser Stelle danken.

Auch wenn als alleiniger Herausgeber mein Name den Buchrücken schmückt, war das Werden all der Seiten, die nun zwischen den Buchdeckeln stecken, ein kollektiv-kommunikativer Prozess mit allen Mitarbeiter*innen von Stop-Stalking. Ich danke von Herzen Jochen Gladow, Helene Hille, Marcin Jankowski und Olga Siepelmeyer. Ungezählte Stunden gemeinsamer Diskussion mündeten schließlich in Beiträgen, für die jeweils einzelne die (Erst-)Autorenschaft übernehmen, und in denen doch das Herzblut aller steckt.

Damit sich Mosaiksteine zusammenfügen lassen, braucht es auch einen Kitt. Mein Dank gilt zwei hochengagierte Praktikantinnen: Stefanie Overmann hat ihr juristisches Fachwissen an vielen Stellen einbringen können. Caroline Pampus hat uns bei vielen Vorarbeiten und Hintergrundrecherchen eine Menge Arbeit abgenommen. Ich danke insbesondere unserem Büromitarbeiter Karl Scheithauer, der durch sein sprachkluges Lektorat vielen Beiträgen mit wertvollen Anregungen und Strukturierungsvorschlägen den Feinschliff verpasst hat. Dank gebührt auch Jan Sebens, der uns Autor*innen im Büro den Rücken freigehalten und uns nach besten Kräften unterstützt hat.

Der Beitrag von Suzan van der Aa über den Vergleich der Stalkinggesetzgebung in Europa wurde auf Englisch verfasst. Roland Bachmann hat die komplexen juristischen und länderspezifischen Sachverhalte hochdifferenziert und profund ins Deutsch übersetzt; Autorin wie Übersetzer gebührt ein großes Dankeschön!

Das Lektorat des Kohlhammer-Verlags hat mich von Anfang bis Ende unaufdringlich und dennoch sorgsam begleitet und in schwierigen Momenten unterstützt. Celestina Filbrandt bin ich für ihr aufmerksames und geduldiges Lektorat zu großem Dank verpflichtet.

Wenn ein Familienvater sich zusätzlich zum beruflichen Alltagsgeschäft als Herausgeber und Autor betätigen möchte, kommt die Familie zu kurz. Ich danke meiner Frau und meinen Töchtern für ihr Verständnis und die große Geduld, die sie mit mir hatten, wenn ich an vielen Abenden und Wochenenden ins Arbeitszimmer entschwand, von ganzem Herzen!

Alle geschriebenen und ungeschriebenen Beiträge machen das ganze Buch zu mehr als der Summe seiner Teile. Darüber können wir uns gemeinsam freuen!

Wolf Ortiz-Müller

 

Grußwort

Dirk Kurbjuweit

 

 

Ein Mann kommt in eine Kneipe und ruft: »Freibier für alle, ich habe gerade meine Frau erschossen.« Alle freuen sich, guter Witz. Dann stellt sich heraus, dass es kein Witz ist. Der Mann hat seine Frau tatsächlich erschossen. Die Polizei wird gerufen.

Ich habe diese Geschichte nach einer Lesung gehört, von dem Buchhändler. Er kannte die Frau, sie war Teilhaberin der Buchhandlung und wohnte gegenüber. Ihr Ex-Mann hat sie nach der Trennung gestalkt und bedroht. Niemand half ihr.

Seitdem ich den Roman »Angst« geschrieben habe, wurden mir viele solcher Geschichten erzählt. Dies ist die krasseste. Opfer von Stalking schreiben mir oder kommen zu meinen Lesungen. Sie fragen mich, ob ich ihnen helfen könne. Aber ich kann ihnen nicht helfen. Ich gebe ihnen die Adresse einer Hilfsorganisation, eine Adresse, die sie schon haben. Wieder ist für sie eine kleine Hoffnung geplatzt.

Menschen, die gestalkt werden, leiden vor allem unter der Hilflosigkeit. Ich weiß das, seitdem meine Familie gestalkt wurde, vor dreizehn Jahren. Wir waren auch hilflos, jedenfalls lange Zeit, bis dann doch Hilfe kam. Wir haben Glück gehabt. Diese Erlebnisse habe ich in dem Roman »Angst« verarbeitet, aber erst zehn Jahre später, nachdem die Wunden verheilt waren. Ich musste nichts mehr verarbeiten, es war nur noch ein interessanter Stoff, auch wenn das vielleicht ein bisschen zynisch klingt. Schriftsteller denken so. Ihr Leben wird zum Erzählstoff.

Weil ich Journalist und Schriftsteller bin, hatte ich viele Stalker. Sie lesen meine Geschichten, finden darin etwas, das sie in besonderer Weise anspricht und wollen mich kennenlernen. Sie schreiben mir, sie rufen mich an. Manchmal ist das harmlos, ein kurzer Versuch, manchmal wird es zum Stalking. Sie rufen täglich an, sie rufen zwölfmal am Tag an, sie reden mir stundenlang auf die Mobilbox, sie warten an der Tür meines Büros, sie schreiben lange, lange Briefe, die Seiten ohne Rand, ohne Abstand zwischen den Zeilen, kleine Buchstaben. Das sind ausnahmslos Frauen.

Es ist nie etwas Schlimmes passiert. Es hat genervt, und nun ist es schon eine Weile her, dass es zuletzt geschah. Ich würde mich in diesen Fällen nicht ein Stalkingopfer nennen. Meine Kollegen erzählen ähnliche Geschichten, es gehört wohl zum Beruf.

Aber einmal war es anders, da war es ein Mann.

Die Kinder waren klein, wir kauften uns im Berliner Südwesten eine Wohnung mit Garten. Ein hübsches Haus, früher ein Einfamilienhaus, jetzt in vier Wohnungen unterteilt, vom Souterrain bis zum Dachgeschoss. Wir kauften die Wohnung im Hochparterre. Vorher trafen wir die anderen Bewohner, und da war auch ein Mann aus dem Souterrain, ein alter Mann. Nette Leute. Wir erwarteten eine gute Nachbarschaft. Was wir nicht erfuhren: Im Souterrain lebte auch ein jüngerer Mann.

Als ich ihn, nach dem Einzug, zum ersten Mal sah, war ich schockiert. Er sah irgendwie seltsam aus, klein, dick, aber das war es nicht. Da war etwas Gehetztes, Unruhiges in seinem Blick. Ich schämte mich ein bisschen für diesen Gedanken. Man soll doch Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen.

Bald lag Kuchen auf unserer Fußmatte, selbst gebacken. Ein Zettel: auf gute Nachbarschaft. So hat es begonnen.

Er backte Kekse. Er backte Kuchen. Er backte Pizza. Dann wieder Kekse. Kuchen. Pizza. Wir redeten mit ihm. Das sei doch nicht nötig, wir waren nett, verständnisvoll. Wenn meine damalige Frau Bettina vom Einkaufen zurückkehrte, drückte er den Summer für die Gartenpforte, damit sie bequem hereinkam. Er hatte die ganze Zeit gewartet. Zu Sylvester stieg er aus seinem Souterrain und schoss mit einer scharfen Pistole in die Luft. Er hatte eine Pistole, das wusste ich nun.

Er machte unverschämte Anspielungen gegenüber Bettina, er wurde frech. Wir redeten mit ihm, bestimmt, scharf. Er zog sich zurück. Wir dachten, dass wir es geschafft hätten.

Nach ein paar Monaten musste ich verreisen. In einer der Nächte, als Bettina allein mit den beiden Kindern zu Hause war, versuchte er, in unsere Wohnung einzudringen. Sie rief die Polizei, er wurde ermahnt. Ich flog am nächsten Tag zurück. Im Gebüsch unter unserem Schlafzimmer fand ich eine Leiter.

Von da an schrieb er Briefe. Er schrieb, dass er uns die ganze Zeit beobachtet habe, weil wir unsere Kinder sexuell missbrauchen würden. Er würde Anzeige erstatten. Ich will nicht noch einmal die ganze Geschichte erzählen. Es war die Hölle. Wir haben alles versucht, ihn loszuwerden, mit einer Anwältin, über die Polizei, Ämter, seinen Vermieter. Wir hatten Angst um die Kinder, ich hatte Angst um Bettina, wir wollten ausziehen, aber wir waren auch trotzig. Wir hatten ihm nichts getan, seine Anschuldigungen waren der reine Blödsinn, und wir wollten nicht vor dem Unrecht weichen. Wenn er bis Weihnachten nicht verschwunden ist, sagten wir, ziehen wir aus, verkaufen mit Verlust. Raus aus der Hölle. Es waren noch fünf Monate bis Weihnachten.

Ich hatte Mordphantasien. Freunde empfahlen mir tschetschenische Türsteher und deutsche Rocker. Die würden das Problem schon lösen. Man ist da plötzlich in einer anderen Welt. Der Firniss der Zivilisation ist wahrlich dünn. Aber wir waren im Recht und wollten uns nicht ins Unrecht setzen.

Dann kam Hilfe. Wir hatten die ganze Zeit Kontakt zu einer Kriminalpsychologin. Wir brachten ihr die Briefe, wir erzählten von unserem Leid, unseren inneren Kämpfen. Sie sagte, dass sie uns nicht helfen könne, solange der Stalker nicht gegen Gesetze verstoße. Das tat er nicht, er war schlau. Wenn er aber freiwillig käme, sagte sie, könne sie etwas tun.

Eines Tages, als er wieder infame Anschuldigungen ausgesprochen hatte, rannte ich ins Souterrain und schrie ihm durch die Tür einige unfreundliche Sätze zu. Aber auch diese Worte: Sie sind krank, Sie müssen sich helfen lassen.

