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Martin Stauber, ein nicht minder begabter Freund des Astronomen und Mathematikers Johannes Kepler, ist von frühester Jugend von allem Lebendigen fasziniert. Mit Feuereifer und unendlicher Geduld erforscht er Tier- und Pflanzenwelt. Seine vergleichenden Untersuchungen lassen ihn dabei mehr und mehr an eine langsame Entwicklung allen Lebens glauben. Doch seine Arbeit bereitet ihm mehr als einmal große Schwierigkeiten und bringt ihn bei Lehrern und Professoren in Verruf. In einer Zeit, da ein Großteil der Macht bei der Kirche liegt, und in der immer wieder Kritiker und Andersdenkende auf dem Scheiterhaufen enden, kann er auf kein Verständnis für seine Erkundungen hoffen. So ist ihm auch der Feuertod seines Vorbildes Giordano Bruno eine Warnung und bald wagt er es nur noch mit wenigen Menschen über seine Erkenntnisse zu reden. Doch anders als Kepler, der zeit seines Lebens zwischen allen Stühlen sitzt und trotz aller Anerkennung, die ihm zweifelsohne zuteilwird, ein Leben in finanzieller Not führt, arrangiert sich Stauber mit der alles beherrschenden Kirche und tritt als kleiner Gemeindepfarrer in deren Dienst. Die Widersprüche, die sich zwischen seinen Forschungen und seinem Beruf auftun, verursachen in ihm allerdings einen immer tiefer werdenden Spalt. Viele Jahre unermüdlicher Forschung gehen ins Land, ehe er Frieden mit seinen Erkenntnissen und seinem Beruf machen kann. Doch dann verändert der Beginn des Dreißigjährigen Krieges alles, und nichts ist mehr wie es einst gewesen war…
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Seitenzahl: 1653
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Für Anne, die mir immer wieder den Rücken freigehalten hat. Nur so konnte dies Buch entstehen.
Thomas A. Klein
Stella Nova
∞
Heilige Wahrheit.
Historischer Wissenschaftsroman
©2019 Thomas A. Klein
Umschlaggestaltung: Thomas A. Klein
Lektorat: Timo Hassakas
2. Auflage 2024
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
978-3-7469-8815-3 (Paperback)
978-3-7469-8816-0 (Hardcover)
978-3-7469-8817-7 (E-Book)
Druck und Verlag: tredition GmbH, 22359 Hamburg
Mehr über Buch und Autor: https://thomas-a-klein-romane.eu
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Heilig ist zwar Laktanz,
der die Kugelgestalt der Erde leugnete;
Heilig Augustinus,
der die Kugelgestalt zugab,
aber die Antipoden leugnete;
Heilig das Offizium unserer Tage,
das die Kleinheit der Erde zugibt,
aber ihre Bewegung leugnet.
Aber heiliger ist mir die Wahrheit.
Johannes Kepler
(1571 - 1630), deutscher Astronom
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog 1572
Kapitel 1: 1577
Kapitel 2: 1578
Kapitel 3: 1584
Kapitel 4: 1586
Kapitel 5: 1587/88
Kapitel 6: 1589-94
Kapitel 7: 1595-96
Kapitel 8: 1596-1599
Kapitel 9: 1601-1603
Kapitel 10: 1604-1605
Kapitel 11: 1606-1610
Kapitel 12: 1610-1612
Kapitel 13: 1612-1616
Kapitel 14: 1617-1620
Kapitel 15: 1620-1623
Kapitel 16: 1624-1626
Kapitel 17: 1627-1632
Kapitel 18: 1633-1634
Danksagung
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Urheberrechte
Kapitel 1: 1577
Danksagung
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Prolog 1572
Jacobs Lammfellstiefel knirschten im Schnee.
Harsch zog der Wind die letzte Wärme aus seinem Körper. Wollte dieser Winter denn gar kein Ende mehr nehmen? Nicht genug dass Kälte und Schnee das Leben fast vollständig zum Erliegen gebracht hatten, hinzu kam, dass seit Tagen niemand mehr die Sonne gesehen hatte. Der Frost drang in alle Ecken. Flüsse und Seen waren schon seit Ewigkeiten zugefroren.
Was blieb ihm anderes zu tun? Zu arbeiten hatte er nicht viel. Der Handel mit Schafswolle schlief im Winter. Bis an die erste Schurr zu denken war, würden noch Wochen ins Land gehen. Die Schafe brauchten ihr warmes Fell, um dieser Kälte trotzen zu können. Auch so schon erfroren genügend Tiere, oder wurden von Wölfen, Bären und Luchsen gerissen, welche durch das kalte Wetter, aus den umliegenden Wäldern, immer näher an die Dörfer und Städte herankamen.
Jacob konnte es gleich sein. Er hatte keine Schafe. Er handelte nur mit deren Wolle.
Trotzdem war seine Stimmung gedrückt. Sie hatten zwar genug zu essen, mussten nicht wie viele andere am Hungertuch nagen, doch die harten Winter der vergangenen Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Menschen waren arm und litten Not. Doch nicht nur der Winter setzte dem einfachen Volk zu. Vor allem die Missernten der letzten Jahre ließen die Getreidepreise in die Höhe steigen. Getreide wurde für die meisten zum unbezahlbaren Luxus. Die Hühner, von denen in guten Zeiten jeder Haushalt ein paar hielt, waren schon alle geschlachtet. Zwar waren die Eier eine wichtige Nahrungsgrundlage, doch legte auch das beste Huhn keine, wenn man es nicht ausreichend füttern konnte. So verwertete man alles, was essbar erschien. Hunde und Katzen sah man kaum noch. Nur die ganz scheuen Tiere fanden hie und da noch eine Nische, in der sie überleben konnten.
Freilich waren nicht alle so arm. Wer genügend Geld hatte, konnte sich immer die Dinge kaufen, die er zum Leben benötigte. Die anderen gingen im Herbst in die Wälder, was eine ungeheure Überwindung bedeutete. Denn die Wälder galten als nicht sicher. Nicht nur dass sich Gesetzlose darin verbargen, man konnte nie sicher sein, ob man die Ruhe einer Hexe, eines Zauberers oder irgendwelcher Geister störte. Und immer wieder gingen Geschichten reihum, in denen von Unglücklichen berichtet wurde, die niemals aus einem Wald, in den man sie hineingehen sah, zurückgekehrt seien. Mit der Angst um seine unsterbliche Seele wagte man sich trotzdem in den Wald und holte sich, was dieser hergab. Viel war es nicht. Anfangs gab es noch Beeren, später Bucheckern und andere Nüsse. Auch Käferlarven und die Rinde mancher Bäume machten vorübergehend satt. Noch später grub man Wurzeln aus. Doch der anhaltende Frost, lies auch diese Quelle versiegen und allerorts starben die Menschen des Hungers.
Diese Not beschäftigte Jacob im Moment aber nicht. Er hielt es zu Hause nicht mehr aus. Er konnte einfach nicht mehr warten. Seit Jahren warteten er und seine Frau Sophie nun schon. Doch das Warten neigte sich dem Ende zu. Sophie war hochschwanger. Und das in einem Alter, indem viele schon die ersten Enkel feiern konnten.
Es musste nun jeden Tag so weit sein. Doch Jacob musste das Los aller werdenden Väter ertragen. Er konnte nichts tun, als zu warten. Und gerade das nahe Ende dieser Wartezeit ließ die Bürde der Ungewissheit ins Unermessliche steigen. Deshalb verließ er das Haus und stapfte durch den frostigen Schnee. Einmal mehr suchte er im Wirtshaus Ablenkung. Trotz seines Fellmantels drang die Kälte in sämtliche Glieder. Weniger Wohlhabende konnten sich einen solchen Mantel nur erträumen. Auch nannte kaum jemand vernünftiges Schuhwerk sein Eigen. Die leinene Oberbekleidung der Bauern war zumeist Jahre alt, löchrig, und jetzt im Winter, da die Enz gefroren war, ungewaschen. Nicht, dass sie reich gewesen wären. Aber sie hatten ihr Auskommen. Der Umgang mit den Schäfern ermöglichte ihm dann und wann sogar den Erwerb eines verendeten Tieres. Die Schäfer waren froh, wenn sie jemanden fanden, der ihnen im Tausch gegen den Kadaver etwas von Wert bieten konnte. Erwischen lassen durften sie sich dabei natürlich nicht, hüteten die Schäfer die Herden doch nur im Auftrag eines Herrn, unter dessen Schutz sie standen. Sie verstanden es aber immer, die passende Zahl der Tiere zu benennen. Nicht jedes neu geborene Lamm wurde so korrekt registriert.
