Sterbefasten - Peter Kaufmann - E-Book

Sterbefasten E-Book

Peter Kaufmann

0,0

Beschreibung

More and more people, particularly the very elderly, are becoming interested in what is known as fasting to death - a method of ending their own lives in a self-determined way. What does this mean for relatives, doctors and nurses? Is fasting to death an unpleasant or a harmonious experience? This volume presents a variety of experiences from 21 case histories, supplemented with several discussion essays. The book is an important contribution to the current debate on terminal care and premature death and provides comprehensive information on the topic of fasting to death and voluntary renunciation of food and fluids for nurses, doctors, psychologists and others involved in the topic or asked for help as relatives. Important for everyone looking for more empirical knowledge about the topic.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 278

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Sterbefasten: Betrachtung einer komplexen Realität

25 Fallgeschichten, erzählt von Angehörigen und Pflegenden

Fall 1: Am Ende Sterbefasten – der lange Weg eines selbstbestimmten Mannes aus dem Leben

Fall 2: Eine Erlösung vom Leiden und von einem Dasein, das ihr nicht mehr behagte

Fall 3: Eine energische Frau sagt sich: »Es ist so weit!«

Fall 4: Sterbefasten als unwürdiger Ausweg? Eine politische Anklage

Fall 5: Keine Alternative zum Sterbefasten – über langsames Sterben frustriert

Fall 6: Sterbefasten statt ärztlicher Sterbehilfe – Angehörige fühlten sich allein gelassen

Fall 7: Unerträgliche Schmerzen – wie Ellen Schwiers ihr Leiden beendete

Fall 8: Verzicht auf Flüssigkeit fiel schwer – FVNF gelang erst im zweiten Anlauf

Fall 9: Das Sterben verkürzen, ohne um Erlaubnis bitten zu müssen

Fall 10: Letzter Ausweg vor der völligen Hilflosigkeit

Fall 11: Weiterleben schien unerträglich und völlig ohne Sinn

Fall 12: Eine 94-jährige Frau ließ sich beim Sterben filmen – als Beispiel für andere

Fall 13: Gelähmt und ohne Sprache – FVNF als letzte Möglichkeit?

Fall 14: Sterbefasten als letzter Ausweg aus einer Demenz

Fall 15: Sie starb mit einer Heiterkeit und Tiefe, die jeden berührte

Fall 16: Disziplin, Verzicht und Eigensinn – vom Leben und Sterben einer großen Künstlerin

Fall 17: Vom Vermieter vor die Türe gesetzt – aber Kontrolle über das Geschehen behalten

Fall 18: Lehnte Nahrung schon früher oft ab – offensichtlich ein Grenzfall

Fall 19: Eine dramatische Leidensgeschichte am Lebensende

Fall 20: Nach 15 Jahren Parkinson-Syndrom: Entschluss zum Sterbefasten

Fall 21: Sein Entschluss überraschte alle, ermöglichte aber ein intensives Abschiednehmen

Fall 22: Es kam anders als geplant

Fall 23: Sterbefasten als selbstbestimmte Verkürzung einer aussichtslosen Leidenszeit

Fall 24: Schwere Demenz: Vorausverfügter Sterbewunsch erfüllt

Fall 25: »Es ist wie ein Traum, dass ich so gehen darf«

Gedanken zu den Fallbeispielen

Das Kriterium der Selbstbestimmungsfähigkeit beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit: Psychische Erkrankungen, Delir und andere einschränkende Ursachen

Sterbefasten in der Diskussion: Reaktionen und Positionen

Literatur

Weiterführende Literatur

Dank

Die Autoren

Peter Kaufmann, Publizist, Winznau, Präsident der Stiftung palliacura, Zürich. Nach dem Studium an der Universität Basel war er Pressechef des Schweizer Radios und dann Chefredakteur einer internationalen Musikzeitung. Anschließend 27 Jahre lang Redaktionsleiter einer täglich in zwei Dutzend Schweizer Zeitungen erscheinenden Medienseite. Nach dem Wechsel zum Schweizer Fernsehen Leiter der Internen Kommunikation. Autor zahlreicher Bücher, so etwa Biografien des Komponisten Paul Burkhard und des Choreografen Heinz Spoerli.

