Stéphane Hessel - ein glücklicher Rebell - Manfred Flügge - E-Book

Stéphane Hessel - ein glücklicher Rebell E-Book

Manfred Flügge

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Beschreibung

Das Phänomen Stéphane Hessel Manfred Flügge zeichnet den geistigen und politischen Kosmos des Stéphane Hessel nach: Als Résistancekämpfer 1944 nach Buchenwald deportiert, überlebte er dank eines Identitätsaustauschs. Fortan stellte er sein Leben in den Dienst der Menschenrechte. Innerhalb der UNO setzte er sich für eine Welt ohne Totalitarismus, Konzentrationslager, Atombomben ein. Er wirkte am ersten Teil der Menschenrechtscharta mit, vermittelte in politischen Konfiikten und unterstützte die Entkolonialisierung. Bis heute gibt der Globalisierungskritiker und Humanist Hessel unermüdlich in Büchern und weltweiten öffentlichen Auftritten seine Botschaft von Recht und Gerechtigkeit, Verantwortung und Zivilcourage weiter. „Seine Leichtfüßigkeit hat etwas vom Götterboten, vom Hermes mit den Flügeln. Sein Leben ist ein Kunstwerk.“ Manfred Flügge über Stéphane Hessel Die DVD »Der Diplomat Stéphane Hessel« ist im Handel erhältlich. Mehr Infos zum Film unter: http://www.derdiplomatstéphanehessel-derfilm.de"

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Seitenzahl: 351

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Manfred Flügge

Stéphane Hessel - ein glücklicher Rebell

Impressum

Mit 1 Frontispiz und 31 Abbildungen

ISBN E-Pub 978-3-8412-0408-0

ISBN PDF 978-3-8412-2408-8

ISBN Printausgabe 978-3-351-02744-5

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg /

Andreas Heilmann

unter Verwendung eines Motivs von Ulf Andersen /

GettyImages

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Informationen zum Buch

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Impressum

Inhaltsübersicht

Geleitwort

Vorwort: Später Stern

Teil 1: Ein Leben

Verhaftet in Paris

Der Stoff, aus dem die Mythen sind

Erste Kindheit

Fatales Dreieck

Zweite Kindheit

Reifeprüfungen

Kämpfer

Gefangenschaft

Der Diplomat

Teil 2: Persönliches

Begegnungen

Geschichte einer Story

Gedicht und Gedächtnis

Ein Film und eine neue Rolle

Teil 3: Ein Aufruf und seine Folgen

Zehn Schritte zum Ruhm

Der Appell vom 20. Oktober 2010

Wirkung

Prophet

Traum

Danksagung

Lebensdaten

Literaturverzeichnis

Register

Bildteil

Die Titelzeichnung des Sonderheftes von agnès b.

Zeichnung Pascal Lemaître

© Pascal Lemaître und agnès b

Geleitwort

von Stéphane Hessel

In meinen frühen Jahren spielte Deutschland eine wichtige Rolle in meinem Leben, und nach meiner Zeit als Diplomat dann wieder. Das Land hat mir viel gegeben und einiges zugemutet. Buchenwald war der Verrat an dem Erbe von Weimar, aber das Heilmittel gegen Buchenwald hieß Weimar, das war mir immer bewusst.

Ich habe den Bombenangriff Ende August 1944 erlebt, bei dem die »Goethe-Eiche« niederbrannte, die man auf dem Appellplatz des Lagers hatte stehen lassen. Die Goethe-Verse in meinem Gedächtnis aber waren und sind unauslöschlich. Ich kenne das alte Deutschland, ich habe das Land in Trümmern gesehen, und ich habe erlebt, wie es sich erneuerte und eine positive Rolle in Europa spielte. Die Menschenrechte sind auch hier die Basis politischen Handelns geworden. Deutschland sollte sich überall in der Welt aktiv für sie einsetzen.