Die Straßen der kleinen Stadt waren leer. Wer ein Dach über dem Kopf hatte, vermied es, diesen Schutz zu verlassen. Obwohl der Himmel ein einzig graues Meer war, war es noch nicht dunkel. Ein klein wenig wurden die Tage schon länger. Das war an diesem frühen Februar Abend aber auch die einzige Hoffnung auf ein Erwachen des Frühlings. Immerhin hatte es seit zwei Tagen nicht mehr geschneit, und die festgestampfte Schneedecke ließ einen wieder schneller vorankommen. Oben auf der Burg Kaltenstein, die hoch über dem Stadtzentrum auf dem Berg lag, der Veihingen schon vom weiten seine markante Silhouette verlieh, mochte es noch etwas heller sein. Doch der Ortskern der Stadt lag im Schatten des Burgberges, und des Bergrückens, der sich im Westen auf der anderen Seite der Enz erhob. Die beiden Berghänge ließen an dieser Stelle nur ein schmales Tal, durch das sich die Enz zwang. Gen Osten waren die Enzauen weiter, und die breiten Wiesen waren in der wärmeren Jahreszeit mit allerlei Nutzvieh besiedelt. Jetzt erstreckte sich dort nur eine scheinbar undurchdringlich weiße Fläche.
Als Jacob näher an das Stadtzentrum herankam, wurden die Gassen immer schmäler und das spärliche Licht verschwand nach und nach. Auch aus den Häusern drang kaum ein Licht. Selbst in den wohlhabenderen Familien, die hier wohnten, musste mit Kerzen und Öl gespart werden.
Die Stiegen zur Türe der Schenke fand er aber auch so, war ihm der Weg doch nur allzu vertraut. Er trat seine Stiefel ab, öffnete die schwere Eichentür, und trat ein. Drinnen saßen der Bürgermeister und der Pfarrer. Nur zwei oder drei weitere Gäste verloren sich in dem von wenigen Kerzen beleuchteten Gastraum. Das kleine Feuer im Kamin gab nur wenig Licht und ebenso wenig Wärme. Jacob setzte sich zu den beiden Honoratioren, ohne seinen Mantel abzulegen.
„Herr Pfarrer, Herr Bürgermeister.“, grüßte er sie mit einem kurzen Kopfnicken.
„Musst du nicht zu Hause bei deiner Frau sein?“, wollte der Pfarrer wissen. „Es kann doch nun nicht mehr lange dauern. Bedarf sie nicht deines Beistands?“
„Sie kommt schon zurecht.“, entgegnete er kurz angebunden, in der Hoffnung, dieses Thema damit abgehakt zu haben.
Pfarrer Armleder war schon seit vielen Jahren einer der Pfarrer des Ortes. Er war ein kleiner rundlicher Mann mit grauem, für sein Alter erstaunlich dichtem Haar. Seine nicht nur im Winter geröteten Backen verliehen ihm ein immerzu angestrengtes Aussehen. Er verstand es, die Menschen des Sonntags in seine Kirche zu locken. Die Menschen waren zwar kaum als sehr religiös zu bezeichnen, doch seit der Bibelübersetzung Luthers, und der damit einhergehenden Abhaltung des Gottesdienstes in deutscher Sprache, verstanden die Kirchgänger die Worte des Pfarrers und kamen zumeist freiwillig. Der Pfarrer erzählte seiner Gemeinde aus dem Alten Testament, von der Schöpfung, Adam und Eva, Abraham, Noah und all den andern. Aber noch viel mehr nahmen seine Schäfchen die Geschichten des Neuen Testaments gefangen. Die Wunderdinge, die Jesus vollbracht hatte, hatten für alle etwas Tröstliches. So brachte der sonntägliche Kirchgang allen eine willkommene Abwechslung vom tristen, sorgenvollen Alltag.
„Gott hat euch gesegnet. Es dünkt mir fast wie ein Wunder, dass Sophie doch noch guter Hoffnung geworden ist. Die Wirkung des Fluches, der auf euch lag, ist endlich vergangen.“
„Der Fluch …“, wiederholte Jacob und verstummte in tiefer Grübelei.
„Wann wird nur endlich der Fluch von dieser Stadt und diesem Land genommen?“, versuchte der Bürgermeister, zu Jacobs Erleichterung, das Thema zu wechseln.
„Nicht, bis wir das eigentliche Übel ausgemerzt haben. Und das ist und bleibt die Hexerei. Es gibt noch viel zu viele Hexen unter uns. Lest es nach im 2. Buch Mose Kapitel 22 Vers 17. Da steht geschrieben: Eine Zauberin darf nicht am Leben bleiben.“
„Wir haben schon so viele verbrannt, oder auf andere Weise getötet. Allein, zum Bessern gewand hat sich nichts. Im Gegenteil! Die Hungersnot nimmt immer größere Ausmaße an, die Winter werden immer härter; und wenn es dann endlich Frühling und Sommer wird, zerstören Unwetter die Ernte. Und zu allem Überfluss breitet sich immer wieder die Pest, wie ein Gewitterregen der das trockene Land überzieht, aus. Und wenn uns nicht die Pest heimsucht, so ist es die Lepra oder die Franzosenseuche.“
„Du bist der Bürgermeister dieser Stadt. Du musst den Menschen ein Vorbild sein und mit starkem Glauben vorangehen. Das Teufelswesen ist eine Tatsche. Die Teufelsbuhlerinnen sind mitten unter uns. Sie tanzen des Nachts in den Wäldern und üben dort die fleischliche Vereinigung mit dem Erzbösen.“
„Ihr müsst es ja wissen. Ich konnte solche Tänze und Vereinigungen noch nicht beobachten. Und ja, ich bin der Bürgermeister. Und somit trage ich auch Verantwortung für alle Bürger. Mich plagen nur Zweifel, ob alle, die wir verurteilt haben, auch zu Recht verurteilt wurden. Kann es nicht sein, dass wir den Tod Unschuldiger zu verantworten haben?“
„Geh doch in die Wälder. Dort kannst du die Hinterlassenschaften der Satansjünger finden. Kreise, Steinhügel und alle möglichen diabolische Zeichen. Im Übrigen wird der Herr schon zu verhindern wissen, dass unschuldige Christenmenschen des Todes anheimfallen. Und sollte eine oder einer darunter sein, der rechten Glaubens ist, so wird er seine Seele retten.“
„Der Herr, der Herr. Mich dünkt, der Herr hat uns verlassen.“
„Sage nicht so etwas. Schau dir Jacob an. Er wird in diesen Tagen Vater. Wie lange wollten er und Sophie schon ein Kind? Und nun, da keiner mehr damit gerechnet hat, ist Sophie doch noch schwanger geworden. Ist das nicht ein Wunder? Muss das nicht der Herr selbst veranlasst haben?“
Jacob konnte es nicht mehr hören. Was fiel diesem selbstgerechten Pfaffen nur ein? Immer wieder bemühte er seinen Fall für ein göttliches Wunder. Aber er hatte ja recht. Fast zwanzig Jahre hatten sie sich vergeblich bemüht, ein Kind zu bekommen. Was hatten sie nicht alles unternommen, um ihr Schicksal zu wenden? Aber dass ausgerechnet die Person, der sie am meisten vertrauten, ihrem Glück im Wege stand, kam ihnen nie in den Sinn.