PD Dr. med. Dr. phil. Manuel Trachsel ist Leiter der Abteilung Klinische Ethik am Universitätsspital Basel und an den Universitären Psychiatrischen Diensten Basel. Manuel Trachsel hat über 70 wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften, mehrere Bücher und zahlreiche Buchkapitel publiziert. Sein Forschungsschwerpunkt bildet die Medizinethik mit Hauptfokus Psychiatrie- und Psychotherapie-Ethik.

Christian Walther ist Neurobiologe und war Hochschullehrer für Physiologie und Anatomie an der Universität Marburg. Zudem war er ehrenamtlicher ambulanter Hospizhelfer bei den Johannitern in Marburg. Christian Walther engagiert sich seit langem für bürgerrechtliche Anliegen und befasst sich mit lebensphilosophischen Fragen. Er hat die Möglichkeit des Sterbefastens zusammen mit Boudewijn Chabot 2010 erstmals in Buchform in die Öffentlichkeit gebracht. Zu dieser Thematik veröffentlichte er zudem mehrere Fachartikel.

Peter Kaufmann/Manuel Trachsel/Christian Walther

Sterbefasten

Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042415-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042416-6epub: ISBN 978-3-17-042417-3

Vorwort

Vor gut zehn Jahren ist die Diskussion über das vorzeitige Sterben durch den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, kurz FVNF, – von vielen auch als Sterbefasten bezeichnet – in die Gesellschaft getragen worden (Chabot & Walther 2010, 2021). Die Diskussion war zunächst zögerlich, hat sich dann jedoch immer intensiver entwickelt. Seither sind dazu diverse Beiträge aus ethischer, philosophischer, theologischer, juristischer und z. T. auch ärztlicher Sicht erschienen, jedoch nur wenige Berichte darüber, wie FVNF konkret verlaufen kann.

Aus dieser Situation heraus entstand das Vorhaben, 25 breit und fundiert recherchierte Fälle als kurze Narrative darzustellen, zu kommentieren, durch einen psychiatrisch-medizinethischen Fachbeitrag zu ergänzen sowie abschließend auf die öffentliche Wahrnehmung des Themas Sterbefasten einzugehen. Bei der Auswahl der Beispiele leitete uns der Wunsch, dass sie die große Breite an Motiven und Verläufen einigermaßen abbilden. Für die zweite Auflage haben wir vier zusätzliche Fallgeschichten aufgenommen sowie eine Fallgeschichte aktualisiert, ebenso wie einige der Anmerkungen und die ergänzenden Kapitel.

Das vorliegende Buch richtet sich an ein breites Publikum: an Menschen, die einen FVNF für sich in Betracht ziehen; an Pflegefachpersonen, Ärztinnen/Ärzte1, Seelsorgende, aber auch an andere, die mit solchen Fällen konfrontiert und um Unterstützung gebeten werden; nicht zuletzt auch an Journalisten und Politiker, die sich mit der Thematik auseinanderzusetzen haben.

Allen, die uns bei der Arbeit an diesem Buch mit ihrer Hilfe unterstützt haben, sei hier herzlich gedankt; eine Liste der Namen findet sich am Ende des Buches.

Juni 2022Peter Kaufmann, WinznauManuel Trachsel, BaselChristian Walther, Marburg

Endnoten

1Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Dies schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

Sterbefasten: Betrachtung einer komplexen Realität

Peter Kaufmann, Manuel Trachsel, Christian Walther

Die ersten, ausführlichen empirischen Angaben zum Sterbefasten verdanken wir einem Forschungsprojekt des niederländischen Psychiaters Boudewijn Chabot, das zur Grundlage eines ersten Buches zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum wurde (vgl. Chabot & Walther 2010, 2021). Inzwischen gibt es dank weiterführender Forschung und durch persönliche Erzählungen von Sterbewilligen beziehungsweise deren Angehörigen weitere Fallbeispiele, die es ermöglichen, das Sterben durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) besser nachzuvollziehen. Der Überblick über solche Berichte wird allerdings dadurch erschwert, dass sie meist verstreut in Form von Einzelbeispielen in Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Büchern zu finden sind.