So viele Orte in Deutschland bedeuten mir etwas, neben Weimar natürlich Berlin, die Stadt meiner Kinderjahre, aber auch die Stadt, die ich in den Tagen nach dem Mauerfall erlebte; ferner Hohenschäftlarn bei München, wo meine Eltern die Villa Heimat bewohnten, und nicht zu vergessen Bad Saarow, wo eine Tante meinen Bruder und mich aufnahm. Aus späterer Zeit möchte ich nur Fischerhude nennen, den malerischen Ort zwischen Bremen und Worpswede, der für mich nicht nur mit dem Namen Rilke verbunden ist, sondern vor allem mit dem meiner Freunde Bontjes van Beek, also mit Widerstand und mit Menschlichkeit, mit Kunst und mit Lebenskunst. Das Gute, das Schöne an Deutschland, hier kann man es erleben.

Erinnerungen und Freunde also, unvergessliche Begegnungen. Seit fast 30 Jahren bin ich mit Manfred Flügge befreundet. Er hat 1987 meinen Bruder Ulrich, mich und meine Frau Christiane nach Berlin eingeladen. Es wurden anregende Tage, genauso wie später bei der Arbeit an dem Film Der Diplomat, zusammen mit Antje Starost und Hans-Helmut Grotjahn. Gern habe ich von meinen Erlebnissen erzählt, von den schweren und von den beglückenden, aber ich wollte nie bloßer Zeitzeuge sein, ich wollte mich engagieren und habe es auf meine Weise versucht. Denn wir alle sind verantwortlich für den Zustand der Welt. Also schauen wir nicht weg, wenn Unrecht geschieht, bei uns oder anderswo. Empörung hält jung – die Welt und uns!

Möge dieses Buch ein Zeichen der Freundschaft sein und der Hoffnung.

Paris im Dezember 2011

»Es gibt Erwählte, welche aus zweifelnder Demut und Selbstverwerfung nie an ihre Erwählung zu glauben vermögen, sie mit Zorn und Zerknirschung von sich weisen und ihren Sinnen nicht trauen, ja sich gewissermaßen sogar in ihrem Unglauben gekränkt fühlen, wenn sie sich trotzdem zuletzt in der Erhöhung sehen.

Und es gibt andere, denen in aller Welt nichts selbstverständlicher ist als ihre Erwähltheit, – bewusste Götterlieblinge, welche sich über gar nichts wundern, was ihnen an Erhöhung und Lebenskronen nur immer zufallen mag.«

Thomas Mann

»Quand je cesserai de m’indigner,

j’aurai commencé ma vieillesse.«

André Gide

»Past is prologue.«

Shakespeare

Für Juliette

Vorwort: Später Stern

Am Mittwoch, dem 20. Oktober 2010, vollendet Stéphane Hessel sein 93. Lebensjahr. An diesem Tag bringt ein Verlag in Montpellier unter seinem Namen ein kleines Buch heraus. Was für einschneidende Folgen dieses Geschenk haben würde, ahnt niemand, am wenigsten der Autor selbst, der nicht damit rechnen kann, dass sein ereignisreiches Leben um ein erstaunliches Kapitel ergänzt werden und seine Person eine neue Beleuchtung erfahren wird. Es gibt ein Davor und ein Danach. Und auch dieses Mal beginnt alles an seinem Geburtstag, der immer wieder ein Schicksalstag für ihn war.

Indignez-vous! prangt als Titel auf der Broschüre mit 30 Seiten, von denen sein eigener Text 14 Druckseiten füllt, dazu zwei Seiten mit Anmerkungen sowie drei Seiten mit dem Nachwort der Herausgeber. Sylvie Crossman und Jean-Pierre Barou, die Gründer und Leiter von Indigène Éditions, sind optimistisch und haben eine Auflage von 8000 Exemplaren vorgesehen. Das waren bis zu diesem Zeitpunkt die besten Verkaufszahlen in ihrer kleinen Reihe, die mit dem Emblem des Sioux-Stamms der Omaha verziert ist: vier konzentrische Kreise und darum das Motto »Ceux qui marchent contre le vent« (Die gegen den Wind wandern). Aus Kostengründen hat man in Spanien drucken lassen. Das Heft soll vor allem von einer Vereinigung unabhängiger Buchhändler für einen Ladenpreis von drei Euro vertrieben werden.

