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Zwei Tage vor Beginn der Alpinen Ski-WM in Schladming wird eine Leiche unter der Eisdecke des Steirischen Bodensees gefunden. Es handelt sich um den seit Wochen vermissten Cheftrainer des österreichischen Herrenskiteams. Prompt gerät der prominente Skirennläufer Tobias Autischer unter Mordverdacht. Doch hat der WM-Favorit den Coach, der ihn von Kindheit an gefördert hatte, tatsächlich umgebracht? Sandra Mohr und Sascha Bergmann vom LKA in Graz ermitteln.
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Seitenzahl: 293
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Claudia Rossbacher
Steirerkind
SANDRA MOHRS DRITTER FALL
Mord am Dachstein Zwei Tage vor der Eröffnung der Alpinen Ski-WM in Schladming wird eine Leiche unweit der WM-Stadt unter der Eisdecke des Steirischen Bodensees gefunden. Bald stellt sich heraus, dass es sich dabei um den seit Wochen vermissten Cheftrainer des österreichischen Herrenskiteams handelt, der sich die tödliche Kugel nicht selbst in den Kopf gejagt hat. Sandra Mohr und Sascha Bergmann vom LKA in Graz ermitteln in der WM-Region rund um den Dachstein – Heimat des toten Cheftrainers und seines ehemaligen Schützlings Tobias Autischer. Prompt gerät der inzwischen prominente Skirennläufer – im Blickpunkt der Medien und seiner Fans – unter Mordverdacht. Doch hat der WM-Favorit seinen Coach tatsächlich umgebracht? Oder war es doch der junge Liebhaber der Witwe, der mehr als nur ein Geheimnis verbirgt? Ein spannendes Rennen am Rande der Ski-WM nimmt seinen Lauf.
Claudia Rossbacher, geboren in Wien, zog es nach ihrem Tourismusmanagementstudium in die Modemetropolen der Welt, wo sie als Model im Scheinwerferlicht stand. Danach war sie Texterin, später Kreativdirektorin in internationalen Werbeagenturen. Seit 2006 arbeitet sie als freie Schriftstellerin in Wien und in der Steiermark und schreibt vorwiegend Kriminalromane und Kurzkrimis. Ihre Steirerkrimis mit den LKA-Ermittlern Sandra Mohr und Sascha Bergmann waren allesamt Bestseller in Österreich. »Steirerblut«, »Steirerkind« und »Steirerkreuz« – ausgezeichnet mit dem österreichischen »Buchliebling 2014« –, wurden als Landkrimis für ORF und ARD verfilmt, ein weiterer Steirerkrimi soll demnächst folgen. www.claudia-rossbacher.com
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Fotos von: Hannes Rossbacher
ISBN 978-3-8392-1396-4
Ich bedanke mich bei meinem Mann Hannes Rossbacher für seine unermüdliche Beinahe-rund-um-die-Uhr-Unterstützung, bei meiner Autorenkollegin und Freundin Ilona Mayer-Zach und bei den Gmeiner-Ladys Claudia Senghaas und Diane Kopp samt ihren hilfreichen Teams und Geschäftspartnern.
Mein spezieller Dank gilt dem Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin in Graz, Univ.-Prof. Dr. Eduard Peter Leinzinger, Gudrun Fuchs vom Tourismusverband Haus im Ennstal-Aich–Gössenberg, Mag. Petra Rebhandl von der Austria Ski WM- und Großveranstaltungs GmbH und Ilka von Goerne von der Schoeffel Sportbekleidung GmbH.
Ein Glossar der steirischen bzw. österreichischen Ausdrücke befindet sich am Ende des Buchs.
Bäume wie dunkle Gestalten,
düstere Schatten der Nacht.
Silbern lächelt der Mond
spiegelglatt im See.
Gespenstische Stille,
den Tod im Visier.
Heiße Wut – kalte Angst
lässt Seelen gefrieren.
Der Schuss zerfetzt die Nacht,
deinen Kopf – mein Herz.
Still und starr ruht das Grab,
finster der Frieden in mir.
Samstag, 2. Februar 2013
Draußen tanzten dicke Flocken. Jene, die auf der Windschutzscheibe des silbergrauen VW Passat landeten, hatten keine Chance. Der Scheibenwischer, der auf vollen Touren lief, schob die Eiskristalle gnadenlos beiseite. Unaufhörlich fiel der Schnee vom Himmel. Immer dichter, immer schneller.
Seit Abteilungsinspektorin Sandra Mohr vom Landeskriminalamt Steiermark gegen 15 Uhr auf die Seewigtal-Straße abgezweigt war, hatte sie alle Mühe, sich in dieser Schneelandschaft zwischen Schladminger Tauern und Dachsteinmassiv zu orientieren. Das endlose, diffuse Weiß – unter Alpinisten als Whiteout gefürchtet – verschluckte alle sichtbaren Konturen und Schatten, die das menschliche Auge benötigt, um Dimensionen und Begrenzungen zu erkennen. Zu allem Überfluss wurde die Fahrbahn immer glatter. Obwohl die LKA-Ermittlerin aus Graz der Sicht und Witterung angepasst entsprechend langsam fuhr, riskierte sie bei jeder Kurve, von der Landstraße in den Graben abzurutschen. Dabei hatte Sandra Mohr von Anfang an gelernt, mit winterlichen Fahrbedingungen zurechtzukommen. Ihre ersten Fahrstunden hatte sie damals, vor 15 Jahren, in den Semesterferien in ihrem Heimatbezirk Murau, am Südrand der Niederen Tauern, absolviert und als Polizistin immer wieder spezielle Fahrtrainings durchlaufen, die ihr Partner vermutlich allesamt versäumt hatte. Sascha Bergmann, der neben ihr am Beifahrersitz saß, war einer der miserabelsten Autofahrer, dem Sandra je begegnet war. Dennoch bremste er vor jeder Kurve mit.
»Scheißwetter!«, schimpfte er und beugte sich nach vorne, als hätte er dadurch besser sehen können.