Und doch war es so. Sophie erwartete ein Kind. Als die monatliche Blutung ausblieb, was nicht zum ersten Mal Geschehen war, wollte er zunächst gar nichts davon wissen. Zu groß war die Furcht vor einer weiteren Enttäuschung. Eigentlich hatten sie ja auch beide die Hoffnung längst aufgegeben. Als kinderlose Frau war Sophie in der Stadt kaum anerkannt. Nur Mütter konnten auf eine gesellschaftliche Akzeptanz hoffen. Kinderlose und, noch schlimmer, unverheiratete standen immer außerhalb der Gesellschaft. Jacob hatte es da einfacher. Allein durch seinen Beruf war er genügend integriert. Sophie hatte sich aber damit abgefunden, nur an der Seite ihres Mannes zu stehen. Wenigstens war sie ja verheiratet und stand deshalb nicht ganz im Abseits. Wenn es in der Gemeinde etwas zu organisieren gab, kam sie naturgemäß nie zum Zug. Nur wenn einmal zu wenige Frauen zur Verfügung standen, wurde sie doch gefragt, ob sie nicht helfen könne. Wenigstens an solchen Tagen gehörte sie dazu. Unverheirateten wurde solch eine Ehre nie zuteil. Doch nun würde sie bald richtig dazu gehören und ein vollwertiger Teil der Gemeinde sein.
Sophie schob es zuerst auf ihr Alter, das die Blutungen nicht mehr so regelmäßig kamen. Also lebte man weiter in den Tag und tat, als wenn nichts wäre. Vom Ziehen in ihren Brüsten erzählte sie ihrem Mann erst gar nicht. Erst viel später gestand sie ihm, dass sie schon länger wusste, dass sie diesmal wohl wirklich guter Hoffnung war. Spätestens aber, als ihr immer häufiger übel wurde und sie sich des Öfteren übergeben musste, konnte sie es ihm nicht mehr verheimlichen.
Aber sie behielten es für sich. Sie banden niemanden in ihr Geheimnis ein. Die Ungewissheit, ob sie das Kind wirklich behalten würde, nagte an ihnen. Doch ihre Sorge war umsonst. Sophie blühte regelrecht auf. Und auch die Übelkeit verschwand mit fortschreitender Schwangerschaft.
Als ihr Bauch immer runder wurde, versuchte sie zunächst noch, ihn unter ihrer Kleidung zu verstecken. Was ihr schon deswegen leicht fiel, da der Herbst in diesem Jahr früh und mit ungewöhnlicher Strenge hereinbrach. Doch irgendwann war es nicht mehr zu leugnen. Und schnell ging es durch die kleine Stadt, dass Jacobs Frau ein Kind erwarte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt nutzte der Pfarrer es für seine Zwecke und sprach immer wieder von einem Wunder, welches nur durch göttliche Intervention zustande gekommen sein konnte. Ganz so, wie er schon Abraham und seiner Frau Sarah in hohem Alter noch zu Kindern verholfen hatte.
Ein Ehepaar, das keine Kinder hatte, war immer ein Gesprächsthema. Jacobs und Sophies Bemühungen blieben, zu deren Leidwesen, auch nicht lange im Verborgenen. So nahmen viele in der kleinen Stadt Anteil am Schicksal der Eheleute. Ein Fluch müsse über sie gesprochen worden sein, war die allgemeine Auffassung. Dass Gott solch rechtschaffenen Menschen Kinder verweigerte, wurde schnell wieder verworfen. Wer nur also konnte sie mit einem solchen Fluch behaftet haben?
Der Wirt brachte Jacob, wie bei jedem seiner Besuche, unaufgefordert ein Viertel Wein. Den Rest des Abends unterhielt man sich über dies und das. Wie so häufig fiel auch an diesem Abend das Thema auf Herzog Ludwig von Württemberg, der auch, dank seiner tiefen Religiosität, der Fromme genannt wurde. Ludwig war nach dem Tod seines Vaters, kurz nach dem Weihnachtsfest des Jahres 1568, zum Herzog ernannt worden. Leider war der Herzog mit seinen achtzehn Jahren aber noch zu jung, um die Amtsgeschäfte übernehmen zu können. Er stand unter der Vormundschaft seiner Mutter, Anna-Maria von Brandenburg-Ansbach. Aber nicht nur sie allein wurde zu seinem Vormund bestellt, nein außer ihr waren noch Herzog Wolfgang von Zweibrücken sowie Markgraf Georg Friederich von Brandenburg-Ansbach und Karl von Baden an seiner Seite. Um aber die Situation noch unübersichtlicher zu machen, führte in deren Namen ein gewisser Graf Heinrich von Castell die Verwaltung des Landes. Eine solche Konstellation brachte naturgemäß immer wieder eine Menge Gesprächsstoff mit sich. Wer hat denn nun das Sagen und von wem werden wir eigentlich regiert? Lenkt am Ende womöglich sogar ein Weib die Geschicke des Landes? Dieses Gesprächsthema sollte erst mit Erreichen des vierundzwanzigsten Lebensjahres des Herzogs erledigt sein. Am 1. Januar des Jahres 1578 würde es endlich so weit sein, Ludwig konnte dann auch formell die Regierungsgeschäfte übernehmen. Erst dann müsse man sich nicht mehr sorgen, ein Weib könne für das Wohl und Wehe des Landes verantwortlich sein. Am Ende müsse man gar Zustände wie in England befürchten. Dort saß bereits seit dem Jahr 1558 eine Frau auf dem Thron. Elizabeth die Erste nannte sie sich. Sie war ein illegitimer Sprössling Heinrich des Achten. Obwohl Heinrich mit ihrer Mutter verheiratet gewesen war, konnte man die Ehe wohl kaum als legitim bezeichnen. Heinrich hatte seine erste Frau, nachdem der Papst einer Scheidung nicht zustimmte, verbannt. Nur um der Liebe zu Elisabeths Mutter willen hatte er sich von Rom losgesagt, und nannte sich nun selbst das Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Die Tatsache, dass er sich vom Papst losgesagt hatte, war dabei natürlich nicht das Schlimme. Aber das dies nur aus weltlichen, und nicht aus religiösen Gründen geschehen war, brachte ihm den Hohn, selbst des protestantischen Resteuropas, ein. So war Elizabeth ein Dorn in den Augen der Männer. Vor allem für Pfarrer Armleder war ihre Regentschaft die reinste Katastrophe. Weiber konnten im Hause mitbestimmen, aber für die große Politik waren sie doch gänzlich ungeeignet. Steht doch schon im heiligen Buch, 1. Buch Mose Kapitel 3 Vers 16, Es wird dich zu deinem Mann hinziehen, aber er wird über dich herrschen. Nicht nur nach Pfarrer Armleders Meinung konnte auf eine Elizabeth die erste auf keinen Fall eine zweite folgen.
Über diese Gespräche musste Jacob unweigerlich an Rolf denken. Rolf Spar war ein komischer Kauz. In seiner Familie übte man schon seit vielen Generationen den Beruf des Goldschmiedes aus. Und als solcher war er allen schönen Dingen zugewandt. Die Familientradition machte ihn zu einem der wohlhabendsten Bürger Veihingens. Seine Art, sich zu bewegen und sich auszudrücken, entlarvte ihn aber als andersartig. So verwunderte es auch niemanden, dass er noch nie geheiratet hatte, obwohl er einen guten Draht zu den Weibern hatte. Auch wenn er immer etwas im Abseits stand, hatte er für jeden ein offenes Ohr. Und wenn man ein Problem hatte, welches man nicht gerade mit dem Pfarrer oder einem sonstigen Gebildeten besprechen konnte, holte man gerne seinen Rat ein. Verwunderlich war nur, dass noch keiner auf den Gedanken kam, ihn des Teufelspaktes zu bezichtigen, was aber wahrscheinlich wiederum an seiner gesellschaftlichen Stellung lag.