Am nächsten Tag rief er mich an. Er hatte meine Handynummer von den frühen, den freundlichen Tagen. Er hatte immer dunkle und helle Phasen. Den einen Tag hängte er einen Zettel in den Hausflur, auf dem er beschrieb, was wir vor einer Stunde angeblich mit unseren Kindern gemacht hätten. Am nächsten Tag hing dort ein Zettel, auf dem stand, dass er das alles nur erfunden habe, dass es ihm leid täte und er nie wieder einen solchen Scheiß behaupten würde. Am folgenden Tag ...

Offenkundig hatte er wieder eine helle Phase. Er sagte, er habe über meinen Satz nachgedacht, dass er krank sei und Hilfe brauche. Er habe manchmal auch diesen Eindruck. Ob ich ihm helfen könne? Ich musste fast lachen. Ich kann Ihnen nicht helfen, sagte ich, aber ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann. Ich gab ihm die Nummer der Kriminalpsychologin. Zwei Tage später sah ich ihn mit einem Köfferchen durch die Gartenpforte gehen. Er kam nicht mehr wieder.

Die Kriminalpsychologin durfte uns nicht sagen, wo er war. Aber sie sagte, dass er dort nicht weg könne, wir müssten uns keine Sorgen machen. Nach einem halben Jahr kam ein Brief, in dem er sich für alles entschuldigte, für die üblen Behauptungen, die Nachstellungen. Wir haben natürlich nicht geantwortet. Nach zwei Jahren erfuhren wir, dass er gestorben war, Herzinfarkt.

Für mich ist diese Geschichte heute fast mehr Literatur als Leben. Ich habe das Buch geschrieben, in dem Randolph Tiefenthaler die Dinge so ähnlich erlebt, wie ich sie erlebt habe und doch anders. Es gibt ein Theaterstück, ein Hörspiel, bald gibt es einen Film. Wir haben das gut überstanden, er spielt keine Rolle für uns. Manchmal mache ich mit den Kindern einen Witz über Herrn Tiberius. Das ist sein Name im Roman, nicht sein echter.

Wenn ich das vergleiche mit den Geschichten, die ich inzwischen gehört und gelesen habe, hatten wir Glück. Wir wurden unseren Stalker nach relativ kurzer Zeit los, andere müssen Jahre damit leben.

Bei den Lesungen, wie gesagt, habe ich viel schlimmere Geschichten gehört. Nachdem ich gelesen habe, kann das Publikum Fragen stellen, und manchmal stand jemand auf und erzählte seine Geschichte. Die anderen Leute waren bald genervt, weil sie zu einer Lesung gekommen waren und über Literatur reden wollten. Mir taten diese Stalkingopfer unendlich leid. Sie wollten, dass ihnen jemand zuhört.

Ich bin kein Experte für diese Sache. Ich kann nur meine Geschichte erzählen. Manchmal regen sich Leute auf, weil Tiefenthaler so passiv war, weil er den Tiberius nicht einfach zusammengeschlagen hat. Oder sie fordern scharfe Gesetze. Ich sage dann, dass ich das schwierig finde. Stalking entsteht oft aus Liebeskummer und Einsamkeit, und in diesen Zuständen macht man schon mal dumme Sachen. Es ist schwer, eine Grenze zu ziehen, ab wann das Gesetz seine Krallen zeigt, aber es muss Krallen haben, falls sich die dummen Sachen zur Hölle addieren und zu Verbrechen werden.

Ich kann nicht beurteilen, ob das neue Anti-Stalking-Gesetz die Lage der Opfer verbessert. Ich hoffe es sehr. Damals gab es kein Gesetz, das uns helfen konnte, und es wäre ein großer Fortschritt, wenn es das jetzt gäbe. Man muss wohl abwarten, wie die Erfahrungen sein werden. Mir ist klar, dass ein Mensch, der gestalkt wird, in der Hölle lebt, dass ein Stalker eine Existenz vernichten kann, seelisch und materiell. Es wäre wunderbar, könnte dieses Buch dazu beitragen, dass diesen Menschen geholfen wird.

 

 

 

I           Einführung

 

1          Das Buch stellt sich vor

Wolf Ortiz-Müller

 

 

Ein Buch findet bei manchen Leser*innen Interesse wegen des Klappentextes, für andere braucht es das eingehende Studium des Inhaltsverzeichnisses – viele lassen sich erst dadurch gewinnen, dass die Überlegungen des Herausgebers transparent gemacht werden, die ihn bei der Zusammenstellung der Beiträge geleitet haben.

Wenn ein Praxishandbuch seinem Namen gerecht werden möchte, muss es so aufgebaut sein, dass alle Leser*innen sich leicht orientieren können. Nicht alle möchten die Artikel nacheinander lesen, sondern ihre eigenen Interessensschwerpunkte rasch nachschlagen. Zudem möchte man vielleicht inhaltliche Fragestellungen, zu denen sich mehrere Autor*innen äußern, miteinander vergleichen können.

Daher haben wir uns bemüht, dass die Leser*innen in allen Kapiteln eine möglichst einheitliche Struktur wiederfinden: Jedem Kapitel ist eine Binnengliederung vorangestellt, der sich eine Zusammenfassung in einem grau unterlegten Kasten anschließt, auf den die Einleitung in die Thematik des Beitrags folgt. Im Theorieteil erfolgt die wissenschaftliche Einordnung des Themas und seine Hintergründe werden erhellt. Im Praxisteil wird die Umsetzung dieser Thematik in der praktischen Anwendung beschrieben und anhand eines oder mehrerer Fallbeispiele illustriert. Darauf folgt die Sicht einer jeden Autor*in auf den Veränderungsbedarf beziehungsweise die Kritik am aktuellen Stand, um mit Lösungs- und Verbesserungsvorschlägen sowie einem Fazit abzuschließen.

Ein Grußwort von Dirk Kurbjuweit, des Chefredakteurs des SPIEGEL, in einem Fachbuch erscheint ungewöhnlich; geschuldet ist es seiner Erfahrung als Betroffener von Stalking, die er im Roman »Angst« verarbeitet hat. Tatsächlich war eine Talkshow von Reinhold Beckmann zum Thema Stalking – wehrlos gegen Psychoterror? im Jahr 2012, in der Dirk Kurbjuweit, Jens Hoffmann als Stalkingexperte, die Strafrechtsprofessorin Regina Harzer und ich – Wolf Ortiz-Müller – zu Gast waren, gewissermaßen die Geburtsstunde meiner Idee, in einem Buch das Expertenwissen über Stalking und die Überlegungen aus Strafrecht, Strafverfolgung, Psychologie, Psychiatrie und Sozialarbeit zu vereinen.

Im nun vorliegenden Werk sind fünf inhaltliche Schwerpunkte mit jeweils mehreren Einzelbeiträgen unterschiedlicher Autor*innen gesetzt. Hinzu kommen ein Glossar und ein Anhang mit einschlägigen Gesetzestexten.

I                 Einführung

Im ersten Teil bieten wir einen Überblick über das Phänomen Stalking, so dass auch Leser*innen, die bisher nicht weit in die Materie eingedrungen sind, ihr Wissensinteresse mit den nachfolgenden speziellen Aspekten und Sichtweisen vertiefen können.

Kapitel 2

Ortiz-Müller nähert sich der Thematik in Stalking verstehen aus einer sozialpsychologischen, einer kulturhistorischen und kriminologischen Perspektive und bietet einen Überblick über relevante Entwicklungen und Erkenntnisse zu Stalking.

Kapitel 3

Siepelmeyer und Ortiz-Müller stellen in Prävalenz, Demographie und Typologien des Stalkings den aktuellen Forschungsstand über die Verbreitung von Stalking dar. Sie befassen sich mit der Vergleichbarkeit der Studien je nach der zugrundeliegenden Definition und stellen die wichtigsten Klassifizierungen von Stalker*innen dar.

II                Stalking, Recht und Strafverfolgung

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Stalking aus der Perspektive des Rechts, der Gesetzgebung und der Strafverfolgung.

Kapitel 4

Fünfsinn und Frenkler fassen in Stalking 2.0 – das Nachstellungsgesetz im Wandel den aktuellen Stand der Gesetzgebung zusammen. Das Kapitel geht den Fragen nach: Wie kam es 2007 zum § 238 StGB und welche Erfahrungen wurden damit gesammelt, so dass der Bundestag eine Novellierung verabschiedete? Wie unterscheidet sich ein Erfolgsdelikt von einem Eignungsdelikt und welche Auswirkungen kann das auf den Opferschutz und die Verfolgung der Straftäter*innen haben?

Nach dieser Einführung beschreiben die folgenden drei Kapitel die Aufgaben und das Vorgehen von Rechtsanwält*innen, Polizei und Staatsanwaltschaft im Verlauf eines zur Anzeige gebrachten Stalkingfalls.

Kapitel 5

Clemm zeichnet in Parteilich vertreten aus Sicht einer Opferanwältin anhand eines Fallbeispiels die zahlreichen Varianten nach, die im strafrechtlichen wie im zivilrechtlichen Vorgehen nach dem Gewaltschutzgesetz berücksichtigt werden müssen, um ein Opfer angemessen zu schützen.

Kapitel 6

Niemann beleuchtet in Die Gefährderansprache der Berliner Polizei einen Aspekt der polizeilichen Arbeit, der jenseits der klassischen Ermittlungstätigkeit liegt. Aus der Praxis eines Verhaltenstrainers der Berliner Polizei stellt er ein Instrument vor, dem bei Stalking eine besondere Bedeutung zukommt. Er skizziert die der Gefährderansprache zugrundeliegenden Ideen und ihre Rechtsstellung.

Kapitel 7

Winterer schildert in Stalking bei der Staats-/Amtsanwaltschaft, wie die Staatsanwaltschaft mit Stalkingfällen verfährt. An Fallbeispielen wird diskutiert, welche anderen Straftatbestände von den Stalkingverhaltensweisen berührt sein können und wie diesbezüglich vorgegangen werden kann. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Verurteilung werden ebenso erklärt, wie die Verfahrensweisen bei Einstellung des Verfahrens mit und ohne Auflage. Die Schwachstellen in der Anwendung des § 238 StGB von 2007 werden anhand der Erfahrungen einer Staatsanwältin aufgezeigt.

