Star Trek – Picard 4: Zweites Ich - Una McCormack - E-Book

Star Trek – Picard 4: Zweites Ich E-Book

Una McCormack

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Beschreibung

Ein spannendes, brandneues Abenteuer – die Brücke von der ersten zur zweiten Staffel der Fernsehserie Star Trek: Picard! Nach den explosiven Ereignissen in der ersten Staffel von Star Trek: Picard ist Raffi Musiker hin- und hergerissen zwischen der Rückkehr in ihr altes Leben als Geheimdienstoffizierin der Sternenflotte und einer etwas harmloseren Tätigkeit – vielleicht als Lehrerin an der Akademie. Die Entscheidung wird ihr jedoch abgenommen, als sie eine Nachricht von einem alten Kontakt – einem romulanischen Spion – erhält, der sie um sofortige Hilfe bittet. Mit der Hilfe von Cristobal Rios und Dr. Agnes Jurati und der Unterstützung von Jean-Luc Picard beschließt Raffi, diese kritische Mission zu übernehmen – und findet schnell heraus, dass die Sünden der Vergangenheit nie begraben bleiben. Die Suche nach der Wahrheit wird kompliziert und tödlich sein … Nach dem Erfolgstitel Die letzte und einzige Hoffnung ein weiterer Band, der die Handlung der TV-Serie komplettiert.

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Für Matthew

»Sei nicht in Angst!

Die Insel ist voll Lärm, voll Tön’ und süßer Lieder, die ergötzen und niemand Schaden tun.«

– William Shakespeare, Der Sturm

Inhalt

HISTORISCHE ANMERKUNG

TEIL 1 – 2399 – NACH COPPELIUS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL 2 – 2376 – NACH DEM DOMINION-KRIEG

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

TEIL 3 – 2340 – WÄHREND DER BESATZUNG

Kapitel 8

TEIL 4 – 2376 – NACH DEM DOMINION-KRIEG

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL 5 – 2399 – NACH COPPELIUS

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

DANKSAGUNGEN

HISTORISCHE ANMERKUNG

Diese Geschichte spielt 2399, nach den Ereignissen auf Coppelius (STAR TREK– PICARD»Et in Arcadia Ego«) und kurz bevor Jean-Luc Picard die Position des Vorsitzenden der Sternenflottenakademie annimmt (STAR TREK – PICARD»Die Stargazer«).

TEIL 1

2399NACH COPPELIUS

1

Lieutenant Commander Raffaela Musiker war eine ganz neue Frau. Clean, selbstsicher, voller Tatendrang. Bereit für etwas Neues – auch wenn sie selbst noch nicht so genau wusste, was das sein sollte. Doch das Leben – ob nun öffentlich oder privat – hat oft seine eigenen Absichten. Stellt den Unvorsichtigen Fallen. Führt einen an Orte zurück, die man längst hinter sich geglaubt hatte. Raffi Musiker glaubte nicht ans Schicksal, aber das Fazit dieser Geschichte ist, dass es durchaus an sie glaubte.

Raffi war in Frankreich. In Paris. Es war nicht ihr erster Besuch. Doch damals war sie eine völlig andere gewesen. Jung und verliebt, noch keine Ehefrau oder Mutter. Nun war sie nicht mehr jung und auch keine Ehefrau mehr, und sie bezweifelte, dass sie jemals so richtig eine Mutter gewesen war. Doch zumindest war sie verliebt, und vielleicht war genau das der Grund, warum sie sich erneut von Paris verzaubern ließ. Als sie in der Nähe des Gare du Nord aus dem öffentlichen Transporter stieg, ignorierte sie ihren ersten Eindruck – vom Gedränge, dem Lärm, der Enge – und erlaubte der Stadt, sie in den nächsten paar Tagen zu entzücken. Über die Lichter und die Parks zu staunen. Das Gewicht ihrer Geschichte zu spüren. Sie sah hübschen Nippes, den sie einem Enkel hätte mitbringen können – wenn so etwas je zu ihrem neuen Leben gehören würde –, und kaufte stattdessen Touristenkitsch für Seven. Einen kleinen Eiffelturm. Ein T-Shirt mit der Aufschrift »I Paris«. Pralinen. Sie vermisste Seven und wünschte, sie wäre hier. Am Arc de Triomphe zählte sie alle zwölf Avenuen ab, die vom Triumphbogen ausgingen, und war von der schieren Menge an Möglichkeiten fast überwältigt. Ein völlig neues Lebensgefühl.

Was tue ich jetzt? Und was danach? Wohin soll ich gehen …?

Sie entschied sich für Kaffee und Süßes sowie – zumindest für den Moment – weniger Drama. Die Grundidee hinter dieser Reise bestand darin, eine Entscheidung zu treffen, nicht wahr? Was sie als Nächstes tun sollte. Wer diese Person war, die sie nun sein würde, nachdem die alte nicht mehr existierte.

Am Morgen ihres dritten Tages in der Stadt der Lichter holte Raffi den Flyer ab, den sie für den Rest ihrer Reise benutzen würde, und machte sich nach Süden auf, Richtung La Barre. Es war ein heißer Sommer gewesen und nun im September sahen die Felder gelb und erschöpft aus. Bald würde die Ernte beginnen. Sie erreichte das Weingut am späten Nachmittag. Als sie aus der klimatisierten Luft des nagelneuen Flyers stieg, prallte sie gegen eine Wand aus Hitze, die so drückend war, dass sie sich im ersten Moment fragte, ob jemand mit der Schwerkraft herumgespielt hatte. Eine Frau kam auf sie zu. Sie war dunkelhaarig und vielleicht ein bisschen älter als Raffi. Bei Romulanern war das manchmal schwer zu erkennen.

»Hey«, sagte Raffi unsicher. Sie kannten einander nicht sehr gut – auch wenn sie schon viel voneinander gehört hatten. Raffi wusste, dass Laris einst zum Tal Shiar gehört hatte. Zusammen mit JL hatte sie Laris geholfen, dem Geheimdienst auf die Erde zu entkommen. Raffi wusste ebenfalls, dass Laris vor Kurzem Witwe geworden war (etwas, das die Falten und Schatten im Gesicht der anderen Frau möglicherweise ebenfalls verrieten).

»Hallo«, sagte Laris und verschränkte die Arme. »Wie war die Reise?«

»Bestens«, antwortete Raffi. »Es ist heißer, als ich erwartet hatte. Dabei dachte ich immer, das Wetter in Europa sei gemäßigt. Wissen Sie, was ich meine?«

Um die Mundwinkel der anderen Frau blitzte ein Lächeln auf. »Es wird heute Nacht regnen.«

»Sind Sie sicher?«

»Bin ich. Lassen Sie mich Ihr Gepäck nehmen.«

Laris hob die Reisetasche an und führte Raffi hinein.

»Wo ist JL?«, fragte Raffi.

»Der Herr des Hauses ist mit seinem Hund unterwegs«, sagte Laris. »Dieser …«

»Verdammte Hund«, beendete Raffi gleichzeitig mit ihr den Satz.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Laris. »Ich liebe dieses Tier. Aber ich wünschte, es wäre selbstreinigend.«

»Robotik«, stimmte ihr Raffi zu. »Daystrom lässt sich da wirklich eine Chance entgehen.«

Einen Moment sah es fast aus, als würde Laris lachen. Fast. Aber das war ein Anfang. Etwas, auf dem Raffi aufbauen konnte.

Sie gingen in die Küche – ein kühler Raum mit Steinfliesen, der rustikale Schlichtheit mit Ruhe und Alter kombinierte – und Raffi setzte sich auf Laris’ Aufforderung hin an den Tisch. Sie sah der Romulanerin dabei zu, wie sie sich durch die Küche bewegte. Ein gewisses Zögern umgab alles, was sie tat, eine Art Abgelenktheit. Aber das lag vielleicht auch nur an Raffis Anwesenheit.

»Wo hast du denn bloß das Teesieb hingelegt …?«, murmelte sie. »Hm. Da wäre ich nie draufgekommen.«

Es gab Minztee, der bei der Hitze sehr erfrischend war. Sie saßen am Küchentisch und bemühten sich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, bis Raffi durch die offene Tür das Klackern von Krallen auf den Steinfliesen hörte. Der Hund (Nummer Eins, wenn sich Raffi richtig erinnerte – oh, wie unglaublich witzig, JL) kam wie eine behaarte, kurzschnauzige Rakete in die Küche geschossen, fand treffsicher sein Ziel und sprang auf Laris’ Schoß.

»Du großer dummer Kerl«, sagte sie liebevoll, während sie ihn zwischen den Ohren kraulte. »Du alter Stinker.« Das Tier ließ seine lange Zunge aus dem Maul hängen und sah bewundernd zu ihr auf.

Schritte im Flur, ein Schatten in der Tür – und da war JL, der sein Zuhause betrat, inzwischen ein völlig neuer Mann. Raffi erhob sich von ihrem Platz und bei ihrem Anblick verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Du großer dummer Kerl, dachte Raffi, während sie auf JL zuging, um ihn zu begrüßen. Du alter Stinker.