»Es nützt nichts. Wir müssen die Schneeketten anlegen«, verkündete Sandra und ließ den Wagen vorsichtig auf der Geraden ausrollen, sodass er auf einem Güterweg, der nur noch anhand der Schneestangen und Hinweisschilder als solcher zu erkennen war, zu stehen kam. Jetzt würden sie es ganz bestimmt nur mehr mit Ketten oder Anschieben im Retourgang zurück auf die Landstraße schaffen.
»Wieso wir?«, fragte Bergmann.
Sandra sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Sie hatte schon geahnt, dass er sich davor drücken würde, bei diesem Sauwetter auszusteigen. Nach knapp zweieinhalb Jahren der Zusammenarbeit mit dem Wiener Chefinspektor, der sich von der Bundeshauptstadt in die steirische Landeshauptstadt versetzen hatte lassen, kannte sie diesen besser, als ihr lieb war.
»Na, du hilfst mir doch sicher beim Kettenanlegen«, sagte sie scharf, wenngleich sie seine Antwort bereits wusste. Fragte sich nur, welche Ausrede ihm diesmal einfallen würde.
Bergmann kratzte sich an der Schläfe und zog ein Knie zur Brust heran, um Sandra den Sportschuh an seinem Fuß zu zeigen.
»Tut mir echt leid, ich hab die falschen Schuhe an. Wenn ich hier aussteige, bin ich bis über beide Wadeln hinauf waschelnass. Außerdem habe ich sowieso keine Ahnung, wie man Ketten anlegt. Ehrlich nicht …« Bergmann klimperte mit den Augen. »Du schaffst das sicher auch ohne mich. Ich kümmere mich inzwischen um Jutta. Wahrscheinlich steckt sie, wie wir, irgendwo im Schnee fest«, fügte er scheinheilig hinzu.
Sandra blies hörbar Luft aus und löste ihren Gurt. Wenig überraschend wollte Bergmann lieber die attraktive Gerichtsmedizinerin anrufen, bei der er seit geraumer Zeit zu landen versuchte. Oder auch gelandet war. Wer wusste das schon so genau, außer den beiden?
»Du bist so was von einem verdammten …«
Den Rest von Sandras Schimpftirade hätte Bergmann nur mehr durch die geschlossene Autotür hören können, wenn er es denn gewollt hätte. Stattdessen nahm er sein Mobiltelefon zur Hand, um Doktor Jutta Kehrer anzuwählen, die, wie die LKA-Ermittler, zum Einsatzort an den Steirischen Bodensee gerufen worden war.
Sandra hatte gerade die Schneeketten aus dem Kofferraum geholt und ausgepackt, als sie gedämpfte Motorengeräusche und ein dumpfes Rumpeln vernahm. Sie schob die Kapuze ihres eisblauen Daunenanoraks, die ihr tief ins Gesicht gerutscht war, ein wenig nach hinten, um nach dem herannahenden Fahrzeug Ausschau zu halten. Die beiden rotierenden, gelben Rundumkennleuchten hellten auf der Stelle ihre Laune auf.
»Halleluja!«, frohlockte sie laut und stapfte die wenigen Schritte zum Straßenrand, um dem Fahrer zuzuwinken. Etwas Besseres als ein Räumfahrzeug des Winterdienstes hätte sie sich in diesem Augenblick nicht wünschen können. Der Fahrer hielt neben ihr an und beugte sich aus dem Fenster.
»Dem Himmel sei Dank, dass Sie hier sind«, begrüßte ihn Sandra euphorisch.
Der Mann im leuchtorangen Anorak lächelte sie an.
»Sie sind vom LKA Steiermark, gell?«, fragte er.
Sandra nickte glücklich. Ob ihn nun der Himmel oder die Einsatzzentrale der Landespolizeidirektion geschickt hatte, machte für sie keinen Unterschied.
»Ja, wir sind vom LKA in Graz. Könnten Sie uns den Weg zum Fischerwirt freiräumen?«
»Deswegen bin ich herg’schickt worden«, bestätigte er Sandras letzte Vermutung. »’tschuldigen, dass ich’s nicht früher g’schafft hab. Aber das Wetter ist viel schneller dahergekommen, als wir geglaubt hab’n. Auf den Straßen spielt sich’s mörderisch ab.«
»Hauptsache, Sie sind jetzt hier«, meinte Sandra dankbar.
»Ich schaufel mal den Schnee hinterm Auto weg, damit S’ da wieder außikommen. Dann fahren S’ mir am besten nach«, schlug der Räumdienstfahrer vor.
»Ist gut. Danke vielmals!« Sandra kehrte zum zivilen Dienstwagen zurück, um die Schneeketten wieder einzupacken und im Kofferraum zu verstauen.
Bergmann telefonierte, als sie wortlos zu ihm ins Auto stieg. Mit diesem Arschloch würde sie heute bestimmt nicht mehr reden, dachte sie, noch immer ärgerlich. Jedenfalls nicht abseits der Ermittlungen.
*
Hinter dem Streuwagen herzufahren war das reinste Vergnügen gegen die Rutschpartie, die Sandra zuvor hingelegt hatte. Obwohl die Fahrt auf der Panoramastraße nicht annähernd so spektakulär war, wie an jenem strahlenden Altweibersommertag, den sie vor geraumer Zeit hier verbracht hatte. Das Schneetreiben war jetzt noch heftiger als zuvor. Allmählich fragte sie sich, wie sie später nach Graz zurückkommen sollten, wenn es nicht bald zu schneien aufhörte.