Kapitel 8

Van der Aa nimmt in Stalking als Straftatbestand – Neue Tendenzen in den EU-Mitgliedstaaten die europäische Perspektive ein: Im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt von 2013 wird erstmals Stalking als Verhalten benannt, für dessen Verfolgung die Mitgliedsstaaten gesetzliche Grundlagen schaffen sollen. Die Zusammenstellung der Gesetze von EU-Staaten in diesem Beitrag ermöglicht für den deutschsprachigen Raum einen Vergleich des gesetzgeberischen Vorgehens hinsichtlich der Rechtstraditionen und Entstehungsgeschichten. Die Autorin zeigt aktuelle Tendenzen auf, die einen Input für die juristische Fachdiskussion liefern. Der englischsprachige Anhang mit tabellarischem Vergleich bietet eine Grundlage für vertiefende Diskussionen.

III               Stalking und Beratungspraxis

Der dritte Teil des Buchs widmet sich der Beratungspraxis, die bei Stop-Stalking und in anderen Einrichtungen entwickelt wurde.

Kapitel 9

Siepelmeyer und Ortiz-Müller nehmen in Hilfe, wo bist du? die Angebotslücken ins Visier und fassen die Ergebnisse einer Bestandsaufnahme der Stalkingberatungen in Deutschland zusammen. Sie beschreiben überblicksweise die beteiligten Institutionen in den jeweiligen Bundesländern und präsentieren die Selbstauskünfte der korrespondierenden Einrichtungen über ihr Angebot und Arbeitsverständnis.

Kapitel 10

Gladow und Ortiz-Müller skizzieren in Stop-Stalking: Erst die Täter*innen, dann die Opfer? die Idee, die Entstehungsgeschichte und die Rahmenbedingungen der Beratungsstelle. Sie beschreiben, wie das Angebot von Täter*innen auf die Opfer erweitert wurde, wie die Menschen zu Stop-Stalking finden und was sie dort vorfinden.

Kapitel 11

Hille, Siepelmeyer, Gladow, Jankowski und Ortiz-Müller befassen sich in Psychosoziale Beratung von Menschen, die stalken, mit den Grundlagen, die beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Arbeit mit Täter*innen zu berücksichtigen sind. Den praktischen Erfahrungshintergrund dieser Konzeption bildet die Beratung der Stalker*innen bei Stop-Stalking. Die Gliederung des Vorgehens in Modulen erleichtert die Übertragbarkeit und die Anpassung auf andere Kontexte.

Kapitel 12

Drei Klienten von Stop-Stalking kommen in Die Perspektive der Täter auf die Beratung zu Wort. Nach Abschluss der Gesprächsreihen schildern sie ihre Erfahrungen mit der für sie ungewohnten Beratungssituation und was diese in ihnen verändert hat.

Kapitel 13

Siepelmeyer, Gladow, Hille, Jankowski und Ortiz-Müller widmen sich in Die Beratung von Stalkingbetroffenen der Arbeit mit den Opfern. Hier werden vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Viktimisierungsforschung mit ihren praktischen Erfahrungen im Beratungssetting der Einrichtung verknüpft. Anhand von Fallbeispielen wird anschaulich, wie Schutzmaßnahmen entwickelt und wie die innere Verunsicherung der Betroffenen in Folge des Stalkings überwunden werden können.

Kapitel 14

Drei Betroffene reflektieren in Die Perspektive der Opfer auf die Beratung über die Veränderungen, die sie sich im Beratungsprozess erarbeitet haben.

Kapitel 15

Ortiz-Müller, Hille, Gladow und Siepelmeyer stellen in Trennen, was nicht zusammengehört das Konzept einer integrierten Täter-Opfer-Beratung vor. Es sieht vor, innerhalb einer Einrichtung – jedoch strikt getrennt – beide Seiten in Einzelgesprächen zu beraten. Der Beitrag diskutiert, wofür ein solches Vorgehen nützlich und inwiefern es der Beratung nur der Opfer oder nur der Täter*innen überlegen ist. Anhand eines Fallbeispiels schildert er die Anforderungen, die sich Berater*innen stellen, wenn konträre Sichtweisen von Opfern und Täter*innen so durchdrungen werden sollen, dass beide Seiten von einer Beendigung des Stalkings profitieren.

Kapitel 16

Winter skizziert in Die Praxis des Bremer Kriseninterventionsteams Stalking (Stalking-KIT) und seine institutionelle Vernetzung ein präzise abgestimmtes Herangehen, wie es durch die enge Verzahnung mit den Strafverfolgungsbehörden möglich wurde. Opfer wie Täter*innen werden zeitnah proaktiv kontaktiert. Sein Fallbeispiel macht das tiefenpsychologische Verständnis des Stalkinggeschehens mit allen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen, denen beide Seiten ausgesetzt sein können, anschaulich.

Kapitel 17

Doering weitet in Aus Betroffenheit zur Expertin-in-eigener-Sache werden den Blick, indem sie deutlich macht deutlich, dass Beratung nicht nur von professionellen Helfer*innen geleistet wird, sondern dass auch Ansätze zur Selbsthilfe engagierter Betroffener Bestandteil eines entstehenden Netzwerks sind.

IV              Stalking – Facetten der Praxis

Der vierte Teil des Buchs behandelt wesentliche Fragen des Umgangs mit Stalking, die in jedem Fall mitreflektiert werden müssen. Die fünf Kapitel beschäftigen sich mit den Konsequenzen, die aus Stalking resultieren können.

Kapitel 18

Hoffmann und Streich stellen in Bedrohungsmanagement in Fällen von Stalking als eine Fachdisziplin vor, in der gemäß des Mottos »Erkennen, Einschätzen, Entschärfen« eine verhaltensorientierte Risikoanalyse eng verzahnt mit einem Fallmanagement durchgeführt wird. Sie beschreiben als Ziel, dass es zu keiner Gewalteskalation kommt und stellen das fachübergreifende Vorgehen des Bedrohungsmanagements anhand von zwei Falldarstellungen vor.

Kapitel 19

Dreßing macht in Risikoanalyse bei Stalking deutlich, dass jeder Stalkingfall das Risiko einer gewaltsamen Eskalation bis hin zur Tötung des Stalkingopfers in sich birgt, so dass eine Risikoeinschätzung essentiell ist. Er stellt die Anwendungsmöglichkeiten des ins Deutsche übersetzten Stalking Risk Profile vor, das im angelsächsischen Sprachraum große Verbreitung gefunden hat.

Kapitel 20

Lau fragt in Stalking und Forensik nach der Schuldfähigkeit von Stalker*innen. Wann und aufgrund welcher psychiatrischen Störungen ist diese eingeschränkt? Wann bietet der Maßregelvollzug den nötigen Schutzraum für die stalkende Person und den betroffenen Menschen, der vor ihr geschützt werden muss?

Kapitel 21

Hahn setzt sich in Behandlung straffällig gewordener Menschen mit der Frage auseinander, wie Menschen in forensischen Psychiatrien behandelt werden können und beschreibt, wie Therapie und Kontrolle ineinander greifen. Auch unter Zwangsbedingungen kann eine Orientierung stärker an den Ressourcen der Behandelten als an ihren Defiziten positive Auswirkungen auf ihre Kriminalprognose haben.

Kapitel 22

Pliska und Jankowski beschäftigen sich in Vorgebliche Stalkingopfer mit jenen Menschen, die sich häufig bei der Polizei und bei Opferberatungsstellen melden, jedoch keine wirklichen Stalkingopfer sind. Sie skizzieren unterschiedliche Hintergründe für ihre Selbstbeschreibung als Opfer und untersuchen insbesondere die Problematik der Menschen mit einer Wahnvorstellung, von einer oder mehreren Personen gestalkt zu werden. Wie lassen sich vorgebliche Opfer erkennen? Wo finden sie eine angemessene Behandlung?

V               Begleitforschung in der Täterarbeit

Im fünften Teil des Buchs werden wissenschaftliche Arbeiten vorgestellt, die als Begleitforschung der Täterarbeit bei Stop-Stalking entstanden sind.

Kapitel 23

Lenk widmet sich in Hilfe für die Täter*innen den Wirkfaktoren der Beratung von Täter*innen, die inhaltsanalytisch aus Interviews mit ratsuchenden Stalker*innen und ihren Berater*innen gewonnen wurden. In Anlehnung an die Psychotherapieforschung von Grawe stellt das Kapitel eine Matrix vor, welche Faktoren berücksichtigt werden sollten, damit das Stalkingverhalten erfolgreich aufgearbeitet werden kann.

Kapitel 24

Rabe geht in Was sind die Gründe für Stalking? Eine Analyse der Klient*innen von Stop-Stalking Berlin hinsichtlich motivationaler und demografischer Merkmale im Gendervergleich der Frage nach, wie Männer und wie Frauen stalken. Die Auswertung der über fünf Jahre erhobenen Daten der Täterarbeit liefert Erkenntnisse über die Entwicklung ihres Stalkings und über geschlechtsspezifische Unterschiede.

Kapitel 25

Ortiz-Müller, Mörsen und Heinz beschreiben in Stalking als Verhaltenssucht? eine Studie über die Frage, ob bei einer Untergruppe von Stalker*innen die Kriterien einer Verhaltenssucht erfüllt sind. Den Teilnehmer*innen einer Onlineerhebung wurde ein Fragebogen vorgelegt, in dem Merkmale spielsüchtigen Verhaltens auf ihr subjektives Erleben beim Stalking übertragen wurden.

VI               Anhang

26              Glossar

In den einzelnen Artikeln tauchen viele Fachausdrücke aus der juristischen und psychologischen Sprache auf. Diejenigen Begriffe, die wir erklärungswürdig finden, haben wir im laufenden Text mit der Markierung G versehen. Sie finden sich alphabetisch in einem Glossar am Ende des Buchs wieder.