Rolf gesellte sich an manch einem Abend zu ihrer Runde hinzu, was vor allem dem Pfarrer Bauchschmerzen bereitete. Wenn dann einmal mehr das Gespräch auf Frauen in der Politik fiel, wies Rolf gerne darauf hin, dass vor fast 80 Jahren ein gewisser Christoph Columbus, unter dem Befehl der spanischen Königin Isabella stehend, in See stach. Nach Westen segelnd erreichte er Land, in der irrigen Meinung einen neuen Seeweg nach Indien entdeckt zu haben. Das tat aber seinem Ruhm keinen Abbruch und Spanien erlebe seither einen wahren Höhenflug.
Gerne zweifelte man dann in der Runde den Nutzen der Entdeckung dieser Neuen Welt an, und vermutete zuweilen sogar, böse Mächte könnten ihre Finger im Spiel gehabt haben. Wie könne sonst einem Weib ein solcher Wurf gelingen? Die Konsequenz aus der Entdeckung Columbus war ja, dass die Welt eine Kugel war. Das war zwar nichts wirklich Neues, doch eine Angst war von der alten Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe, geblieben. Irgendwie sah man sich selbst auf dem obersten Teil dieser Kugel lebend, was war aber, wenn man sich weit von dieser Stelle entfernte? Man musste doch unweigerlich immer weiter die Kugel hinab! Musste man, wenn man es zu weit trieb, nicht unweigerlich einmal von ihr herabfallen? Vielleicht war dies der Grund, wieso vor Columbus es niemand gewagt hatte so weit in See zu stechen. Nun, Columbus hatte Glück gehabt, er war gesund zurückgekehrt. Doch noch weiter sollte man es wohl nicht treiben. Irgendwann würde es einer übertreiben und doch noch von der Erde herab fallen. Dass es einem gewissen Magellan gelungen war die Erde, immer in die gleiche Richtung segelnd, zu umrunden, war für kaum jemanden ein Beweis. Man konnte und wollte es einfach nicht verstehen und ignorierte die Fakten daher einfach. Gebildete Menschen wussten durchaus von der Umsegelung der Welt und der Tatsache, dass Magellan nicht hinab gefallen war. Doch Bildung war ein zartes Pflänzlein, welches nicht tief wurzelte. Und so blieb die Erde in den Augen des gemeinen Volkes, was sie immer war, ein Ort, bei dessen Erforschung man nicht zu weit gehen durfte. Man konnte einfach nicht sicher sein, was einem am anderen Ende des Erdenrunds erwarten würde. Wenigstens aber konnte man sicher sein, dass die Sonne des Morgens aufging und des Abends wieder unter, und sie so einen jeden Tag ihre Bahn um die Erde zog.
Was die Weiber anging, stand doch aber fest, dass sie ungebildet waren, und auch immer bleiben würden. Der Versuch, Bildung an ein Weib zu bringen, wäre letztlich doch vergebliche Mühe. Es wäre einfach unmöglich, einem Weib auch nur eine geringe Bildung beizubringen, wie sie in einem jeden Manne von Natur aus innewohne. Weshalb es auch vollkommen unnötig wäre, den Weibsleuten lesen und schreiben beizubringen. Ein jedes Weib brauche eben einen Mann, der sie beschütze und ihr sage, was sie zu tun, und was sie zu lassen habe.
Nach seinem zweiten Viertele Wein machte sich Jacob wieder auf den Nachhauseweg. Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Er musste vor der Sperrstunde um neun Uhr wieder zu Hause sein. Niemand durfte sich dann noch auf der Straße aufhalten. Nur der Nachtwächter zog dann noch seine Runden und kontrollierte, dass die dunklen Gassen auch wirklich menschenleer waren. Vom Mond war kein Licht zu erwarten. Es war Neumond. Aber selbst bei Vollmond hätte er, durch die nicht enden wollende Wolkendecke, nicht auf viel Licht hoffen können. Jacob blieb auf der Schwelle des Wirtshauses stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Zu seiner großen Überraschung meinte er, am Himmel Sterne ausmachen zu können. Riss der Himmel wirklich auf? Vielleicht sah der morgige Tag schon ganz anders aus.
Er ging sehr langsam, um nirgendwo anzustoßen. Der Hall, verursacht durch das Geräusch seiner Schritte im Schnee, ließ ihn geradezu ein Bild seines Weges durch das Dunkel erahnen.
Plötzlich riss ihn der Ruf eines Uhus aus seiner Konzentration. Wie ein Donner traf es ihn in Mark und Bein und auf einmal kam ihm wieder dieses Lachen in den Sinn, das er schon so lange nicht mehr gehört hatte. Zuerst war es nur ein lang gezogenes Krächzen. Er wähnte es vergessen. Früher schob er die Erinnerung an dieses Lachen, soweit es ging von sich. Doch nun war es wieder da; so als ob er es nie vergessen hätte. Das Lachen der Agnes Kiefer. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch das Lachen wuchs immer mehr an. Langsam ging das Krächzen in abgehackte Intervalle über. Immer wieder wurde es durch ein grunzendes Geräusch, ähnlich dem eines Schnarchers, der nach Luft ringt, unterbrochen. Dieses Grunzen war so typisch für Agnes Lachen gewesen. Nach jedem Lachen oder auch nur einem leisen Kichern folgte ein solches. Und auf einmal schwoll das Lachen immer mehr an und gewann zusehends an Kraft, bis es in ein schallendes Gelächter gipfelte. Gerade so, als ob es das Lachen eines Wahnsinnigen wäre. Jacob wurde es immer unbehaglicher. In der Dunkelheit wähnte er Augen auszumachen, die ihn verfolgten. Und hinter einem dieser Augenpaare wähnte er das Gesicht der Agnes Kiefer.
Agnes Kiefer war ein Kräuterweib. Sie wohnte ein wenig außerhalb der Stadt, flussaufwärts, auf der anderen Seite der Enz. Ihre alte Hütte aus morschem Gebälk und einem Dach, das so lückenhaft schien, dass man die Vermutung hegte, schon der geringste Regen fände seinen Weg hindurch, stand außerhalb der Stadtmauer. Das jämmerliche Häuschen war von einem großen Garten umgeben, in dem sie die verschiedensten und exotischsten Pflanzen heranzog. Im Frühjahr und Sommer war der Garten, dank seiner Blütenpracht, von einer Unzahl von Kerbtieren und Vögeln bevölkert. Das wiederum, zog das Missbehagen der Nachbarn nach sich. Nicht nur, dass sich das Unkraut immer wieder seinen Weg aus dem Garten bahnte, man wusste auch nie, was für Kreaturen, die Gast in diesem Garten waren, womöglich des Teufels waren.
Sophie und er suchten sie auf Empfehlung einer Hebamme auf. Sie gab ihnen Hoffnung, Agnes könne ihnen bei ihrem Kinderwunsch helfen.
Sehr wohl war ihnen bei ihrem ersten Besuch bei dem Kräuterweib nicht zumute. Gingen doch unzählige Gerüchte durch das Städtchen, die alte Frau wäre ziemlich sonderbar. Wenn ihnen Agnes zuvor einmal über den Weg lief, war da nichts, das diese Gerüchte hätte entkräften können. Sie war ein altes Weib, das bucklig und gebückt an einem Stock ging. Die grauen Haare drangen ungebändigt unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Die Jahre hatten tiefe Linien in ihr braun gebranntes Gesicht gezeichnet, was ihr ein erschöpftes Aussehen verlieh. Trotz alledem beobachteten daraus hellwache Augen alles, was um sie herum geschah. Eine Gänsehaut verlieh einem aber erst recht ihre Stimme. Krächzig und heiser war sie noch in der dichtesten Menschenmenge leicht auszumachen. Das Kichern, das diese Stimme häufig begleitete, war aber so facettenreich und unergründlich, dass man je nach Situation ihr freundlich zunickte, auf Distanz ging, oder aber erschrocken zurückwich.