»Raffi«, sagte er erfreut und zog sie in eine Umarmung, die sie unbeholfen erwiderte. »Es ist schön, Sie endlich mal hier zu haben.«

»Schön, endlich mal hier zu sein.«

»Laris.« Er warf der Romulanerin einen besorgten Blick zu. »Alles gut?«

»Alles gut«, antwortete sie fast ein wenig ungeduldig. »Machen Sie kein Theater.«

Es entstand eine unangenehme Stille. Raffi stellte ihren Tee ab. »Wissen Sie, JL?«, sagte sie. »Ich bin jetzt schon fast eine Stunde hier und hatte noch kein einziges Glas Wein.«

Man brachte Wein, zusammen mit Käse und Brot. In einem beständigen und gut eingespielten Prozess verwandelte sich dieser Imbiss in ein größeres, wenn auch schlichtes Mahl und Raffi hatte das stille, aber unbestreitbare Vergnügen, JL dabei zu beobachten, wie er die korrekte Zusammenstellung eines grünen Salats anwies. Sie wechselten von der Küche auf die Terrasse, mit einer herrlichen Aussicht auf JLs Weingut. Das Land seiner Ahnen. Raffi dachte, wie erstaunlich es sein musste, an einem Ort mit einer solchen Geschichte zu leben. Einer Geschichte, die so eng mit der eigenen Familie verknüpft war. Nun gab es reichlich Wein, auch wenn Raffi darauf achtete, sich zu zügeln. Schließlich war sie eine neue Frau. Clean und trocken. Na ja, größtenteils. Am Ende des Essens kam eine Crème Brûlée, die Raffi noch lange in Erinnerung bleiben würde. Als der Nachtisch beendet und ausreichend überdacht worden war, stand Laris auf.

»Also dann«, seufzte sie. »Der Tisch räumt sich nicht von allein ab.«

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Raffi und machte Anstalten, sich ebenfalls zu erheben.

Laris, die bereits Teller übereinanderstapelte, schüttelte den Kopf. »Nummer Eins wird mir Gesellschaft leisten. Bleiben Sie sitzen und unterhalten Sie sich mit Seiner Lordschaft.« Und damit verschwand sie in der Küche. Der Hund trottete hinter ihr her. Raffi wartete, bis sie außer Hörweite war.

»Wie geht es ihr?«, fragte sie.

»Nicht gut«, gab JL zu. »Sie und Zhaban waren lange zusammen. Haben ihre alten Leben geopfert, um zusammen zu sein.«

Raffi, deren eigene Verluste größtenteils selbst verursacht gewesen waren, überlegte, wie das sein musste. Jemandem fast ein ganzes Leben lang so nah zu sein, nur um sich mit dem plötzlichen und grausamen Ende dieser Partnerschaft konfrontiert zu sehen. »Manchmal gibt es wirklich keine Gerechtigkeit, oder?«

»Selten«, sagte JL. »Aber wir versuchen es.« Er streckte sich. »Ich bin froh, dass Sie die Zeit gefunden haben, um mich zu besuchen, Raffi. Aber habe ich recht in der Annahme, dass Sie etwas auf dem Herzen haben?«

»Bin ich so einfach zu durchschauen?«

»Nur für mich.«

»Hm. Na ja, irgendwie haben Sie recht. Ich bin mir unsicher, was meine nächsten Schritte angeht.«

JL zupfte sich etwas Brot ab. »Ich dachte, Sie wollten wieder zur Sternenflotte.«

»Ja, schon, aber … das ist eine große Truppe.«

»Ist es.«

»Und zu meinem Erstaunen gab es … na ja, nicht gerade eine Flut anderer Angebote, aber doch mehr, als ich erwartet hatte.« Raffi streckte ihre Hände aus, als würde sie ihre Optionen abwägen. »Das Daystrom hat mich gebeten, über einen vorübergehenden Wechsel zu ihnen nachzudenken. Mich der großen Tour anzuschließen und die frohe Kunde von den Androiden zu verbreiten …« Sie unterbrach sich. »Ich weiß nicht.«

»Ich bin mir beim besten Willen nicht sicher, ob ich Öffentlichkeitsarbeit als Ihre Stärke bezeichnen würde, Raffi«, sagte JL.

»Damit sind wir schon zwei«, erwiderte sie. »Allerdings würde es schon Spaß machen, mit Agnes zusammenzuarbeiten … Hey, sehen Sie mich nicht so an! Ich mag Agnes, wirklich. Aber … nein. Nichts für mich.«

»Sie sprachen von mehreren Angeboten?«, fragte er.

»Ja.«

»Und eins davon bereitet Ihnen … was? Sorgen? Bedenken?«

Statt einer Antwort starrte Raffi in die Ferne. Das Weingut lag inzwischen im Dunkeln, auch wenn sie die Lichter des nahe gelegenen Dorfs sehen konnte. Die Hitze und das Gewicht der Geschichte waren immer noch drückend. »Der Sternenflottengeheimdienst will mich wieder in meinem alten Job haben.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »In der Abteilung für romulanische Angelegenheiten?«

»Japp.«

»Und Sie ziehen das ernsthaft in Erwägung?«

»Ich weiß es nicht. Das ist ja das Problem – ich weiß es einfach nicht. Sie sagen, dass ich nicht zur Öffentlichkeitsarbeit tauge, und … ja, damit haben Sie recht. Ich kenne meine Stärken – und meine Schwächen. Ich bin eine großartige Analystin. Ich kann Dinge sehr schnell einschätzen, ziehe Verbindungen, erkenne, was getan werden muss, und erledige es. Aber …«

»Aber Sie sind besorgt, dass die Rückkehr in den Geheimdienst die falschen Knöpfe drücken könnte«, sagte JL. »Sie haben Angst, dass Sie wieder Dinge sehen könnten, die nicht da sind. Wieder paranoid werden könnten.«

Sie lehnte sich ein wenig vor. Diese Ängste – diese Wahrheiten – waren nicht leicht auszusprechen, aber wie sonst sollte sie sich von ihnen befreien? »Ja«, bestätigte sie leise. »Wissen Sie, es ist so unfair, dass es aus so vielen verschiedenen Gründen keine Rolle spielt, dass ich recht hatte. Es gab diese große Verschwörung. Dennoch hat es mich so viel gekostet. Meine Gesundheit. Meinen …« Meinen Mann. Meinen Sohn. Meine Ehe. Mein altes Leben. »Es hat mich viel gekostet.«

»Und Sie sind besorgt, dass es erneut passieren könnte, wenn Sie wieder von dieser Quelle trinken?«

»Sie drücken sich immer so hübsch aus«, sagte sie.

»Wissen Sie, Raffi, ich habe hier eine lange Zeit damit verbracht …«

»Zu schmollen«, beendete sie seinen Satz.

»Zu schmollen, ja. Aber auch zu schreiben. Dadurch habe ich gelernt, wie man etwas hübsch ausdrückt. Ganz allein in diesen Hügeln, mit nichts als meinen Gedanken und meinen Büchern als Gesellschaft. Prospero auf seiner Insel.« JL schmunzelte. »Es gibt wohl schlimmere Möglichkeiten, seinen Lebensabend zu verbringen, als gemütlich herumzusitzen und über die eigene Vergangenheit nachzudenken.«

»Was wollen Sie damit sagen, JL? Dass ich meine Memoiren schreiben soll? Die Welt will bestimmt nicht jedes lausige Detail meiner lausigen Vergangenheit erfahren.«

»Sie wissen ganz genau, dass ich nichts dergleichen sagen will! Aber ich denke, dass Sie mit Ihren Zweifeln, ob der Sternenflottengeheimdienst die beste Entscheidung für Sie wäre, recht haben.« Er räusperte sich. »Tatsächlich hatte ich von diesem Angebot auch schon gehört …«

»Hm.« Ihre Augen verengten sich. »Ihnen entgeht nichts, oder?«

»Nicht viel. Positiver betrachtet bedeutet das aber auch, dass ich bereits darüber nachgedacht habe, was am besten zu Ihnen passen würde.«

»Sie denken an mich?« Raffi legte ihre Hand aufs Herz. »JL! Ich bin gerührt! Nein, wirklich.«

»Hm. Wissen Sie, dass ich an der Akademie anfange?«

»Ich hörte davon«, sagte sie. »Als Vorsitzender. Es gibt wohl langsam kaum noch einen Titel, den Sie nicht innehatten. Also warum nicht alle sammeln?« Sie sah ihn schelmisch an. »Hey, gibt es da einen besonderen Hut für Sie? Einen richtig schicken?«

»Einen ganz außerordentlich schicken«, erwiderte er mit maßvoller Würde, »den ich – wenn ich richtig informiert bin – in regelmäßigen Abständen bei Zeremonien zu tragen habe.«

»Und ziemlich anständige Dinner wird es auch geben.«

»Wenn nicht sogar richtige Bankette«, ergänzte er.