27              Sammlung einschlägiger Gesetze und Paragraphen

Die Festlegung, ab wann Stalking ein Straftatbestand ist, regelt der § 238 des Strafgesetzbuchs. Dieses Nachstellungsgesetz wie auch andere relevante Gesetze und Paragraphen aus dem Strafrecht, dem Zivilrecht, aus der Strafprozessordnung lassen sich hier nachschlagen.

28              Autor*innen-Verzeichnis

Alle beteiligten Autor*innen stellen sich mit ihrem beruflichen Profil vor.

 

2          Stalking verstehenEine Annäherung an ein sozialpsychologisches Phänomen

Wolf Ortiz-Müller

2.1 Zielsetzung und Position des Buches2.2 Stalking als sozialpsychologisches Phänomen2.2.1 Bindungs- und Trennungskompetenz2.2.2 Privatsphäre, Gender und der Diskurs über SelbstbestimmungGender in der Sprache2.3 Definitionen von Stalking2.3.1 Mad or bad?2.4 Trennungsunschärfen bei Trennungsversuchen2.4.1 Die Rolle der sozialen Medien2.4.2 Cyberstalking2.4.3 Abgrenzung von Mobbing und Stalking2.4.4 Schwelle zum Stalking2.5 Die Konsequenzen der Gesellschaft2.5.1 Parteiliche Beratung vs. Opferbeschuldigung – » Victim blaming«2.5.2 Gesetzgebungsproblematik - das Private ist juristisch2.5.3 Stalking verstehen2.6 Literatur

 

 

Zusammenfassung:

Stalking wird als ein sozialpsychologisches Phänomen in seiner Entstehungsgeschichte skizziert. Die Suche nach Erklärungen, warum Stalking heute ein relevantes gesellschaftliches Thema ist, reicht von antiken Mythen über die Entwicklung moderner Medien und Kommunikationsformen bis hin zu den Veränderungen der Privatsphäre im Zeitalter der Digitalisierung. An der Sanktionierung von Stalking, als Teil der Stärkung des Rechts auf Selbstbestimmung, hat die Frauenbewegung einen relevanten Anteil. Der Begriff Stalking wird definiert und gegen Mobbing, Cyberstalking und ambivalentes Verhalten nach Trennungen abgegrenzt. Was als Stalking gilt, hat Auswirkungen darauf, mit welchem Ansatz Betroffene und Täter*innen beraten werden. Die Problematik der Strafgesetzgebung wird umrissen. Der Begriff des Stalkings »als Problemverhalten«, das einen verstehenden Zugang zu Stalking erlaubt, wird der Zuordnung zu »kriminell« oder »krankhaft« gegenübergestellt. Die Zielsetzung des Buchs ist es, professionellen Helfer*innen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern einen praxisbezogenen Wegweiser für den eigenen beruflichen Umgang mit Stalking zur Hand zu geben.

 

2.1       Zielsetzung und Position des Buches

Das vorliegende Praxishandbuch Stalking möchte ein weites Spektrum interessierter Leser*innen ansprechen. Denn Stalking taucht in vielen beruflichen Kontexten auf, in denen Strafverfolgung und psychiatrische Beurteilung nur Eckpunkte in einem mehrschichtigen Geflecht markieren.

Jenseits der spezialisierten Einrichtungen wie Haftanstalten, forensischen Psychiatrien oder Allgemeinpsychiatrien werden die meisten Leser*innen dort auf Stalkingproblematiken treffen, wo sie empirisch am häufigsten zu finden sind: In der Mitte der Gesellschaft, im Alltag, im Bekanntenkreis. Stalking begegnet ihnen in beruflichen Kontexten, die mit Beratung und Therapie, mit Trennungen und mit elterlichen Auseinandersetzungen z. B. im Kontext von Sorgerecht und Kindeswohl zu tun haben.

Mit dem vorliegenden Praxishandbuch möchten wir einen Schritt weitergehen: Die Herausgabe dieses Buchs ist von der Idee geleitet, möglichst umfassend und dennoch überschaubar alle relevanten Aspekte von Stalking gut gegliedert darzustellen und einem breiten Leserkreis in verständlicher Sprache zu erschließen. Egal, in welchem Tätigkeitsbereich sich ein Berührungspunkt mit Stalking ergibt, sollen die Bezüge in benachbarte Berufsgruppen rasch erkennbar werden. Über die eigenen Rahmenbedingungen und die Aufgabenstellungen der jeweils anderen Beteiligten Bescheid zu wissen, macht es erst möglich, den von Stalking Betroffenen zielgerichtet und effektiv Hilfe zu leisten.

Ein Praxishandbuch, das die Positionen vieler namhafter Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zwischen zwei Buchdeckeln vereint, lebt auch von der fachlichen Diskussion der beteiligten Autor*innen. Gemeinsam möchten wir alle dazu beitragen, dass das von Stalking verursachte Leid verringert wird. Jedoch unterscheiden wir uns an bestimmten Punkten in der Überzeugung hinsichtlich des besten Wegs. Da mag es unterschiedliche Schwerpunktsetzungen zwischen den Berufsfeldern der Jurist*innen und Psycholog*innen geben, aber auch innerhalb eines Handlungsfeldes ringen wir um das beste Vorgehen. Die Vertiefung unseres Handlungswissens auf dem Weg der Auseinandersetzung kann ein fruchtbarer Prozess sein, den wir mit dem vorliegenden Werk gerne mitgestalten möchten.

 

2.2       Stalking als sozialpsychologisches Phänomen

2017, im Erscheinungsjahr dieses Buches ist das Nachstellungsgesetz, der § 238 StGB seit zehn Jahre in Kraft. Bereits 2007 erkannte also der Gesetzgeber einen Regelungsbedarf –

Abb. 1: Stalking im Netzwerk beteiligter Akteure und Diskurse

mehr noch: die Notwendigkeit einer Strafsanktionierung – für ein Bündel zwischenmenschlicher Verhaltensweisen, die als Nachstellung tituliert wurden, um den Anglizismus Stalking zu vermeiden. Weitere zehn Jahre früher, im Jahre 1997, hätte kaum jemand den deutschen oder den englischen Begriff mit Inhalt zu füllen gewusst.

Dennoch sind die dem Stalking zugrundeliegenden zwischenmenschlichen Befindlichkeiten ins Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben und beschäftigten bereits in der Antike als Mythos die Dichter.

 

Der Mythos von Apollon und Daphne

In seinen Metamorphosen erzählt der römische Dichter Ovid vor 2000 Jahren von der ersten Liebe des Sonnengottes Apollon.

Dieser hatte den kindlichen Gott Amor (griechisch: Eros) hochmütig verspottet, er würde es nie schaffen, Liebesgefühle in Apoll zu wecken. Augenblicklich holte der in seinem Stolz verletzte Amor einen seiner gefürchteten goldenen Pfeile aus seinem Köcher und schoss ihn auf Apoll ab. Ohne die Chance auf Rettung entbrannte Apoll daraufhin in heftiger Liebe zur Nymphe Daphne. Damit nicht genug, schoss Amor einen zweiten Pfeil auf Daphne ab, jedoch nicht aus Gold, sondern aus Blei, der bei ihr statt Liebe Abwehr und sogar Hass erweckte. Voller Angst entzog sich Daphne den werbenden Worten des Apoll. Je heftiger er sie begehrte, desto verzweifelter wurde Daphne und floh »schneller als der leichte Lufthauch und bleibt nicht stehen auf die Worte hin, die er ihr nachruft: (...) weh’ mir, dass die Liebe durch keine Kräuter heilbar ist (...)«.

Ihre Flucht machte Apoll nur noch rasender in seiner Liebesglut und er begann, sie zu jagen. Daphne lief immer schneller, bis sie erschöpft und verzweifelt ihren Vater Peneios bat, sie zu verwandeln. »Vernichte durch Verwandlung die Gestalt, durch die ich allzu großen Gefallen erregt habe!«

Und prompt wuchsen die Haare zu Laub, die Arme zu Ästen; der Fuß verwuchs zu zähen Wurzeln, was von Daphne blieb, war ein Lorbeerbaum. Um seine Geliebte nun immer bei sich zu haben, erklärte Apollon den Lorbeerbaum zu seinem Heiligtum und trug ihn als Kranz immer bei sich.

Was hat es nun im späten 20. Jahrhundert nötig gemacht für Verhaltensweisen, die man früher schlicht Zudringlichkeit, Belästigung und Verfolgung nannte, ein soziales Konstrukt »Stalking« einzuführen?

Hierzu ist es hilfreich, den Fokus zunächst zu weiten und den Blick auf gesellschaftliche Veränderungen im Geschlechterverhältnis zu werfen, die sich im Vorfeld des Nachstellungsgesetzes vollzogen. Ein Ausgangspunkt kann im Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen verortet werden. Die Frauenbewegung gewann seit den 1970er Jahren an gesellschaftlichem und diskursivem Einfluss. Sie stellte zuvor nicht hinterfragte patriarchale Selbstverständlichkeiten zur Diskussion und stieß tiefgreifende Wandlungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und im Verhalten von Männern und Frauen an. Dies schlug sich unter anderem in einer Reihe von Gesetzesänderungen (zum Beispiel die Streichung des Schuldprinzips zugunsten des Zerrüttungsprinzips in der 1. Eherechtsreform von 1977, die Ausdehnung des Straftatbestands Vergewaltigung nach § 177 StGB auf sexuelle Nötigung innerhalb der Ehe von 1997) nieder und wirkt sich bis heute weiter aus. Die Unterordnung der Frau unter den Haushaltsvorstand Mann, die Anforderung, eheliche Pflichten zu erfüllen, oder die schuldhafte Scheidung erscheinen heute zum Glück als Relikte eines vergangenen Jahrhunderts.