Selbst den in Fachzeitschriften publizierten Fallgeschichten wird manchmal eine zu positive Sicht unterstellt; umgekehrt wird die Aussagefähigkeit der verwendeten Berichte nicht immer hinreichend kritisch hinterfragt (vgl. Ivanović et al. 2014). Im Sommer 2016 veröffentlichte die Johns Hopkins University in ihrem Journal »Narrative Inquiry in Bioethics« (Vol. 6, No. 2) 18 Fallgeschichten zum FVNF mit einer Einführung von Prof. Thaddeus Mason Pope2 und mehreren kommentierenden Beiträgen namhafter Autoren, und 2021 erschien schließlich ein umfassendes Buch von Quill et al., ebenfalls mit mehreren kommentierten Fallbeispielen.

Für den deutschen Sprachraum sind 25 Fallbeispiele in Kurzform auf der Website www.sterbefasten.org zu lesen, die von palliacura, einer der Schweizer Sterbehilfeorganisation EXIT nahestehenden Stiftung, angeboten wird. Zwar wird auf diese Website häufig zugegriffen, jedoch wird dieser Versuch, das Sterbefasten sozusagen erfahrbar zu machen, in wissenschaftlichen Fachbeiträgen weitgehend ignoriert. Zuweilen wird er als tendenziöses Werben für den FVNF eingestuft (vgl. z. B. Prat 2018). Außerdem reagieren einige Autoren ausgesprochen ablehnend auf das Wort »Sterbefasten« (vgl. z. B. Kittelberger 2018) – unter anderem, weil es durch seinen positiven Klang verharmlosend wirke. Zudem sei Fasten für viele Menschen ein reinigendes Ritual und somit im Kontext von Sterbewünschen befremdlich. Andererseits kann man sich leicht davon überzeugen, dass die Begrifflichkeit »Sterbefasten« sich inzwischen bei Vorträgen, Artikeln und Diskussionen weitgehend durchgesetzt hat. Wie sich dieser Begriff historisch entwickelt hat, ist auf www.sterbefasten.org nachzulesen.

In unserem Buch präsentieren wir eine Sammlung von 25 Fällen, dargestellt als kurze Narrative. Sie beruhen zum Teil auf Berichten, die Peter Kaufmann und Christian Walther erhalten hatten. Weitere gehen auf Fachpublikationen oder neuere Zeitungsreportagen zurück. Unser Ziel war es, dass durch diese Zusammenstellung von sehr unterschiedlichen Verläufen des Sterbefastens sowie der Eindrücke der davon mitbetroffenen Angehörigen und der professionell Pflegenden erfahrbar wird, wie facettenreich diese Realität ist. Nicht ganz so viel zu lernen ist daraus über den Umgang der Ärzte mit dem Thema. Zudem zeigen uns die Fallbeispiele fast nichts zu spirituellen Aspekten bei dieser Form des Sterbens. Möglicherweise liegt dies daran, dass auf denen, die einen FVNF begleitet hatten, oft noch erhebliche Unsicherheit lastete, da ihnen für das Sterbefasten noch kaum Erfahrungen zur Verfügung standen.

Während der Arbeit an unserem Buch erschien von Christiane und Christoph zur Nieden (2020) ein Buch mit elf Berichten über Menschen, die diesen Weg gegangen sind. Es empfiehlt sich als ergänzende Lektüre zum vorliegenden Buch, zumal es bis auf einen Fall keine Überschneidungen mit unseren Erzählungen gibt und dort zusätzlich sieben Beispiele beschrieben werden, in denen der FVNF zwar ernsthaft erwogen, letztlich dann aber doch nicht durchgeführt wurde.