Ihrem zögerlichen Klopfen an der alten Türe folgte ein, trotz der krächzigen Stimme, nicht unfreundliches: „Kommen Sie ruhig herein!“
„Guten Tag. Ich bin Jacob Stauber und dies ist meine Frau Sophie.“
Agnes Kiefer nickte ihnen zu und stellte den Topf beiseite, mit dem sie gerade noch hantiert hatte.
„Ihr könnt gerne Agnes zu mir sagen.“
Das Angebot machte die beiden verlegen. Sie blieben wie angewurzelt in der Türe stehen und wussten nicht was sagen.
„Setzt euch doch hin.“, bot Agnes an und zog einen der Stühle, die an ihrem kleinen Tisch inmitten des überfüllten Raumes standen, hervor. Alle Wände im Raum waren mit Regalen zugestellt. Nur eine kleine Nische für den Kamin war hiervon ausgespart. Selbst das Ofenrohr des Herdes, den sie offensichtlich zum Kochen verwendete, war mit einem Regal umbaut. All diese Regale waren überfüllt mit Gläsern und Dosen, in denen sie getrocknete oder auch eingelegte Kräuter, Pflanzen und Salben bewahrte. Zum Trocknen an die Decke gehängte Sträuße machte die Enge in der Stube schier unerträglich. Nicht nur, dass man sich nicht rühren konnte, ohne irgendwo anzustoßen, auch war die Luft so erfüllt von dem schweren Duft der vielen Pflanzen und Substanzen, dass man zuerst meinte nicht mehr atmen zu können.
Jacob und Sophie nahmen zögerlich Platz.
„Was führt euch den zu mir?“
„Die Hebamme Gruber hat uns geschickt.“
„Ja, sie hat mir schon von euch berichtet. Will´s nichts werden mit dem Kindersegen?“
Ein betretenes Kopfnicken war alles, was sie als Antwort geben konnten.
„Wie lange versucht ihr es denn schon?“
„Wir sind seit sieben Jahren verheiratet.“, gab Jacob zur Antwort.
„Und seither bist du nicht schwanger geworden?“, wendete sich Agnes an Sophie.
Sophie senkte den Kopf und nickte wiederum.
„Was habt ihr denn schon alles unternommen?“
Die darauf folgende Auflistung der Versuche die sie unternommen, und der Ratschläge, die sie erhalten hatten, war schier endlos. Es fiel ihnen nicht immer leicht, alles zu erzählen. Sie waren ja noch jung, und über solche Dinge sprach man nicht. Schon gar nicht mit einer sehr viel älteren Frau. Dass sie Geschlechtsverkehr je nach Mondphase vollzogen, einmal wurde ihnen der Voll-, ein andermal der Neumond empfohlen, war noch einfach zu berichten. Welche Stellungen ihnen dabei empfohlen wurden, ging schon sehr viel mehr ins Private, und bereitete ihnen bei ihrer „Beichte“ sichtlich Unbehagen. Noch unangenehmer wurde es allerdings, als es an geradezu okkulte Ratschläge ging. Das Vergraben einer Katze oder eines Hasen unter der Türschwelle hatte keinen Erfolg gebracht, obwohl beide Tiere als sehr fruchtbar galten und sie auf diese Weise die Fruchtbarkeit der Hausherrin erhöhen sollten. In ihrer Verzweiflung hatte Sophie auch schon einmal die Nachgeburt einer Katze zubereitet und verspeist. Doch die fruchtbarkeitssteigernde Wirkung blieb auch in diesem Fall aus. Allerlei Opfer zugunsten der Kirche, und sämtliche Gebete halfen nicht. Jeden Monat folgte die Ernüchterung, als bei Sophie die Reinigung von Neuem einsetzte. Expertenratschläge von Ärzten, Hebammen, allerlei selbst ernannter Heiler und verschiedener Pfarrer halfen nichts. Es spielte auch keine Rolle, ob sie es vor oder nach dem Essen oder ganz ohne Essen, abends, nachts oder des Morgens, angezogen oder wie Gott sie erschaffen hatte, machten. Sie beteten davor oder danach und manchmal sogar währenddessen. Nichts, aber auch gar nichts, half.
Anfangs hatten sie ja eine Menge Spaß dabei, zu allen möglichen Zeiten, und Anlässen übereinander herzufallen. Doch schon bald wurde es zur puren Pflicht. Und Frust über die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen machte sich breit.
Während sie dies alles erzählten, kicherte Agnes immer wieder. Ihr Kichern, obwohl immer noch seltsam, hatte aber nichts Verletzendes. Vielmehr fassten sie immer mehr Vertrauen zu der alten Frau. Immer wieder ergriff Agnes Sophies Hand und gab ihr das Gefühl, bei ihr zu sein. Auch Jacob fühlte sich nicht ausgegrenzt. Ihre Anteilnahme hatte etwas Entwaffnendes. Ab diesem Zeitpunkt hatte die alte Frau sie gefangen und sie würden ihr blind vertrauen.
„Vergesst jetzt mal alle Ratschläge, die man euch so gegeben hat.“
Das Augenzwinkern war abermals von einem Kichern begleitet, das auch diesmal in einem Grunzlaut gipfelte.
„Das ist doch alles Aberglaube.“ Sie ging zu den Regalen und fing an zu suchen.
„Ich gebe euch einen Tee. Den trinkt ihr beide morgens und abends. Zehn Minuten ziehen lassen. Jeder eine Tasse. Und schaut nicht nach dem Mond, oder richtet euch nach irgendwelchen uralten Kalendern. Wohnt einander bei, wann immer ihr Lust darauf habt. Oder vielmehr, wann immer Sophie Lust darauf hat. Eine Frau spürt es, wenn auch vielleicht nicht bewusst, wann die Möglichkeit der Empfängnis am größten ist.“
Während sie dies sagte, hatte sie vier Gläser aus ihren Regalen genommen, und maß daraus mit einem Messlöffel verschiedene Anteile in ein anderes größeres Glas. Nachdem sie alles gut gemischt hatte, füllte sie es in einen Stoffbeutel um und reichte ihn Jacob.
„Schön heiß trinken! Schmeckt zwar ein wenig bitter, aber gute Medizin muss bitter sein.“
„Was bekommt Ihr dafür?“, erkundigte sich Jacob.
„So viel es euch wert ist. Versucht aber erst einmal, ob es auch funktioniert.“
Jacob hatte sich mittlerweile seinen Weg durch das stockdunkle Veihingen gebahnt. Im Haus brannte kein Licht. Sophie hatte sich offensichtlich schon schlafen gelegt. Er entzündete eine Kerze, zog Mantel und Stiefel aus, und setzte sich erleichtert an den Tisch. Der unheimliche Heimweg hatte ihm mehr zugesetzt, als er sich selbst eingestehen wollte. Aber was redete er sich auch ein? Was sollte ihm schon passieren? Die Toten waren tot und konnten ihm nichts anhaben. Und deren Geister? Er hatte zumindest noch keinen gesehen. Aber was hieß das schon? Hatte jemals jemand einen Geist gesehen? Wenn ja, so war es wahrscheinlich das Letzte, was er auf dieser Welt zu Gesicht bekommen hatte. An der Existenz von Geistern konnte es ja keinen Zweifel geben. Alle Gelehrten waren sich in diesem Punkt einig. Und wie hätte Jacob, als ein einfacher Handelsmann, daran einen Zweifel haben können.
Am Tag nach dem ersten Besuch bei Agnes brachte Jacob ihr einen Korb, gefüllt mit einer Flasche Wein, Schinken, Wurst und einem von Sophie gebackenen Brot. Naturgemäß konnten sie natürlich noch nichts über die Wirkung des Tees sagen. Doch wollten sie die Dienste Agnes, vor allem ihr geduldiges Zuhören, auch nicht unentlohnt lassen.