Als ein aktueller Meilenstein mit unmittelbarem Bezug zum 2007 in Kraft getretenen Nachstellungsgesetz, dem § 238 des Strafgesetzbuchs, gilt das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz von 2002 durch die Ausweitung der Schutzrechte gewaltbetroffener Menschen.

Viele Sozialwissenschaftler*innen konstatieren, dass die Veränderung der Sexualmoral in der Folge der 1968er-Bewegung das Eingehen und Auflösen von Liebesbeziehungen leichter machte und den Zwang verminderte, nur um legitimierten Sex zu haben und eine gemeinsame Wohnung beziehen zu können, eine Ehe zu schließen. Soziolog*innen sprechen demzufolge vom gegenwärtigen Zeitalter der seriellen Monogamie (Haviland et al., 2013), um zum Ausdruck zu bringen, dass es zur Biographie eines durchschnittlichen erwachsenen Menschen gehört, bis ins höhere Lebensalter immer wieder längere oder kürzere Liebesbeziehungen einzugehen. Die Erfüllung des Eheversprechens »bis dass der Tod Euch scheidet« gilt heute angesichts der seit Jahrzehnten kontinuierlich steigenden Scheidungsraten fast schon als Besonderheit. Parallel hierzu spielt die Bindung an Religion, wie überhaupt an rigide Moralvorstellungen in der Privatsphäre und den Liebesbeziehungen eine immer geringere gesellschaftliche Rolle. Jegliche Art der Kontaktaufnahme und -gestaltung zwischen zwei Personen wird frei verhandelbar; als erlaubt wird angesehen, worauf sich die Partner*innen gemeinsam verständigen können. Es ist möglich, sexuelle Begegnungen zu teilen, ohne dafür eine dauerhafte Beziehung einzugehen oder in der Folge Ausschließlichkeit beanspruchen zu können. Ein unübersehbarer Markt von Internetforen, Partnerbörsen, Plattformen für (abweichende) Sexualpräferenzen, Dating-Apps, blind- und speed-dates schafft Verlockungen ungekannter Art. All das bedient einen Wunsch nach freier Auswahl und Verfügbarkeit von Angeboten zur Partnerfindung rund-um-die-Uhr. Diese Entwicklung geht scheinbar konfliktfrei einher mit dem gleichzeitigen Wunsch vieler junger Menschen nach einer romantischen Liebesbeziehung, in der Vertrauen, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit als wichtige Kennzeichen genannt werden (Sinus-Jugendstudie, 2016).

Wenn Intimität als scheinbar beliebig verfügbares Produkt von Angebot und Nachfrage angesehen wird, droht jedoch eine wichtige psychologische Funktion der Sexualität auszufallen. Sexualmediziner*innen betonen, dass Sexualität anthropologisch niemals nur der Fortpflanzung und auch nicht primär dem Lustgewinn diene. Eine häufig verkannte Funktion sei auch das Stiften von Bindung zwischen den Menschen, die sexuelle Begegnungen teilen (Ahlers, 2015).

2.2.1     Bindungs- und Trennungskompetenz

Bei den beschriebenen Entwicklungen erscheint die Hypothese plausibel, dass die Anforderungen an eine Bindungskompetenz heutiger gegenüber früheren Generationen mit seltenerem Partnerwechsel deutlich angestiegen sind. Die Bindungsforschung (Bowlby, 2006; Brisch 1999) beschäftigt sich mit der frühen Entstehung überdauernder Muster, wie sicher oder unsicher Kinder die Beziehung zu ihren Eltern erleben und als Matrix für späteres Beziehungsverhalten verinnerlichen.

Menschen sehen sich bereits bei der Kontaktanbahnung vor der Anforderung, bei sich selbst und beim Gegenüber die Erwartungen, die an einen möglichen Intimkontakt gestellt werden, zu erspüren, zu kommunizieren und darüber einen Konsens zu erzielen. Nur dann lässt sich der Gefahr vorbeugen, dass es nach der Begegnung zu folgenreichen Missverständnissen hinsichtlich der zu erwartenden Verbindlichkeit und eines Wiedersehens kommt. Die im Kontakt stehenden Menschen sollten – so der idealtypische Anspruch – zudem in der Lage sein, der anderen Person auf angemessene Weise mitzuteilen, dass sie sich trennen oder keine Fortsetzung der bis dahin eingegangenen Begegnungsmodalitäten möchten. Das fassen wir unter dem Begriff der Trennungskompetenz. Die in dieser Weise angesprochene Person sollte in der Lage sein, diese Mitteilung zeitnah richtig einzuordnen und mittelfristig in Übereinstimmung mit der eigenen emotionalen Befindlichkeit zu bringen. Sie sollte demnach Verletzung, Enttäuschung, Verlust, Trauer und Schmerz, Ängste, oftmals Abwertung, Selbstzweifel, vielleicht Ärger und Wut auf die »Trennungspartner*in« aushalten, in sich bewahren und verarbeiten. Sie soll die eigenen Gefühle möglichst nur in angemessener Form in die »Trennungskommunikation« zurückgeben. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass solche komplizierten, hoch emotionalen Aushandlungsprozesse häufig misslingen. Die Verarbeitung der Trennung kann bei den Beteiligten ganz unterschiedlich verlaufen; leicht entstehen daraus Dynamiken, die Stalking als Bewältigungsmodus fördern.

2.2.2     Privatsphäre, Gender und der Diskurs über Selbstbestimmung

Das Werbungsverhalten des Menschen ist historisch und kulturell starken Wandlungen unterworfen. Während es früher akzeptabel schien, den Wunsch nach Beziehung durch Beharrlichkeit auszudrücken, hat sich inzwischen ein soziokulturell-juristisches Verständnis etabliert, das den Vorrang der Abgrenzung betont. Gegen den explizit geäußerten Willen einer anderen Person vorzugehen, ist zum Gegenstand zahlreicher Gesetzgebungsverfahren geworden ( II). Einerseits ist der Begriff der Privatsphäre ausgeweitet worden, des Raums, den jeder Mensch für sich beanspruchen kann, ohne sich darin von einer anderen Person stören lassen zu müssen. Andererseits ist die Privatsphäre in dem Sinne auch politisiert worden, dass zwischenmenschliche Verhaltensweisen in der Liebesbeziehung, Ehe oder Familie stärker juristischen, moralischen und gesellschaftlichen Kodizes und Reglementierungen unterworfen werden. »Das Private ist politisch« war damals ein bahnbrechendes Postulat der Emanzipation von Frauen – heute müsste man korrekterweise sagen »Das Private ist juristisch«.

Aktuell erkennen wir Facetten dieses umfassenden Selbstbestimmungsdiskurses in den politischen Debatten über ein verschärftes Sexualstrafrecht oder eben das Nachstellungsgesetz. Ausgangspunkt sind vielfach die Aktionen von Opferverbänden und der Frauenbewegung, die das Verständnis »Nein-heißt-Nein« gegenüber einem patriarchal tradierten »Nein-heißt-vielleicht-doch« im Alltag und auf juristischer Ebene durchsetzen wollen. Auch wenn sich viele Männer über ihre Geschlechtsgenossen angesichts grober Übergriffe empören mögen, bleibt das Geschlechterverhältnis in unserer Gesellschaft noch immer von patriarchalen Denk- und Verhaltensmustern durchzogen.

Gender in der Sprache

Ausgehend von unserem vorgeblichen biologischen Geschlecht werden wir alle in Männer- oder in Frauenrollenerwartungen sozialisiert. Auf diese sozial kreierten, erwarteten und fortwährend reproduzierten Rollen bezieht sich der Begriff Gender. Der Genderdiskurs hinterfragt diese Rollen und die damit assoziierten Phänomene kritisch. Er sensibilisiert auch für die verwendete Sprache, die bestimmte Kategorien und Begriffe scheinbar natürlich einem Geschlecht zuordnet, z. B. der Leser dieser Zeilen.

Aus diesem Grund haben sich viele Autor*innen des vorliegenden Werks dafür entschieden, die für viele Leser*innen zunächst noch ungewohnt wirkende Genderschreibweise Täter*in, Berater*innen etc. zu verwenden. Damit sollen beide sozialen Geschlechter einbezogen werden; der sogenannte Genderstar * verweist darauf, dass es darüber hinaus Menschen gibt, deren Genderidentität sich nicht in »Mann oder Frau« wiederfindet, sondern die eine Identität jenseits dieser Entweder-Oder-Aufteilung beanspruchen. Um den Lesefluss nicht weiter zu erschweren, haben sich diese Autor*innen gleichwohl dafür entschieden, es in zusammengesetzten Begriffen bei der herkömmlichen Schreibweise zu belassen: »Täterverhalten« anstelle von »Täter*innenverhalten«. Auch die Autorinnen und Autoren, die nicht in der genannten Form »gendern« verstehen ihre Schreibweisen als geschlechterübergreifend.

Die Verwendung der Begriffe für die »am Stalking beteiligten Personen« macht eine weitere Erläuterung notwendig: Wir sprechen von den Menschen, die stalken oder von der stalkenden Person. Damit wollen wir zum Ausdruck bringen, dass es um spezifische Verhaltensweisen geht und jemand mit dem Begriff »Stalker*in« nicht hinreichend beschrieben wird. Dennoch verwenden wir der Lesbarkeit halber auch den Begriff der »Stalker*in«, gleichrangig mit dem Begriff »Täter*in«. Ähnliches gilt für die andere Seite: »die gestalkte Person«, das »Opfer« oder auch die »Betroffenen« finden Verwendung, ohne damit eine spezifische Gendercharakterisierung vornehmen zu wollen. Oftmals sprechen wir auch neutral von Ratsuchenden oder Klient*innen.

 

2.3       Definitionen von Stalking

»Stalking, an old behavior, a new crime« betitelt Meloy, ein weit über die USA hinaus anerkannter Psychiater und Stalkingwissenschaftler im Jahr 1999 seinen Artikel – neun Jahre nach dem ersten einschlägigen Gesetz in Kalifornien (Meloy, 1999).