Grundsätzlich muss auf eines verwiesen werden: Es ist denkbar, ja wahrscheinlich, dass Menschen, die ein mit erheblichen Problemen belastetes Sterbefasten miterlebt haben – zum Teil vielleicht auch, weil dabei mangels Informationen Fehler gemacht wurden –, darüber weniger gern berichten als andere, die es eher als positiv erfahren haben. Es dürften also solche »negativen« Fälle schwer in Erfahrung zu bringen sein, und gegebenenfalls könnte dann ihrer Veröffentlichung widersprochen werden. Daher ist nicht auszuschließen, dass unsere Zusammenstellung ein etwas zu positives Bild des FVNF vermittelt.

Das vorliegende Buch gliedert sich in vier Kapitel: Auf die einleitenden Hinweise folgen 25 Fallgeschichten, dargestellt vom Publizisten und Journalisten Peter Kaufmann. Sie bilden den Schwerpunkt und werden anschließend von den drei Autoren gemeinsam reflektiert. Manuel Trachsel, Arzt, Medizinethiker und Psychologe, geht dann im Kontext von Sterbewünschen auf die Frage nach der Selbstbestimmungsfähigkeit ein sowie auf deren Beeinträchtigung durch verschiedene mentale Zustände wie Depressionen oder Delirien oder die Rolle bestimmter Medikamentengruppen. In einem abschließenden Teil gibt Christian Walther, Neurobiologe i. R. und vormals ehrenamtlicher Hospizhelfer, einen Überblick über aktuelle Stellungnahmen zum FVNF.

In der Literatur wird seit langem darüber gestritten, ob FVNF als Suizid zu bewerten sei; eine Einigung darüber ist nicht in Sicht. Diese Problematik und eine Reihe weiterer, grundsätzlicher Fragen zum FVNF nehmen zum Beispiel in dem von Michael Coors, Alfred Simon und Bernd Alt-Epping herausgegebenen Buch »Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit« (Coors et al. 2019) relativ breiten Raum ein. Sie werden im vorliegenden Buch nicht erneut aufgegriffen, wurden aber teilweise von Walther und Birnbacher (2019a) weiter untersucht, wo auch der Stand der Literatur zu Beginn des Jahres 2019 umfassend berücksichtigt wurde.

Da ein Buch wie dieses nicht in einem politischen Vakuum angesiedelt ist, sei auf Folgendes verwiesen: Wir sehen im FVNF eine von mehreren Handlungsweisen, die jeder – nicht nur am Lebensende – in Betracht ziehen kann, wenn er sich freiverantwortlich entschlossen hat, sein Leben vorzeitig zu beenden, sei es aufgrund gegenwärtigen oder absehbaren, künftigen Leidens. Es ist für die Autoren nicht entscheidend, ob FVNF als Suizid eingestuft wird oder nicht, und in der Realität – so legen unsere Fallbeispiele nahe – spielt dies, zumindest während der Durchführung des FVNF, für die Akteure oft keine wesentliche Rolle. Heikler könnte in manchen Ländern die Frage sein, ob der FVNF möglicherweise juristisch als Suizid bewertet wird und daher gegebenenfalls diejenigen, die Personen dabei aktiv unterstützen, mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen. Aber in den hier vorgestellten 21 Beispielen wurde dies praktisch nie diskutiert. In mehreren Fällen hatte sich die sterbewillige Person allerdings gewünscht, ein Medikament zu erhalten, um vorzeitig sterben zu können; weil es ihr dank der Gesetzeslage jedoch nicht zugestanden werden konnte, nahm sie dann den FVNF sozusagen zähneknirschend auf sich.

Endnoten

2http://thaddeuspope.com/vsed/familystories.html

25 Fallgeschichten, erzählt von Angehörigen und Pflegenden

Peter Kaufmann

In unseren 25 Fallgeschichten über den FVNF berichten Angehörige, aber auch Pflegende detailliert, wie sie ein Sterbefasten aus nächster Nähe mitverfolgt und was sie dabei empfunden haben. Wir wollten wissen: Warum entschließt sich jemand zum Sterbefasten? Welche charakterlichen Eigenschaften, welche Biografien und konkreten Erlebnisse im Bereich Krankheit – Sterben – Tod stehen hinter diesem Entschluss? Wie verläuft der Sterbeprozess bei einem völligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit? Wie verläuft er, wenn noch etwas getrunken wird? Welche Komplikationen und Schwierigkeiten können sich ergeben?