Am Donnerstag, dem 21. Oktober 2010, wird Stéphane Hessel kurzfristig von dem Moderator Frédéric Taddeï in die Fernsehsendung Ce soir ou jamais eingeladen. Zu den Gästen der politisch-kulturellen Talkshow im Programm von France 3 gehören an diesem Abend der linksradikale Politiker Olivier Besancenot, die damalige Forschungsministerin Valérie Pécresse und der Essayist Guy Sorman.

Es wird sehr bald eine Diskussion auf Französisch: Alle reden gleichzeitig, alle berauschen sich an ihren Sätzen, der Zuhörer versteht kein Wort. Schließlich wird es Stéphane Hessel zu bunt, und er sagt: »Mes enfants, taisez-vous, cessez de vous engueuler!« (Kinder, seid doch mal still, hört doch auf, euch gegenseitig anzuschreien!) Und oh Wunder – es tritt Ruhe ein. Man schaut und hört nur noch auf ihn, die schmale, schlanke, elegante Person mit der hohen Stirn, den grauen Schläfen, den hängenden Schultern, der leicht zischelnden, aber sehr artikulierten, ruhigen Stimme, die einem lange im Gedächtnis bleibt. Und man begreift: Dieser Mensch hat eine magnetische Wirkung auf seine Zuhörer. Mit ihm bricht etwas anderes ein, beinahe ein Stück Unwirklichkeit. Mit dieser pädagogischen Intervention erreicht er mehr als mit allem, was er sonst noch sagt im Verlauf des Abends. Ganz plötzlich hat er einen anderen Status. Und seine kleine Publikation hat es auch. Denn es geschieht ein Wunder, ein verlegerischer Urknall.

In den nächsten Tagen reißt man sich die Broschüre aus den Händen, sie ist im Nu ausverkauft, der Verlag kommt kaum hinterher mit den Nachauflagen. Bis Ende des Jahres sind etwa 500000 Exemplare verkauft. Rasch wird Indignez-vous! zum Spitzentitel in allen Bestsellerlisten. Irgendwann beschließt der Verlag, 600000 Exemplare auf einen Schlag drucken zu lassen. In Spanien gibt es deshalb einige Tage lang kein Papier mehr. Aber auch diese Auflage findet ihre Abnehmer. Das ganze Jahr 2011 über hält der Erfolg an, mit einer kleinen Delle zwischen Mai und September. Bis Ende 2011 werden in Frankreich weit über zwei Millionen Exemplare verkauft. Stéphane Hessel ist plötzlich allgegenwärtig in den französischen Medien, überall erscheinen Porträts, Interviews, Home-Storys. Überdies nimmt er Stellung zu aktuellen politischen Fragen. Er wird zu einer nationalen Ikone.

Sehr schnell passiert ein zweites Wunder: Ab Januar 2011 interessiert sich das Ausland für Hessels Pamphlet, Italien, Deutschland, Spanien – in dieser Reihenfolge. Es erscheinen nach und nach Übersetzungen in über 40 Sprachen, wobei das Titel-Verb s’indigner jeden Übersetzer vor Probleme stellt, außer in den romanischen Sprachen. Was meint es – empören, aufbegehren, protestieren, rebellieren? Und was ist die Botschaft, die Zielrichtung? Die Wirklichkeit selbst scheint darauf eine Antwort zu geben. In mehreren Ländern brechen Unruhen aus, Jugendproteste vor allem. Es geht um die Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, die Vorherrschaft der Finanzwirtschaft, den Vertrauensverlust der traditionellen Politik. Besonders heftig sind die Reaktionen in Spanien, wo das Buch unter dem Titel ¡Indignaos! erscheint und die Demonstranten nach Hessels Buch benannt werden: »Los indignados«. Der spanischen Ausgabe ist ein Vorwort beigegeben von José Luis Sampedro, einem Wirtschaftswissenschaftler und Schriftsteller, der genau wie Hessel im Jahr 1917 geboren wurde.

Noch verblüffender: Auch in der arabischen Welt brechen 2011 Unruhen aus. Und in der Tat haben viele Akteure des »Arabischen Frühlings« in Tunesien Hessels Pamphlet gelesen, in der französischen Fassung, oft im Internet. Seither ist auch eine arabische Version erschienen. Land um Land wird so erobert. Eine solche suggestive Wirkung hat man seit Mao Tse-tungs rotem Büchlein in den späten 1960er Jahren nicht mehr beobachtet. Hessels Buch sei »ein planetarisches Ereignis«, meint der Verleger Jean-Pierre Barou.