Bergmanns Worten nach zu urteilen, sprach er mit dem Postenkommandanten aus Haus im Ennstal, der seit Stunden am Einsatzort auf das Eintreffen der Ermittler wartete. Die Kriminaltechniker des LKA waren bereits vor einer knappen Stunde am Leichenfundort eingetroffen und gingen dort ihrer Arbeit nach. Sandra bezweifelte, dass es bei den Schneemassen, die inzwischen gefallen waren, dort noch irgendwelche brauchbaren Spuren eines Verbrechens zu sichern gab, sah man einmal von der Leiche ab. Bisher wusste sie nur, dass unter der Eisdecke des Sees ein unbekannter männlicher Toter entdeckt worden war. Das war am späten Vormittag gewesen, bevor der Schneefall eingesetzt hatte. Die örtliche Polizei war rasch vor Ort gewesen und hatte die Feuerwehr verständigt, die gegen Mittag das Eis aufgeschnitten und die Leiche aus dem See geborgen hatte. Weil diese eine Schusswunde im Kopf aufwies, war das LKA Steiermark eingeschaltet worden.
»Sie meinen, es handelt sich bei der Leiche um diesen ÖSV-Trainer, der seit Weihnachten vermisst wird?«, hörte Sandra Bergmann fragen.
»Von mir aus … War er halt kein normaler Trainer, sondern der Sportliche Leiter des österreichischen Herren-Alpin-Skiteams, soll mir recht sein. Das ändert jedenfalls auch nichts daran, dass Roman Wintersberger jetzt tot ist, falls Ihre Vermutung stimmt … Ja, ja … Wir müssten ohnehin jeden Moment bei Ihnen eintreffen. Das hoffe ich wenigstens …« Bergmann sah Sandra fragend an. Die nickte, um seine Hoffnung zu bestätigen. Eben waren sie an dem Mauthäuschen vorbeigekommen, das nur während der Sommersaison in Betrieb war. Der Parkplatz konnte also nicht mehr sehr weit entfernt sein, glaubte sie sich von ihrem letzten Ausflug hierher erinnern zu können. Obwohl der schon eine ganze Weile zurücklag, und sie zurzeit nur das Hinterteil des Räumfahrzeuges im blinkenden Gelblicht vor sich sah.
Sandra sollte recht behalten.
Keine zehn Minuten später erreichten sie die Seewigtalhütte. Das Ausflugslokal war wie das Mauthäuschen während der Wintermonate geschlossen. Aus dem Streifenwagen – dem einzigen Fahrzeug auf dem großzügigen Parkplatz – sprang ein uniformierter Kollege und kam auf sie zu. Sandra wies sich aus. Der Polizist salutierte und lief zum Schranken hinüber, der die Zufahrtsstraße zum Steirischen Bodensee versperrte, um diesen für sie zu öffnen.
Erneut heftete sich Sandra an das Räumfahrzeug, bis sie wenig später beim Fischerwirt eintrafen. Hier parkten auch die Wagen der Einsatzgruppe, die bereits am Leichenfundort beschäftigt war. Oder besser, hätte sein sollen. In der Schneelandschaft war kein Mensch zu entdecken. Jedenfalls nicht, so weit man bei dieser Witterung sehen konnte. Wo der See ungefähr lag, ließ sich nur am eingeschneiten Holzzaun erahnen, der das nähergelegene linke Ufer ein Stück weit begrenzte, und an der kleinen Blockhütte neben dem leeren Ziegengehege am rechten Ufer. Der vereiste Wasserfall, der in der wärmeren Jahreszeit von Obersee und Hüttensee über Fels und Stein in die Tiefe herab bis zum Steirischen Bodensee stürzte, blieb dem Auge des Betrachters im Schneetreiben ebenfalls verborgen.
Sandra stieg aus dem Wagen. Die Landschaft erschien ihr wie in Watte gepackt. Das gedämpfte Geräusch ihrer Autotür, die ins Schloss fiel, verstärkte diesen Eindruck noch. Als sie sich dem Fischerwirt zuwandte, machte sich der baumlange Räumdienstfahrer gerade daran, den Weg zum Eingang freizuschaufeln. Der Mann war wahrhaftig ein Engel. Im Gegensatz zu Bergmann, der noch immer im Auto saß und diabolisch grinste. Seelenruhig wartete er ab, bis der Arbeiter mit der Zigarette im Mundwinkel eine Schneise in den frischen Tiefschnee geschaufelt hatte, während Sandra sich den Hintern abfror. Fehlte nur noch, dass sich der Chefinspektor selbst genüsslich eine anzündete. Wenigstens dieses Laster hatte er zu ihrer großen Freude aufgegeben. Endlich stieg er auch aus und folgte ihnen zum Eingang der Gastwirtschaft.
Der Fahrer wollte sich ein heißes Getränk und eine Jause gönnen, ehe er seinen Dienst fortsetzte. Wie es aussah, würde es eine lange Schicht werden, meinte er zu Sandra gewandt und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die rissigen Lippen, ehe er im Raucherbereich des Lokals verschwand. Bergmanns sehnsüchtige Blicke folgten ihm und seinem Glimmstängel.
»Lass es bleiben, Sascha«, redete Sandra ihm gut zu, »du hast es jetzt schon ein halbes Jahr lang ohne Zigaretten ausgehalten. Du brauchst das doch gar nicht mehr.«
»Sechs Monate, eine Woche und fünf Tage, um genau zu sein«, erwiderte Bergmann, während er sich aus seinem Parka schälte.
Kaum hatte Sandra ihren Anorak an die Garderobe gehängt und sich umgewandt, erblickte sie Manfred Siebenbrunner. Der leitende Kriminaltechniker saß mit zwei seiner Leute sowie einem unbekannten Mann und einer jungen Frau in Polizeiuniformen am Stammtisch und blickte ihnen missmutig entgegen.
»Da sind Sie ja endlich!«, rief er ihnen eher vorwurfsvoll als erfreut zu und nahm einen Schluck von seinem alkoholfreien Bier.
Sandra ignorierte die Unhöflichkeit Manfred Siebenbrunners, den sie zwar fachlich, nicht jedoch menschlich schätzte, und bestellte bei der jungen Kellnerin, die ihnen auf halbem Weg entgegenkam, einen Tee mit Zitrone, Bergmann orderte einen doppelten Espresso.
Beim Tisch angelangt, stellte Sandra sich und den Chefinspektor den Uniformierten vor. Die beiden waren im Gegensatz zu den drei Kollegen aus Graz aufgestanden, um sie zu begrüßen.