Stalkingdefinitionen variieren je nach Bezugsrahmen. Geht es eher um juristische Definitionen, die auf beobachtbares, beschreibbares Verhalten abzielen, oder steht das innerpsychische Erleben im Vordergrund? Ein weiterer Definitionsfokus richtet sich auf interaktionelle Aspekte der missglückenden Beziehungsgestaltung zwischen dem Menschen, der stalkt und dem Opfer.

Im Folgenden sollen einige wichtige Definitionsversuche übersichtsartig vorgestellt werden:

Nach Meloy (1998) ist Stalking das beabsichtigte, böswillige und wiederholte Verfolgen und Belästigen einer Person, das deren Sicherheit bedroht.

Als ein wesentliches Bestimmungselement erscheint hier die böse Absicht, die jedoch in manchen Fällen, wenn die Täter*innen um eine Beziehung werben, subjektiv nicht notwendigerweise gegeben ist; in solchen Fällen ist die Person vielleicht noch nicht in ihrer Sicherheit bedroht.

Fiedler sagt: »Unter Stalking (eng. to stalk: pirschen, verfolgen) versteht man ganz allgemein eine vom Opfer nicht intendierte exzessive Verfolgung eines Menschen mit andauernder oder wiederholter Belästigung, Bedrohung oder gar Ausübung von Gewalt.« (Fiedler, 2006, S. 11)

Der Begriff greift damit die ursprüngliche Wortbedeutung aus der englischen Jagdsprache auf. Dies fördert freilich auch problematische Assoziationen, den auf der Lauer liegenden, aus dem Verborgenen agierenden »Jäger« und das ahnungslose »Wild«, das dann durch Verfolgung »zur Strecke gebracht« werden soll.

Hoffmann (2006) definiert Stalking auf der Verhaltensebene als »wiederholte Handlungen von Verfolgung, Belästigung oder Kontaktaufnahmen, die auf der darunterliegenden psychischen Ebene von einer emotionalen Fixiertheit begleitet werden«. (S. 1)

Hoffmann benennt damit die so typische Form der unerwünschten Kontaktaufnahme, ohne dass diese notwendigerweise mit Bedrohung einhergehen muss, und wirft den Blick auf die psychische Verfasstheit der stalkenden Person: Eine emotionale Fixierung, die positiv oder negativ getönt sein kann und auch kognitiv häufig mit einer Verengung einhergeht, die potentiell korrigierende Erfahrungen ausblendet.

In aller Regel konstruieren Menschen, die stalken, ich-synton, »als zu ihnen gehörig«, eine Legitimationsbasis für ihr Tun. Sie finden sie etwa in der Kränkung, die sie erlitten haben und die sie nun berechtige, dem anderen auch entsprechende Kränkungen zuzufügen. Jedoch stoßen wir in der Praxis unserer niedrigschwelligen Beratung auch immer wieder auf Menschen, die ihr Stalkingverhalten als ich-dyston, also als »nicht zu ihnen gehörig« erleben. Sie verurteilen sich selbst für entsprechende Handlungen und entschuldigen diese oft dadurch, dass es wie ein Zwang sei, wie eine Sucht.

»Ich-synton« und »ich-dyston« schließen sich zwar begrifflich als ein Entweder-oder gegenseitig aus, sie stellen in der Praxis jedoch die Pole eines Kontinuums dar, in dem die Menschen handeln. Etwa wenn Stalker*innen von Situationen berichten, in denen sie einem Ärgerimpuls folgen, willentlich eine Drohung ausstoßen, und kurze Zeit später ihnen das eigene Verhalten als fremd erscheint: »So bin ich eigentlich gar nicht«, bekommen wir dann entschuldigend zu hören. Hier wird das zunächst ich-syntone Verhalten später als ich-dyston empfunden.

Über mögliche und sinnvolle Klassifikationen gibt es wissenschaftliche Diskurse mit unterschiedlichen Nuancierungen. Für eine Untergruppe der Stalker*innen befürwortet Meloy (1998) die Verwendung des Begriffs der Zwangsstörung. Dann nämlich, wenn es sich um nicht gewünschte, nicht gewollte Inhalte und Handlungsweisen handelt, gegen die sie sich wehren. In den Begriffen »obsessiver Verfolgung« und »obsessiver Belästigung« findet diese psychiatrisch getönte Sichtweise ihren Ausdruck (Fiedler, 2006).

Gemeinsam ist diesen Definitionen: Der stalkende Mensch fühlt sich persönlich durch die betroffene Person motiviert, er fordert eine – wie auch immer geartete – Beziehung andauernd ein, die von der Gegenseite verweigert wird.

Diese Weigerung wird vom Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Selbstbestimmung gedeckt »mit der Folge, dass das Grundrecht auf Privatheit und Privatsphäre des Opfers auf ungebührliche Art durch eine oder mehrere andere Personen verletzt wird. Anti-Stalking-Gesetze versuchen, dem Einhalt zu gebieten und konstruieren in diesem Zusammenhang neue Formen der Viktimisierung und Kriminalisierung interpersoneller Handlungen, wie sie in dieser Form bisher nicht vorhanden waren.« (Fiedler, 2006, S. 13)

Verfolgt man diese Argumentationslinien weiter, wird rasch deutlich, dass es bei der Frage des Verständnisses von und der Definitionsmacht über Stalking auch um ideologische und politische Fragestellungen geht. Wer reklamiert mit welchem Recht die Kernkompetenz für den richtigen Umgang mit den Opfern und mit den Täter*innen? Bereits diese dichotome Einteilung in Täter vs. Opfer sorgt für Debattenstoff.

Eine psychodynamische Position (Winter, 2010a) vertritt die Auffassung, eine dichotome Aufteilung mache keinen Sinn, vielmehr müssen die Täteranteile der Opfer ebenso wie die Opferanteile der Täter*innen in unauflöslicher Verbundenheit betrachtet werden.

Eine andere Position besagt, Stalking nach Ex-Partnerschaften stelle gar kein eigenständiges Phänomen dar, sondern es sei die Fortsetzung der häuslichen Gewalt zu einem späteren Zeitpunkt und befürwortet ein darauf bezogenes Vorgehen.

Zweifellos gilt diese Zuordnung für eine Untergruppe des Expartnerstalking, wenn bereits die noch einvernehmliche Beziehung von Übergriffen und Grenzüberschreitungen geprägt war. Wenn dann die (meist weibliche) Partnerin die Beziehung beendet und der (meist männliche) Expartner dies nicht akzeptiert und seine Inakzeptanz der Trennung und sein vermeintliches Recht auf Fortsetzung durch Nachstellungsverhalten zum Ausdruck bringt, hat diese Sichtweise vieles für sich. Schwieriger wird es, wenn innerhalb der Beziehung eine Partner*in zwar eher passiv-aggressiv, kontrollierend und anklammernd war, aber sein bzw. ihr Verhalten sich nicht mit häuslicher Gewalt beschreiben lässt, diese Person jedoch nach der Trennung zu stalken beginnt. Aus unserer Sicht wird Stalking in solchen Fällen zu Recht als eine eigenständige Problematik mit spezifischen zugrundeliegenden Faktoren und psychischen Dispositionen betrachtet. Ähnliches gilt, wenn – wie häufig anzutreffen – der Zeitumfang des Stalkings den der einvernehmlichen Beziehung, Affäre oder nur flüchtigen Intimbeziehung bei weitem übertrifft.

»Erst in jüngster Zeit ist man allmählich dazu übergegangen, das Fortbestehen von Bedrohung und Gewalt nach Aufkündigung von Intimbeziehungen dem Stalking-Phänomen zuzuordnen (Weiß & Winterer 2005).« (Fiedler, 2006, S. 11).

2.3.1     Mad or bad?

Sind Stalker*innen verrückt oder böse? Diese prägnante Einteilung greift angesichts der Komplexität von Stalking zu kurz ( Kap. 20). Die Erforschung des Problemverhaltens Stalking und seiner Auswirkungen sind im deutschen Sprachraum in größerem Umfang erst seit den 2000er Jahren Gegenstand wissenschaftlicher und praktischer, juristischer und psychosozialer Diskurse.

Problemverhalten ist die deutsche Übersetzung des englischen »problem behaviour« (Warren et al., 2005). Auch wenn dieser Begriff bislang keine weite Verbreitung gefunden hat, erscheint er uns zutreffend, um die unterschiedlichen Implikationen des Stalkings zu erfassen: Es ist nicht in jedem Fall eine Straftat, insofern das Stalkingverhalten häufig nicht alle festgelegten Straftatbestandsmerkmale erfüllt. Es ist auf der anderen Seite auch keine Krankheit, keine psychische Störung obwohl eine Komorbidität, das heißt die Kombination mit vielen differierenden psychischen Problematiken, natürlich gegeben ist. Manchmal wird diskutiert, ob Merkmale einer Suchtproblematik darin aufscheinen können ( Kap. 25), manchmal werden die Kriterien einer Zwangsstörung zum Vergleich herangezogen (Meloy, 1998), doch jede dieser psychopathologischen Einordnungen greift zu kurz.

 

2.4       Trennungsunschärfen bei Trennungsversuchen

2.4.1     Die Rolle der sozialen Medien

Die Informationsgesellschaft und die elektronischen Kommunikationsmedien haben die Beziehungsgestaltung und die Kommunikationserwartung an den modernen Menschen grundlegend verändert. Die historische Gewordenheit der menschlichen Umgangsformen gerät leicht aus dem Blickfeld – daher ein kurzer Rückblick:

Bis zum Ausgang des letzten Jahrhunderts dominierten schriftliche Nachrichtenübermittlung in Form von Briefen, die postalisch zugestellt wurden, und standortgebundene Telekommunikation. Erst um die Jahrtausendwende begann das Internet sukzessive in die Alltagsgewohnheiten, ins Denken und Handeln der Menschen einzuziehen. Für den Privatgebrauch begannen fortschrittliche Zeitgenoss*innen sich einen Personal Computer anzuschaffen, plötzlich war man online. Die Menschen eigneten sich eine neue Sprache an, die Begriffe wie Website, Surfen und Internetcafé enthielten. Noch waren das Handy und noch weniger das Smartphone nicht im Gebrauch der Bevölkerungsmehrheit. Das kurze Zeit als Errungenschaft gepriesene Faxen wurde durch E-Mailen fast vollständig ausrangiert und Flatrate konnte noch niemand buchstabieren. Eine SMS mithilfe einer T9-Software durch rasche Tastendrücke auf der numerischen Tastatur damaliger Handys zu versenden, war eine mühsame Angelegenheit, die man sich für den Austausch wichtiger Nachrichten vorbehielt.