Eine Woche nach der Vorstellung der englischen Fassung in New York beginnen dort Massendemonstrationen unter dem Slogan »Occupy Wall Street«. Die Anfänge dieser Bewegung liegen früher, aber es scheint doch bezeichnend zu sein, dass die Anwesenheit Hessels und das Lancieren der englischen Fassung unter dem Titel Time for outrage!, die in den Medien durchaus ihr Echo fand, einen Zündfunken mehr bedeuteten. Selbst wenn sein Anteil an der inzwischen weltweiten Protestbewegung klein sein mag, so zeigt sich doch, in welch »günstiges« Klima sein Aufruf gefallen ist, den Geist und die Werte der Résistance in der gegenwärtigen Krise wiederzubeleben.

Längst ist der Begriff »les indignés« in Frankreich in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Jedes Land hat seine »indignés«, sagt man in den französischen Medien, und immer ist Hessels Schrift mitgemeint. Denn er bleibt das ganze Jahr 2011 über präsent. Fast jede Woche ist er irgendwo im Fernsehen zu sehen. Im In- und Ausland wird er eingeladen, tritt überall auf, beendet aber keine Veranstaltung, keine Sendung, ohne ein Gedicht aufzusagen. Die Liebe zur Poesie scheint ihm genauso wichtig zu sein wie der Aufruf zur Empörung. In seiner Person findet man eine magische Verknüpfung von Poesie, Widerstand, Würde … und Jules et Jim.

Aber Stéphane Hessel hat nicht nur Bewunderer. Er wird vor allem in Frankreich scharf kritisiert, von manchen auch lächerlich gemacht. Oft geht es um den vagen und recht allgemeinen Inhalt seines Textes, die Abstraktheit seiner Prinzipien, die unzeitgemäße Bezugnahme auf Positionen der Résistance aus dem Jahr 1944. Die schärfste Kritik aber entzündet sich an Hessels harscher Verurteilung der Politik Israels und seinem Eintreten für eine gerechtere Behandlung der Palästinenser, insbesondere im Gaza-Gebiet. Auch für viele Wohlmeinende ist es unverständlich, warum der ehemalige Diplomat Hessel gerade bei diesem Thema so einseitig Partei ergreift. Doch die Zweifel und die Widerrede konnten den Erfolg nicht mindern. Eine substantielle Auseinandersetzung mit dem Phänomen Hessel steht noch aus, mit der Person wie mit seiner Botschaft und deren Wirkung.

Es gibt ein Geheimnis, ein Rätsel, ein Zauberwort, aber es ist nicht leicht zu benennen. Der Siegeszug von Stéphane Hessel, das weltweite Aufgehen seines Sterns, die reale und die suggestive Wirkung, die er überall ausübt, die auch nach vielen Monaten nicht nachlässt, ist nicht nur die Erfolgsstory eines unerwarteten Bestsellers, auch nicht die Krönung eines Zeitzeugen und Akteurs (das griechische Wort stephanos bedeutet »der Gekrönte«), es ist ein Gesellschaftsphänomen. Es ist der Triumph einer Persönlichkeit eher als einer Botschaft, denn die Geschichte, für die der Botschafter steht, die ererbte wie die selbst erlebte, ist ein wesentlicher Aspekt dieser Persönlichkeit.

Die Botschaft hat zwei Elemente, und man sollte beide beachten: Aufruf zur Empörung und Verteidigung des Glücks. Auch zur Lebensgeschichte Hessels gehören zwei Elemente: Widerstand und in der Folge ein lebenslanges Engagement für die Menschenrechte sowie die Poesie als unverzichtbares Lebenselixier. Das Engagement steht neben der Ästhetik, und erst beide Aspekte zusammen machen seine Person und sein »Werk« aus.

Mit 93 Jahren überschreitet er die Schwelle zum Ruhm. Mit 94 Jahren ist er ein Star, nicht nur in seiner Wahlheimat Frankreich. Aber das Alter hat immer etwas Abstraktes (für die anderen), und vor allem glaubt man es ihm nicht so recht, wenn man seinen jugendlichen Schwung sieht, seine aufrechte Haltung, seine natürliche Eleganz, seinen tänzelnd-federnden Schritt. Er ist vom Typus her kein Sportler, eigentlich auch kein Tänzer, selbst wenn er sein Leben als »Tanz mit dem Jahrhundert« geschildert hat. Seine Leichtfüßigkeit hat etwas vom antiken Götterboten Hermes mit den Flügeln an den Sandalen und am Helm. Aber er hat keine Botschaft, er selber, Stéphane Hessel, verkörpert sie. Sein Leben ist ein Kunstwerk, sein Porträt ist nur als persönliches Kunst-Stück auszumalen, geflochten aus Erinnerungen, Reflexionen, Begegnungen.

Am meisten erstaunt seine Zuversicht. Er sieht die Welt und die Menschen auf dem Weg zum Besseren. Die Freiheit, die internationale Verbundenheit, die Glücksmöglichkeiten werden zunehmen. Natürlich gibt es Rückschläge, Enttäuschungen, schwierige Zeiten. Sie können überwunden werden, daran glaubt er fest. Es liegt ja an uns. Er sagt es immer wieder, er sagt es seit je. Er glaubt an die Menschen. Oder besser: Er will, dass wir an uns selbst glauben. Und er ist keineswegs naiv. Er hat nur andere Maßstäbe, andere Erinnerungen, andere Träume. Und dieser grundoptimistische Ton, diese positive Haltung dem Leben gegenüber, dieses Vertrauen in die Zukunft geben seiner Revolte erst die wahre Kraft.

Seine Zuversicht ist weder blind noch naiv. Er hat die Abgründe der Zeit erlebt. Was das Schlimmste ist, muss man niemandem sagen, der auf dem Appellplatz eines Konzentrationslagers einen ganzen Tag lang Leichen ausgekleidet, Hosen, Hemden, Röcke voller Blut und Exkrementen von kalten Gliedern gestreift und gekrümmte Leiber zu Scheiterhaufen gestapelt hat, um eine Sonderration zu erhalten (zwei Scheiben Wurst und einen Brotkanten), die das eigene Überleben wahrscheinlicher machte. Da das Schlimmste schon Realität war, gilt keine Ausrede mehr, kein bequemer Pessimismus. Seine kämpferische Haltung und sein Optimismus sind Folgerungen aus einer persönlichen Erfahrung des menschlichen Bösen in seiner brutalsten Form – sowie der Erfahrung, dass man es überwinden kann.

Das heißt nicht, dass man alle von Hessel vertretenen Positionen und politischen Orientierungen in jedem Punkt teilen muss. Aber man kann von seiner Persönlichkeit nur frappiert sein. Und auf seine Person sollte man vor allem schauen, auf seine Lebensgeschichte und auf seinen Stil. Der Stil ist der Mensch selber, die alte Definition gilt hier unbedingt, aber der Stil ist Resultat der Verarbeitung einer bestimmten Erfahrung, einer Laufbahn, in welcher der Kampf und der Tod und die Poesie ihren Platz hatten – aber auch die Liebe.

Er war ein Ästhet und ein Liebender, ein Widerständler und ein Zeitzeuge, ein Diplomat und Kunstfreund, ein Denker und ein Weltbürger, ein Weltreisender und ein Erbe, aber er wurde fast über Nacht ein Aufrührer, ein Anstifter, ein Rebell, auf den sich Protestbewegungen in aller Welt beriefen. Damit hatte niemand gerechnet, am wenigsten er selbst, zumal er sich nicht verändert hatte, nur das gesagt hatte, was er immer schon dachte. Aber der Widerhall war und ist so gewaltig, dass sich auch der Blick auf den Menschen Hessel verändert.