»Viele Leute, die voller Ehrfurcht und Bewunderung zu Ihnen aufblicken …«

»Klingt ideal für mich, oder?«

»Klingt perfekt«, erwiderte Raffi. »Aber jetzt genug über Ihre Zukunftspläne. Sie sagten doch, dass Sie über mich nachgedacht hätten.«

»Das habe ich. Das tue ich. Warum begleiten Sie mich nicht?«

»Wie bitte?«

»Begleiten Sie mich«, wiederholte er, doch sie verstand immer noch nicht.

»Wohin?«, fragte sie. »An die Akademie?«

»An die Akademie.«

»An die … JL, das ist eine furchtbare Idee. Ich meine, abwegig schlecht, sogar für Sie.«

»Warum, Raffi?« Er schien aufrichtig neugierig zu sein. »Warum denken Sie das?«

Raffi dachte an ihre eigene Zeit an der Akademie zurück. Sie hatte sie durchaus genossen, auch wenn die Regeln und Beschränkungen ermüdend gewesen und oft von ihr umgangen worden waren. Typisch Raffaela. »Na ja, zum einen … was würde ich dort tun?«

»Unterrichten, würde ich annehmen«, sagte er. »Das ist schließlich der Sinn und Zweck dieser Einrichtung.«

»JL, ernsthaft jetzt? Ausgerechnet ich soll junge Köpfe formen? Mit meiner Vorgeschichte? Ich, die Mutter des Jahrhunderts?«

»Raffi, Sie waren eine gute Mutter …«

»Oh nein. Nein. Lassen Sie uns nicht die Geschichte verfälschen. Ich war eine schreckliche Mutter. Eine katastrophale.«

»Sie waren eine gute Mutter, wenn Sie da waren. Sie haben ihn geliebt. Lieben ihn noch …«

»Ja, aber genau das war das Problem. Ich war nie da. Und selbst wenn, war mein Geist woanders. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Verschwörungstheorien hinterherzujagen …«

»Theorien, die sich als korrekt herausgestellt haben.«

»Sagen wir’s doch, wie’s ist: Ich habe mein Kind vernachlässigt. Was die Frage aufwirft, warum Sie denken, dass ausgerechnet ich als Lehrerin geeignet sein sollte.«

»Lehrerin und Mutter zu sein sind zwei verschiedene Dinge …«

»Ich meine, was genau soll ich diesen Kindern denn beibringen? Wie man bei seinen Vorgesetzten aneckt? Wie man im genau falschen Moment die Klappe aufreißt?«

»Sie könnten ihnen Beharrlichkeit beibringen«, sagte er leise. »Ehrlichkeit. Integrität …«

»JL, Sie sind betrunken. Kommen Sie mal wieder runter.«

»Ich meine es ernst«, beharrte er und so langsam glaubte sie das auch. Zwar völlig fehlgeleitet, aber aufrichtig. »Raffi, ich denke, das Unterrichten an der Akademie könnte für Sie eine wahrhaft befriedigende und erleuchtende Erfahrung sein.«

»Oh, ich weiß, was Sie hier tun«, sagte Raffi. »Sie glauben, das würde mir ein paar alte Dämonen austreiben, was? Hab ich recht?«

»Das könnte es durchaus, aber das ist nicht der Grund, warum ich es Ihnen vorschlage. Ganz im Gegenteil. Raffi, haben Sie bei Ihren Erwägungen, was Ihre Pläne angeht, schon mal in Betracht gezogen, dass es besser sein könnte, weniger darüber nachzudenken, was Ihre Vergangenheit wieder in Ordnung bringen könnte, und stattdessen darüber, welche Gestalt Ihre Zukunft annehmen soll?«

Das war ein ziemlich guter Ratschlag, das musste selbst Raffi zugeben. Aber … die Akademie? Sie schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, da gibt es wohl schlechtere Ideen. Zum Beispiel mit Jurati herumzureisen …« Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Hey, fängt Elnor nicht jetzt auch an?«

»Elnor?« JL griff nach seinem Glas Wein.

Kein Augenkontakt? In Raffis Kopfs gingen die Alarmsirenen los. »Ja, Elnor«, sagte sie. »Fängt er nicht nächstes Semester an der Akademie an?«

»Er erwägt diese Option, ja.«

Die Warnsirenen wurden immer lauter. »JL, wollen Sie mich deshalb dort haben?«

»Was?« Er blickte von seinem Glas zu ihr auf.

»Weil Sie einen Babysitter für Elnor wollen?«

Er wirkte ertappt. »Nein«, sagte er. »Er hat ja noch nicht mal endgültig entschieden, ob er wirklich dort anfangen will …«

»Aber falls ja, wäre es hilfreich, wenn ich auch da wäre.« Raffi schüttelte den Kopf. »Während Sie damit beschäftigt sind, Ihren schicken Hut zu lüften und Ihre vornehmen Dinner zu genießen …«

»Raffi! So ist es nicht!«

»Wissen Sie, ich denke, die Akademie könnte wirklich eine tolle Sache sein«, sagte sie. »Für Elnor.«

»Ich bin mir da nicht sicher«, seufzte JL. »Absolute Ehrlichkeit bringt einem nicht viele Freunde ein.«

»Nein, aber er muss welche finden.«

»Freunde?«

»Freunde. Leute. Jemanden, der zu ihm steht.«

»Sie meinen eine Mannschaft?«, fragte JL.

»Ein aufschlussreicher Einblick in Ihre Art zu denken, Admiral Picard. Aber ich schätze, was ich meinte, war … eine Familie.«

»Wie zum Beispiel eine Mutter«, sagte JL und sah sie spitzbübisch über sein Weinglas hinweg an.

»Dieser Junge hat mit Sicherheit die Nase voll von älteren Frauen, die ihn herumkommandieren«, entgegnete Raffi überzeugt.

In diesem Moment kam Laris mit einer Kaffeekanne zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Während JL eingoss, sah sie Raffi an. »Ich sehe an Ihrer Miene, dass er sie wegen der Akademie gefragt hat.«

»Ja«, antwortete Raffi. »Und ich habe ihm erklärt, warum das eine schlechte Idee ist.«

»Hm.« Laris sah sie neugierig an. »Denken Sie wirklich, dass es eine schlechte Idee ist?«

»Auf jeden Fall. Warum? Glauben Sie das etwa nicht?«

Laris zuckte mit den Schultern. »Wenn ich im vergangenen Jahr eins gelernt habe, dann dass das Schicksal oft unerwartete Pläne für uns hat. Man weiß nie, wohin die Reise als Nächstes geht oder was aus einem wird.«

Das Wort Witwe hing schwer in der Luft. Raffi nahm ihren Kaffeebecher und trank die heiße, bittere Flüssigkeit. Gestärkt erwiderte sie: »Ich werde darüber nachdenken.«

»Gut«, sagte JL. »Danke.«

»Aber ich mache keine Versprechungen«, fügte sie hinzu. Wenn es eins gab, was Raffi durch ihre lange Geschichte mit Jean-Luc Picard wusste, dann, dass er die irritierende Angewohnheit hatte, seinen Willen zu bekommen.

Sie war immer noch verärgert über ihn, als sie zu Bett ging. Manchmal vergaß JL in seinem Wunsch, alles wieder in Ordnung zu bringen, dass die Leute ihre eigenen Wünschen hatten. Er sah, dass Elnor einsam war und dass Raffi nicht genau wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Also war er der Meinung, dass es beide Probleme auf einen Schlag lösen würde, wenn er sie an der Akademie zusammenbringen würde. Natürlich unter seiner wohlwollenden Beobachtung. Ob sie auch tatsächlich den Wunsch hatten, an der Akademie zu sein (oder unter seiner Aufsicht), war nebensächlich. Raffi seufzte und wälzte sich im Bett herum. Ihr war zu heiß und sie fühlte sich ruhelos. Es sollte lange dauern, bis sie einschlief.

Mitten in der Nacht wurde Raffi von Donner geweckt. Sie stand auf und ging zum Fenster. Blitze zuckten über den nahen Hügeln, große blauweiße gezackte Linien, die zu dieser späten Stunde seltsam überirdisch wirkten, eher wie das unergründliche Signal einer fremdartigen Macht als ein völlig natürliches Phänomen. Sie sah sich die Lightshow an und lauschte dem immer näher kommenden Donner. Er gipfelte schließlich in einem großen Knall direkt über dem Haus, dann entfernte er sich rasch. Sofort fühlte sich die Luft frischer an. Sie kehrte ins Bett zurück und ließ sich vom beständigen Rauschen des Regens wieder in den Schlaf wiegen.