»Abteilungsinspektor Johann Seitinger«, sagte der vollbärtige Kommandant der Polizeiinspektion Haus im Ennstal, »und das hier ist meine Kollegin, Frau Gruppeninspektorin Barbara Grübler.«
»Angenehm.«
»Sie nehmen es uns doch nicht übel, dass wir in der Gaststube auf Sie gewartet haben?«, entschuldigte sich der korpulente Polizist und deutete den Neuankömmlingen, sich zu ihnen zu setzen.
Sandra wählte den freien Stuhl mit Blick auf das knisternde Kaminfeuer, das trotz des wenig erfreulichen Anlasses und Siebenbrunners Anwesenheit eine heimelige Stimmung verbreitete.
»Nein, natürlich nicht – bei diesem Wetter«, antwortete sie.
»Die Leiche ist geborgen, der Fundort abgesichert«, meldete sich Siebenbrunner erneut zu Wort. »Die Spurensuche ist vorerst abgeschlossen. Macht keinen Sinn mehr bei diesem Wetter. Die meisten meiner Männer sind längst auf dem Heimweg.«
»Meine Leute und die Feuerwehr hab ich auch heimgeschickt, nachdem sie mit ihrer Arbeit hier fertig waren«, berichtete Seitinger. »Der Polizeiarzt musste ebenfalls dringend weg. Und unser Mann beim Schranken ist inzwischen auch aufgebrochen, damit er über die frisch geräumte Straße aus dem Tal herauskommt.«
»Ist gut. Könnten Sie uns bitte mit den Details vertraut machen?«, kam Sandra auf den Fall zu sprechen.
»Aber sicher«, übernahm die junge, hagere Gruppeninspektorin das Wort und zückte ihren Block. Sandra positionierte ihr Aufnahmegerät in der Mitte des Tisches und schaltete es ein.
»Also: Die beiden Söhne des Gastwirts haben vormittags auf dem See Eishockey gespielt. Normalerweise ist das Eislaufen hier verboten, wie auch das Baden und Angeln, wegen der Forellenzucht. Aber die eigenen Kinder dürfen manchmal hinaus auf den See, wenn sie brav waren und das Eis dick genug ist, hat der Wirt ausgesagt.«
»Haben Sie auch mit den Buben gesprochen?«
»Nur kurz.«
»Wie alt sind sie denn?«
»Jonas ist sechs, Jakob bald acht Jahre alt. Die beiden haben nach dem Puck gesucht, den Jakob verschossen hat, und schließlich die Leiche entdeckt. Sie sind gleich nach Hause gelaufen und haben ihren Vater geholt. Der hat uns dann verständigt«, berichtete Barbara Grübler weiter.
»Wollen Sie mit den Kindern sprechen?«, fragte Johann Seitinger.
»Später. Lassen wir die beiden erst einmal in Ruhe. Sie haben sicher einen ordentlichen Schrecken davongetragen«, meinte Sandra.
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen«, widersprach Seitinger. »Ich hatte eher den Eindruck, die beiden haben den Vorfall spannend gefunden. Sie konnten ja von der Leiche nicht viel sehen durch das Eis, außer einer Hand und einem bisschen Stoff. Da ist der Anblick blutiger Leichen in Fernsehkrimis doch wesentlich schlimmer. Auch wenn die natürlich nicht echt sind. Aber in der Fantasie der Kinder …«
Sandra bezweifelte, dass die Buben in diesem Alter schon Krimis anschauen durften, erst recht, dass sie dermaßen hart gesotten waren, um einen Leichenfund so mir nichts, dir nichts wegzustecken.
»Sind Sie sicher, dass die Kinder keine psychologische Unterstützung benötigen?«, fragte sie nach.
Seitinger sah Sandra an, als wäre ihm die Möglichkeit, in einem solchen Fall den psychosozialen Dienst hinzuzuziehen, nicht einmal im Entferntesten in den Sinn gekommen.
»Die Mutter kümmert sich schon um die beiden«, versicherte der Postenkommandant im Brustton der Überzeugung.
»Okay.« Sandra nickte zögerlich. Sie würde später mit den Kindern sprechen, um sich selbst ein Bild zu machen, ob sie professionelle Hilfe benötigten oder nicht. Auch die Eltern würden sie und Bergmann nachher einvernehmen.
»Vormittags ist also noch kein Schnee auf dem Eis gelegen?«, kehrte sie zum Leichenfund zurück.
»Nein. In diesem Winter hat es bisher kaum Schnee gegeben. In den letzten Wochen war es strahlend schön und bitterkalt. Wir sind heilfroh, dass es heute, so kurz vor Beginn der Alpinen Ski-WM, noch anständig zu schneien begonnen hat.« Zwischen Seitingers dunklem Vollbart mit den grauen Einsprenkelungen blitzte ein Lächeln auf, das den Blick auf perfekt aneinandergereihte weiße Zähne freigab.
Sandra lächelte zurück. Der freundliche, bodenständige Mann war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Außerdem gönnte sie der Region Schladming-Dachstein ein gelungenes ›Skifest mit Herz‹, wie es der Slogan der Ski-WM so treffend formulierte. Das Grüne Herz war, seit sie denken konnte, das Logo der Steiermark, und ein solches Mega-event die beste Werbung für das ganze Bundesland, ja für die gesamte Alpenrepublik, die nicht zuletzt auch vom Tourismus lebte. Wäre es jedoch nach Sandra gegangen, hätte Wintertief ›Leon‹ ruhig noch eine Weile auf sich warten lassen können, wenigstens, bis sie ihre Arbeit hier erledigt hatten. Bei den frostigen Temperaturen der vergangenen Wochen hätten auch die unzähligen Schneekanonen ausgereicht, um die Pisten für die WM-Rennen und den Gäste-Skilauf zu beschneien. Aber das Wetter konnte man sich bekanntlich nicht aussuchen.