Viele kennen Fälle von Sterbefasten – doch oft fehlen konkrete Fakten

Erzählt man aus gegebenem Anlass in einem kleineren oder größeren Kreise etwas übers Sterbefasten, melden sich meist einige Gesprächsteilnehmer, die in der Familie oder im Freundeskreis bereits einmal von dieser Art des Sterbens gehört oder es sogar aus nächster Nähe mitverfolgt haben. Hier einige Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen.

Ein 90-jähriger Befürworter des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) berichtet nebenbei im Gespräch, dass zwei seiner älteren Brüder durch FVNF aus dem Leben geschieden sind, als sie merkten, dass sie dement wurden; auf Details will er nicht eingehen, da es sich um seine Familie handelt.

Ein dehydrierter älterer Mann ist im Altenheim zusammengebrochen und wird in eine Klinik aufgenommen und rehydriert. Er bittet, dort den FVNF zu Ende führen zu können, den er schon begonnen, aber geheim gehalten hatte, weil man ihm das im Heim nicht gestattet hätte. In der Klinik stößt er auf Verständnis und er darf dort sterben. Wie lange das gedauert hat und ob es Komplikationen gab, ist nicht zu erfahren. Allerdings wird uns zum Totenschein mitgeteilt, dass dort »natürlicher« Tod in Absprache mit der Staatsanwaltschaft eingetragen wurde.

Ein Journalist deutet in einem persönlichen Gespräch beiläufig auf einen Fall von FVNF hin. Auf Rückfrage erfährt man: Es war sein Schwiegervater, der einer Demenz entgehen wollte; das Sterbefasten sei gut verlaufen, aber die Gattin müsse sich nun davon erholen und sei nicht zu konkreten Auskünften bereit.

Es ist leider so: Nur selten erhält man weitere konkrete, belastbare Angaben, wenn man weitere Details erfahren möchte – oft ist das Erlebte auch nur noch bruchstückhaft im Gedächtnis vorhanden. Größtenteils wird der Ablauf des Sterbens positiv beurteilt, nur gelegentlich als eine verstörende und selten als eine unangenehme Erfahrung geschildert – wohl vor allem mangels Kenntnissen über den Verlauf eines Sterbeprozesses. Um das real vorkommende Sterbefasten wirklich beurteilen zu können, ist man aber auf umfassende Informationen über die Personen, ihre Motive und die Verläufe des Sterbeprozesses in einer größeren Zahl von Beispielen angewiesen.

Wir haben leider wiederholt die Erfahrung machen müssen, dass uns ausführliches Material für einen Fall zugänglich war und eine Geschichte geschrieben wurde, diese dann aber nicht veröffentlicht werden durfte, beispielsweise weil es sich die Angehörigen, die uns zuvor bereitwillig informiert hatten, es sich am Ende dann noch einmal anders überlegt hatten. Dazu ein konkretes Beispiel: Ein in seiner Heimatstadt bekannter Mann ist nach einem Sterbefasten verstorben. Seine Angehörigen bezeichnen den Ablauf als ein »Verenden«. Die recherchierte, journalistische Aufarbeitung des in der Tat sehr traurigen Falls gefällt ihnen jedoch nicht. Sie möchten lieber einen eigenen Nachruf veröffentlicht sehen, in dem jedoch das Geschehen deutlich anders dargestellt wird und etliche relevante Fakten fehlen. Das Beispiel kann daher für dieses Buch nicht verwendet werden.