Am Morgen kehrte die Sonne zurück, allerdings viel milder. Die Welt da draußen war blitzsauber und das Haus sehr still. Ihre Gastgeber waren entweder noch im Bett oder vielleicht sogar schon draußen. Raffi ging nach unten in die Küche. Nummer Eins, der mit dem Kopf auf seinen Vorderpfoten in einer Ecke gelegen hatte, sprang auf und kam ihr in den kühlen Morgen hinterher. Kameradschaftlich gingen sie eine Stunde lang spazieren. Der Hund lief öfter vor, um an interessanten Stellen zu schnuppern, kehrte aber immer wieder zu ihr zurück und führte sie weiter seinen Lieblingspfad entlang. Raffi dachte über das Gespräch vom gestrigen Abend nach. An diesem klaren neuen Tag kam ihr die Idee mit der Akademie gar nicht mehr so albern vor. An diesem Morgen kam ihr einfach alles möglich vor. Vielleicht hatte sie ja wirklich etwas zu lehren. Vielleicht gab es etwas – ein Fachwissen, eine Erkenntnis –, von dem andere zu Beginn ihrer Laufbahn profitieren konnten. Jetzt gerade genoss sie einfach nur das Gefühl, Optionen zu haben.

Bei Raffis Rückkehr ins Haus wurde sie vom Duft frischen Kaffees und brutzelnden Specks begrüßt. Offenbar war Laris aufgestanden. Beim Frühstück unterhielten sie sich über den Sturm und wie angenehm es sich abgekühlt hatte. Raffi kam der Gedanke, wie schön es war, am Leben zu sein – doch sie sprach ihn nicht aus. Nachdem sie Laris beim Abräumen geholfen hatte, schlenderte Raffi durchs Haus, bis sie auf die Bibliothek stieß. In den Regalen fand sie JLs gesammelte Werke. »Interessant«, murmelte sie und wählte einen Band über die französische Résistance während des Zweiten Weltkriegs. Und es stellte sich tatsächlich als interessant heraus: sorgfältig recherchiert und klar verständlich geschrieben. Natürlich war JL auch ein hervorragender Historiker. Natürlich.

Am Vormittag erschien JL dann auch endlich wieder höchstpersönlich mit einem Padd unter dem Arm. Er setzte sich neben sie, warf das Padd leicht genervt auf den Tisch und nahm sich stattdessen das Buch, in dem sie gelesen hatte. Er blätterte es durch, bevor er es wieder neben sein Padd legte.

»Es ist gut«, bemerkte sie. »Sie sollten darüber nachdenken, das Schreiben zum Hobby zu machen.«

»Danke«, murmelte er abwesend, ohne auf ihren Scherz einzugehen.

So einfach würde sie ihn heute also nicht zum Lächeln bringen. Kurz überlegte Raffi, warum sie es weiterhin versuchte, gab aber dennoch nicht auf. »Hey«, sagte sie. »Ich erinnere mich an diesen Gesichtsausdruck. Er bedeutet, dass Ihnen jemand Schwierigkeiten macht, und das wiederum bedeutet, dass auch mir jemand Schwierigkeiten machen will.«

»Nun ja, ich hoffe doch sehr, meine Probleme nicht zu Ihren zu machen …« Er musterte sie. »Aber vielleicht könnten Sie helfen …«

Ach verdammt, dachte Raffi. Jetzt werde ich wieder in irgendwas reingezogen, oder? Damit hatte sie recht, auch wenn sie in diesem Moment noch nicht wissen konnte, in welchem Ausmaß. »Worum geht es denn?«, fragte sie schicksalsergeben.

»Würden Sie schreiend davonlaufen, wenn ich Diplomatie sagen würde?«

»Nein. Ich bin heute schon genug gelaufen. Aber Diplomatie ist nicht gerade meine Stärke«, sagte sie. »Probleme mit den Romulanern?«

»Diesmal sind es nicht die Romulaner. Sondern etwas Schlimmeres.«

»Schlimmer als Romulaner?«

»Cardassianer. Und … Bajoraner.«

»Ah«, meinte Raffi. »Ich schätze, in Kombination könnten die schlimmer als Romulaner sein.« Sie klatschte in die Hände. »Also, was ist los?«

»Nachwirkungen der Besatzung.«

»Das war vor meiner Zeit«, erwiderte Raffi. Sie hatte kurz nach dem Ende der Cardassianischen Besatzung Bajors den Abschluss an der Akademie gemacht und direkt in einem Schreibtischjob in der Abteilung für romulanische Angelegenheiten angefangen. Ihre Erfahrung mit Cardassianern beschränkte sich auf eine zugegebenermaßen intensive Begegnung nach Kriegsende. Mit Bajoranern hatte sie kaum bis gar keine Erfahrung. Aber sie wusste, dass JL zwischenzeitlich ein besonderes Interesse an Bajor gehabt hatte. Wie an so vielen Dingen.

»Die Besatzung Bajors liegt inzwischen für immer mehr Leute vor ihrer Zeit«, sagte JL in einem Tonfall, den Raffi insgeheim als Vortragsmodus bezeichnete. Ja, er würde es an der Akademie lieben. »Aber sie ist noch nicht endgültig Geschichte. Nicht, solange einige Personen, die in diese furchtbaren Ereignisse involviert waren, noch am Leben sind. Doch das macht die Situation auf andere Weise kompliziert …«

»Na, dann los«, forderte sie ihn auf. »Erzählen Sie mir alles darüber.«

»Also gut.« Er lächelte. »Wie viel wissen Sie über die derzeitigen bajoranisch-cardassianischen Beziehungen?«

»Ich schätze, sie sind irgendwo zwischen …«, sie wackelte mit der Hand, »frostig und ablehnend?«

JL lachte heiser auf. »Gut zusammengefasst. Ja.«

»Und ich schätze, es hat etwas mit den Auslieferungen zu tun?«

»Ah«, sagte er beeindruckt. »Sie sind wirklich auf dem Laufenden.«

»Man bekommt kein Angebot, sich wieder dem Geheimdienst anzuschließen, wenn man nicht auf dem Laufenden ist. Und wissen Sie, was ich im Laufe der Jahre gelernt habe? Nur weil auf etwas nicht ›Romulaner‹ steht, bedeutet das nicht, dass es der Sternenflotte nicht um die Ohren fliegen kann.«

»Nein.« Er musterte sie nachdenklich. »Man sollte Sie nicht unterschätzen, Raffi.«

»Genau meine Rede. Also. Auslieferungen für während der Besatzung verübte Verbrechen. Ich dachte, die laufen schon – oder besteht das Problem darin, dass sie verschoben wurden? Weigern sich die Cardassianer, jemanden rauszurücken?«

»Schwer zu sagen.« Er seufzte. »Im Großen und Ganzen haben Sie recht – die Auslieferungen laufen langsam, aber beständig. Beträchtlich besser, als wir erwartet hatten. Die neue Kastellanin ist zu einem Viertel Bajoranerin, wissen Sie? Eine ihrer Großmütter hatte offenbar eine Liebschaft mit einem cardassianischen Offizier. Einvernehmlich, möchte ich hinzufügen.«

»Das wird bei der glatten Durchführung geholfen haben, nehme ich an.«

»Hat es. Um den früheren cardassianischen Anführern gegenüber fair zu bleiben, ist die Bereitschaft, die überlebenden Täter während der Besatzung verübter Gräuel auszuliefern, seit dem Ende des Domionion-Krieges weitgehend konsequent geblieben. Ich nehme an, es war wohl eine gute Entscheidung, es zu einer Bedingung der fortgesetzten Wiederaufbauhilfe zu machen.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Raffi. Die Cardassianische Union war am Ende des Dominion-Krieges praktisch ausgelöscht gewesen. Zum Zeitpunkt der cardassianischen Kapitulation waren es bereits über achthundert Millionen Tote gewesen, während noch viele weitere durch die nachfolgenden Hungerjahre gestorben waren. Ohne die Unterstützung der Föderation wäre diese Zahl erheblich größer gewesen. »Und wo liegt jetzt das Problem?«

»Die Bajoraner bestehen auf der Auslieferung einer konkreten Person.«

»Und die Cardassianer weigern sich?«

»Nicht ganz. Die cardassianische Regierung behauptet, dass sich diese Person nicht mehr in ihrem Autoritätsbereich aufhält. Tatsächlich scheint sie sich regelrecht in Luft aufgelöst haben.«

»Hm«, machte Raffi.

Picard schob ihr sein Padd hin und Raffi las die Datei neugierig und zunehmend beunruhigt. Es handelte sich um eine hochkarätige Person, die sowohl vor als auch nach dem Dominion-Krieg diverse Positionen in der cardassianischen Regierung innegehabt hatte und zu einem bestimmten Zeitpunkt sogar Botschafter in der Föderation gewesen war. Die Details ihrer frühen Jahre waren ziemlich lückenhaft, genau wie die der letzten zwei, drei Jahre. Für die vergangenen neun Monate gab es überhaupt nichts.

»Ich verstehe, wie das zu Schwierigkeiten führen kann«, sagte sie.

»Die Bajoraner sind ziemlich aufgebracht.«

»Aber sie denken doch nicht wirklich, dass die cardassianische Regierung dahintersteckt, oder?«, fragte sie. »Die würden doch wegen dieses Kerls keinen diplomatischen Zwischenfall riskieren. Der ist doch Schnee von gestern. Die Bajoraner können doch nicht ernsthaft glauben, dass ihn die Cardassianer verstecken?«

»Die Bajoraner deuten zunehmend an, dass sie zu genau dieser Schlussfolgerung kommen könnten.«

Raffi sah stirnrunzelnd auf das Padd. Diplomatie war immer überkompliziert. Doch genau so funktionierte die Geschichte meistens. Komplikation über Komplikation, und die Stelle, an der sich Bajoraner und Cardassianer überschnitten, war wohl eine der kompliziertesten überhaupt. Raffis einzige Erfahrung mit den Nachwirkungen dieser weit zurückliegenden und tragischen Vergangenheit reichte ihr für ein ganzes Leben. Sie war nicht scharf darauf, so etwas noch mal zu erleben.

»Und ich nehme an, der bajoranische Geheimdienst ist bereits dran?«, fragte sie.

JL lehnte sich vor, um eine andere Datei auf dem Padd zu öffnen. »Richtig. Hier ist ihr neuester Stand. Sie denken, dass sie eine Spur von ihm gefunden haben, nachdem er Cardassia Prime verlassen hat.«

Raffi las sich die Datei durch. Gegen Ende stand dort, der bajoranische Geheimdienst sei davon überzeugt, dass seine Zielperson einen Transporter zu einer der cardassianischen Koloniewelten bestiegen habe. Raffi kannte den Namen dieser Welt, auch wenn sie seit Jahren nicht mehr an sie gedacht hatte. Im Gegenteil: Sie hatte sich sogar bemüht, sie zu vergessen. Ordeve. Ihr wurde ein wenig übel, als würde sie plötzlich am Rand einer Klippe stehen. Oder direkt vor einer Falle, die jede Sekunde zuschnappen könnte. JL sah sie sehr aufmerksam an.

Du Mistkerl.

Raffi räusperte sich. »Ich war auf Ordeve stationiert«, sagte sie. »Gegen Ende des Dominion-Krieges.«

»Ich weiß«, nickte JL.

»Natürlich wissen Sie das«, erwiderte Raffi. »Und jetzt wollen Sie, dass ich dorthin zurückkehre, was?«

»Raffi, ich will nicht, dass Sie irgendetwas tun, was Sie nicht tun wollen.«

»Oh, hören Sie schon auf mit dem Scheiß, JL!« Raffi starrte wütend auf die Datei und ließ den Text über das Padd scrollen, bis er vor ihren Augen verschwamm. Sie versuchte, sich zu beruhigen. »Ich hab ihn mal getroffen, wissen Sie? Ganz flüchtig. Als er auf der Erde war. Aber auch das wissen Sie, oder?«

»Ja«, gab er zu. »Sie können davon ausgehen, dass ich Ihre Akte aus dieser Zeit gelesen habe. Darüber hinaus können Sie davon ausgehen, dass ich auch den Bericht über die nachfolgende Untersuchung kenne …«

»Wir wurden von allen Vorwürfen freigesprochen«, beteuerte Raffi.

»Natürlich«, erwiderte er. »Aber was ich den Berichten nicht entnehmen konnte, war Ihr Eindruck von diesem Ort, Raffi. Aus dem, was ich gelesen habe, weiß ich, dass Ordeve eine seltsame Wirkung auf die dort Stationierten hatte …«

»Wissen Sie, warum?«, sagte Raffi. »Weil dort alle einen Haufen Drogen genommen haben.«

»Einschließlich Ihnen?«

»Weniger, als Sie sich vielleicht vorstellen«, betonte sie.

»Mehr steckte nicht dahinter?«

»Nein«, antwortete sie. »Vielleicht doch. Dieser Ort war seltsam. Da waren diese Träume …«

»Träume?«

»Ich hab doch gesagt, dass sich da alle Drogen reingeworfen haben. Hören Sie, JL, ich habe wirklich keine guten Erinnerungen an meine Zeit dort.« Aber wer hatte schon gute Erinnerungen an diese Zeit? Warum sollte es für sie anders sein?

JL lehnte sich zurück und faltete seine Hände. Seine Professorenhaltung. »Erzählen Sie mir mehr über Ordeve.«

»Sie haben gesagt, Sie hätten die Berichte gelesen.«

»Raffi.«

Sie stand auf und ging zum Fenster, verschränkte die Hände im Rücken und starrte in den Garten. Ein zauberhafter Ort. Goss er seine Blumen selbst?

»Ordeve war eine extrasolare bajoranische Kolonie«, sagte sie. »Die Cardassianer haben sie während der Besatzung annektiert und sich dort breitgemacht. Im Dominion-Krieg haben die Romulaner den Planeten eingenommen, haben ihn danach aber wieder den Cardassianern übergeben. Seitdem ist er in ihren Händen …«

»Ich kenne die historische Entwicklung«, unterbrach er sie sanft. »Ich habe um Ihre persönlichen Eindrücke gebeten. Was könnte diesen speziellen Mann an diesen speziellen Ort ziehen?«

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, warum da irgendjemand hingehen sollte. Er liegt mitten im Nichts. Und auf keinen Fall würde irgendjemand dorthin zurückwollen.«

»Wegen der Träume?«

Die Träume waren mit Sicherheit eine Sache, aber das war noch nicht alles, was auf Ordeve vor sich gegangen war. Da gab es noch die Tode, die Verluste, das Blutvergießen und die Geheimnisse …

»Es gab einen Grund, warum sich die Leute dort betäuben wollten«, erklärte Raffi. »Es war, als wüssten wir alle, dass wir an einem Ort waren, an dem immer wieder schlimme Dinge passierten. Und da saßen wir, wie auf dem Präsentierteller für die Romulaner. Wir wollten nur noch weg, bevor die nächste Runde Töten begann.« Sie versuchte, sich zu sammeln. »Nach dem Waffenstillstand haben die Romulaner noch jede Menge Cardassianer umgebracht, wissen Sie? Und auf Ordeve haben sie dafür geübt.«

»Aber es ist ihnen nicht gelungen«, wandte er ein. »Diese Cardassianer müssen froh gewesen sein, dass die Sternenflotte da war. Dass Sie da waren.«

»Schätze schon.«

»Das muss eine furchterregende Zeit gewesen sein, Raffi.«

Er lag nicht falsch. Doch es waren nicht die Ereignisse dieser Mission, die Raffi während ihrer Zeit auf Ordeve solche Angst gemacht hatten. Der Ort hatte etwas … Unheimliches an sich. Ja, das war das richtige Wort. »JL«, sagte sie. »Glauben Sie, dass manche Orte verflucht sein können?«

»Nein«, erwiderte er entschieden. »Nein, das tue ich nicht. Ich glaube nicht an das Übernatürliche. Ich bin fest davon überzeugt, dass alles im Universum erklärbar ist, wir aber vielleicht noch nicht die Sprache oder die Mittel gefunden haben, um es zu tun. Ich bin allerdings sehr daran interessiert, warum Sie diesen Ort so beschreiben. Was genau meinen Sie damit?«

»Ich meine … dass es bei Orten mit einer gewaltsamen Vorgeschichte manchmal so wirkt, als hätten sie eine Wunde davongetragen, die niemals heilt. Dass sich das Trauma, das dort stattgefunden hat, unaufhörlich wiederholt. Dass es dort Narben gibt, die nie verschwinden werden …«

»Viele durchleben ihre traumatischen Erfahrungen in Flashbacks immer wieder. Der Schaden wird in einer ewigen Gegenwart festgehalten und nie wirklich …«

»Ja, schon klar, aber … ich war völlig in Ordnung, bevor ich nach Ordeve kam. Es war dieser Ort, der traumatisiert war …« Und der sie in gewisser Weise verwundet hatte. Damals, gleich zu Beginn ihrer Sternenflottenlaufbahn. War seitdem irgendetwas richtig gelaufen?

»Ich verstehe«, sagte JL. Er setzte sich gerade auf, als würde er damit einen Schlussstrich unter ihr Gespräch ziehen. »Danke, dass Sie mir mehr erzählt haben, Raffi. Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Zeit wieder ins Gedächtnis gerufen habe.«

Sie blickte weiter auf sein Weingut hinaus und fragte sich erneut, wie es sich wohl anfühlen musste, Teil einer solchen Geschichte zu sein, eine so lange Verbindung zu einem solchen Ort zu haben. Raffis eigene Versuche, Wurzeln zu schlagen, waren schon vor Jahren in sich zusammengestürzt, und erst in den letzten paar Monaten hatte sie wieder das Gefühl, sich immer noch etwas Solides, etwas Dauerhaftes, eine Art Zuhause erschaffen zu können. Aber verglichen mit dem, was JL hier hatte, fragte man sich schon, ob es die Mühe überhaupt wert war.

»JL«, fragte sie. »Haben Sie mich deshalb hierher eingeladen?«

»Was?« Er klang verwundert. »Was meinen Sie?«

»Wussten Sie von dieser Sache, von Ordeve, bevor Sie mich eingeladen haben?«

»Raffi, aber nein, natürlich nicht …«

»Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass ich für andere« – Sie zum Beispiel, JL – »mehr Mittel zum Zweck bin als …« Als eine eigenständige Person. Als jemand mit Hoffnungen und Ängsten, Wünschen und Träumen. Manchmal kam es Raffi so vor, als wären diese Dinge jemandem wie ihr nicht gestattet. »Ich selbst. Raffi.«

Sie stand immer noch mit dem Rücken zu ihm. Sie hörte das Knarzen des Stuhls, als er aufstand, und leise Schritte, während er zu ihr kam. Dann legte er ihr sanft die Hand auf die Schulter.

»Ich schwöre Ihnen«, versicherte er ihr, »dass ich absolut keine Ahnung davon hatte, als ich Sie eingeladen habe. Ich wollte, dass Sie mich besuchen – darum habe ich gefragt! Diese Datei ist erst heute Morgen angekommen. Als ich den Namen Ordeve las, habe ich mich erinnert, ihn schon mal in Ihrer Akte gelesen zu haben. Ich wusste, dass Sie darüber nachdenken, was Sie als Nächstes tun sollen. Dass eine Rückkehr zum Sternenflottengeheimdienst zur Diskussion steht. Ich dachte, dass eine Mission wie diese vielleicht so etwas wie ein, sagen wir … Testlauf sein könnte. Um zu sehen, ob die Geheimdienstarbeit immer noch nach Ihrem Geschmack ist …«

»Nach meinem Geschmack?«

»Raffi«, sagte er. »Sie müssen verstehen, dass Sie allein jetzt die Kontrolle über Ihr Leben haben. Was immer als Nächstes geschieht, wird Ihre Entscheidung sein. Nein – ich habe Sie nicht hierher eingeladen, um Sie mit Wein und gutem Essen abzufüllen und Sie zu überreden, für mich auf eine Mission nach Ordeve zu fliegen. Aber als ich die Datei las, dachte ich, dass es vielleicht etwas für Sie wäre …«

»Aber Sie wären froh, wenn ich die Mission übernehmen würde?«

»Ich wäre froh, wenn diese Mission in den Händen von jemandem wie Ihnen läge.«

»Gut gerettet«, erwiderte sie. »Aber die Frage ist – will ich wirklich an diesen verdammten Ort zurück?«

»Das unerforschte Leben«, sagte JL bedeutungsschwer, »ist nicht lebenswert.«

»Wo haben Sie immer diese Sprüche her? Aus Glückskeksen?«

»Ich denke, das wird im Allgemeinen Sokrates zugesprochen.«

»Ach ja? Und wo ist der heute?«

Er lachte und tätschelte ihren Arm. »Dann werden Sie es also tun?«

»Das wissen Sie doch ganz genau. Wie könnte ich eine Bitte des verdammten Admiral, Vorsitzenden, Was-auch-immer-Sie-jetzt-sonst-noch-sind Jean-Luc Picard ablehnen?«

»Sie haben zu viel Zeit mit Laris verbracht.«

»Laris hat Sie genau durchschaut.«

»Das hat sie wohl.« JL lächelte. »Danke, Raffi, dass Sie das übernehmen werden. Seien Sie versichert, dass Ihnen alles, was Sie brauchen, zur Verfügung stehen wird.«

»Oh, ich kann’s kaum erwarten.«

»Und das Angebot, an der Akademie anzufangen, steht immer noch.«

»Oh bitte«, sagte sie. »Jetzt reichen Sie mir endlich diesen Schierlingsbecher.«

Raffi ging noch eine Runde mit dem Hund spazieren. Sie hatte ein Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe und die schenkte ihr Nummer Eins gern. Sie stampfte über das Picard-Anwesen und funkelte jede einzelne Traube finster an. Sie schwor sich, niemals wieder Wein zu trinken. Sie schwor sich, nie wieder französischen Boden zu betreten. Während sie weitermarschierte, entfernte sich der Hund nie weit von ihr. Am meisten ärgerte sich Raffi darüber, dass JL recht hatte. Wenn sie wieder beim Geheimdienst anfangen wollte, wäre eine solche Mission perfekt dazu geeignet, um herauszufinden, ob ihr diese Arbeit immer noch lag. Ob sie wieder aus dieser Quelle trinken wollte.

»Mistkerl«, murmelte sie. Nummer Eins warf ihr einen fragenden Blick zu. Raffi zog die Nase kraus. »Nicht du«, sagte sie. »Du bist ein Schatz. Ich rede von deinem verdammten Herrchen.«

War es nur ihre Einbildung oder nickte der Hund wissend?

»Ich glaube, ich verliere den Verstand«, seufzte Raffi.

Später beim Abendessen war sie immer noch wütend, auch wenn JL reumütig zu wirken versuchte. »Ich spüre eine gewisse Spannung«, sagte Laris, während sie Wein einschenkte.

»JL war nur mal wieder JL«, erklärte Raffi schlicht.

»Ah«, sagte Laris verständnisvoll. »Das kenne ich. Lassen Sie sich von ihm zu nichts überreden, was Sie nicht wollen, Raffi. Aber das sagt wohl gerade die Richtige.«

Raffi schnaubte.

»Geht es um diesen cardassianischen Kriegsverbrecher?«, fuhr Laris fort.

Raffi sah zu JL, der nickte. »An diesem Tisch gibt es keine Geheimnisse«, erklärte er.

»Ja«, bestätigte Raffi. »JL will, dass ich ihn aufspüre.«

»Und inwiefern ist das ein Problem?«, fragte Laris.

»Wegen des Planeten, auf dem er sich wahrscheinlich versteckt. Während meiner Anfangszeit bei der Sternenflotte hatte ich auf Ordeve ein zutiefst unangenehmes Erlebnis.«

»Das wusste ich nicht.« Laris warf JL einen Blick zu. »Das haben Sie nicht erwähnt.«

»Mir ist klar, wie viel ich verlange.«

Beide Frauen seufzten und verdrehten die Augen.

»Typisch JL«, sagte Raffi.

»Begriffsstutziger Kerl«, sagte Laris liebevoll. Sie schob Raffi die Käseplatte hin. »Versuchen Sie mal den Camembert. Und denken Sie daran, dass Sie ihm jederzeit sagen können, wohin er sich seinen Vorschlag schieben kann.«

Während sich Raffi ein Stück Käse nahm, musste sie lachen – denn sie hatte JL noch nie seine Grenzen aufzeigen können. Und sie vermutete, dass sie das auch niemals schaffen würde.

2

Es dauerte eine Weile, bis sich Raffi nach ihrer Rückkehr aus La Barre wieder eingewöhnt hatte. Die Gegend um ihre neue Wohnung in Los Angeles war lebhaft und alternativ. Genau darum hatte sich Raffi für sie entschieden. Um ihr Einsiedlerdasein zu beenden, musste sie wieder mit anderen in Kontakt treten und unter vielen Menschen zu sein war ein Anfang. Es gab Cafés, Galerien und Theater. Vieles, was man unternehmen und ansehen konnte, sollte Seven vorbeikommen oder Raffi das Verlangen nach Gesellschaft haben. Aber nach der dezenten Eleganz des Picard-Anwesens wirkte die Wohnung recht spartanisch, da sie noch nicht zum Dekorieren gekommen war. Natürlich war es besser als der Trailer mitten in der Wüste, in dem sie bis vor einem Jahr noch gehaust hatte. (Ein Zuhause nannte sie diesen Ort nicht, denn ein Zuhause sollte nicht mit Einsamkeit, Schmerz und Bedauern assoziiert werden.) Es gab ein paar Gemälde, die sie noch nicht aufgehängt hatte, also verbrachte sie einen Vormittag damit, das zu erledigen, während sie gleichzeitig darüber nachdachte, ob die Mission nach Ordeve eine gute Idee war. Ohne JLs unmittelbare Präsenz war es einfacher, zu glauben, sie könne seine Bitte tatsächlich ablehnen. Das Problem bestand darin, dass Raffis Neugier geweckt war. Es gab unbeantwortete Fragen zu ihrer Zeit auf diesem abgelegenen, unheimlichen Planeten. Vielleicht würde ihr diese Reise dabei helfen, damit abzuschließen.

Als die Bilder hingen, stellte sich Raffi davor und betrachtete sie. Es waren keine Porträts illustrer Vorfahren, dennoch sahen sie ziemlich gut aus. Ihr Ex-Mann Jae war Maler gewesen – wahrscheinlich war er das immer noch, auch wenn sie praktisch nie von ihm hörte und dem Drang widerstand, nachzuforschen. Bei der Scheidung hatte sie ein paar seiner Werke mitgenommen, war sie später jedoch wieder losgeworden, weil es ihr nichts als Schmerz gebracht hatte, sie zu betrachten. Diese neuen Gemälde waren ganz anders als Jaes Arbeiten. Ihr Ex schuf Farbexplosionen auf riesigen Leinwänden. Diese Bild hingegen waren klein und intensiv. Es waren drei Stück, die zusammengehörten. Jedes einzelne zeigte einen Kreis – wie einen Mond oder Planeten – in Gold oder Kupfer, überzogen von kleinen Punkten, die wie Krater aussahen. Ganz anders als Jaes Stil. Hatte sie sich unbewusst deshalb dafür entschieden? Ein beunruhigender Gedanke.

Raffi machte eine Teepause, setzte sich auf ihr kissenloses Sofa und betrachtete ihre neu aufgehängte Kunst. Seven hatte die Bilder auf einem Markt hier in der Nachbarschaft entdeckt. Beide hatten sie gemocht, also hatte Raffi sie gekauft. Konnte es offensichtlicher sein? Hey, Seven! Ich richte meine Wohnung so ein, wie es dir gefällt! Dieser Gedanke war auf seine ganz eigene Weise schmerzhaft. Aber warum tat es weh, die Gegenwart besser zu machen? Warum tat es weh, sich eine Zukunft zu schaffen? Sie hoffte, dass es sich nur um Wachstumsschmerzen handelte.

Raffi dachte über die Vergangenheit nach. Fast ein Vierteljahrhundert war seit der Mission auf Ordeve vergangen. Ihre Arbeit in der Abteilung für romulanische Angelegenheiten und dann das, was sie als ihre besten Jahre in der Sternenflotte betrachtete, ihre Zeit mit Picard auf der Verity. Sie hatten versucht, Leben zu retten und etwas zu bewirken. Währenddessen hatte sie sich einzureden versucht, dass der Schaden, den es ihrer Ehe und ihrer Familie zufügte, wiedergutzumachen sei. Nach dem Androidenangriff auf dem Mars war die romulanische Rettungsmission der Verity kurzerhand eingestellt worden. JL hatte einen gewaltigen Wutanfall gehabt und war davongestürmt. Raffi hatte plötzlich vor dem Nichts gestanden. Ihre Glaubwürdigkeit: ruiniert. Ihre Karriere: beendet. Ihre Ehe: gescheitert. Ihr kleiner Junge …

Hingen die Bilder gerade? Wenn man etwas zu lange anstarrte, konnte man manchmal nicht mehr sagen, was richtig und was falsch war. War es das, was JL gemeint hatte? Das unerforschte Leben ist nicht lebenswert. Manchmal kam es Raffi so vor, als hätte sie zu viel Zeit damit verbracht, sich auf ihre Fehler zu konzentrieren, sie zu bereuen und sich zu wünschen, die Dinge wieder in Ordnung bringen zu können. Würde die Rückkehr nach Ordeve auch nur wieder eine dieser besonders schlechten Ideen sein, auf die Raffi spezialisiert zu sein schien?

Die Bilder hingen definitiv gerade, oder zumindest gerade genug. Ihr gefiel der Kontrast zwischen den kräftigen Farben – Schwarz und Gold und Kupfer – und der weißen Wand. Sie mochte es, wie sich die Kreise überschnitten und verbanden. Sie waren ein Anfang. Sie halfen dabei, diese Wohnung bewohnt aussehen zu lassen – selbst wenn sich Raffi schon bald wieder auf den Weg machen würde.

Du gehst also, dachte Raffi. Nicht weiter überraschend. JL kannte sie gut. Nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatte, setzte sich Raffi in Bewegung und ging zu ihrer Komm-Einheit.

»JL«, sagte sie, als er auf dem Schirm erschien. »Ist das hier eine sichere Leitung?«

»Natürlich.«

»Gut. Ich bin dabei.«

»Raffi.« Er lächelte. Sie liebte dieses Lächeln einfach. »Sie enttäuschen mich nie.«

»Stimmt«, sagte sie. »Das tue ich nie.«

»Soll ich Sie mit meinen Leuten beim Sternenflottengeheimdienst in Kontakt bringen? In der Abteilung für cardassianische Angelegenheiten?«

»Nein, hören Sie, ich habe darüber nachgedacht. Wir sollten ein bisschen verdeckter vorgehen.«

»Verdeckter?«

»Sie wollen das hier doch wohl nicht an die große Glocke hängen, oder? Die Cardassianer sollen doch nicht merken, dass wir nach ihrem Mann suchen.«

»Idealerweise nicht.«

»In diesem Fall wäre es wohl nicht so klug, die Abteilung für cardassianische Angelegenheiten zu informieren, oder?«

Seine Augen verengten sich. »Wie bitte?«

»Die Cardassianische Union und wir sind doch jetzt Verbündete, oder?«

»Ja, glücklicherweise.«

»Eine hart erkämpfte Allianz, in die viel Arbeit gesteckt wurde.«

»Kommen Sie zum Punkt, Raffi.«

»Nicht so ungeduldig mit jemandem, der Ihnen einen großen Gefallen tun will. Als ich noch in der Abteilung für romulanische Angelegenheiten gearbeitet habe, mussten wir immer genau darauf achten, wann wir vertrauen und wann wir uns besser nicht in die Karten schauen lassen sollten. Ich habe langjährige Beziehungen mit romulanischen Offizieren aufgebaut, darunter auch Agenten des Tal Shiar. Geheimnisse haben zu müssen – lügen zu müssen – war der schlimmste Teil der Geheimdienstarbeit. Nicht nur weil man sich heuchlerisch vorkam, sondern auch wegen der möglichen Konsequenzen, sollte man geschnappt werden. Was ich damit sagen will, ist …«

»Sie wollen keinen Geheimdienstmitarbeiter in diese Situation bringen.«

»Ganz genau.«

JL dachte darüber nach. »Ist es gefährlich«, sagte er, »von Ihren Kollegen beim Geheimdienst bei einer Lüge ertappt zu werden?«

»Welche Lüge? Ich brauche lediglich einen anderen Grund, um dort zu sein.«

»Und gibt es einen?«

»Ich werde einen finden.«

Sie sah ihm dabei zu, wie er die Optionen und vielleicht auch ihre Moral abwägte. Verdeckte Ermittlungen mussten manchmal geheimnisvoller sein, als einem lieb war. Wenn JL Ergebnisse wollte, würde er ein paar seiner Skrupel unterdrücken müssen. Hatte er sich nicht deshalb an sie gewandt? Um das zu übernehmen, was getan werden musste, wozu er aber selbst nicht bereit war?

»Also gut«, sagte er schließlich. »Wie wollen Sie fortfahren?«

»Ich brauche einen Besuchsgrund auf Ordeve, der nichts mit den Cardassianern zu tun hat. Eine Hintertür.«

»Eine Hintertür?«

»Geben Sie mir ein, zwei Tage, um mich zu erkundigen.«

»Ein, zwei Tage. In Ordnung. Wir sprechen uns dann. Picard Ende.«

Sie verfasste eine Nachricht an einen ehemaligen Kollegen in der Abteilung für romulanische Angelegenheiten und schickte sie ab. Da sie an diesem Tag nicht mehr mit einer Antwort rechnete, ging sie in die Küche, um ihren Becher zu spülen. Als sie zurückkam, blinkte bereits ein Licht auf der Komm-Einheit.

»Ich habe heute Nachmittag etwas Zeit. Komm und sieh dir an, was wir aus dem alten Laden gemacht haben.«

»Also gut«, sagte Raffi zu sich selbst. »Das ist toll. Lass uns hinfahren.« Sie warf einen Blick auf ihre Bilder. »Mit sich selbst zu reden ist ein schlechtes Zeichen, oder? Was ich brauche, ist ein Roboterhund.«

Das unerforschte Leben, dachte Raffi, während sie am Sicherheitsschalter der Eingangshalle eines kleinen und unauffälligen Bürokomplexes stand. Er befand sich auf dem Gelände des Sternenflottenkommandos und beherbergte die Abteilung für romulanische Angelegenheiten. Früher hatte sie diesen Ort frei betreten und wieder verlassen können. Dann war JL in ihr Leben geplatzt, hatte sie auf seine große Mission entführt und als ihnen die um die Ohren geflogen war, war alles außer Kontrolle geraten. Was, wenn sie einfach dortgeblieben und sich mit ihrem Bürojob zufriedengegeben hätte? Für Jae und Gabe da gewesen wäre? Das Gefühl eines nicht eingeschlagenen Wegs, einer verlorenen alternativen Zukunft, überkam Raffi so heftig, dass es sie fast überwältigte. Doch es gab kein Zurück mehr. Der verschlungene Weg, für den sie sich entschieden hatte, war nicht mehr geradezurücken. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit den Konsequenzen zu leben und zu versuchen, nicht erneut zu stolpern.

Eine vertraute Gestalt kam ihr durch die Sicherheitskontrolle entgegen: Commander James Northey, ihr ehemaliger Kollege. Er hob grüßend eine Hand. »Raaaaaaffi Musiker«, sagte er. »Was verschafft uns einfachen Paddhengsten diese Ehre?«

»Ich bin wieder in der Gegend. Wollte nur mal hören, wie’s dir geht.«

»Ach ja? Tja, komm mit. Ich geb dir einen lausigen Kaffee aus.«

Sie folgte ihm in den Turbolift, der geschmeidiger lief, als sie es in Erinnerung hatte. Northey lächelte sie an. So langsam fiel ihr wieder ein, warum er sie früher so genervt hatte. So cool, so ironisch, so englisch. »Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du mit dem Gedanken spielst, zu uns zurückzukommen.«

Neuigkeiten verbreiteten sich wirklich schnell, was? Wo hatte er das denn gehört? Wollte da jemand vorfühlen, wie die Stimmung so war? Um herauszufinden, ob sie vielleicht andere Optionen brauchte? Die Akademie vielleicht? Raffi durfte nicht weiter darüber nachdenken, denn sonst könnte sie über die Vorstellung wütend werden, dass jemand wie ein Marionettenspieler ihr Leben kontrollieren wollte. Also schob sie den Gedanken beiseite. Vorerst.

»Alles ist möglich«, meinte sie nur. »In dieser besten aller möglichen Welten.«

Der Turbolift kam zitternd zum Stehen.

»Hm«, sagte Northey und führte sie in einen ziemlich heruntergekommen aussehenden Korridor, der schließlich in einem Großraumbüro endete. Etwa ein Dutzend Junioranalysten saßen an ihren Arbeitsplätzen und gaben vor, nicht die Gelegenheit zu nutzen, einen Blick auf die berühmt-berüchtigte Raffi Musiker zu erhaschen. Northey sorgte dafür, dass jeder sie gut sehen konnte, während er sie in einen der kleineren Besprechungsräume führte. Oh, dachte Raffi, als sie ihn betrat. Diese Räume … Wie gut sie sich daran erinnerte, wie es war, bis spät in die Nacht, manchmal sogar bis zum frühen Morgen, in einem von ihnen zu hocken, Pizza und Kaffee zu verschlingen und zu versuchen, romulanische Codes zu knacken. Vor achtzehn Jahren hatten sie in diesem Raum (oder einem ziemlich ähnlichen) endlich die Bedeutung der Flut an dringenden Nachrichten begriffen, die in den oberen Rängen des Sternenimperiums hin und her geschickt worden waren. Sie hatten das, was sie lasen, mit Daten von Astronomen aus der ganzen Föderation abgeglichen und plötzlich verstanden, was los war. Die romulanische Sonne würde zu einer Supernova werden. Sie hatten in diesem Raum gesessen und sich angestarrt, bis einer von ihnen (vielleicht Raffi, vielleicht auch jemand anders – sie waren ein eingeschweißtes Team gewesen) gesagt hatte: »Was zum Teufel sollen wir jetzt machen?«

Die Föderation hatte nie die richtige Antwort auf diese Frage gefunden und musste seither mit den Konsequenzen leben.

Raffi nahm Platz und sah, dass immer noch das gleiche Bild an der Wand hing wie früher. Ein Sonnenuntergang über einem Strand in Pastelltönen. Beliebig und langweilig. War es motivierend gemeint? Sie war sich nie sicher gewesen.

»Die Sternenflotte hätte aber wirklich mal neu dekorieren können«, bemerkte sie. »Ich kenne einen guten Künstler.«

»Wir mögen es hier, so wie es ist«, erwiderte Northey. Zwei weitere Leute betraten den Raum, die Raffi beide einst gut gekannt hatte. Sie waren sogar auf ihrer Hochzeit gewesen. Und sie hatte genauso an Feiern zu wichtigen Ereignissen in ihrem Leben teilgenommen. Zum einen Commander Vazreen Pella, eine Betazoidin, die Raffi immer gemocht hatte. Raffi war bei Vaz’ Mutterfest dabei gewesen und hatte während der Zeremonie sogar den Familienkelch gehalten. Zum anderen Commander Kebil Zi, ein vereinigter Trill. Raffi hatte an Zis Zhian’tara teilgenommen und das Leben des zweiten Wirts erlebt. Zi sah ihr nicht in die Augen, sondern studierte stattdessen ein Padd in seiner Hand. Er schloss die Tür hinter sich und nahm Platz. Die vier saßen wieder an einem Tisch, als wären die letzten zwanzig Jahre nie passiert. Sie hatten alle ungefähr zur gleichen Zeit in der Abteilung angefangen. Nun standen die drei im Rang höher als Raffi. Diese Karrierepausen waren wirklich tödlich.

»Hey«, sagte Raffi. »Schön, dich wiederzusehen.«

Pella bedachte sie mit etwas, das fast einem Lächeln glich. »Seltsam, dich hier wiederzusehen.«

»Es ist auch seltsam, zurück zu sein. Hi, Kebil. Schön, dich zu sehen.«

Zi brummte nur und behielt den Blick starr auf das Padd in seiner Hand gerichtet. Raffi sah die beiden anderen an. Pella blickte immer wieder zur Tür. Northey lehnte sich weit zurück. Ach du je, dachte sie. Ihr seid wirklich immer noch sauer auf mich?

»Tja«, sagte Northey schließlich. »Was können wir denn heute für dich tun? Gibt es eine neue Verschwörungstheorie, der wir für dich nachgehen sollen?«

Wow, dachte Raffi. So wird das also laufen. Ihre Wangen brannten, als sie an die vielen Anrufe über die Jahre dachte, bei denen sie ihre ehemaligen Kollegen angefleht hatte, das neueste Gerücht zu überprüfen, das ihr zu Ohren gekommen war. Zuerst waren sie noch nett gewesen. Dann bestimmt. Dann still.

»Um Raffi gegenüber fair zu sein«, räumte Pella ein. »Ihre Theorie hat sich als wahr herausgestellt.«

Raffi erinnerte sich wieder, warum sie Vazreen Pella immer gemocht hatte. »Danke.«

»Aber es wäre mir lieber, es würde heute um etwas anderes gehen«, sprach Pella weiter. »Du hast in deiner Nachricht Ordeve erwähnt.«

»Ja«, sagte Raffi. »Ich will mehr darüber wissen, was dort vor sich geht.«

»Willst du das wirklich?«, fragte Northey.

»Ja.«

»Ordeve ist eine cardassianische Welt«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Warum kommst du dann zu uns in die Abteilung für romulanische Angelegenheiten?«

Weil ich nicht will, dass eure Kollegen aus der anderen Abteilung erfahren, dass ich einen cardassianischen Kriegsverbrecher jage. Weil ich niemanden in Gefahr bringen will …

»Es gibt dort eine romulanische Flüchtlingssiedlung«, erklärte Raffi. »Ich würde gern mehr darüber …«

Zi warf das Padd auf den Tisch. »Oh bitte!«

»Du wirst schon konkreter mit uns sein müssen, wenn du unsere Hilfe willst«, stellte Pella klar.

»Okay«, erwiderte Raffi. »In Ordnung. Als Erstes muss ich fragen, was ihr über die Ereignisse auf Ordeve wisst.«

»Was weißt du über die Ereignisse auf Ordeve?«, fragte Northey. »Oder genauer, woher weißt du von den Ereignissen auf Ordeve?«

Raffi zuckte mit den Schultern.

»Wir wissen, woher«, sagte Zi. »Durch Freunde in höchsten Kreisen. Admirals und baldige Vorsitzende.«

»Ich kann helfen«, beteuerte Raffi und lehnte sich vor. »Wirklich, das kann ich. Und was noch viel wichtiger ist, der Admiral will, dass ich helfe. Er hat mich gebeten, hinzufliegen. Wollt ihr ihm sagen, das geht nicht?«

Sie sah zu, wie ihre ehemaligen Kollegen und Freunde Blicke austauschten.

»Da ist dieser Kriegsverbrecher, der auf der Flucht ist«, erklärte Raffi. »Ein gefährlicher Mann. Die Bajoraner wollen ihn und die Cardassianer … reißen sich nicht gerade ein Bein aus, um ihn zu finden. Und für die Föderation ist er ein Schandfleck, den sie gern verschwinden lassen würde. Eure Kollegen drüben bei der Abteilung für cardassianische Angelegenheiten sind in einer Zwickmühle. Eine wichtige Allianz mit den Cardassianern auf der einen Seite, die Verpflichtungen gegenüber den Bajoranern auf der anderen. Für sie ist das äußerst heikel – aber nicht für euch.«

»Du bist sehr gut informiert«, sagte Pella.

»Ich wäre gern noch besser informiert«, entgegnete Raffi.

»Da bin ich mir sicher«, kommentierte Northey.