»Ich frage mich, warum der Tote erst jetzt gefunden wurde«, fuhr Sandra laut fort. »Der Steirische Bodensee ist doch auch im Winter ein beliebtes Ausflugsziel, das Wanderer anlockt. Soweit ich mich erinnern kann, führt der Weg direkt am See vorbei.«
»Sogar rund um den See herum«, bestätigte Barbara Grübler. »Die Leichenfundstelle ist aber durch eine Baumgruppe und dichtes Gestrüpp vom Wasser getrennt. Vom Land aus ist der See dort kaum zugänglich und vor Blicken geschützt. Alle anderen Uferstellen mit Sicht dorthin sind zu weit entfernt. Da müsste man schon mit einem Fernglas ausgestattet sein, um eine Leiche unter der Eisdecke zu entdecken. Wenn überhaupt …«
»Und Sie halten den Toten tatsächlich für diesen vermissten Wintersberger vom Österreichischen Skiverband?«, meldete sich Bergmann zu Wort.
Seitingers Miene verfinsterte sich schlagartig.
»Der Wirt ist sich sicher, dass er es ist. Und wir sind es auch«, antwortete er, während Barbara Grübler nickte.
»Die Leiche ist in einem erstaunlich guten Zustand«, fuhr er fort. »Die Familie kannte Roman Wintersberger sehr gut. Er war so was wie der väterliche Freund seines Schwagers, schon als dieser noch ein Kind war. Roman Wintersberger hat den Tobias in der Skihauptschule Schladming trainiert, später beim ÖSV, und auch zuletzt war er als Sportlicher Leiter sein Chef, wenn Sie so wollen.«
»Außerdem befindet sich der Austria Ski Team-Schriftzug auf der Jacke der Leiche. Und die üblichen Sponsorenlogos«, warf die Gruppeninspektorin ein.
»Moment mal. Langsam, bitte. Der Schwager des Wirts heißt Tobias? Und weiter?«, fragte Sandra.
»Na, Tobias Autischer«, meinte Johann Seitinger, als wäre es sonnenklar, dass nur der Spitzenläufer der österreichischen Slalom- und Riesentorlaufmannschaft mit ›Tobias‹ gemeint sein konnte. »Der Fischerwirt ist sein Elternhaus«, erklärte er weiter. »Seine ältere Schwester hat die Gastwirtschaft vor ein paar Jahren von der Mutter übernommen. Gemeinsam mit ihrem Mann. Der Tobias wohnt noch immer hier, wenn er nicht gerade mit dem Skizirkus unterwegs ist.«
»Ach so.« Sandra hatte zwar gewusst, dass der jüngste Held der Skination ein Obersteirer, nicht aber, dass er der hiesige Lokalmatador war. »Das heißt, momentan wohnt Tobias Autischer hier?«
»Nein, momentan nicht. Während der Ski-WM ist er im Mannschaftshotel einquartiert.«
»Roman Wintersberger …«, kam Bergmann auf das mutmaßliche Opfer zurück und kratzte sich nachdenklich am unrasierten Kinn, »war der früher nicht selbst einmal Skirennläufer?«
Seitinger nickte.
»Roman Wintersberger war ein hochtalentierter Skifahrer aus der Ramsau. Er war seinerzeit Schülermeister im Riesentorlauf und Jugendmeister im Slalom. Später hat er es bis in den A-Kader des ÖSV-Technikerteams geschafft und einige beachtliche Rennergebnisse erzielt, bevor ihm der fürchterliche Sturz in Sestriere zwei kaputte Knie und das Ende seiner aktiven Karriere beschert hat. Das muss 1992 gewesen sein. Oder war es ’93?«
»Ausweis hatte der Mann keinen dabei«, dachte Sandra laut, »irgendwelche anderen Gegenstände vielleicht? Schlüssel, Handy, eine Brieftasche …?«
»Sein Handy war im Anorak«, sagte einer der Kriminaltechniker. »Wir werden überprüfen, ob sich darauf noch irgendwelche brauchbaren Daten finden lassen. Ist aber eher unwahrscheinlich. Könnte sein, dass nach längerer Liegezeit im Wasser sogar die SIM-Card hinüber ist.«
»Hatte der Tote sonst noch etwas dabei?«, fragte Sandra weiter.
»Nichts.« Barbara Grübler schüttelte den Kopf. »Wintersberger wird schon seit dem 25. Dezember des letzten Jahres vermisst«, fügte sie hinzu.
»Das haben wir auch mitbekommen. Nicht nur wegen der internationalen Fahndungsmeldung. Die Medien haben ja laut genug spekuliert, was mit dem ÖSV-Cheftrainer so kurz vor der Ski-WM passiert sein könnte«, meinte Sandra.
Ihr Freund Julius hatte als Radioreporter selbst wilde Verschwörungstheorien im Dunstkreis des ÖSV und des Internationalen Skiverbands FIS gewittert, was des Öfteren ein Streitpunkt zwischen ihnen gewesen war. Sandra machte sich jetzt schon darauf gefasst, dass Julius ihr Löcher in den Bauch fragen würde, wenn er erst einmal herausfand, dass sie im mutmaßlichen Mordfall Roman Wintersberger ermittelte. Dabei wusste er doch, dass die einzige unbeabsichtigte Indiskretion, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, ihr eine Lehre gewesen war. Sie hatte damals befürchten müssen, wegen seiner allzu voreiligen Berichterstattung über einen Mordfall den Job zu verlieren, und hatte sich kurzerhand von ihm getrennt. Aber das war eine alte Geschichte, die sie lieber vergessen wollte. Genauso wie die Fehlgeburt, die sie erlitten hatte, nachdem sie und Julius Czerny, nicht zuletzt wegen ihrer ungeplanten Schwangerschaft, wieder zusammengekommen waren. Über ihre Arbeit hatte Sandra seither nie mehr mit ihm gesprochen, und das würde auch in Zukunft so bleiben.
Die etwas pummelige Kellnerin mit den rotblonden Haaren brachte ihre Bestellung. Sandra versenkte den Teebeutel im heißen Wasser und griff zur Zitronenspalte.
»Die Leiche weist einen einzigen Kopfschuss auf?«, fragte Bergmann, der reichlich Zucker in seinen schwarzen Kaffee rieseln ließ.