Seitdem es zumindest in der jüngeren Generation vielfach als selbstverständlich gilt, beinahe »24/7 online« (neudeutsch für »rund-um-die-Uhr«), erreichbar zu sein, ist der Erwartungsdruck an die Empfänger*in einer Botschaft, »in Echtzeit« zu antworten, enorm gestiegen.

Mitunter erweckt es den Anschein, die oben genannte Ausweitung der Privatsphäre werde von einer Zurschaustellung des Privaten in den sozialen Medien konterkariert. Diese beruht zunächst auf der selbstbestimmten Entscheidung des Individuums, eigene Erlebnisse, Kontakte und Informationen »ins Netz zu stellen«. Facebook, Twitter, Instagram und viele weitere Dienste ermöglichen es einer potentiell unbegrenzten Anzahl von Nutzer*innen, tiefe Einblicke ins Privatleben eines anderen Menschen zu nehmen. Werden die daraus gewonnenen Informationen dann allerdings für Stalkinghandlungen gegen die Person eingesetzt, kommt es wieder darauf an, die eigene informationelle Selbstbestimmung gegenüber der stalkenden Person zurückzugewinnen ( Kap. 13).

2.4.2     Cyberstalking

Cyberstalking bezeichnet im weitest gefassten Sinn jede Form der Kontaktaufnahme über elektronische Medien, also bereits das Versenden von E-Mails und SMS. So gesehen würden die meist verbreiteten Formen der Kontaktaufnahme bereits darunter fallen und die Trennschärfe ginge verloren. Von Cyberstalking sprechen wir mit Recht in einem präziser gefassten Sinne,

•  wenn jemand sich zum Beispiel durch das Annehmen falscher Identitäten Zugang zu persönlichen Informationen verschafft,

•  wenn Passwörter geknackt und missbraucht werden,

•  wenn der persönliche E-Mailverkehr mitgelesen und manipuliert wird oder

•  wenn Spy-Software auf dem Rechner oder Smartphone installiert wird, die Stalker*innen ungehinderten Zugang und kriminelle Attacken auf die Daten des Opfers ermöglicht.

Die Liste der möglichen Eingriffe wächst mit jeder neuen technologischen Entwicklung und ist insofern einem ständigen Wandel und Erweiterung unterworfen. Gerade für netzaffine Menschen stellt Cyberstalking eine niedrigschwellige Nachstellungsvariante dar: Sie kann ohne räumlichen Bezug von jedem Ort der Welt zu jeder Tages- und Nachtzeit ausgeübt werden. Viele Täter*innen fühlen sich in der scheinbaren Anonymität des Netzes sicher und unangreifbar. Weil keine unmittelbare Reaktion des Gegenübers wahrnehmbar ist, bleiben die Cyberstalker*innen mit ihren Phantasien über die Konsequenzen ihrer Attacken auf sich selbst bezogen.

2.4.3     Abgrenzung von Mobbing und Stalking

Von den Erscheinungsformen her, dem beobachtbaren Verhalten, z. B. beleidigender Abwertung, Diskriminierung im Internet, im Kolleg*innen- und Bekanntenkreis oder in der Öffentlichkeit weisen Mobbing und Stalking durchaus Ähnlichkeiten auf. Mobbing wird jedoch überwiegend in der Arbeitswelt und in Gruppenzusammenhängen verortet, Stalking demgegenüber primär im Privatbereich. Die innere Dynamik ist auch eine andere: Mobbing ist durch die Motivation des Ausschlusses gekennzeichnet: Die gemobbte Person soll nicht mehr dazu gehören. Sie soll eingeschüchtert werden, so dass sie von sich aus aufgeben möge, dabei sein zu wollen. Mobbing wird oft von einer Gruppe gegen Einzelne ausgeübt.

Stalking hingegen ist in aller Regel das Verhalten einer Einzelperson gegenüber einer Einzelperson. Zwar können in einigen Fällen auch Angehörige, Freund*innen, Nachbar*innen und vor allem die neuen Partner*innen zu weiteren Zielpersonen werden, manchmal bindet die stalkende Person auch Dritte ein, die »Aufgaben« für sie erledigen, anrufen, Hetze betreiben sollen, doch die innere Dynamik bleibt vom Mobbing unterschieden: Stalken will eine Beziehung aufrechterhalten oder (wieder-)herstellen, wogegen sich das Opfer wehrt.

Der Eingang von psychologischen Fachbegriffen in die Alltagssprache hat noch eine weitere höchst problematische Dimension. Vom »Mobbing«, das bereits seit mehr als 20 Jahren in aller Munde ist, wissen wir, wie leicht eine inflationäre Verwendung für jede Form unfreundlichen Verhaltens am Arbeitsplatz oder in der Schule dazu führen kann, dass in der Folge die wirklichen Mobbingopfer nicht mehr ernst genommen werden.

2.4.4     Schwelle zum Stalking

Gleiches droht bei Stalking. Der Begriff verliert seine Trennschärfe, wenn eine jedem Menschen offenstehende Internetrecherche über eine andere Person als Ausspionieren oder sogar als Stalking bezeichnet wird.

Doch auch für das Ende von Liebesbeziehungen gilt: Wenn gleichsam jeder Nachtrennungskonflikt, in dem es einmalig oder auch mehrmalig zur grenzüberschreitenden einseitigen Kontaktaufnahme kommt, bereits als Stalking betitelt wird, würde man einen Großteil aller Trennungsprozesse entweder kriminalisieren oder pathologisieren. Die umgangssprachliche Ausweitung findet bereits statt. Zu Bedenken ist aber: Statt für das Phänomen zu sensibilisieren, schadet das der Position der Stalkingopfer, da diese Bezeichnung schnell zur Beliebigkeit verkommt.

Genauso problematisch erschiene eine begriffliche Fokussierung nur auf das andere Ende des Spektrums nachstellender Verhaltensweisen. Würde man nur das als Stalking gelten lassen, was tatsächlich zur strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, bliebe nur ein einstelliger Prozentsatz der eingegangenen Strafanzeigen als »wahres Stalking« übrig. Nur die aktuelle Rechtsprechung zum Beurteilungsmaßstab zu machen, hieße, einem Großteil der Betroffenen abzusprechen, Opfer von Stalking gewesen zu sein. Die Problematik der Grenzziehung wird im Beitrag Prävalenz, Demographie und Typologien des Stalkings ( Kap. 3) vertieft.

Für die Beratungspraxis als angemessen erscheint es, dann von Stalking zu sprechen, wenn tatsächlich über einen Zeitraum mindestens mehrerer Wochen Kontaktaufnahmen und Störungen der Alltagsgestaltung gegen den erklärten Willen der betroffenen Person erfolgen, die bei ihr Gefühlsqualitäten wie Verunsicherung, Angst oder Bedrohung auslösen. Wie solche Konstellationen juristisch zu fassen sind, wird in den Kapiteln 3.1 und 3.2 über die Gesetzgebung und ihre Verschärfung differenziert behandelt.

 

2.5       Die Konsequenzen der Gesellschaft

2.5.1     Parteiliche Beratung vs. Opferbeschuldigung – » Victim blaming«

Unabhängig vom Überschreiten der Schwelle zur Strafverfolgung haben die betroffenen Menschen, die unter Stalking leiden, ein Recht auf Beratung und Unterstützung. Sie möchten wieder selbstbestimmt leben können und dafür braucht es im ersten Schritt die Anerkennung, Opfer einer Straftat, zumindest eines nicht-hinnehmbaren Verhaltens geworden zu sein. Niemand, dem das widerfährt, hat daran Schuld. Das wäre »Victim blaming«, zu Deutsch »Opferbeschuldigung«, die leider auch bei Stalking immer noch zu vernehmen ist. In einem zweiten Schritt geht es dann jedoch für die Opfer darum, aus einer die Ohnmacht fortschreibenden Opferperspektive herauszutreten und sich wieder als Gestalter*in der eigenen Lebensverhältnisse zu emanzipieren. Dieser Ansatz ist mit den Begriffen der Stärkung der Ressourcen, der Ermutigung und des Empowerments eng verknüpft.

Auch hier hat die Frauenbewegung wichtige Positionen des Opferschutzes formuliert. Als parteiliche Beratung finden sie ihren Ausdruck in der uneingeschränkten Solidarität an der Seite der betroffenen Frauen, die manchmal voller Selbstzweifel sein mögen und sich im ersten Schritt selbst die Schuld an ihrem Leiden geben. Längst bevor Stalking als eigenständige Kategorie in den Geschlechterdiskurs eingeführt wurde, war häusliche Gewalt das Thema, zu dessen Bekämpfung auf allen gesellschaftlichen Ebenen Hilfseinrichtungen geschaffen, sowie Schutzprogramme, Gesetze und seit längerem auch länderübergreifende EU-Richtlinien erlassen wurden. Viele von häuslicher Gewalt betroffene Frauen erlebten in und nach der Trennung auch Stalking, ohne dass dieses eigens benannt und von der Beziehungsgewalt unterschieden wurde. Daher verfügen auch viele Frauenberatungsstellen über Expertise zur besonderen Dynamik des Stalkings nach vorangegangener häuslicher Gewalt.