Als bei Sophie im ersten Monat pünktlich ihre Blutung einsetzte, dämpfte das ihren Optimismus sehr. Aber das Vertrauen in Agnes war stärker und sie hielten weiter an der Hoffnung fest, dass Agnes ihnen helfen könne. Doch auch im zweiten Monat blieb der Erfolg aus. Den Tee, obwohl sehr bitter, trank sie trotzdem regelmäßig. Als sich der Vorrat daran zu Ende neigte, machte sich Sophie auf den Weg zu Agnes, um sich wieder davon zu besorgen. Agnes saß in ihrem Garten und sah sie schon von Weitem. An Sophies Gesichtsausdruck konnte sie sofort erkennen, dass sie noch nicht guter Hoffnung war.
„Setzt dich erst mal zu mir hin.“, begrüßte sie sie mit einem freundlichen Lächeln ihres nur von wenigen Zähnen gezierten Mundes. „Hat mein Tee noch nicht angeschlagen?“
Sophie schüttelte den Kopf und ließ ihn sodann hängen. Mit weinerlicher Stimme sagte sie: „Wir brauchen wieder davon. Könnt Ihr uns noch mal welchen mischen?“
„Aber sicher, mein Kind. Das ist gut, dass ihr ihn regelmäßig trinkt. Lasst euch nicht entmutigen. Eines Tages wird es klappen.“
Bei diesen Worten nahm sie Sophie in die Arme und drückte sie. Sophie legte ihren Kopf auf Agnes Schulter und ließ ein paar Tränen ihren Lauf.
„Ruhig, mein Kind. Es wird schon alles gut. Hab nur Vertrauen.“
Nachdem sich Sophie ein wenig beruhigt hatte, ging Agnes in ihre Hütte und bereitete die Teemischung. Mit einem großen gefüllten Beutel kam sie wieder zurück in den Garten. Es war ein herrlicher Frühsommertag. Überall zwitscherten die Vögel. Agnes Kräutergarten barst geradezu von der Vielfalt des Lebens.
„Schau dir nur meinen Garten an. Ist es nicht ein Wunder, wie die Luft hier vor lauter Leben vibriert? Merke dir eins: Das Leben findet immer seinen Weg. Man muss ihm nur eine Möglichkeit lassen und darf nicht versuchen, es zu erzwingen.“
„Wenn es nur so einfach wäre. Wieso nur bekomme ich kein Kind? Alle bekommen Kinder.“
„Da irrst du dich. So wie euch ergeht es noch vielen. Sogar schon mancher König hat es nicht geschafft, einen Thronfolger zu zeugen.“
„Will Gott uns damit strafen? Was haben wir nur getan, um das zu verdienen?“
„Ach, das ist doch alles Blödsinn. Das ist nur ein Argument der selbstgerechten Pfaffen, das sie immer anführen, wenn sie keine andere Erklärung mehr finden können. Ich habe schon zu viel gesehen und erlebt, um darin einen Sinn zu erkennen. Es gibt so viele Menschen, die schlecht, ungerecht, rachsüchtig und selbstherrlich sind, und dennoch scheint ihnen das Glück geradezu hold. Dagegen will es oft bei den Friedliebendsten und Gottesfürchtigsten nicht zur Tür hereinkommen. Am besten tut man wohl daran, wenn man versucht, sich mit dem, was man hat, zufriedenzugeben. Fast immer erfüllen sich dann auch die Wünsche, die man schon so lange krampfhaft zu erreichen versucht hat.“
„Ach, ich bin Ihnen so dankbar. Wie können wir Ihnen das nur jemals vergelten?“
„Die größte Freude wäre es für mich natürlich, wenn du ein gesundes Kind bekommen würdest. Um alles andere mach dir mal keine Sorgen. Ich habe schon mein Auskommen.“
„Aber wir müssen Ihnen doch irgendetwas bezahlen.“
„Ihr seid junge Leute. Schaut nur nach euch selbst. Ich alte Frau brauche nicht mehr viel. Das meiste, was ich zum Leben brauche, gibt mir mein Garten. Und alles andere bekomme ich von wohlhabenderen Kunden. Zu meinen Kunden zählen auch die Herren der Burg, die du da oben siehst.“ Sie zeigte auf die Burg Kaltenstein, die hoch über der Stadt Veihingen thronte.
„Die tun es natürlich nicht gern kund, aber wenn ihre Ärzte nicht mehr weiter wissen, kommen sie gerne zu mir, dem alten Kräuterweib, und lassen ihre Wehwehchen bei mir behandeln. Und da ich ihnen oft Linderung verschaffen kann, sind sie dann auch sehr spendabel. Glaube mir, denen tut es nicht weh.“
„Eure Hütte sieht so kaputt aus. Regnet es da nicht rein?“
„Meistens hält sie dicht. Ist noch in einem besseren Zustand, als es auf den ersten Blick scheint. Aber viel machen kann man daran eh nicht mehr. Die Reparaturen wären viel zu aufwendig und teuer. Nur eins weiß ich sicher: Ich geh hier nicht mehr weg. Die Hütte ist mein letztes Heim.“
„Jacob könnte sich umhören, ob es nicht ein freies kleines Häuschen gibt, das Ihr euch leisten könnt.“
„Das soll er mal schön bleiben lassen. Wie ich schon gesagt habe, ich geh hier nicht mehr weg. Was glaubst du, wie viel Arbeit ich alleine hier in den Garten gesteckt habe?“
„Vielleicht gibt es ja auch etwas hier in der Nähe, und Ihr könnt euren Garten trotzdem weiter nutzen.“
„Kommt überhaupt nicht infrage. Ich möchte nichts mehr davon hören.“
Sophie sagte nichts weiter. Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie bei Agnes war. Ihr eigenes Haus war ein solides Fachwerkhaus. Ganz so wie es gerade modern war. Die Bauweise erlaubte es, ein großes Haus mit mehreren Stockwerken zu bauen. Die Etagen waren über ein enges Treppenhaus, das zwar beschwerlich zu begehen war, aber mehr Platz für die anderen Zimmer ließ, miteinander verbunden. So hatten sie im Haus genügend Platz, um eine ganze Schar von Kindern unterbringen zu können.
Ein Fachwerkhaus war für Agnes natürlich unerschwinglich. Doch sollte sich eine Hütte finden lassen, die in einem besseren Zustand war. Aber die alte Frau war zu stur, um sich von den Vorteilen überzeugen zu lassen. So saßen sie noch eine Weile still beieinander, ehe Sophie sich verabschiedete und wieder heimwärts ging.
Im folgenden Monat war Sophie überfällig. Sie sagte Jacob zunächst nichts davon, wollte sie doch zuerst sicher sein. Doch auch nach zwei Wochen setzte ihre Reinigung nicht ein. Jacob konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als sie ihm sagte, dass sie schon vor zwei Wochen ihre Blutung hätte bekommen müssen, sie aber immer noch nicht habe. Ein ungeheures Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Gleichzeitig war da aber auch eine Stimme in seinem Kopf, die fragte, hat sie sich auch nicht verrechnet? Oder ist ihre Reinigung aus einem anderen Grund ausgeblieben? Er nahm sie nur in seine Arme, drückte und küsste sie. Er fühlte, wie sie ihren Körper an den seinen drückte, fühlte ihre Rundungen. Und auf einmal war die Pflicht, die sie in den letzten Jahren, wann immer sie zusammen gekommen waren, verspürt hatten, vergessen. Plötzlich hatten sie beide nur noch eine ungeheure Lust aufeinander. Es gab kein Ziel, das sie verfolgten. Nichts, das zu beachten wäre. Sie folgten einfach nur ihrem Verlangen, rissen sich gegenseitig ihre Kleider vom Leib und warfen sich, wo sie gerade waren, auf den Boden. Sie hatten sich wohl noch nie zuvor so leidenschaftlich geliebt wie an diesem Nachmittag. Sie liebkosten sich gegenseitig am ganzen Körper und entdeckten sich von Neuem. Nicht einmal die ersten Male, als sie einander beigewohnt hatten, war es so gewesen. Ihre damalige Unerfahrenheit hatte sie sehr viel zögerlicher miteinander umgehen lassen. Aber nun kannten sie sich. Jeder wusste, was dem anderen gefiel, und sie wussten auch, wie weit sie gehen konnten, ohne einander wehzutun. Sie erfuhren mit einem Mal ganz neue Wege, sich zu verwöhnen. Sophie nahm Jacobs Männlichkeit in die Hand, rieb sie kräftig, ehe sie begann daran zu saugen. Immer heftiger sog sie das harte Fleisch tief in ihren Mund. Jacob hatte dabei das Gefühl, sie würde das letzte bisschen Verstand, der ihm nun noch geblieben war, aus ihm heraus saugen. Dann endlich gipfelte er in einem schier endlosen Höhepunkt, ergoss sich zuerst in ihren Mund und danach auf ihre Brüste. Lasziv verrieb sie seinen Samen auf ihrer nackten Haut, als handele es sich um ein wertvolles Balsam. Nun begann auch er seine Frau mit dem Mund zu verwöhnen, bis auch diese die gleiche Lust erfuhr, wie kurz zuvor er selbst. Sie hatten es einfach nur genossen, endlich einmal Jacobs Samen nicht zur Fortpflanzung einzusetzen, ihn nicht geradezu wie ein Heiligtum behandeln zu müssen, sondern sich den Luxus erlauben zu können, diesen einfach nur zu verschwenden. Danach lagen sie sich beide in den Armen. Die paar Kleider, die sie in der Eile nicht ausgezogen hatten, klebten an ihrer von Schweiß und anderen Körperflüssigkeiten feuchten Haut. Sophie begann leise zu weinen.
„Hoffentlich geht alles gut.“, sagte sie mit sorgenvoller Stimme. Jacob konnte ihr keine Antwort geben. Zu groß war auch bei ihm die Angst, dass etwas nicht seinen natürlichen Weg gehen könnte.
Ihre Euphorie hielt indes nicht lange. Ein paar Wochen später bekam Sophie eine starke Blutung. Noch zwei weitere Male sollte es so sein. Nach dem Ausbleiben ihrer Reinigung bekam sie sie dann später umso stärker. Die damit verbundene Niedergeschlagenheit legte sich auf Ihre Ehe wie ein bleiernes Tuch. Vor allem Sophie verließ kaum noch das Haus. Und wenn sie es doch musste, mied sie es mit jemanden zu sprechen. Jedes Mal fanden sie irgendwie wieder in den Alltag zurück. Doch immer mehr nahm sie das in immer weitere Ferne rückende Ziel in Anspruch.
Nachdem Jacob eine Zeit lang am Tisch gesessen hatte, nahm er die Kerze und ging ins Schlafzimmer. Sophie drehte sich bei seinem Eintreten um. Er wusste, dass sie sich nur schlafend stellte. Morgen würde sie ihn wieder zur Rede stellen, wo er so lange geblieben war. Er schlüpfte aus seiner Tageskleidung und zog sein Nachthemd an. Nachdem er sich hingelegt hatte, schlief er schnell ein. Allerdings war es ein sehr unruhiger Schlaf.
Jacob hörte, wie es an der Türe pochte. Er sah Sophie an. Wer mochte zu dieser Zeit noch zu ihnen kommen? Sophie sah ebenfalls sehr ratlos drein. Er ging zur Türe, währenddessen es wieder, und noch stärker, pochte.
„Öffnet die Türe!“, war von draußen zu vernehmen.
Jacob zog den schweren Riegel, der die Türe von innen verschloss, zurück. Draußen standen der Pfarrer, der Bürgermeister sowie zwei weitere Personen, die Jacob nicht bekannt waren. Vermutlich handelte es sich bei ihnen um den Stadtschreiber, den er nur vom Hörensagen kannte, und eine weitere Amtsperson. Jacob hatte die Türe noch nicht richtig geöffnet, als sie sich schon nach drinnen drängten.
„Was ist passiert?“, wollte Jacob wissen.
„Was passiert ist? Der Sohn unseres Burgherren ist gestorben!“, entgegnete der Pfarrer.
„Und das führt Euch zu uns? Was haben wir damit zu tun?“
„Es hat nichts mit euch zu tun. Zumindest nicht direkt. Trotzdem haben wir ein paar Fragen an euch.“, mischte sich der Bürgermeister ein.
Der Bürgermeister und der Pfarrer nahmen unaufgefordert am Tisch Platz.
„Setzt euch zu uns!“, befahl der Pfarrer in einem harschen Ton.
„Der Sohn des Obervogtes wurde vor einigen Tagen krank. Die Ärzte wussten keinen rechten Rat. Da haben der Obervogt Helmstätt und seine Frau ein Kräuterweib hinzugezogen, die ihn mit einer Salbe behandelte.“
Der Bericht traf Sophie wie ein Schlag, wusste sie doch sofort, um welches Kräuterweib es sich hierbei handelte. Sie wurde kreidebleich, und als Jacob seine Frau ansah, wusste auch er, wer gemeint war.
„Als die Ärzte den jungen Mann wieder besuchten, stellten sie fest, dass die Salbe des Kräuterweibes ihm jegliche Kraft entzog. Sie ließen ihn gestern Abend sofort zur Ader, um das Gift, das sich in seinem Körper befand, heraus zu bekommen. Doch es war zu spät. Er ist heute Morgen gestorben.“
„Und was haben wir mit dieser Sache zu tun?“, wollte Jacob wissen, obwohl er genau wusste, worauf es hinaus lief.
„Ihr hattet Umgang mit diesem Weib.“, brach es aus dem Pfarrer heraus, „Oder wollt ihr dies etwa leugnen?“
Sophie setzte an etwas zu sagen, doch Jacob gebot ihr, still zu sein.
„Wir kennen sie.“, musste er einräumen.
„Ihr braucht keine Angst zu haben. Ihr seid hier nicht angeklagt. Wir hätten nur gerne ein paar Fragen von euch beantwortet.“
„Was sind das für Fragen?“
„Fragen zu der Hexe!“
In Sophies Kopf begann sich alles zu drehen. Fragen zu der Hexe? Konnte das wahr sein? Sollte Agnes wirklich der Hexerei bezichtigt werden? Oder war an diesen Vorwürfen gar etwas Wahres? Nein, sie konnte es nicht glauben. Agnes war immer gut zu ihnen gewesen. Und nun wurde sie als Hexe angeklagt.
„Seit wann hattet ihr Umgang mit dem Weib?“
„Das müsste so etwa vor sechs Jahren gewesen sein, als wir sie zum ersten Mal aufsuchten.“
„Und zu welchem Zwecke habt ihr sie, wie sagtest du, … aufgesucht?“
„Da reden wir nicht gerne darüber.“
„Komm schon, Jacob, in unserer Stadt weiß es doch eh ein jeder.“, mischte sich der Pfarrer ein.
„Ihr müsst uns aber offen Rede und Antwort stehen. Oder wollt ihr unter den Verdacht der Komplizenschaft mit den bösen Mächten geraten?“
„Wir suchten sie auf, weil Sophie nicht guter Hoffnung werden will.“
„Wie kamt ihr auf sie?“
„Sie wurde uns empfohlen.“
„Von wem?“
„Von einer Hebamme.“
„Von welcher Hebamme?“
Jacob zögerte.
„Ihr müsst uns ihren Namen nennen, sonst können wir für nichts garantieren.“
„Gruber, die Hebamme Gruber.“
„Habt Ihr den Namen notiert?“, wandte sich der Pfarrer an den Stadtschreiber „Lasst morgen untersuchen, ob sie mit der Angeklagten unter einer Decke steckt!“
„Was hat die Hexe dann mit euch gemacht?“
„Die Hexe …?“
„Jawohl, die Hexe!“, schrie der Pfarrer erregt.
„Sie … Sie hat uns nur einen Tee gegeben, den wir beide täglich trinken sollten.“, gab Jacob zur Antwort.
„Nur? Nur! Ist euch eigentlich klar, was du da sagst?“
„Sie war immer gut zu uns.“
„Gut zu euch? Ihr braucht gar nicht versuchen sie zu schützen. Die Beweise gegen sie sind eh schon erdrückend genug.“
„Nein, nein. Wir versuchen sie nicht zu schützen. Wir können einfach nichts Schlechtes über sie sagen.“
Wiederum mischte sich der Pfarrer ein: „Nichts Schlechtes. Mir scheint, sie hat auch euch verhext. Ist euch eigentlich gar nicht bewusst, dass ihr es ihr zu verdanken habt, dass ihr noch keine Kinder bekommen konntet?“
„Was wollt Ihr damit andeuten? Wir haben auch kein Kind bekommen, als wir sie noch gar nicht kannten.“
„Genau das ist ja der Beweis. Sie hat euch schon viel früher verhext, und euch so zu sich geführt.“
Jacob konnte es nicht glauben, brachte aber auch keinen Ton mehr heraus.
Sophie brach mit tränenerstickter Stimme das Schweigen: „Nein, nein, nein. Ich kann das einfach nicht glauben. Ich kann mich nicht so in einem Menschen täuschen. Sie ist keine Hexe.“
„Euch werden schon noch die Augen aufgehen. Die Beweise gegen sie sind, wie der Herr Bürgermeister bereits erwähnte, erdrückend.“
„Was sind das für Beweise?“, erkundigte sich Jacob um Fassung ringend mit unsicherer Stimme.
„Ich wüsste zwar nicht, was es Euch angeht, aber bitte: Dass sie den jungen Reinhold von Helmstätt getötet hat, wisst Ihr ja schon. Sie streitet das natürlich ab. Behauptet, wenn der Junge nicht sowieso gestorben wäre, hätten ihm die Ärzte den Rest gegeben. Die Hexerei an sich streitet sie natürlich sowieso ab. Das alleine ist ja schon des Beweises genug. Dass es in ihrem Garten nur so von diabolischen Kreaturen wimmelt, weiß ein jeder. Sie füttert allerlei Getier; Raben und andere Ausgeburten der Hölle. Manche bezeugen, wie sie ihnen Leichenteile verfüttert habe. Des Weiteren gibt es dort Steinkreise und Haufen, wie man sie immer bei Teufelsanbetern findet. Eine schwarze Katze wurde dort auch schon gesehen. Darüber hinaus fand man in ihrem Haus Unmengen an geheimen Zutaten und auch Hexenfett. Außerdem benutzt sie bevorzugt die linke Hand und, zu guter Letzt, hat sie auch noch ein Teufelsmal am linken Oberschenkel.“
Nach einer bedeutungsvollen Pause berichtete der Pfarrer, dass der Henker nun weitere Untersuchungen vornehmen werde, die sicher jeglichen Zweifel ausschließen werden. Dies habe der Vogt bereits angeordnet, und es bedürfe nur noch der amtlichen Absegnung der Kanzlei in Stuttgart. Es werde dann ein Termin vereinbart, dass die Herren vom Gericht der Arbeit des Henkers beiwohnen und diese protokollieren können. Er werde dann in das Hexenmal stechen, um die Schmerzempfindlichkeit dieser Stelle zu überprüfen. Wie alle Hexen werde sie da sicher vollkommen schmerzunempfindlich sein. Die Weiber schrien zwar alle, wenn man sie dieser Prüfung unterziehe, aber es sei ein Leichtes den vorgespielten Schmerz von einem richtigen zu unterscheiden. Vielleicht werde man sie dann auch noch an ein Kreuz gefesselt in einen Weiher werfen. Ginge sie dann nicht unter, handele es sich zweifelsfrei um eine Hexe. Wenn sie unterginge, hieße das aber noch lange nicht, dass sie unschuldig sei, weswegen man diese Prüfung wahrscheinlich auch nicht anwenden werde.
Jacob und Sophie rangen immer noch nach Fassung. Wieso offenbarte man ihnen das alles? Waren sie gar mitverdächtig? Aber viel wichtiger noch, war etwas Wahres an den Vorwürfen? Wieso aber sollte Agnes sie mit einem solchen Fluch belegen? Nein, sie konnten es beide nicht glauben.
Doch nun begann der Pfarrer seinen letzten Trumpf auszuspielen: „Seht Euch die beiden an, Herr Bürgermeister. Seht Ihr, was sie mit ihnen gemacht hat. Sie hat sie so sehr vereinnahmt, dass sie nun vollkommen blind sind für das Teufelswerk, das sie ihnen angetan hat. Dabei wären sie ganz sicher schon lange glückliche Eltern, wären sie nicht mit diesem Fluch belegt.“
Sie weigerten sich nach wie vor der Argumentation des Pfarrers Glauben zu schenken. Doch hatte es auch etwas Verführerisches. Der Gedanke, sie könnten doch noch ein Kind erwarten, wenn nur ein Fluch von ihnen genommen würde, erschien wie die Sonne, die auch nach dem schwersten Gewitter, und an einem jeden Morgen, unweigerlich wieder aufgeht. Und so wenig man den Sonnenaufgang leugnen kann, so wenig ließ sich nun dieser Gedanke verdrängen. Die dunklen Wolken, die dieses Bild störten, schoben sich immer mehr beiseite. Freilich hatten sie Agnes lieb gewonnen. Aber da konnten sie ja noch nicht ahnen, mit wem sie es zu tun hatten. Und je länger sie darüber nachdachten, desto klarer wurde ihr Bild. Da waren doch schon immer Anzeichen, das mit der Alten etwas nicht stimmt. Ja, der Pfarrer hatte wohl recht, sie würden bald Eltern werden können. Wenn nur der Fluch von ihnen genommen wäre. Das war es wert, dafür sollte sie brennen, die Hexe.
Jacob vernahm ein Poltern. Es hörte sich an, als ob jemand mit Geschirr hantierte. Sein Bewusstsein war aber noch nicht in der Lage, das Gehörte richtig zuzuordnen. Er war wie gerädert, hatte ihm die Nacht doch nur wenig Erholung gebracht. Zu viel ging ihm durch den Kopf, um in einen tiefen Schlaf zu fallen. Er drehte sich um und stellte fest, dass es sehr hell im Zimmer war. Er blinzelte, konnte seine Augen aber nur schwer an das grelle Licht gewöhnen. Langsam kam er wieder im Hier und Jetzt an. Die Gedanken, die ihn die ganze Nacht beschäftigt hatten, kehrten nochmals wieder. Wieso war es nur so hell? Jacob zwang sich, die Augen zu öffnen. Als er dies endlich geschafft hatte, stellte er fest, dass draußen die Sonne schien. Er ging zum Fenster und wischte das Wasser von der beschlagenen Scheibe. Er konnte von ihrem Schlafzimmer aus über die äußeren Häuser und die Stadtmauer hinweg gen Osten in die Enzauen sehen. Es war ein herrlicher Blick. Das trübe Wetter der letzten Tage war wie hinweg gefegt. Nur ein paar leichte Nebelschwaden ließen erkennen, wo die Enz ihren Lauf nahm. Die geschlossene Schneedecke reflektierte das Licht der aufgehenden Sonne und glitzerte wie eine samtene Decke in orangeroten Tönen. Die winterlich kahlen Bäume entlang der Enz steigerten diesen Eindruck. Durch ihre Silhouetten fiel silbern das Licht, und ließ, zu Strahlen gebündelt, einen imaginären Fächer entstehen. Nur die Kälte war geblieben. Das konnte man auch durch das geschlossene Fenster spüren. Immerhin ließ das Wiedererscheinen der so lange entbehrten Sonne die Hoffnung darauf wachsen, dass dieser Winter doch einmal ein Ende finden würde.