Barbara Grübler nickte. »Zuerst nahmen wir an, der Schuss hätte den Schädel von vorne getroffen. Wegen der kleineren Wunde an der Stirn und der größeren am Hinterkopf. Der Polizeiarzt glaubt jedoch an einen Nahschuss von hinten.«
»Ich teile seine Meinung«, warf einer der Kriminaltechniker ein. »Die deutlich vergrößerte Eintrittswunde am Hinterkopf ist sternförmig aufgeplatzt, auch wenn sie durchs Wasser ausgewaschen und schwammig ist. Der Schuss müsste demnach aus nächster Nähe abgefeuert worden sein – entweder ein Contact- oder Near-Contact-Schuss. Eine Stanzmarke der Mündung auf der Haut konnten wir mit freiem Auge jedoch nicht ausmachen.«
»Dann könnte es sich auch um Suizid handeln?«, fragte Sandra.
»Ist eher auszuschließen. Die Einschusslokation wäre äußerst ungewöhnlich für einen Suizid, ebenso der Schusskanalverlauf. Der Schuss ist von hinten nach vorn erfolgt, abwärts. Sie müssen sich das in etwa so vorstellen …« Der Ballistikexperte führte erst die rechte, dann die linke Hand zu seinem Hinterkopf, um zu demonstrieren, dass der Einschusswinkel bei einer Selbsttötung nur sehr schwer, mit verdrehtem Handgelenk, zu erzielen war. »Soweit mir bekannt ist, wurde eine ähnliche Einschusslokation bisher nur vom RAF-Terroristen Baader in der Stuttgarter Haft gewählt, vermutlich mit der Absicht, einen Mord vorzutäuschen«, erläuterte er weiter. »Das liegt gut 35 Jahre zurück.«
Hundertprozentig auszuschließen war ein Suizid demnach noch nicht. Aber höchstwahrscheinlich hatten sie es doch mit einem Mordfall zu tun. »Der Schuss kam also von hinten, sagen Sie«, wiederholte Sandra die Information des Ballistikers, »wenn es sich um Mord handelt, müsste der Täter also entweder größer als das Opfer gewesen sein, oder das Opfer ist vor ihm in die Knie gegangen«, mutmaßte sie weiter.
»Alles reine Spekulation, Frau Kollegin, ohne Obduktionsbefund«, würgte Siebenbrunner ihre Gedanken ab.
Wieder eine Bemerkung, die er sich hätte sparen können, dachte Sandra ärgerlich. Glaubte der Mann ernsthaft, dass sie das nicht selbst wusste? Dennoch konnte man doch schon mal das eine oder andere Szenario gedanklich durchspielen.
»Apropos Obduktionsbefund«, sprang Bergmann ein, »Frau Doktor Kehrer wird es heute nicht mehr hierher schaffen, falls es nicht bald zu schneien aufhört – ich hab unterwegs mit ihr telefoniert. Wir müssen uns fürs Erste wohl oder übel mit der Diagnose des Polizeiarztes und Ihrer ersten ballistischen Einschätzung begnügen«, sagte er und nahm einen Schluck Kaffee.
»Auf den Besuch des Staatsanwalts werden wir ebenfalls verzichten müssen«, merkte Barbara Grübler an. »Der hat sich vorhin bei mir gemeldet, dass er aufgrund des Wetters hängengeblieben ist.«
»Die wichtigsten Fragen bleiben vorerst also ungeklärt«, kehrte Sandra zum mutmaßlichen Mord zurück. »Wurde die Leiche ins Wasser verbracht oder hat das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch gelebt? In diesem Fall hätte sich der Mann auch selbst noch im Wasser fortbewegen können. Auch wenn er schon angeschossen war – durch mögliche Muskelkontraktionen, seien sie willkürlich oder unwillkürlich gewesen.«
Sollte Siebenbrunners zaghaftes Kopfnicken etwa Zustimmung signalisieren?, wunderte sich Sandra über das erste positive Zeichen des Mannes an diesem Tag.
»Weiters bleibt zu klären, ob sich der Tatort hier am See befindet«, fuhr sie fort.
»Falls nicht, müsste der Täter die Leiche irgendwie vom Schranken bei der Seewigtalhütte bis zum See befördert haben. Zu Fuß ist das eine ziemlich weite Strecke. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass er einen Schlüssel zum Schranken besessen hat und bis zum Fischerwirt zufahren konnte«, spekulierte Bergmann.
»Oder er hat die Leiche mit anderen Hilfsmitteln unbemerkt transportiert. In der Nacht ist man hier vermutlich relativ ungestört«, kombinierte Sandra.
»Eine Schubkarre, ein Leiterwagen, ein Fahrradanhänger oder so was … Das wäre aber ziemlich riskant gewesen«, gab Bergmann zu bedenken.
»Oder der Täter hielt sich beim Fischerwirt auf. Er könnte entweder ein ständiger Bewohner oder ein Hausgast gewesen sein. Die vermieten doch Gästezimmer hier, nicht wahr?«, meinte Sandra, zur Gruppeninspektorin gewandt.
»Von Mai bis Oktober. Im Winter wird nur das Restaurant betrieben«, antwortete Barbara Grübler.
»Ach so. Und wo ist die Leiche jetzt?«, fragte Sandra in die Runde.
»Im Schuppen, neben dem Haus. Wir konnten den Toten ja schlecht im Schnee liegen lassen«, meinte Siebenbrunner.
»Für den Fall, dass der Mann post mortem in den See verbracht wurde«, spann Sandra den Faden weiter, »müsste dies nicht unweit der Fundstelle geschehen sein? Weit abgetrieben kann die Leiche doch nicht sein. Immerhin haben wir es hier mit einem stehenden Gewässer zu tun.«
»So exakt lässt sich das nicht sagen. Wir kennen das Strömungsverhalten des Gewässers noch nicht. Der Wasserfall, der den See speist, macht ihn speziell«, meinte Siebenbrunner.