Literatur, Liebe, Politik, Engagement – wie passt das zusammen? Es passt, wenn man die Bereiche nicht trennt, sondern in seiner Person, in seinem Stil, in seinem Charakter zusammendenkt. Freiheit, Glück, Solidarität, das ist die Devise dieses »Ambassadeur de France«, der eben auch eine bestimmte Idee von Frankreich besitzt – und verkörpert. Das Glück aber, von dem der Revolutionär Saint-Just gesagt hatte, es sei eine neue Idee in Europa, stand für ihn an oberster Stelle. Damit es möglich würde, wären Freiheit und Solidarität vonnöten. Auf Kosten anderer zu leben wäre kein Glück. Der Kern der Menschenwürde ist eben das Recht auf Freiheit und Glück. Und dieser Anspruch verkörpert sich für Stéphane Hessel in der Poesie. Ist die eigene Würde aber bedroht, muss man sie verteidigen. S’indigner: seine Würde bewahren gegen alles, was sie unterdrücken will. Nicht einfach Revolte als Selbstzweck.

Seit einiger Zeit liebt die biographische Branche Titel in der Art: Die vier Leben, Die sieben Leben, oder gar Die hundert Leben von XYZ. Stéphane Hessel lebt seit bald hundert Jahren und hat viel erlebt. Dennoch wäre bei ihm eine solche Multiplikation ganz unangemessen, zumal sie eine gewisse Instabilität suggeriert. Er hatte und hat nur ein Leben, aber ein sehr reiches, vielfältiges und doch über so viele Brüche hinweg kontinuierliches. Die Einheit der Persönlichkeit ist bei ihm das Entscheidende, das Wirksame, er ist ganz aus einem Stück, eine glaubhafte, kohärente, unverwechselbare Person. Stimme, Tonfall, Blick, Kopfhaltung, schwungvoller Gang gehören zu seinem Stil, der bewusste Wechsel zwischen pointierten Sätzen und geschmeidigvagen Aussagen, die Raum für Annäherungen lassen, und dann wieder die Lust am klanggenauen Aufsagen gebundener Rede, an Versen und Strophen.

Was hier versucht wird, ist ein Porträt, in das Elemente einer Lebensgeschichte einfließen, aber auch persönliche Erfahrungen, Reflexionen und Analysen, ein Nachdenken über seine Wirkung und das Echo. Es gilt ein Bild zu schaffen, in dem die Zeit selbst aufgehoben ist: der Junge mit der Zipfelmütze, der Knabe im Berliner Zoo, der Pfadfinder in den Wäldern bei Paris, der phantasiebegabte Schüler, der junge Abenteurer, der frühe Liebende, der Geheimagent, der Kämpfer, der Diplomat, der Zeitzeuge, der Empörer und Bestsellerautor, der Erreger und Anreger, der Botschafter des Glücks.

Teil 1: EIN LEBEN

Verhaftet in Paris

No longer mourn for me when I am dead. Warum fällt ihm gerade dieser Vers ein? Wenn ich tot bin, trauert länger nicht um mich … Seit Greco den Revolver in seinem Rücken spürte, hat sich alles verändert. Seit dem Kommando »Hände hoch!« ist sein Körper zugleich starr und angespannt. Man hat ihn gefasst, und er will gefasst bleiben, schließlich musste er in seiner Mission auf alles gefasst sein. Aber wenn der Ernstfall eintritt, ist es doch ganz anders, als man es sich ausgemalt hat. Verhaftet in Paris, der Stadt, an der er so sehr hängt, dass er sie nicht verließ, als es ihm befohlen wurde.

Der erste Gedanke ist ein Sonett-Anfang. No longer mourn for me when I am dead – du muss es heißen, klage du nicht zu lange um mich, wenn mein Tod vermeldet wird. Der Satz richtet sich an einen bestimmten Menschen. Und an wen denkt der Verhaftete an diesem Montag, dem 10. Juli 1944? An seine Frau? An die Kameraden? An den Bruder? Denkt er an seine Eltern, die nur wenige Schritte entfernt von hier gewohnt haben, in der Rue Schoelcher, am Ostende des kleineren Teils vom Friedhof Montparnasse?

No longer mourn for me – verschwendet eure Zeit nicht mit nutzlosen Klagen, hat Shakespeare das gemeint? Und an wen hat er dabei gedacht? Wer war sein Du? Das weiß man nicht so genau, schließlich weiß man nicht, wer Shakespeare überhaupt war. Wissen die Nazischergen, wen sie hier verhaften? Interessiert es sie, welche Geschichte der Verhaftete mit sich trägt? Was ihn mit diesem Ort verbindet, an dem sein Leben enden könnte?

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