Hier noch ein weiteres Beispiel dafür, warum wir eine Fallgeschichte nicht verwenden konnten. Im Hamburger Wochenmagazin »Der Spiegel« schilderte beispielsweise eine Journalistin ausführlich und detailreich den langen Leidensweg eines ALS-Kranken, der sich über FVNF informiert hat und so sterben möchte. Wie geht diese aufsehenerregende Geschichte weiter? Ist es eine Fallgeschichte für uns? Hat sich der Todkranke dann tatsächlich zum Sterbefasten entschieden? Die Autorin des Artikels und der Verlag blocken unsere Anfrage ab. Zitate dürften selbstverständlich verwendet werden, ein Umschreiben des Textes komme nicht in Frage und weitere Informationen zu diesem Fall gäbe es nicht.

Seit wann wird der FVNF in der wissenschaftlichen Literatur thematisiert?

Bei den Grundrecherchen zu diesem Buch hat uns auch die Frage beschäftigt, wann die Idee des FVNF wohl zum ersten Mal in der internationalen medizinischen Fachliteratur auftauchte. Sehr wahrscheinlich lässt sich hierfür eine Publikation angeben, die auch einen Fallbericht enthält: Robert J. Sullivan, jr. MD, MPH »Accepting Death without Artificial Nutrition or Hydration«, Journal of General Internal Medicine, Volume 8 (April) 1993. Der in dieser Publikation beschriebene »Case Report« sei im Folgenden nacherzählt und kommentiert, auch wenn es sich nicht um ein Sterbefasten im eigentlichen Sinn handelt. Mit vielen medizinischen Details beschreibt Sullivan die Fallgeschichte einer schwer kranken Frau, die wegen eines Darmverschlusses nicht mehr essen konnte. Sie lehnte die ihr vorgeschlagenen ärztlichen Maßnahmen ab und bevorzugte es, ihr Lebensende beschleunigt herbeizuführen.

Von Jugend an erfreute sich die etwas fettleibige Frau W., wie wir sie nennen wollen, meist guter physischer wie psychischer Gesundheit. Ihre Einstellung zum Leben war bis zum 78. Lebensjahr stets positiv gewesen. Doch nun änderte sich ihre Situation plötzlich: Es wurde bei ihr ein Unterleibskrebs diagnostiziert; die Gebärmutter und die Eierstöcke mussten entfernt werden. Wegen verbreiteter Metastasen waren auch Bestrahlungen nötig. Einige Zeit nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus zeigte sich ein neuer Tumor und es musste nochmals bestrahlt werden. Zunächst schien dann alles wieder gut zu sein, doch acht Monate später stellte man einen Darmverschluss als Spätfolge der Bestrahlung fest (einige andere leidvolle Entwicklungen sind hier ausgelassen). Frau W. stellte nun Fragen: Kann ein Chirurg garantieren, dass es nach der operativen Behebung eines neuerlichen Dünndarmverschlusses später zu keinem weiteren mehr kommt? Und ist irgendwann ein künstlicher Darmausgang nötig? Weil der verantwortliche Arzt dazu keine verbindlichen Aussagen machen konnte, lehnte Frau W. – voll einsichtsfähig – die Operation und alle weiteren eventuell noch möglichen Therapien ab. Weil sie auf ihrem Entschluss beharrte, wurde sie nun in eine Pflegeeinrichtung verlegt.

Der Tod von Frau W. war nun absehbar, da sie aufgrund des Darmverschlusses keine Nahrung mehr aufnehmen konnte. Da sie auch nicht mehr trinken durfte, wurde eine intravenöse Infusion gelegt, um sie weiterhin mit Flüssigkeit zu versorgen. Eine Periode der Stabilität setzte ein, die 13 Tage anhielt. Sie litt zeitweilig sehr unter Würgereiz und wiederholtem Erbrechen, was sich mittels einer Magensonde über die Nase (nasogastrische Sonde) lindern ließ. Für Frau W. war dieser Zustand sehr belastend; sie wartete ungeduldig auf den Tod. Bei mehreren Gelegenheiten wurde ihr eine chirurgische Linderung ihres Darmverschlusses angeboten, doch sie blieb fest entschlossen, jede Therapie bis zu ihrem Tod abzulehnen. Zumindest für eine begrenzte Zeit hätte sie dank der vorgeschlagenen Operation wieder essen und trinken können. Ihr Verhalten kann insofern als freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zum Zwecke des vorzeitigen Sterbens angesehen werden, nicht jedoch als Sterbefasten, weil hierbei vorausgesetzt wird, dass die Person noch essen und trinken kann (vgl. z. B. Walther & Birnbacher 2019a).

Frau W. litt in dieser Zeit so gut wie nie unter Schmerzen, doch die Infusion beeinträchtigte sie zunehmend. Am 14. Tag ärgerte sie sich sehr, dass sie noch nicht gestorben war. Sie erreichte, dass die intravenöse Flüssigkeitszufuhr beendet wurde und verweigerte weiterhin jede orale Flüssigkeitsaufnahme. Ihren Mund befeuchtete sie nun mit Glyzerintupfern – bis zum 33. Tag, an dem sie schließlich den Vorschlag des Pflegepersonals akzeptierte, Eiswürfel zu lutschen. Man hatte sie nämlich endlich davon überzeugen können, dass durch die weiterhin nötige Magensonde jede geschluckte Flüssigkeit gleich wieder abgesaugt werde, so dass die Verwendung von Eiswürfeln ihr Leben auch wirklich nicht verlängern würde.

Frau W. hatte keine Angehörigen. In ihrem Freundeskreis, der ihr die Familie ersetzte, galt sie als eine Persönlichkeit mit einer eigenen Meinung und dem Mut, ihre Überzeugungen wenn möglich durchzusetzen. Auch in ihrer letzten Lebenszeit erhielt sie öfters Besuche von Freundinnen und Freunden und schrieb sogar noch Briefe. Sie beteiligte sich jeden Tag aktiv an ihrer Körperpflege und blieb stets bei klarem Verstand. Allerdings bat sie wiederholt darum, dass man ihr Leben durch eine tödliche Dosis Morphium beenden möge. Diese Bitte lehnte der zuständige Arzt respektvoll, aber unnachgiebig ab. Er bot ihr aber an, Schmerzen oder Beschwerden zu lindern. Nach zwei Wochen Verzicht auf das Trinken fragte sie den Arzt, ob er ihr eine regelmäßige »therapeutische« Dosis von Betäubungsmitteln verschreiben könne, um ihre Langeweile zu überbrücken und besser schlafen zu können. Sie schlug vor, Bauchschmerzen vorzutäuschen, um die Behandlung zu rechtfertigen. Der Großteil der Pflegenden, die alles unternahmen, um das Wohlbefinden von Frau W. während des Sterbeprozesses zu gewährleisten, unterstützte diesen Vorschlag. Dies führte dazu, dass sie über mehrere Tage Morphin erhielt, worauf sie später aber von sich aus wieder verzichtete (auf Dosierungen sowie andere Medikamentenwünsche kann hier nicht eingegangen werden).

Am 42. Tag nach Beenden der Ernährung beziehungsweise am 29. Tag nach dem weitgehenden Verzicht auf Flüssigkeitszufuhr starb Frau W. friedlich. Tags zuvor war sie sehr schläfrig geworden und dann ins Koma geglitten.

Die überaus lange Dauer des Sterbeprozesses überraschte sowohl die Ärzte als auch das Pflegepersonal. R. Sullivan diskutiert dies in seiner Publikation anhand diverser physiologischer Gegebenheiten und bezieht frühere Erkenntnisse an Sterbenden ein – so wie man sich dies für mögliche klinische Studien des FVNF in der Zukunft wünschen würde. Eine wichtige Vermutung ist, dass der Körper beim totalen Nahrungsverzicht auch einige Wochen lang noch Wasser aus Fettverbrennung beziehen kann, so dass die Folgen der Dehydrierung hinausgezögert werden.