»Aber der Wasserfall ist doch um diese Jahreszeit vereist«, warf Sandra ein.
»Wir müssen erst eruieren, wie lange dies schon der Fall ist«, erklärte Siebenbrunner. »Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass der Körper, so er bei seinem Untergang schon tot war, nicht besonders weit abgetrieben ist. Sie wissen vielleicht, dass sich Wasserleichen meist ganz in der Nähe der Untergangsstelle mit Stirn und Extremitäten am Grund verankern. Durch die verbliebene Atemluft und Gase in Lunge und Darm befindet sich die Leiche in Bauchlage, mit dem Gesäß nach oben …«
»Sie erzählen uns nichts Neues, Herr Kollege«, unterbrach Bergmann ihn.
»Ich komme schon noch auf den Punkt. Wenn Sie sich ein wenig gedulden, Herr Chefinspektor …«
Bergmann verdrehte die Augen und lehnte sich zurück. Ihn nervten weniger Siebenbrunners schlechte Manieren, als dessen ausführliche Erklärungen, wusste Sandra. Am liebsten ließ sich der Chefinspektor nur die wesentlichen Fakten präsentieren. Zu diesem Zeitpunkt blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben und Siebenbrunner ausreden zu lassen.
»Normalerweise bilden sich nach längerer Liegezeit im Wasser Fäulnisgase, die der Leiche Auftrieb verleihen und die den Bodenkontakt wieder lösen«, setzte der leitende Kriminaltechniker seinen forensischen Vortrag fort. Er war zweifelsohne einer jener Männer, die sich selbst gerne reden hören. »Nicht jedoch bei unserer Leiche. Bei konstant niedrigen Wassertemperaturen, die im Winter herrschen, bleibt der Fäulnisprozess aus. Es gibt in einem solchen Fall keine Fäulnisgase, die die Leiche nach oben treiben. Erst im Frühling, wenn die Temperaturen wieder ansteigen, ist der Prozess nicht mehr aufzuhalten.«
Bergmann seufzte hörbar, wofür er einen grimmigen Blick von Siebenbrunner erntete.
Sandra nutzte die Unterbrechung für eine Zwischenfrage. »Wenn ich die Kollegin Grübler vorhin richtig verstanden habe, ist die Leichenfundstelle doch ziemlich unzugänglich. Wie ist der Körper dann dorthin gekommen, falls er schon tot war?«
Jetzt seufzte Siebenbrunner, als hätte er es mit einer Horde begriffsstutziger Polizeischüler zu tun.
»Bei vollständig bekleideten Leichen wie dieser können Luftblaseneinschlüsse in der Kleidung das spezifische Gewicht des Körpers reduzieren«, erklärte er unwirsch.
Auch diese Erkenntnis war Sandra nicht neu. Nur mühsam widerstand sie der Versuchung, den Kriminaltechniker mit ihrer Schlussfolgerung erneut zu unterbrechen.
Der fuhr indessen fort: »Die Leiche könnte ein Stück weiter oben am See ins Wasser verbracht worden oder gefallen sein. Durch Lufteinschlüsse in der Kleidung kann die Strömung sie zur Fundstelle beim Ufer getrieben haben. Und dort ist sie an der flachsten Stelle mit einem Arm im Eis festgefroren. Wann genau dies der Fall war, werden wir mit Hilfe der Wetteraufzeichnungen zu klären versuchen. Um jedoch die exakte Untergangsstelle errechnen zu können, müssten wir, wie vorhin schon erwähnt, die Strömung ermitteln. Sobald das Wetter wieder besser ist, könnten wir mit entsprechenden Tests beginnen.«
Bergmann atmete erneut hörbar aus. Diesmal aus Erleichterung, dass Siebenbrunner endlich einen Punkt hinter seinen Vortrag gesetzt hatte, vermutete Sandra.
»Warten wir doch erst einmal den Obduktionsbefund ab«, wiederholte sie seinen Vorschlag von vorhin. »Könnte die Leiche übers Wasser zur Fundstelle gebracht worden sein? Mit einem der Ruderboote, die hier vermietet werden, vielleicht?«
Barbara Grübler schüttelte wieder den Kopf.
»Die Boote sind seit Anfang November eingewintert, behauptet der Wirt.«
»Verstehe. Gab es Spuren in der Nähe der Fundstelle?«, wandte sich Sandra erneut an Siebenbrunner.
»Es gibt immer Spuren, Frau Mohr. Man muss sie nur als solche erkennen«, belehrte Siebenbrunner sie. »Als wir mit der Spurensuche begonnen haben, hatte bereits der Schneefall eingesetzt. Außerdem dürfte die Leiche schon seit einiger Zeit im See gelegen sein. Ich betone, dürfte – ich bin nämlich kein Gerichtsmediziner, sondern Kriminaltechniker. Als solcher konnte ich mit meinen Männern ein paar Gegenstände sicherstellen. Leere Getränkedosen, Zigarettenstummel, die Kappe eines Kugelschreibers, eine Haarspange. Lauter Dinge, die schon mal beim Wandern verloren gehen, beziehungsweise achtlos weggeworfen werden. Auch diese Uhr haben wir sichergestellt. Wir haben sie unterm Gestrüpp gefunden, gleich hinter der Baumgruppe.«
Sandra griff nach dem Plastiksäckchen, das Siebenbrunner ihr entgegenhielt. Mit Uhren kannte sie sich gut aus. Um diesen massiven Chronographen zu verlieren, ohne es zu bemerken, musste man schon ziemlich weggetreten sein. Vielleicht war die Breitling ja dem Opfer oder dem Täter vom Handgelenk gerutscht. Die Automatikuhr war jedenfalls an einem 25. um fünf nach zwölf stehengeblieben, stellte Sandra fest. Dass sie noch intakt war, überprüfte sie durch kurzes, heftiges Schütteln, was den Sekundenzeiger für ein paar Takte in Gang setzte. Auf der Innenseite des Metallarmbands und an der Doppelfaltschließe waren deutliche Ablagerungen zu erkennen, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um Hautabrieb des Trägers handelte. Eine DNA-Analyse war in jedem Fall angebracht, auch wenn die Uhr genauso gut von jedem x-beliebigen Spaziergänger stammen konnte.
»Seit wann genau wurde Wintersberger vermisst? Ich meine, nicht das Datum der Anzeigenerstattung, sondern den Tag seines Verschwindens?«
»Seine Frau hat angegeben, dass er in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember von einer Weihnachtsfeier nicht nach Hause gekommen ist«, erinnerte sich Grübler.
»Und bei der Leiche wurde keine Uhr gefunden?«, vergewisserte sich Sandra.
»Nein«, meinte die Gruppeninspektorin.
Siebenbrunner runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als hätte Sandra es verabsäumt, aufmerksam zuzuhören und die richtigen Schlüsse zu ziehen.
»Die Breitling Navitimer Heritage hat meines Wissens eine Gangreserve von etwa 40 Stunden. Meist beträgt diese ein paar Stunden weniger, als der Hersteller angibt. An die zehn Prozent weniger, wenn die Chronographenfunktion aktiviert ist. Die sichergestellte Uhr ist an einem 25. stehengeblieben. Möglicherweise am 25. Dezember letzten Jahres. Das würde dann genau hinkommen. Meinen Sie nicht?« Sandra beobachtete Siebenbrunners Gesicht. Seine Augenbrauen zuckten kurz. Ihre Uhrenkenntnis überraschte ihn sichtlich, was seine Laune jedoch keineswegs hob. Eher war das Gegenteil der Fall.
»Das herauszufinden ist immer noch unsere Aufgabe«, wies der ranghöhere Akademiker sie forsch zurecht.
Sandra hatte schon in einigen Mordfällen mit Manfred Siebenbrunner zusammengearbeitet. Sympathisch war ihr der Kriminaltechniker noch nie gewesen, aber dermaßen schlecht gelaunt, wie an diesem Tag, hatte sie ihn schon lange nicht mehr erlebt. Dennoch fuhr sie unbeeindruckt fort: »Könnte die Leiche – oder auch der Schwerverletzte – nahe der Fundstelle dieser Uhr ins Wasser verbracht worden sein? Ich meine, hat man an jener Stelle ungehinderten Zugang zum See?«, fragte sie und sah Siebenbrunner direkt in die Augen.
»Hat man«, brummte er und wandte seinen Blick ab.
Na also, warum nicht gleich?, dachte Sandra.
»Sind die Leute vom Fischerwirt schon zu dieser Uhr befragt worden?«, erkundigte sie sich weiter.
Diesmal meldete sich Seitinger zu Wort.
»Alle, die anwesend waren, ja. Aber niemand will diese Uhr zuvor gesehen haben. Weder der Wirt oder seine Familie, noch das Personal. Letzteres ist übrigens auch schon nach Hause gefahren, bis auf die jüngere Schwester des Wirts, die uns bedient. Sie wohnt beim Fischerwirt. Die anderen sollten erst später zum Abendgeschäft wiederkommen.«
»Wenn das mit dem Wetter so weitergeht, wird das heute wohl nichts mehr werden«, meinte Sandra und machte ein Foto von der sichergestellten Uhr, ehe sie diese an Siebenbrunner zurückgab.
»In diesem Fall werden heute auch keine Gäste mehr hereinschneien«, fügte Bergmann an. Dass er Sandra angrinste, schrieb sie seinem wetterbezogenen Wortspiel zu, das niemandem außer ihr aufzufallen schien. Oder war der Chefinspektor gar zufrieden mit ihr, weil sie sich von Manfred Siebenbrunners mieser Laune nicht hatte einschüchtern lassen?
Sandra warf einen Blick aus dem Fenster. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, bis die Sonne, die sich hinter den Wolken verbarg, unterging. Außerdem schneite es noch immer. Wenn sie sich nicht sputeten, würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als in den Gästezimmern des Fischerwirts zu übernachten, kam ihr in den Sinn. Sofern der Wirt ihnen die Zimmer außerhalb der Saison überhaupt vermietete.
Die Einladung ihrer Freundin zum Abendessen in Graz würde sie ohnehin nicht mehr pünktlich schaffen. Zum Glück war Andrea an ihr häufiges Zuspätkommen und die kurzfristigen Absagen, wie sie jobbedingt leider immer wieder vorkamen, gewöhnt. Im Gegensatz zu Julius, der sich in letzter Zeit zunehmend vernachlässigt fühlte, was Sandra ziemlich unter Druck setzte und sie dementsprechend nervte. Weder würde es das erste noch das letzte Mal sein, dass ihr der Beruf einen Strich durchs Privatvergnügen machte. Damit würde sich Julius wohl oder übel abfinden müssen. Oder sein Glück woanders suchen. So schmerzhaft sie die zweite Option auch fände.
»Können wir die Fotos vom Fundort sehen? Beziehungsweise das Video, falls Sie eines gemacht haben?«, holte Bergmann sie in den Berufsalltag zurück.
»Ich hab schon zu Mittag ein Video von der Leichenbergung gemacht«, meldete sich die Gruppeninspektorin in der übereifrigen Manier einer Vorzugsschülerin. Sie hatte sogar ihren Zeigefinger erhoben.
Sandra kam Miriam Seifert, die jüngste Mitarbeiterin in Bergmanns Team in den Sinn. Die eigene Kollegin in Grazwar in ihren Augen um einiges sympathischer als die farblose Barbara Grübler, wenngleich sie sicher eine gewissenhafte Ermittlerin war. Das war Miriam mit ihrer lockeren Art aber auch. Zudem war sie ein wahrer Sonnenschein und eine Augenweide, was vor allem dem Chefinspektor gefiel. »Sehr gut«, lobte Sandra die junge Polizistin aus Haus im Ennstal dennoch. Immerhin waren es Einsatzbereitschaft und Ergebnisse, die zählten, nicht persönliche Befindlichkeiten. Hätte das mal jemand Manfred Siebenbrunner klargemacht.