2.5.2     Gesetzgebungsproblematik – das Private ist juristisch

Bis es soweit kommt, dass die Regulierung menschlichen Verhaltens zum Gegenstand der Gesetzgebung wird, verläuft ein komplexer gesellschaftlicher Prozess der Meinungsbildung, die in den oben genannten Definitionen und Abgrenzungsproblematiken nur ihren Anfang nimmt. Welches Verhalten genau soll bestraft werden? Wo darf, wo muss der Staat in den höchst persönlichen Bereich der Beziehungsgestaltung sanktionierend eingreifen?

Schon der Verabschiedung des seit 2007 vorliegenden Nachstellungsgesetzes § 238 StGB ging ein langer politischer Diskurs voraus, in dem unterschiedliche Interessensgruppen um die Deutungshoheit über Stalking rangen. Die seit dem Jahr 2015 wiederaufgenommene Diskussion einer Gesetzesnovellierung unter den Stichworten Erfolgsdelikt und Eignungsdelikt gibt beredten Ausdruck der Erwartung eines besseren Opferschutzes seitens der Opferschutzverbände an den Gesetzgeber. Demgemäß wäre nicht erst der Erfolg des Stalkings, die nachgewiesene Schädigung des Opfers, strafbar sondern bereits Handlungen, die sich eignen, das Opfer zu schädigen.

Bereits 2010 setzten sich der Kriminologe und Strafrechtsprofessor Böllinger und der Leiter des TOA und Stalking-KIT Bremen, Winter, kritisch mit dem Bedürfnis der Gesellschaft nach einem Nachstellungsgesetz und den daran geknüpften Erwartungen auseinander (Böllinger 2010; Winter 2010a). Sie problematisieren das weitere Ausgreifen des Strafrechts in den Bereich zwischenmenschlicher Interaktion, die sozialpsychologischen Implikationen der Aufspaltung in »Entweder-Täter-oder-Opfer« sowie die gesellschaftliche Aussonderung des Bösen beziehungsweise der »Bösen«.

Der Gesetzgebungsthematik sind in diesem Band mehrere Artikel gewidmet, die sich mit der Gesetzgebung innerhalb der EU ( 2.5) und mit der Strafverfolgungsproblematik aus den Perspektiven einer Rechtsanwältin ( 2.2) und einer Staatsanwältin (2.4) befassen.

2.5.3     Stalking verstehen

Nach rund 25 Jahren wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Stalking lässt sich zumindest feststellen: Wir haben es mit einem Problemverhalten zu tun, dem nur durch ein aufeinander abgestimmtes professionelles Handeln der beteiligten Akteur*innen wirksam begegnet werden kann – und gerade auch die Betroffenen benötigen die Unterstützung aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Denn vieles stürmt auf sie ein: Ermittlung und Strafverfolgung finden statt, ein Rechtsbeistand, gegebenenfalls psychosoziale Prozessbegleitung werden benötigt. Die Bewältigungsversuche des Stalkings gehen oft einher mit polizeilichen Ratschlägen und sozialarbeiterischer Unterstützung, mit konkreten Schutzmaßnahmen und vielleicht mit Risikobeurteilung oder Bedrohungsmanagement. Am Anfang sollte jedoch eine professionelle Beratung stehen, in der erarbeitet werden kann, wie im konkreten Einzelfall vorzugehen ist, wann welcher Schritt angebracht ist, welche Maßnahmen zu ergreifen und welche Vorgehensweisen zu unterlassen sind.

Wir sind dabei von einem verstehenden Zugang geleitet. Stalking verstehen lernen zu wollen bedeutet für uns, dass auch als fremd, als böse, als verurteilenswert erscheinende Handlungen sich erschließen lassen, wenn wir Zugang zu den inneren Beweggründen der Menschen finden, die so handeln. Verstehen lernen ist von einem Erkenntnisinteresse geprägt, das für den stalkenden Menschen wie den vom Stalking Betroffenen neue Handlungsoptionen für ein selbstbestimmtes Leben eröffnen soll (Hahn et al., 2010). Dass wir auch den Stalker*innen vorschlagen wollen, wieder selbstbestimmt zu leben, beruht auf unserer Sichtweise, dass Stalking in keinem Fall eine gelungene Identität stiften beziehungsweise eine erfolgreiche Lebensperspektive bilden kann. Es zu verstehen lernen, warum sie zu einem bestimmten Zeitpunkt so fremd- und selbstschädigend handeln, kann für die Stalker*innen ein sehr schmerzhafter Prozess sein. In diesem Sinn ist ein Verstehen, das Lösungswege aus dem Stalking eröffnen soll, etwas ganz Anderes als simples Verständnis für die Kränkung der stalkenden Person und noch viel weniger ist Verstehen ein Legitimieren ihres grenzüberschreitenden Verhaltens!

Trotz des hohen Anspruchs an umfassende Information und Bereitstellung von Handlungsoptionen und Vorgehensweisen ist uns deutlich, dass dieses Buch erst der Anfang zu einer sich weiter entwickelnden Professionalisierung sein kann. Diese wird ihrerseits Rückwirkungen auf hoffentlich zukünftige Fortschreibungen des Praxishandbuch haben. Darauf freuen wir uns.

 

2.6       Literatur

 

Ahlers, C. J. & Lissek, M. (2015). Himmel auf Erden und Hölle im Kopf – Was Sexualität für uns bedeutet. München: Goldmann Verlag

Böllinger, L. (2010). Überlegungen zur Sozialpsychologie der Stalking-Kriminalisierung. Psychosozial, 121(III), 7–18.

Bowlby, J. (2006). Bindung. München: Reinhardt.

Brisch, K. H. (1999). Bindungsstörungen: Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta.

Dreßing, H., Kühner, C. & Gass, P. (2005). Ist Stalking auch ein Problem in Deutschland? In A. Weiß & H. Winterer (Hrsg.), Stalking und häusliche Gewalt. Interdisziplinäre Aspekte und Interventionsmöglichkeiten (S. 175–180). Freiburg: Lambertus.

Dreßing, H. (2005). Aktueller Forschungsstand zu Stalking. In H. Dreßing & P. Gass (Hrsg.), Stalking! Verfolgung, Bedrohung, Belästigung (S. 11–38). Bern: Hans Huber

Fiedler, P. (2006). Stalking. Opfer, Täter, Prävention, Behandlung. Basel: Beltz.

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Hahn, G., Stiels-Glenn, M. (Hrsg.) (2010). Ambulante Täterarbeit – Intervention, Risikokontrolle und Prävention. Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Hoffmann, J. (2003). Polizeiliche Prävention und Krisenmanagement in Fällen von Stalking. Kriminalistik, 12, 726–731.

Hoffmann, J. & Wondrak, I. (2005). Stalking und häusliche Gewalt – Grundlagen und Fallmanagement. In A. Weiß & H. Winterer (Hrsg.), Stalking und häusliche Gewalt. Interdisziplinäre Aspekte und Interventionsmöglichkeiten (S. 55–70). Freiburg: Lambertus.

Hoffmann, J. (2006). Stalking. Heidelberg: Springer.

Meloy, J. R. (1998). The Psychology of Stalking. In J. R. Meloy (Hrsg.), The Psychology of Stalking – Clinical and Forensic Perspectives (S. 1–23). San Diego u. a.: Academic Press.

Meloy, J. R. (1999). Stalking: An old behavior, a new crime. Psychiatric Clinics of North America, 22(1), 85–99.

Mullen, Paul E., Pathé, M., & Purcell, R. (2000). Stalkers and their victims. Cambridge u. a.: Cambridge University Press.

Schmidt, G., Matthiesen, S., Dekker, A. & Starke, K. (2007). Spätmoderne Beziehungswelten: Report über Partnerschaft und Sexualität in drei Generationen. Heidelberg: Springer.

Sinus-Jugendstudie 2016. Zugriff am 29.09.2016 unter http://www.wie-ticken-jugendliche.de/home.html.

Tjaden, P. G. & Thoennes, N. (1998). Stalking in America: Findings from the national violence against women survey. US Department of Justice, Office of Justice Programs, National Institute of Justice.

Voß, H.-G. W. & Hoffmann, J. (2002). Zur Phänomenologie und Psychologie des Stalking: eine Einführung. Polizei & Wissenschaft, 04, 4–14.

Warren, L. J., MacKenzie, R., Mullen, P. E. & Ogloff, J. R. (2005). The problem behavior model: the development of a stalkers clinic and a threateners clinic. Behav Sci Law, 23(3), 387–397.

Weiß, A. & Winterer, H. (Hrsg.) (2005). Stalking und häusliche Gewalt. Interdisziplinäre Aspekte und Interventionsmöglichkeiten. Freiburg: Lambertus.

Winter, F. (2010a). Stalking – Das Strafgesetz zur beharrlichen Nachstellung und das gesellschaftlich Unbewusste. Psychosozial, 121(III), 19–44.

Winter, F. & Dziomba, F. (2010b). Das Bremer Kriseninterventionsteam Stalking (Stalking-KIT), Konzept, Setting, Praxis. Psychosozial, 121(III), 81–96.

 

3          Prävalenz, Demographie und Typologien des Stalkings

Olga Siepelmeyer und Wolf Ortiz-Müller

3.1 Prävalenz3.1.1 Metaanalyse Spitzberg und Cupach3.1.2 Die Mannheimer und die Darmstädter Studie 2005/63.1.3 Dunkelfeldstudie am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen3.1.4 EU-Erhebung »Gewalt gegen Frauen« 20143.1.5 Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)3.2 Demographie3.2.1 Art der Vorbeziehung3.2.2 Geschlechterverhältnisse3.3 Typologisierung (Klassifikationen)3.3.1 Tätertypologien3.3.2 Opfertypologien3.3.3 Kritische Überlegungen für die Praxis der Opfer- und Täterarbeit3.4 Literatur

 

 

Zusammenfassung: