Steinhammerstraße - Jörg Thadeusz - E-Book
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Jörg Thadeusz

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Beschreibung

Dortmund-Lütgendortmund in der Nachkriegszeit, das bedeutet Armut, Kriegstraumata und wenig Hoffnung auf eine rosige Zukunft. Doch drei Jugendliche kämpfen um einen besseren Platz im Leben. Edgar wächst bei seiner Mutter und seinem Onkel – der Vater ist im Krieg gefallen – in den 50er-Jahren in der Steinhammer Straße in Dortmund auf. Er soll später den Friseurladen übernehmen oder bei schlechtem Betragen zur Strafe auf den Pütt. Er, seine Jugendliebe Nelly und sein bester Freund Jürgen – sie alle haben genug von der ärmlichen Enge und Versehrtheit des Viertels und träumen davon, alles hinter sich zu lassen. Als Edgar die Möglichkeit bekommt, Schaufensterdekorateur zu lernen, und Förderer findet, öffnet sich die Tür zur Düsseldorfer Künstlerszene. Doch Edgar ist anders als die Sprösslinge reicher Familien und eckt mit seiner unkontrollierten Art immer wieder an.  Der Roman lehnt sich an an das Leben des Malers Norbert Tadeusz, der es zum Meisterschüler Beuys' und zum Kunstprofessor brachte. Jörg Thadeusz schreibt in diesem authentischen Roman über einen Aufsteiger, der mit seiner Herkunft bricht und sie doch nie ganz loswird.

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Jörg Thadeusz

Steinhammer

Roman

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Über Jörg Thadeusz

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Inhaltsverzeichnis

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Über Jörg Thadeusz

Jörg Thadeusz, Journalist, Moderator und Autor. Für seine Außenreportagen bei »Zimmer frei« erhielt er den Grimme-Preis. Er moderiert die politische Gesprächssendung »Thadeusz und die Beobachter« im rbb-Fernsehen. Bei WDR2 befragt er in seiner Abendsendung Menschen, die etwas zu sagen haben. Er ist wöchentlicher Kolumnist der Berliner Morgenpost. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen von ihm: Rette mich ein bisschen, 2003; Alles schön, 2004; Aufforderung zum Tanz (gemeinsam mit Christine Westermann), 2008; Die Sopranistin, 2011, sowie Die vereinigten Zutaten von Amerika, 2012 (gemeinsam mit Anna Engelke).

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Über dieses Buch

Edgar wächst bei seiner Mutter und seinem Onkel – der Vater ist im Krieg gefallen – in den 50er-Jahren in der Steinhammer Straße in Dortmund auf. Er soll später den Friseurladen übernehmen oder bei schlechtem Betragen zur Strafe auf den Pütt. Er, seine Jugendliebe Nelly und sein bester Freund Jürgen – sie alle haben genug von der ärmlichen Enge und Versehrtheit des Viertels und träumen davon, alles hinter sich zu lassen. Als Edgar die Möglichkeit bekommt, Schaufensterdekorateur zu lernen, und Förderer findet, öffnet sich die Tür zur Düsseldorfer Künstlerszene. Doch Edgar ist anders als die Sprösslinge reicher Familien und eckt mit seiner unkontrollierten Art immer wieder an.

Der Roman lehnt sich an an das Leben des Malers Norbert Tadeusz, der es zum Meisterschüler Beuys’ und zum Kunstprofessor brachte. Jörg Thadeusz schreibt in diesem authentischen Roman über einen Aufsteiger, der mit seiner Herkunft bricht und sie doch nie ganz loswird.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Sonntag, Februar 1942 Am späten Nachmittag Straßenbahn zwischen Dortmund-Lütgendortmund und Dortmund Hauptbahnhof Friedel Woicik

6. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Vor elf Uhr am Vormittag

6. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Noch späterer Vormittag Edgar

6. August 1957 Steinhammerstraße Mittags Edgar

6. August 1957 Dortmund Friedhof Oespel Ewald-Görshop-Straße Früher Nachmittag

6. August 1957 Auf der Steinhammerstraße Nachmittag Edgar

7. August 1957 Steinhammerstraße Salon von Jupp Woicik Am Morgen Edgar

7. August 1957 Steinhammerstraße Salon Jupp Woicik Später Vormittag

7. August 1957 Steinhammerstraße Früher Nachmittag Edgar

7. August 1957 Steinhammerstraße Wohnung Margarethe Tillmann Später Nachmittag

11. August 1957 Steinhammerstraße Gaststätte Bockhalle Am späteren Nachmittag Jürgen

Nacht vom 11. auf den 12. August 1957 Dortmund Steimhammerstraße Wohnung von Jürgen Miebach und seinem Vater Nach Mitternacht

12. August 1957 Mülheim a.d. Ruhr Villa Frau von Gysenberg Am Morgen Nelly

13. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Wohnung von Nelly Tillmann Früher Morgen Nelly

13. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Salon von Jupp Woicik Am späten Nachmittag

13. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Wohnung von Nelly Tillmann Edgar

13. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Nellys Wohnung Kurz vor Mitternacht Nelly

15. August Dortmund Vormittags Evangelisches Krankenhaus Lütgendortmund Jürgen

15. August 1957 Dortmund Park des Evangelischen Krankenhauses Lütgendortmund Früher Nachmittag Edgar

16. August 1957 14.45 Uhr Auf der Steinhammerstraße Edgar

16. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Friseursalon von Jupp Woicik 16.15 Uhr Jürgen

17. August 1957 21.30 Uhr Gartenlokal Breddermann Lütgendortmund

5. November 1957 Kaufhaus Horten Dortmund 8.25 Uhr Kantine Edgar

5. November 1957 Gegen 11 Uhr Kaufhaus Horten Im Büro des Direktors Jürgen

5. November 1957 Hauptbahnhof Dortmund 17.25 Uhr

5. November 1957 Kurz nach 17 Uhr Café Corso Nelly

5. November 1957 Dortmund Innenstadt Kampstraße Kurze Zeit später Edgar

6. November 1957 Dortmund Werkstatt des Kaufhauses Horten Früher Morgen Edgar

6. November 1957 Dortmund Werkstatt des Kaufhauses Horten Gegen 7 Uhr am Morgen Edgar

6. November 1957 Dortmund Steinhammerstraße Wohnzimmer der Familie Woicik Edgar

27. Dezember 1957 Hamburg-Grindelviertel Nelly Tillmann an Edgar Woicik

30. April 1961 Dortmund Steinhammerstraße Jürgen Miebach an Nelly Tillmann

4. Mai 1961 Steinhammerstraße Bert Riemenschneider

15. Juni 1961 Columbuskaje Bremerhaven Nachmittag Edgar

16. Juni 1961 Columbuskaje Bremerhaven 0.35 Uhr Edgar

16. Juni 1961 Parkhotel Bremen 8.45 Uhr Edgar

3.  Juli 1961 Dortmund Steinhammerstraße Wohnzimmer der Familie Woicik Am Abend

7.  Juli 1961 Kunstakademie Düsseldorf Vormittags Edgar

8.  Juli 1961 Düsseldorf Wohnung von Karla Schellenberg 7.50 Uhr

7. Oktober 1961 Hamburg Grindelviertel Brief Nelly Tillmann an Jürgen Miebach

2. November 1961 Düsseldorf Kunstakademie 8.50 Uhr Edgar

4. November 1961 Düsseldorf In Karlas Küche Gegen 8 Uhr

4. November 1961 Düsseldorf Kunstakademie Etwa 14 Uhr Nelly

4. November 1961 Düsseldorf Kunstakademie Kurz nach 14 Uhr Vor Raum 19 Edgar

4. November 1961 Mülheim a.d. Ruhr Bleichenstr. 11 18 Uhr

4. November 1961 Mülheim an der Ruhr Bleichenstrasse 11 23.45 Uhr

5. November 1961 Mülheim an der Ruhr Bleichenstraße 11 10.15 Uhr Edgar

6. November 1961 Düsseldorf Kunstakademie Raum 19 1.05 Uhr Edgar

9.  Januar 1962

5.  Juni 1962 Wuppertal Galerie Parnass Moltkestraße, Elberfeld 23.45 Uhr Edgar

29. Juni 1962 WDR Hörfunk Kulturgespräch

Fax

18. Februar 2010 Conil de la Frontera Provinz Cadiz, Spanien Steilküste in der Nähe der Villa Palmyra 8.10 Uhr Edgar

Danksagung

Für alle meine Eltern

Mama, Rudi, Papa, Heike, Barbara, Fred, Veronika und Günter

Sonntag, Februar 1942 Am späten Nachmittag Straßenbahn zwischen Dortmund-Lütgendortmund und Dortmund Hauptbahnhof Friedel Woicik

Er fasste sich immer wieder an den oberen Kragenknopf seiner Uniformjacke. Warum nur, fragte sich Friedel. Glaubte er, sie könne nicht mal mehr einen Knopf richtig annähen?

Friedel saß zwischen den beiden wichtigsten Männern in ihrem Leben in der Straßenbahn. Einen davon hatte sie sich ausgesucht, den anderen nicht.

Der Heimaturlaub ihres Ehemanns Edgar war vorbei. Gemeinsam mit seinem Bruder Jupp waren die drei auf dem Weg zum Dortmunder Hauptbahnhof. In dem schummerigen grünen Licht der Fußbodenlämpchen sah Friedel vor allem die Silhouetten der Männer. Fast wie in einer Bar. Wäre es doch keine Straßenbahn, sondern viel lieber eine Bar, dachte Friedel. Dann müsste keiner an die Front und vor allem ihr Edgar nicht nach Russland.

Es war aber eine Straßenbahn, die zum Dortmunder Hauptbahnhof fuhr. In einer weiteren Verdunkelungsnacht.

Friedel hatte beinahe ihr ganzes 27-jähriges Leben in dieser Stadt verbracht. Nur ein paar Monate während ihrer Lehre zur Kürschnerin war sie in Bayern gewesen. Trotzdem war ihr das, was da draußen an ihnen vorbeizog, eigenartig fremd. Nicht die Bomben, die der Engländer warf, waren die Demütigung. Sondern die Verdunkelung. Es schien, als wäre es die Stadt nicht mehr wert, im Licht gesehen zu werden.

Jupp summte. Ihm fiel meistens nicht auf, welche Geräusche er gerade machte. Es war das Lied vom Polenstädtchen, in dem ein schönes Mädchen doch nicht küssen will. Aber nein, aber nein, sagt sie, ich küsse nie.

Wäre Jupp in der Laune, die seine Kunden im Friseurladen in der Steinhammerstraße von ihm erwarteten, dann würde er plappern. Anekdoten, Kalauer oder auch nur dummes Zeug erzählen. »Ich schaffe Atmosphäre«, erklärte er sein Gesabbel, »denn allein auf meine begnadeten Hände kann ich mich nicht verlassen.«

An diesem frühen Abend war er wohl zu ›Atmosphäre‹ nicht wirklich in der Lage. Er wusste besser als Friedel, was seinen Bruder Edgar dort erwartete. Denn in zwei Wochen würde sich auch Jupp wieder auf den Weg gen Osten machen müssen.

Die Straßenbahn hielt. Weitere Soldaten stiegen zu. Die meisten in Begleitung einer Frau.

Es war kalt. In dieser metallischen Straßenbahn hielt Friedel es einen Moment lang für möglich, dass es nie wieder warm werden würde. »Der deutsche Mensch friert nicht«, würde die Stimme des übergeschnappten Sprechers in der »Wochenschau« dröhnen. Ihr Edgar fasste sich wieder an den Knopf. Tastete an dem kleinen roten Band entlang, »vom zweiten Knopfloch der Feldbluse W40 absteigend zum inneren Saum hin zu befestigen«. Friedel hatte sich informiert, bevor sie alles an die Uniformjacke nähte. Damit das Band des Eisernen Kreuzes saß, wo es nach den Anweisungen der Wehrmacht hingehörte.

»Wann ist wohl der Krieg vorbei?«, fragte Jupp teilnahmslos.

»Wenn Göring in die Hose von Goebbels passt«, antwortete Friedel, ohne nachzudenken. Ein mäßiger Scherz, zigfach wiederholt. Nur noch Labermechanik. Etwas sagen, wenn reden nicht ging.

Edgar hatte nicht reagiert, nicht einmal seine Blickrichtung verändert. Sah weiter aus dem Fenster, aus dem es nichts als Dunkelheit zu sehen gab. Durch das funzelige Licht war seine Wange eine grünliche Fläche. Wie gerne Friedel diese Wange küsste, wenn er frisch rasiert war.

In den kommenden Wochen und Monaten würde sie diese Wange nicht mehr berühren können. Sein Gesicht würde sich an den Schaft eines Gewehres lehnen. Ihr Mann hatte getötet und würde wieder töten. Musste sie das bedrücken? Hatte sie nicht ohnehin die falschen Gefühle? Sie hätte traurig sein müssen. Aber Friedel war wütend.

Was sollte das sein, dieses »heilige Deutschland«, für das ihr Mann jetzt wieder mehrere Monate marschieren musste. Er würde ihr fehlen, wenn sie morgens das Kaffeewasser aufsetzte. Wenn sie die Pelze aufspannte und dabei so viel Zeit zum Nachdenken hatte. Sie konnte nur mit ihrem Spiegelbild sprechen, wenn sie sich vor dem Zubettgehen die Hände eincremte. Sie würde wieder Nacht für Nacht allein im Bett liegen. Mit den Fragen, auf die es keine Antworten gab. Wo Edgar gerade saß, lag, fror oder blutete. Leck mich am Arsch, heiliges Deutschland.

Kein Rückkehrtermin. Er war weg, und ihr blieb die Angst. Wenn sie Einschusslöcher in den Pelzen ausbesserte, hatte sie sich schon vorgestellt, wie eine Kugel Edgar traf. Warum das alles? Für den Österreicher, der aus dem Radio schrie? Oder den Blockwart Jarasch aus dem Eckhaus? Ein Hundertfünfzigprozentiger. Sie nannte ihn Ratz. Wie sie in der Jägersprache zu Iltissen sagten. Wegen deren Gestank. Als Friedel kürzlich im Hof Wäsche aufhängte, war Jarasch vorbeigekommen. In seiner kinderkackebraunen Uniform und diesem »Ich meine es ja nur gut«-Gesichtsausdruck.

»Friedel, deine Schwiegermutter muss vorsichtig sein. Die redet über Lager, in denen Leute umgebracht werden. Das ist nicht nur Tinnef. Das ist auch gefährlich. Musst du ihr sagen. Sonst ist die da bald selbst. Machst du, oder?«

Ihre Schwiegermutter ließ sich von niemandem etwas sagen. Vielleicht von ihrem Pfarrer. Sicher nicht vom Blockwart Jarasch. Der war in ihren Augen ein fauler, nichtsnutziger Satan.

Und für solche Leute musste Friedels Mann in den Krieg ziehen.

Die sogar der eigenen Mutter drohten.

Nein, Friedel wollte nicht verrücktspielen. Die vorgetäuschte Normalität konnte wie ein beruhigendes Schaukeln sein. Sie wusste um die Kraft der Gewohnheit. Die Haare toter Tiere auf ihrer Arbeitskleidung: Am Anfang war es eklig, jetzt nichts Ungewöhnliches mehr für sie. Sie hatte sich in ihrer Schwangerschaft an den dicken Bauch gewöhnt. Seit einem Jahr daran, immer ein Kind um sich herum zu haben. Seit der kleine Edgar auf der Welt war. Krieg konnte für sie aber niemals normal werden. Freundinnen, die erzählten, wie sie von der Druckwelle einer Fliegerbombe durch die Gegend geworfen worden waren. Telegramme, die Leben veränderten. Aber bitte nur ein kurzer Aufschrei, dann kam das schwarze Band oben an die Ecke des Fotos. Beerdigung gab es keine, denn was von Siegfried, Jochen oder Eberhard übrig blieb, lag irgendwo in Russland. Kein Leichenschmaus, keine Rede, kein Gebet. Weitermachen, Schnauze halten, heiliges Deutschland.

Sie hatte Edgar nichts von Jaraschs Drohung erzählt. Er fand, ihr würde ganz generell der politische Überblick fehlen. Schließlich hatte sie, anders als er, nicht einmal Abitur. Zuletzt hatte er ihr einen Feldpostbrief korrigiert zurückgeschickt. »Ich war sauer«, hatte er ihr erklärt, als sie am ersten Tag seines Heimaturlaubs im Lütgendortmunder Volksgarten spazieren gingen. »Ich dachte, da läuft was zwischen dir und dem Apotheker Habicht. Das Rumkorrigieren war meine Rache.«

»Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde. Dass du dich zu meinem Deutschlehrer aufschwingst oder mich mit einem Mann in den Kissen siehst, dem man erst vor ein paar Jahren die Hasenscharte operiert hat.«

Vor genau zwei Wochen hatten sie so miteinander gesprochen. Sie waren noch Tanzen gegangen. Hatten am Tisch gesessen und ein Bier bestellt. Dann noch eins. Um sie herum andere junge Frauen, die sich noch mehr anstrengten. Sich noch mehr zusammenrissen, um ihren Männern vorspielen zu können, sie würden an diesem Abend ganz von allein blühen. Ihren gleichaltrigen Begleitern fehlte dazu die Kraft, sie blieben welk. Abgekämpft. Mit diesem »Gibt es doch alles nicht« in den matten Augen. In ihren grauen Uniformen, den Feldblusen W40.

»Was wünschst du dir im April zu deinem 30. Geburtstag?«, hatte Friedel Edgar während eines Liedes gefragt, das beide nicht besonders mochten.

Er hatte zu einer Antwort angesetzt. Dann war das Lächeln ganz plötzlich aus seinem Gesicht verschwunden und er geriet mit seinen Gedanken an einen Ort, an den ihm Friedel nicht folgen konnte.

Die Bewölkung über ihm war in den Tagen darauf nicht verschwunden. Er lehnte einen zweiten Teller seiner Lieblings-Erbsensuppe ab, die Friedel gekocht hatte. Vor dem Krieg hatte er gerne über Filme gesprochen. Über Hans Albers, den er für seine »Wurschtigkeit« bewunderte. Las in Jupps Friseurladen sogar die »Frauenwoche«, wenn er einen Artikel über Albers fand.

In den vergangenen Tagen kein Wort von Edgar über irgendeinen Film. Stattdessen redete er von der 29. Infanteriedivision, zu der er gehörte. Nannte Namen von anderen Soldaten, die Friedel nichts sagten. ›Kameraden‹, nannte er sie. Imitierte ihren hessischen oder sächsischen Akzent, ohne besonders gut imitieren zu können. Diese Männer waren ihm auf eine Weise wichtig, als gehörten sie zur Familie. Als müsste Friedel sie unbedingt kennen.

Der Straßenbahnfahrer beschleunigte, um den Anstieg über die Dorstfelder Brücke zu schaffen. Die riesigen Öfen der Vereinigten Stahlwerke unterhalb der Brücke waren nicht zu verdunkeln. Alle Gesichter in der Straßenbahn wandten sich dem schwachen Lichtschein zu. Als wäre es ein Sonnenaufgang.

Edgar nahm seinen Tornister hoch. Er strich über das Stück Otterfell, das Friedel in den Deckel eingenäht hatte. M34 hieß dieses Tornistermodell. Friedel wusste, sie würde niemand danach fragen. Wenn aber doch jemand kam, der sie zur Rechenschaft ziehen wollte, weil sie militärischem Eigentum eine persönliche Note gegeben hatte, dann wollte sie vorbereitet sein.

Sie stiegen aus der Straßenbahn aus.

Friedel erwartete, dass Edgar auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Bahnhofsgebäude in den Rhythmus der anderen genagelten Sohlen der Soldatenstiefel einfallen würde. Doch das geschah nicht. Stattdessen zeigte er in Richtung einer Bank unter einem jungen Baum. Wollte er sich hinsetzen? Im Freien? An einem so kalten Abend?

Er öffnete das Zigarettenetui, das ihm Friedel 1938 zur Hochzeit geschenkt hatte. Nahm eine Zigarette, zündete sie an, nahm einen Zug und zeigte mit der brennenden Zigarette auf Jupp. Es schien, als würde er unbedingt vermeiden wollen, Friedel anzusehen.

»Du weißt, was da los ist in Russland«, sagte er in Richtung seines Bruders. Nahm einen Zug von der Zigarette.

»Ich werde nicht zurückkommen.« Jetzt sah er Friedel doch an. Dann sofort zu Boden, auf seine polierten Stiefel.

Er sprach langsam und deutlich. Übertönte die Eisenbahngeräusche und das Lärmen der Menschen im nahen Bahnhof. Als hätte er sich an seinem Lieblingsschauspieler Hans Albers ein Vorbild genommen und seinen Text ausführlich einstudiert.

»Jupp, du musst mir versprechen, dass du dich um Friedel und den kleinen Edgar kümmerst.«

»Und wenn ich selbst …«, begann Jupp zu widersprechen. Edgar unterbrach ihn sofort. Großer Bruder übertönt kleinen Bruder. Wie immer nicht gerecht, aber erfolgreich.

»Wir haben besprochen, wie du dich aus dem größten Mist raushalten kannst. Bei dir geht das. Ich kriege das für mich nicht hin.«

Friedel wollte sich mit den militärischen Unterschieden jetzt nicht beschäftigen. Er machte das wirklich! Er sprach über sie hinweg. Was war das hier, ein Viehbasar? Und war das nicht ihr Leben? Ihre Liebe?

Jetzt sah er sie an. In seinem Blick lag der Wunsch, sie möge nicht weiter wütend sein.

Offenbar hatte er sich in den vergangenen Tagen alles Mögliche zusammengedacht. Ohne mit ihr darüber zu sprechen. War sich sicher geworden, nicht mit dem Leben davonzukommen. Hatte für sie entschieden, sie würde mit seinem Bruder weiterleben, wenn es so weit wäre.

Sie erwiderte seinen Kuss nicht.

Stand einfach da. Er konnte nichts sagen, und sie konnte nicht schreien.

Kein Paket würde sie ihm packen, keine Zeile schreiben. Sollte er doch mit dem heiligen Deutschland glücklich werden.

 

Am 12. April feierte Edgar Woicik in Russland seinen dreißigsten Geburtstag. Fünfzehn Tage später tötete ihn eine Maschinengewehrgarbe in den Unterleib.

6. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Vor elf Uhr am Vormittag

Der Postkasten sagte nichts.

War gelb und schweigsam.

Vielleicht zu heiß. Noch nicht elf Uhr am Vormittag, und der Zeiger des Thermometers an der Paracelus-Apotheke stand schon im rot unterlegten Bereich, der bei 28 Grad begann.

Der Postkasten sollte ihm gratulieren. Sollte sagen, dass du dich das traust, Edgar, toll! Oder: Das wird bestimmt was, so sehr, wie du es dir wünschst.

Edgar wollte nicht ausschließen, dass Sachen sprechen können. Das Krokodil, das er kürzlich geschnitzt hatte, würde die Stimme seines Freundes Jürgen haben, sollte es endlich losreden.

Für seinen Stiefvater wäre das ein ganz schlechtes Thema. Das Unmögliche. Das Magische. Das Undenkbare. Irgendwas anderes als das Offensichtliche. Irgendwas, worüber er nicht vorgeben konnte, ganz und gar Bescheid zu wissen. Er solle mal aufhören zu spinnen, würde Jupp sagen. Wieder einmal würde Jupp losleiern, dass der »Ernst des Lebens« jetzt unaufhaltsam auf Edgar zukäme. Jetzt, wo er die Schule fertig habe und 17 Jahre alt sei.

»Das würdest du dir auch nicht dauernd anhören wollen«, sagte Edgar zu dem Postkasten und klopfte zur Bestätigung auf seinen Deckel. Machte kehrt und ging zwei Schritte zum Bordstein. Er musste zurück auf die andere Straßenseite, zurück in Jupps Friseursalon. Eigentlich auch gut, dass der Postkasten nichts sagte. Denn ein stummer Kasten konnte auch nichts ausplaudern. Er würde keinem erzählen, was Edgar getan hatte. Einen Brief eingeworfen. Adressiert an die Städtischen Bühnen Dortmund. Der Absender nicht seine Mutter, nicht sein Stiefvater Jupp. Er hatte nicht im Namen von jemandem diesen Brief aufgegeben. Sondern in seinem eigenen Namen, Edgar Woicik, Steinhammerstraße, Dortmund.

Edgar rannte nicht einfach über die Straße wie früher. Sondern stoppte an der Bordsteinkante. Seit vor anderthalb Jahren seine Oma Lina von der Straßenbahn überfahren worden war, passte Edgar auf.

»Was rennt die auch in Pantoffeln auf die Straße und guckt nicht?«, hatte Jupp danach gemotzt. Um »Mama« zu trauern, das passte nicht zu Jupp. Vorwürfe klappten einfach besser als Gefühle.

Edgar sah, dass die Straßenbahn hundert Schritte die Straße aufwärts an der Haltestelle vor dem Kiosk von Herrn Miebach hielt, und ging los. Als er auf der anderen Straßenseite ankam, roch er den Qualm, den der alte Wichmann erzeugte.

Der stand, wie immer, im Hauseingang, gleich neben dem Salon. Keine Augenbrauen, keine Haare auf dem Kopf und auch keine guten Aussichten. Staublunge, wie bei so vielen Bergleuten. Die Luft reichte nur bis vor die Haustür. Der alte Wichmann rauchte die billigsten Zigarren, die es gab. »Der steckt getrocknete Kacke in Brand«, lästerten die Kunden in Jupps Salon.

Edgar nickte dem alten Wichmann zu. Der fasste sich an die Mütze und krächzte, wie immer, etwas Unverständliches. Edgar glaubte, dass der Gesichtsausdruck des alten Wichmann als Lächeln gemeint war. Ihm würde er sofort erzählen, warum er den Städtischen Bühnen einen Brief geschrieben hatte.

 

Edgar schob die Tür zum Salon auf. Die quietschte. Das Ölen der Scharniere gehörte eigentlich auch zu seinen Aufgaben. Er überbrückte die Zeit zwischen seinem Abschlusszeugnis der Schule und dem, was da kommen würde, indem er Jupp half. Er konnte nicht Haare schneiden, nicht rasieren und durfte nicht an die Kiste mit den Kondomen, die Jupp den Herren »für die Ehehygiene« mitgab. Wie andere Friseure auch. »Du bist hier Hilfsarbeiter«, war Jupp aus irgendwelchen Gründen wichtig zu betonen. Edgar besah sich die Tür, wollte schon das Ölkännchen holen, bekam dann aber von drinnen gleich Kontakt mit Jupps Organ.

»Mach die Tür zu, da kommt doch die ganze Hitze rein. Ich bin doch getz schon am Ölen wie sonne Schiffsratte.« Jupp sah nur kurz über die Gläser seiner dicken Brille hinweg und konzentrierte sich dann wieder auf die Rasur von Ludger Kafinek. Der lag mehr im Friseurstuhl, als dass er saß. Den rechten Arm ließ er entspannt baumeln, in der Hand die qualmende Zigarette. Steiger auf der Zeche Oespel. Edgar wusste nicht, was einen Steiger von einem normalen Bergmann unterschied. Außer, dass die anderen Männer »Na immerhin« sagten, wenn sich jemand als Steiger zu erkennen gab. Wenn es Leute wie Kafinek schaffen konnten, war Steiger aber alles andere als ein kometenhafter Aufstieg, da war sich Edgar sicher. Ludger Kafinek wurde aus guten Gründen »der Schäbbige« genannt. Sein Gesicht war eine echte Herausforderung für Jupp und sein Rasiermesser. Es bestand größtenteils aus Narben und Wülsten. Über der leeren rechten Augenhöhle trug der Schäbbige eine Augenklappe.

Seiner Erzählung nach hatte er in den letzten Kriegstagen im Kampf gegen amerikanische Soldaten eine feindliche Handgranate zurückgeworfen. Zu spät, jedenfalls für sein Gesicht.

Die anderen Kunden glaubten ihm das nicht. Vor allem diejenigen, die Wert darauf legten, sich »an der Ostfront den Arsch abgefroren zu haben«. Unter denen galten die Amerikaner generell als Weichlinge. Und wer sich von den Milchbrötchen fangen und »vertubacken«, also verprügeln ließ, der wäre »gegen den Iwan« verloren gewesen. »Zu allem fähig, zu nichts zu gebrauchen«, hieß es über Kafinek.

Er hatte das intakte Auge geschlossen und redete.

»Ersaufen ist noch schlimmer als verbrennen«, sagte er laut, als hätte die Welt lange nichts Bedeutsameres gehört.

Der Schäbbige trug vor, was er zum Untergang des italienischen Ozeandampfers Andrea Doria vor ein paar Tagen falsch aufgeschnappt oder dazu erfunden hatte.

»Da inne Karibik gibt es so Stechfische. Die gucken dich nur böse an, da bisse schon kaputt. Aber unter schreckliche Schmerzen.« Kafinek machte eine genussvolle Pause, so als würde er diese Fische essen, sobald es sie in einer Dose mit Tomatensauce gab.

»Ludger, wenn du jetzt nicht mal für einen Moment die Klappe hältst, dann gibt es gleich ein Blutbad«, sagte Jupp, der das Rasiermesser vorsichtig zwischen den Kratern in Kafineks Gesicht führte. »Du wirst zwar nicht mehr hässlicher, aber wenn du mir hier auf dem Stuhl kaputtgehst, wohin dann mit der Leiche?«

Kafinek lachte rasselnd. Ötte Schmidt, der auf der Eckbank wartete, bis Jupp Zeit für ihn und seine formlose Wolle aus rötlichem Drahthaar hatte, grinste in die »Ruhr Nachrichten«, die er vor sich aufgefaltet hatte.

Jupp hatte Ötte mehr oder weniger befohlen, vorbeizukommen. Denn der würde am Sonntag bei der Kommunionfeier für Edgars kleine Schwester Inge singen. »Kommejon« sagten hier alle. Eine Nachfeier. Denn den Weißen Sonntag, den Sonntag nach Ostern, hatte die kleine Inge wieder in der Lungenklinik in Hemer verbringen müssen. Da sollte Ötte eine anständige Frisur haben. Ötte arbeitete auf dem Schlachthof, hätte aber eigentlich an die Oper in Danzig gehört. Fand jedenfalls seine Mutter. Kein Fest in der Straße, bei dem Ötte nicht irgendwann »Du schwarzer Zigeuner« von Vico Torriani sang. Das Sehnsuchtslied für alle, die aus der ›kalten Heimat‹ geflohen waren. »Und wenn deine Geige weint, weint auch mein Herz.«

Für Kafinek war »Pauline, mach das Strumpfband los« Musik genug. Er hatte sich an der Andrea-Doria-Schiffskatastrophe festgebissen, redete unablässig weiter: »Die Itaker sind wehleidig, die werden beim Absaufen ordentlich geschrien haben.«

Edgar stand im hinteren Teil des Ladens vor dem Regal und faltete die Handtücher, die er mit seiner Mutter in der Waschküche gekocht hatte. Zuerst an der Längsseite umschlagen, dass sich ein langes Tuch ergibt. Drei Drittel vorstellen. Das rechte Drittel in die Mitte falten und das linke obenauf legen. So, und nur so mussten Jupps Handtücher gefaltet werden. Ungut, wie Edgar die Wut auf Kafinek im Bauch spürte. Ein heißer Ball. Das war schon so oft schiefgegangen. Aber warum konnte der Schäbbige nicht einfach die Schnauze halten, wenn er sowieso nicht wusste, wovon er sprach? Woher wollte er wissen, wie genau sich Ertrinken anfühlte? Niemand wusste das, und schon gar nicht dieser Kerl, der vor allem nicht nichts sagen konnte.

»Herr Kafinek, die Andrea Doria ist gar nicht in der Karibik gesunken. Sondern 2000 Kilometer nördlich, vor Nantucket. Da ist das Wasser sehr kalt. Es sind nur 46 Menschen gestorben. Andere Schiffe in der Umgebung haben schnell gehandelt und eine Katastrophe, wie bei der Titanic, verhindert. Was an ein Wunder grenzt, wie sie im Radio gesagt haben. Und nur der italienischen Besatzung zu verdanken ist.« Edgar faltete sofort das nächste Handtuch und wartete darauf, dass Jupp zustimmend nickte. Denn sie hatten den Bericht gemeinsam beim Abendbrot gehört.

Das Nicken blieb aus, aber Ötte nahm die Zeitung wieder runter und lächelte einmal quer durch den ganzen Raum in Edgars Richtung.

Jupp zischte plötzlich ein »Verdorrich« durch die Zähne. Was »Verdammt« meinte. Außer dem Schäbbigen sahen alle, was passiert war. Ein Blutrinnsal in der weißen Landschaft aus Rasierschaum auf Kafineks Wange wurde rasch größer. Wie ein schnell fallender Bühnenvorhang.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst mal die Klappe halten«, sagte Jupp.

»Hab ich ja auch«, antwortete der, »gesprochen hat der Hauptgewinn, den dir dein Herr Bruder hinterlassen hat. Für das, was der schon anna Volksschule gelernt hat, müssen andere ja ersma’ studieren gehen. So ein kluges Kerlchen.«

Kafinek öffnete sein Auge immer noch nicht, sondern gab Jupp mit der Kippe in der Hand ein Zeichen. Weitermachen mit der Rasur, hieß das, lass es bluten.

»Damit musst du dich abfinden, Ludger«, Jupp nickte mit dem Kopf in Edgars Richtung, »der Junior macht die Friseurlehre und übernimmt den Laden. Wenn der an dir Rasieren übt, musst du Schweigen lernen. Sonst ist deine Schönheit wirklich dahin.« Er stoppte die kleine Blutung auf Kafineks Wange mit dem Alaunstein und setzte dann das Rasiermesser wieder im genau richtigen Winkel unterhalb der Narbe unter Kafineks Jochbein an.

Der Brief an die Städtischen Bühnen war ein Bewerbungsbrief. Er wollte sich dort zum Kulissenmaler ausbilden lassen. Nelly hatte für ihn herausgefunden, dass es so was gab. Wenn er dort eine Lehre machen würde, könnte es weitergehen. Edgar wollte Filmplakate malen. Wie die Männer, die er zufällig getroffen hatte, als Nelly und er im Schauburg-Kino in der Innenstadt die falsche Tür genommen hatten. Überall Farben, Leinwände, alle möglichen Pinsel, herrlich. Allein der Geruch. Nicht einen Tag nach dem nächsten irgendwelchen Säufern in Jupps Laden Birkin-Haarwasser in die Schmandköpfe reiben.

Er wusste bisher nur nicht, wie er das seinem Stiefvater erklären sollte.

6. August 1957 Dortmund Steinhammerstraße Noch späterer Vormittag Edgar

»Ich bin stolz auf dich«, sagte Nelly.

»Mindestens halbstolz.«

Sie saßen in ›Monaco‹. So war die Hitze toll, so war Sommer herrlich, dachte Edgar. Draußen sitzen, nichts tun, womöglich nach hinten lehnen. Die Steinhammerstraße konnte niemand als ruhige Wohngegend anpreisen. Sie bestand nur aus zwei Häuserreihen, die durch die Straße getrennt waren. Hinter der einen Häuserreihe krakte der riesige Güterbahnhof in beinahe jede Richtung. Hier ließ sich zehn Minuten nur über Schienen gehen. Alles nur für den Bergbau. Kohle fuhr weg. Material kam. Wenn die Waggons mit Sprengstoff anrollten, hoffte Edgar auf einen Unfall. Wegen des wahrscheinlich spektakulären Feuerwerks. Gleichzeitig schämte er sich für den Gedanken. Hinter der Häuserzeile auf der gegenüberliegenden Seite der Straße die Schienen für die Züge, die von und nach Dortmund fuhren. Hier sprühten zwar auch die Hinterlassenschaften aus den Zugtoiletten durch die Gegend. Dennoch war es für Edgar die »saubere Eisenbahn«, verglichen mit den dauerdreckigen Güterwagen auf der anderen Seite. Zwischen den Häusern und dem Bahndamm blieb ein wenig Platz für Minigärten. Nelly und Edgar mochten ihr »Monaco«, diesen kleinen Vorsprung auf dem Bahndamm. Um sie herum war nicht nur Schotter, sondern zwischendrin wuchs ab und zu richtiges Gras. Sie saßen auf Zeitungen, die Nelly immer mitbrachte. Um nach Monaco zu kommen, mussten sie gebückt durch ein Loch in einer wilden Hecke kriechen. Dann etwa zehn Schritte bergauf, als wollten sie auf die Gleise treten. Nur zwei Schritte entfernt von der Stelle, an der sie saßen, warnte ein Schild vor Lebensgefahr und dass das Betreten der Bahnanlage »bei Strafe« verboten war. Wenn sie sich setzten, kehrten sie dieser Drohung den Rücken und blickten über die Steinhammerstraße. Kein Haus war höher als ein Stockwerk, deswegen konnten sie über die Häuser hinweg auf den Güterbahnhof gucken. Dauernd wurde Kohle verladen. Tag und Nacht. Es hatte etwas Hastiges. Als müsste dort, wo die Züge hindampften, eine Bestie mit Kohle gefüttert werden.

Bei einem Blick nach links würde der Förderturm der Zeche Oespel in ihr Blickfeld geraten. Deswegen kam links nicht infrage. Sie sahen nach vorne oder nach rechts. Da stand neben dem Haus mit der Nummer 145 eine alte Eiche, einer der wenigen Bäume in der gesamten Straße.

Sie hatten diese Stelle auf dem Bahndamm so getauft, weil es in den Berichten über die Hochzeit von Grace Kelly und dem Fürsten von Monaco hieß, der kleine Staat sei ein »Balkon über dem Mittelmeer«.

»So was haben wir auch, einen Balkon über dem Häusermeer«, hatte Nelly auf eine Weise ausgerufen, als wäre es gar kein Scherz. Seitdem gab es Monaco.

»Warum bist du nur halbstolz auf mich?«, fragte Edgar.

»Weil bisher nur ich weiß, dass du nicht Friseur werden möchtest. Das richtig Schwierige kommt erst noch«, Nelly lächelte ihn an.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie.

»Und du mir?«, fragte er auf eine Weise zurück, die er für zweideutig hielt.

»Und wenn ich Ja sage, was dann, du Großmaul von einer Jungfrau?«

Edgar konnte nicht antworten, denn hinter ihnen ratterte ein D-Zug in Richtung Dortmunder Hauptbahnhof vorbei. Der Fahrtwind rüttelte an Nellys Zopf.

»Meine Mutter bekommt morgen Ware, aber ich muss nach Essen«, sagte sie. Nellys Mutter, Margarethe Tillmann, gehörte der Laden, in dem die ganze Straße Schreibwaren, Spielzeug und Zeitschriften kaufte. Seit Ende des vergangenen Jahres gab es eine neue Art von Lotterie. Hieß Lotto. Man kreuzte Zahlen auf einem Schein an, den Frau Tillmann mit einem speziellen Apparat registrierte. Vor Kurzem hatte ein Mann aus Aachen mehr als eine Million Mark gewonnen. Seitdem wollte Edgars Mutter auch einen solchen Schein ausfüllen. Jupp lehnte das ab. Mit einem seiner merkwürdig sinnlosen Sprüche: »Schenken, scheißen, schieben wird mit Ess-Ce-Ha geschrieben.«

»Was machst du in Essen?«, fragte Edgar.

Nelly zupfte an dem kleinen Riemen ihrer Sandale, die so oft geflickt war, dass es sich nicht mehr verbergen ließ. Auf ihren nackten Zehen lag der gräuliche Staub des Bahndamms.

»Da ist eine Modenschau. Mein Cousin nimmt mich mit.«

»Stotter-Theo, der mit dem Vorbiss?«

»Mein Cousin Theo, der Auto fahren kann und einen VW-Käfer besitzt. Er muss nicht durchweg in ein und derselben Hose herumlaufen, sondern kann aus mehreren Anzügen wählen. Er ist so nett und nimmt mich mit.« Vorsicht mit Pampigkeiten, Nelly konnte den Ton jederzeit verschärfen.

Die Familie von Nellys Mutter war wohlhabend und lebte in Mülheim an der Ruhr. Edgar wusste nicht, warum sich Frau Tillmann mit ihren Mülheimer Verwandten überworfen hatte. Jupp behauptete, Nellys Oma sei eine »dunkelbraune Nazisse« gewesen. Nelly glaubte, es hätte mit den ›Stimmungen‹ ihrer Mutter zu tun. Frau Tillmann verließ manchmal tagelang nicht ihr Bett. Nelly war dann sehr nervös. In der Straße wurde behauptet, Frau Tillmann habe schon einmal nachts auf den Gleisen der Schnellzugstrecke gestanden.

Edgar sah auf Nellys nackte Beine. Der Teint, die Form, an die er abends im Bett auf diese drängende Weise dachte. Leider dachte er auch an ihre Mutter, wie sie manchmal in einer Art Seidenmantel im Zimmer stand, wenn er Nelly abends besuchte. Oder, noch schlimmer, wenn sie ihn in der kleinen Abstellkammer hinter dem Laden überraschte. Frau Tillmann hatte ihm diesen Raum überlassen, damit er dort ungestört schnitzen und zeichnen konnte. Sie sprach von »arbeiten«, wenn er dort war und die Zeit vergaß. Jupp nannte es »Killefitt«, »Arbeit« wäre ihm dazu sicher nicht eingefallen. Edgar schämte sich in ihrer Gegenwart oft, denn er glaubte, Nellys Mutter könnte in seinem Gesicht erkennen, was er über sie fantasierte.

»Was ist?«, fragte Nelly. »Hilfst du ihr nun morgen oder nicht?«

»Und da in Essen, da ziehst du neue Klamotten an, zeigst die dem Spucke-Theo und dann gucken auch noch ein paar Gelackte zu, oder wie habe ich mir das vorzustellen?«, fragte Edgar.

»Oh Mann!« Das ›Oh Mann‹ und wie Nelly dabei mit den Augen rollte, absolut mädchenhaft. Das Einzige, was sie mit anderen Mädchen vergleichbar machte. Nelly würde niemals kreischen, wenn sie auf der Lütgendortmunder Pflaumenkirmes in der »Raupe« mitfuhr und sich das Verdeck über dem Wagen schloss. Sie kreischte nicht, wenn sie eine Spinne sah. Sie würde niemals für einen Sänger kreischen, wie es Edgar bei jungen Frauen in Amerika gesehen hatte, als Elvis Presley auftrat, der wie ein Satan tanzte. Edgar hatte sich den Mann zuerst unter dem Namen ›Iris‹ gemerkt. Was aber wohl selbst in Amerika kein Männername war.

»Du musst nicht ›Oh Mann‹ sagen. Erklär es mir lieber, ich war noch nie bei einer Modenschau.«

Nelly richtete sich noch etwas mehr auf. Sie saß ohnehin immer gerade. Während er selbst lieber kauerte. Wirkte lässiger, geheimnisvoller.

»Bei einer Modenschau zeigen Mannequins neue Mode vor. Das, was modisch werden wird. Sehr schöne und sehr schlanke Frauen gehen elegant vor einem kleinen Publikum auf und ab. Alles ist sehr gediegen. Menschen tragen Parfüm, keiner bellt, wie die Leute hier. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Denn so hat es mir mein Cousin einmal beschrieben«, sagte sie und sah Edgar an, als würde sie hoffen, dass diese Erklärung ausreichte.

»Und du möchtest auch so was werden, du möchtest Mannequin sein?«

Nelly lachte ihn an. »Natürlich nicht, Doofmann. Wie sollte ich das hinbekommen? Das sind große, schlanke Frauen, die auch Schauspielerinnen sein könnten. Keine Promenadenmischungen aus der Steinhammerstraße.«

Der nächste D-Zug. Gesprächspause.

Was meinte sie mit ›Promenadenmischung‹? Klar, sie war von hier. Das Sommerkleid, das sie trug, kannte er gut. Hatte seine Mutter genäht, nach einer Idee von Nellys Mutter.

Genau genommen hatte Frau Tillmann etwas aufgezeichnet. Edgar hatte die Zeichnung neu gemacht, damit es mehr nach Nelly aussah. Hatte er aber keinem gesagt. Frauenkleider malen? So was machten warme Brüder, da gab es in Jupps Salon keine zwei Meinungen unter den Herrenkunden. Es war für Edgar schon unangenehm genug, wenn seine Mutter seine Bilder vor Jupp lobte. Dessen Blick sagte dann immer: Irgendwas stimmt doch nicht mit dem Jungen.

Nellys Kleid war aber völlig egal. Sie war von hier. Und auch nicht. Allein, wie sie klang, wenn sie sprach. Wie Steve, die Ehefrau von Paul Temple in diesen fantastischen Hörspielen, die sie zusammen hörten. Sich anschließend trotzdem jedes Detail nacherzählten. Edgar sagte Nelly nur nichts über ihre Ähnlichkeit mit Frau Steve. Zu peinlich.

Er sah die Haut ihrer nackten Beine und fand ihren Teint nobel. Ohne erklären zu können, warum.

»Aber du kannst dir doch gar nicht kaufen, was diese schönen Frauen tragen. Oder bezahlt dir deine Omma die Sachen?«, fragte er.

»Natürlich nicht. Wenn ich mir von meiner Oma etwas kaufen lassen würde, säße meine Mutter im nächsten Zug nach Mülheim und brächte alles zurück. Und du weißt, dass ich meiner Omma lieber aus dem Weg gehe.« Oma-Omma, sie war als Promenadenmischung reif fürs Hörspiel.

Edgar zuckte mit den Achseln und sah wieder über die Häuser hinweg. Sah, wie sich am Güterbahnhof mit Kohle beladene Waggons zueinanderschoben, während die leeren Wagen mit einem Klingeln in einem hektischen Rhythmus auf dem nächsten Gleis bereitgestellt wurden. Vor dem vorderen rechten Puffer stand ein Rangierer auf einem signalgelben Tritt des Güterwaggons und konnte mit einem kleinen Rad bestimmen, mit welcher Geschwindigkeit der Wagen abrollte.

Wie die Leute bei einer solchen Modenschau wohl beieinandersaßen? Über was sprachen die? Was tranken die? Wahrscheinlich aschten die nicht einfach auf den Fußboden, wie der Schäbbige im Salon. Die streiften ihre Zigaretten in Aschenbechern aus schwerem Glas ab. Hätte er einen solchen Aschenbecher, könnte er das Ding in Geschenkpapier aus Frau Tillmanns Laden einpacken und sagen: Jupp, ich werde nicht Friseur. Du bist böse auf mich, ich weiß. Aber ich habe hier was Schönes für dich.

Dann würde Jupp das Ding auspacken und fragen: Wo hast du den geklaut? Wir sind arm, aber wir klauen nicht.

»Möchtest du mitkommen? Soll ich Theo fragen? Das könnte doch ein großer Spaß werden«, Nelly klang so, als wäre es wirklich kein Problem. Edgar stellte sich vor, wie er unter diesen feinen Leuten in einem Bügelfrei-Hemd von Jupp vor sich hin schwitzte und nicht wusste, was er sagen sollte, ohne Nelly zu blamieren. Er schüttelte übertrieben heftig den Kopf.

»Diese feinen Pinkel, so was ist nichts für mich. Ich weiß, wo ich hingehöre.«

»Ich nicht, Edgar, ich nicht«, sagte Nelly, zog den nackten Fuß aus dem Schuh und hielt die geflickte Sandale hoch.

Edgar grinste. »Gitschlange«, sagte er feucht, mit viel zu viel Speichelgischt um die Zunge, als könnte er generell kein »F« sprechen. Genauso wie Nelly ihm den Sprachfehler ihres Cousins Theo vorgemacht hatte.

Nelly fand es dieses Mal nicht lustig und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken. Was hatte sie verärgert? Dass er nicht wusste, was da in Essen geschah? Dass er nicht mitfuhr? Oder gab es noch etwas ganz anderes, worüber sie nicht reden wollte, was aber mit Essen zu tun hatte?

6. August 1957 Steinhammerstraße Mittags Edgar

Edgar ging die Straße entlang, winkte zur alten Wokallek hoch, die im ersten Stock über der »Bockhalle« im Fenster stand. Sie grüßte mit einem Nicken und einem zahnlosen Lächeln zurück. Er überquerte die Straße. Genau genommen war »Erfrischungen Miebach« eine Garage. Statt eines Tors eine zusammengezimmerte Fensterkonstruktion. Bei schlechtem Wetter konnten die Miebachs das Schiebefenster runterziehen. Meistens saß Herr Miebach aber bei geöffnetem Fenster und wartete auf Kunden. Während sein Sohn, Edgars Freund Jürgen, die Regale auffüllte, aufräumte oder putzte.

Jürgen stellte den Besen zur Seite, mit dem er den kleinen Hof hinter der Verkaufsgarage fegte. Er breitete die Arme theatralisch aus und rief: »Der Erwählte!«

Die Hintertür des Kiosks stand offen. Von hinten sahen sie die Silhouette von Jürgens Vater, Hans-Jürgen Miebach.

Herr Miebach hatte als Soldat der Führer-Grenadierdivison »Das Reich« an der Oder den Krieg verloren. Seinen linken Arm und sein Gehör auch. An eine Rückkehr in seinen Beruf als Deutschlehrer war als Gehörloser nicht zu denken. Stattdessen saß er von morgens sechs bis abends sechs im Laden. Umzingelt von Zigarettenregalen, Ahoi-Brause und Schoka-Kola-Döschen. Wenn Jürgen nicht in der Nähe war, überwachte er den Hintereingang seines Geschäfts mit einem Spiegel.

Jürgen hielt eine Senoussi-Schachtel hoch. Auf dem gelben Karton war eine Gruppe von Beduinen zu sehen, die sich anscheinend versammelten, um zu rauchen. Edgar nahm eine der oval geformten Orientzigaretten, und Jürgen entzündete ein Streichholz für ihn.

Von dem starken Tabak wurde Edgar augenblicklich übel. Da musste er durch, wenn er so lässig rauchen wollte wie James Dean auf den Plakaten.

»Nelly fährt nach Essen«, sagte Edgar.

»Und von dort bringt man sie auf ein Sklavenschiff, weil sie an den König von Tonga verkauft wurde. Oder warum guckst du, als wäre was mit Omma?«

»Sie trifft ihren reichen Verwandten. Sie gehen zu einer Modenschau.«

»Ach echt? Spannend.«

»Nein, nicht spannend, Mann«, Edgar spürte den Wutball. Anders als bei Kafinek. Eigentlich auch nicht wegen Jürgen. Sondern wegen dieses Sprachfehler-Penners mit seinem VW-Käfer und seinen Anzügen. Leck mich, dachte Edgar und trat gegen die Mülltonne.

»Ich störe nur ungern«, sagte Jürgen, »aber ich glaube, die Rheinarmee möchte zwei Schachteln Gloria. Möchtest du nicht vielleicht einen Blick riskieren?«

Jutta Overbeck stand vor dem Kiosk. Eine auffällige, attraktive Frau. Zumindest in der Steinhammerstraße. Nicht wirklich schön, aber aufregend. »Unsere Marilyn Monroe mit schlechte Zähne«, wurde sie von Jupp genannt. Marilyn sprach er aus, dass es wie Marianne klang. Mit den Zähnen hatte Jupp leider recht. Vor allem die Schneidezähne waren ungut verfärbt. Angeblich war sie Chefsekretärin bei Hoesch. Die Missgünstigen raunten unablässig, sie würde es für Geld machen. Mehrere Männer in der Straße wollten gesehen haben, wie ein Tommy-Jeep vor ihrem Haus stand, um sie abzuholen. Womöglich ein Offizier aus der Siedlung der britischen Rheinarmee in Dortmund-Brackel. Die konnten sich so was ja erlauben, die Tommys. »Scheißkrieg«, hieß es immer von irgendeinem von Jupps Saufkumpanen abschließend, ehe das Gespräch über die Overbeck’sche komplett versiegte. Normalerweise glaubte Edgar den Männern im Salon kein Wort. Jutta Overbeck rauchte aber die teure Gloria schachtelweise, statt einzeln. Sie war vor allem immer so teuer angezogen, dass sie am nächsten Tag mit Nelly nach Essen hätte fahren können, ohne dort als Frau aus der Zechensiedlung wahrgenommen zu werden. Jedenfalls so lange, wie sie nicht sprach.

Sie beugte sich zu Herrn Miebach hinunter, weil sie glaubte, er könne sie dann besser verstehen. Er war aber wirklich komplett taub. Zum Glück nicht blind. Genoss also höchstwahrscheinlich den Blick in den Ausschnitt ihrer Bluse, zumal sie immer einen Knopf mehr öffnete als die Frauen, die in der Straße das Wort »schicklich« im Munde führten.

Jutta Overbeck blieb nicht verborgen, dass es hinter Herrn Miebach Bewegung gab. Wegen der Sonne konnte sie aber nicht erkennen, wer genau da im Halbdunkel zugange war. Sie sah also nicht, wie Edgar Jürgen sogar zur Seite schubste, um die bessere Position zu haben. »Jadegrün steht Ihnen hervorragend, Frau Overbeck«, rief Edgar. Sie guckte irritiert und beugte sich noch etwas weiter vor, um an Jürgens Vater vorbeisehen zu können.

»Wer sagt da was zu dem Grün von meiner Bluse? Edgar, dat bist du doch, oder? Frech wie Dreck, der hübsche Saukerl«, sie versuchte über Herrn Miebach hinweg etwas zu erkennen. Er legte eine Schachtel Gloria sorgsam auf das verbreiterte Fensterbrett.

Edgar beugte sich von hinten über die Schulter des sitzenden Herrn Miebach. Er winkte ihr zu und war gleich wieder begeistert von dem tiefen Blau ihrer Augen. Wie viel es wohl kostete? Sein erstes Mal würde wahrscheinlich sowieso doof werden. Warum dann nicht gleich dafür bezahlen? Ob Nelly sauer wäre, wenn er es schon mal ohne sie ausprobierte? Eigentlich könnte sie nichts dagegen haben, wenn er nach dem Üben schon wusste, was er tat. Jutta Overbeck lächelte ihn an. Verführerisch, fand Edgar. Vielleicht hatte sie seinen Gedanken gelesen und fand das alles überzeugend.

»Arbeitet die Elsbeth am Freitagmittag?«, wollte sie wissen, fuhr sich dabei durch ihre kräftigen, blonden Haare. »Ich muss sie mir jetzt doch nachschneiden lassen. Die Elsbeth macht das so toll.«

»Kann ich gerne für Sie fragen. Soll ich dann bei Ihnen klingeln und Bescheid sagen?«, fragte Edgar. Er sah es schon vor sich, wie sie dastehen würde, wenn er ihr einen von Jupps pompösen Terminzetteln brachte. Nicht im ärmellosen Kittel wie die alten Frauen, denen Edgar für fünfzig Pfennig die Einkäufe nach Hause trug. Vielleicht nur in dieser Bluse, nackte Beine, eine Gloria zwischen den Fingern.

»Ist nicht nötig. Ich komm vorbei und frag den Jupp.«

»Klar, schade«, antwortete Edgar und lächelte viel zu viel.

Herrn Miebach war auch dieses Gespräch gleichgültig. Er sortierte die Münzen von Frau Overbeck in seine Geldkassette. Dabei sang er leise »Nun so sei mein Herzenstäubchen« aus dem Duett von Papageno und Papagena in der »Zauberflöte« vor sich hin.

»Bist du sicher, dass dein Vater nichts hört?«, fragte Edgar.

»Bin ich«, antwortete Jürgen, »sonst würde ich nicht so viel auf den Notizblock schreiben müssen. Bist du denn sicher, dass dich wirklich nichts von deinem Schmerz wegen Nelly ablenken kann?«

Er stand mit Edgar bereits wieder auf dem Hof und öffnete eine Flasche Bier, die sie sich teilen würden.

»Woher kennst du die Farbe ›Jadegrün‹?«, fragte Jürgen.

»Du hörst mir nicht zu«, sagte Edgar. »Ich habe dir vorhin erst erzählt, dass ich mich bei den Städtischen Bühnen beworben habe. Da muss ich doch wohl wenigstens die gängigen Farben kennen. Steht außerdem auf den Buntstiften drauf.«

»Auf meinen Buntstiften steht nichts«, Jürgen nahm einen so tiefen Zug aus der nächsten Zigarette, wie ihn sich Edgar nie getraut hätte.

»Ich hab bessere. Da stehen die Farben drauf. Enzianblau, Sienna gebrannt, Ultramarin, Indigoblau, und so weiter.«

»Woher hast du solche Stifte, die sind doch sicher sackteuer?«

»Von Nellys Mutter. Wenn der Buntstift-Vertreter vorbeikommt, backt sie immer Kuchen. Der verspricht sich wer weiß was. Und lässt welche von den Stiften da. Die lassen sich mit Wasser vermalen.«

»Völlig uninteressant«, sagte Jürgen, »spannender finde ich, was du eigentlich willst. Mit Nelly in das Himmelreich der Liebe auffahren oder dich von ihrer Mutter adoptieren lassen?«

Himmelreich der Liebe. Der Erwählte. Am Anfang von Jürgens Schulzeit hatte sich der Deutschlehrer in Herrn Miebach bemerkbar gemacht. Er hatte seinem Sohn schon Goethe vorgelesen, als Jürgen noch ein kleiner Junge war. Der verstand nicht unbedingt, worum es ging. Mochte aber die Worte und den Ton der Lesestimme seines Vaters, als der noch hören konnte, wie er selbst klang. Mittlerweile fuhren die beiden gemeinsam in die neue Stadtteilbibliothek in Lütgendortmund und liehen sich Bücher aus. Jürgen hatte seinen Vater sogar auf Hemingway gebracht.

Edgar sah seinen Freund an. Du musst hingucken lernen, hatten die Plakatmaler in der Schauburg gesagt. Jedenfalls, wenn du gut zeichnen können möchtest. Drei Drittel hat das Gesicht, fast wie Jupps Handtücher. Ein Drittel Stirn, dann die Augenpartie bis zum Mund. Dann, wie bei Jürgen, ein fliehendes Kinn.

»Was glotzt du denn so komisch? Das ist ja ein irres Starren, wie im Fieber«, sagte Jürgen.

»Und du?«, lenkte Edgar ab, »was machst du aus deinem Leben? Reicht dir das hier? Bis zur Rente Kiosk, und dann das Leben in vollen Zügen genießen? Hauptsache, nicht weg von hier?« Gemein von Edgar, diese Frage. Denn er wusste, Jürgen bekam es mit der Angst, wenn es um die Zukunft ging. Und er wusste auch, wie sehr es Jürgen eigentlich in die weite Welt zog. Vor allem zu seiner Tante nach Amerika. Daran dachte Edgar überhaupt nicht gern. Denn Jürgen würde ihn kaum mitnehmen.

Jürgen zog an der starken Zigarette, als wäre er ganz und gar gelassen.

»Soldat«, sagte er, »die haben doch im Dezember die Wehrmacht neu aufgemacht. Bundeswehr. Da gehe ich hin.«

»Weil du auch einen Arm zu viel hast wie dein Vater?«

»Was soll ich hier, Edgar?«, Jürgen sprach seinen Vornamen so angenehm weich, wie es sonst nur Nelly tat. Er zeigte auf den Kiosk. »Die Trinkhalle wirft so wenig ab«, er nickte in Richtung seines vor sich hinsitzenden Vaters, »seine Rente reicht für die Wohnung, für unser Essen, und das war’s. Im Moment liege ich ihm auf der Tasche. Auch wenn er das nie sagt.«

»Du weißt aber, dass das so nicht bleibt. Ist nur eine Zwischenphase. Zwischen der Schule und dem, was dann kommt. Wo wir beide Geld verdienen werden. Aber du willst doch nicht aus lauter Angst Landser werden. So sind wir doch nicht!«

»Ach nein? Was sind wir denn? Außer zu viel? Du kannst als Friseur arm bleiben und ich als Klümpchenverkäufer. Klar, wir können auch auf den Pütt gehen. Dreißig Jahre im dunklen Loch. Ich freu mich schon.«

»Du liest so viel. Du schreibst toll. Wenn du der Overbeck einen Liebesbrief schreibst und dich richtig anstrengst, dann gibt die dir Rabatt. Dann darfst du vielleicht sogar einmal umsonst. Das ist echt gut, was du schreibst.«

»Gar nichts muss ich schreiben. Die lässt mich für umme ran, wenn ich mit meiner Uniform im Jeep nach Hause komme. So wie ihr Tommy-Offizier.«

Jürgen sah überhaupt nicht überzeugt aus. Wenn jemand nicht zum Soldaten taugte, dann dieser lulatschgroße Kerl, der sich beinahe jeden Satz eines Buches merken konnte. Der aber in seinem Körper nicht zu Hause war. In der Schule hatte die Clique von ›Suppe‹ Subschikowski das »Turmumwerfen« erfunden. Was bedeutete, den langen Jürgen zu Boden bringen. Umtreten, weghauen, fest stoßen. Das hatte erst aufgehört, nachdem Edgar ›Suppe‹ die Nase gebrochen hatte. Das Gespräch, zu dem seine Mutter und Jupp beim Rektor vorgeladen worden waren, gehörte zu den schönsten Erinnerungen, die Edgar an seine Schulzeit hatte.

Der Rektor hatte mit seiner bürokratisch-näselnden Art Jupps kurze Lunte augenblicklich entzündet. Zumal sich die beiden wohl auch irgendwoher kannten, denn Jupp sprach den Rektor durchgängig mit »Herr Hauptmann« an.

Nach kurzer Zeit brüllte Jupp so, dass es Edgar noch vor der Tür des Rektorbüros hören konnte:

»Wenn Sie einen asozialen Lümmel wie diesen Subschikowski nicht in den Griff bekommen, dann bin ich froh, wenn da ein mutiger Kerl wie mein Junge mal durchgreift. Wenn Sie sich damals nicht in der Etappe versteckt hätten, dann könnten Sie mitreden. Dann wüssten Sie, wie sehr man unter einem ausgemachten Kameradenschwein leiden kann. Und jetzt wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Hauptmann. Komm, Friedel, wir gehen.«

Edgar warf seine Zigarette auf den Boden und war heimlich froh, mit dem Rauchen erst einmal fertig zu sein.

»Ich bediene am Sonntag in der Bockhalle. Bei der Kommunion deiner Schwester«, sagte Jürgen. »Möchtest du ein paar Nappos?«

Edgar liebte Nappos. Anders als seine Schwester Inge mochte er es, wenn die Zuckermasse in der Zartbitterschokolade weich war. Unter keinen Umständen durfte sie hart sein. Edgar wusste, die Süßigkeiten waren als Bestechung gemeint. Konnte er gut gebrauchen, aber nicht für sich. Er ahnte, was er dafür tun sollte.

»Heute ist der Geburtstag meiner Mutter. Kommst du mit?«, fragte Jürgen.

6. August 1957 Dortmund Friedhof Oespel Ewald-Görshop-Straße Früher Nachmittag

Der Zechenbus hatte sie ein Stück mitgenommen. Jürgen und Edgar hätten eigentlich nicht mitfahren dürfen. In Begleitung des versehrten Herrn Miebach war das etwas anderes. Wenn ihnen kein anderer Trinkspruch einfiel, tranken viele Bergleute darauf, dass »noch alles dran ist«, am Grubenmann. Dementsprechend wurden Leute, an denen etwas fehlte, im Bus der Bergleute mitgenommen.

Danach waren die drei eine halbe Stunde zu Fuß gegangen und in einer anderen Welt angekommen. Kein Straßenbahngerumpel, wie es in der Steinhammerstraße von vier Uhr morgens bis kurz vor Mitternacht dröhnte. Keine Güterzüge, die über die Weichen quietschten, bevor die Puffer aufeinanderrummsten, als wäre das jedes Mal ein Unfall und nicht mit Absicht geschehen. Die Geräusche waren Edgars Einschlafmusik. Neben dem Schnarchen von Jupp, dem wimmernden Atmen seiner Mutter und der manchmal im Schlaf schmatzenden Inge. Auf der Steinhammerstraße gab es wenige Bäume. Die Eiche, die Nelly und er vom Monaco-Balkon aus sehen konnten, die beiden Pfirsichbäume in ihrem Hof hinter dem Friseurladen, die dort nur standen, um vom Toilettenhäuschen mit dem Plumpsklo abzulenken. Wenn sie die Pfirsiche ernteten, musste Edgar die Früchte in eine Zinkwanne mit Wasser werfen, um den Dreck aus der Luft abzuwaschen.

Hier auf dem Friedhof waren viele Bäume. In denen Vögel auf eine Weise zwitscherten, als würden sie vor Wut über die wenigen guten Plätze im Baum hysterisch.

Edgar hatte sich die Nappos bereits auszahlen lassen. Jürgen musste das gesamte Glas ausschütten. Denn Edgar brauchte harte. Für Inge. Wollte er zu dem Bild dazulegen, das er zu ihrer Kommunion für sie gemalt hatte.

Sie hatten das Schild in das Schiebefenster des Kiosks gesteckt. »Wegen einer Familienangelegenheit bis 18 Uhr geschlossen, Miebach«, stand darauf in der gestochenen Handschrift des Deutschlehrers. Der trug trotz der Hitze ein Sakko. Über die Jahre hatte er sich beigebracht, nur mit der rechten Hand seine Krawatte zu binden. Die saß etwas unegal. Durfte aber selbst von Jürgen nicht gerade gezogen werden. »Unabhängigkeit schafft Originale«, rief Herr Miebach bei dem kleinsten Versuch, »betuttert« zu werden, wie er Hilfe nannte.

»Ich habe abgeschlossen und auch das Vorhängeschloss benutzt«, bellte Jürgen seinem Vater beinahe ins Gesicht, akzentuierte die Worte überdeutlich.

»Hast du abgeschlossen? Und das Vorhängeschloss?«, fragte sein Vater zurück. Manchmal klappte es mit dem Lippenlesen nicht so toll.