Ebenfalls 1993 wurde von zwei Ärzten und einem Medizinethiker (Bernat et al. 1993) vorgeschlagen, dass schwer Kranke mit infauster Prognose statt des damals in den USA schon debattierten ärztlich-assistierten Suizides (oder gar einer Tötung auf Verlangen) das Leben durch FVNF vorzeitig beenden könnten, wenn sie dies nach reiflicher Überlegung wünschen. Ihre zentrale Forderung lautete, dass »[...] Ärzte ihre Patienten von sich aus darüber aufklären, dass sie künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr ablehnen dürfen und dass Ärzte ihnen dabei helfen, dies auf eine Weise zu machen, die ihnen ihr [damit einhergehendes, P. K.] Leiden minimiert [...]« Damals stand noch das Bemühen im Vordergrund, zu belegen, dass solch ein Leiden ohnehin gering sei.

Eine weitere frühe Fallgeschichte

Erst etwas später (vgl. z. B. Byock 1995) erfolgte der Schritt hin zur Idee des Sterbefastens, also dem Vorschlag, dass auch weniger schwer kranke Menschen, die noch selbständig essen und trinken, damit aufhören können, um vorzeitig zu sterben. Ira Byock erwähnt in seinem Beitrag nicht nur am Ende den Fall Sullivan, sondern er referiert auch einen Bericht von einer Frau aus Vermont, die eigentlich ihr Leben durch steigende Einnahmen von Morphin hätte beenden wollen, dann aber – weil dies für sie nicht möglich war – Essen und Trinken einstellte und nach sechs Tagen friedlich verstarb. Es ist nicht auszuschließen, dass sie während dieser Zeit immer wieder Morphin erhalten hatte, damit ihr dieser Weg nicht zu schwerfiel. Wahrscheinlich ist dies der erste Bericht über Sterbefasten in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Daher soll er im Folgenden noch kurz nacherzählt werden.

Den Entschluss seiner Mutter zum Sterben und zum Sterbefasten beschrieb der Arzt David M. Eddy 1994 im sehr persönlich gehaltenen Beitrag »A Piece of My Mind. A conversation with my mother« in der weltweit am meisten verbreiteten medizinischen Fachzeitschrift »JAMA – Journal of the American Medical Association« (20. Juli 1994 – Vol 272, No. 3).

Virginia Eddy lebte in Middlebury, Vermont, und war trotz ihrer 84 Jahre »sehr unabhängig, selbständig und sehr zufrieden«. Sie war die Witwe eines Arztes, las gerne dicke Bücher, legte Wort-Puzzles oder sah im Fernsehen Nachrichten und Sport. Zweimal täglich verließ sie das Haus, um Besorgungen zu machen. Gerne erinnerte sie sich an früher, an ihre Afrika-Reisen mit 70 oder wie sie mit 82 Jahren das Kentern eines Floßes im Wyoming's Snake River überlebt hatte.

Ein halbes Jahr später war alles völlig anders. Eine akute Entzündung der Gallenblase machte ihr zu schaffen. Gallensteine wurden diagnostiziert und die Gallenblase musste entfernt werden. Sechs Wochen nach der Operation hatte sie schweren Durchfall und in der Folge einen schmerzhaften, chronischen Mastdarmvorfall (Prolaps) von acht Zentimetern, der bei jedem Husten wieder herauskam. Antibiotika waren nötig, ein Pilzbefall der Mundhöhle verhinderte die Nahrungszufuhr, in ihrer Brust fand sie einen Knoten und ein Vorhofflimmern setzte ihr zu. Es gab weitere starke physische Beschwerden, die hier nicht detailliert aufgezählt werden sollen.

Virginia hatte depressive Gedanken, und weil die Lebensqualität für sie »unter Null gefallen sei«, beschäftigte sie sich nun intensiv mit dem Sinn ihres Lebens: »Ich weiß, dass sie mich noch lange am Leben erhalten können. Aber wenn jedes Vergnügen vorbei ist und es immer Richtung unten geht, warum sollte ich dann so weiterleben bis ich durch Krebs, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlöst werde? Das könnte Jahre dauern. Ich verstehe, dass einige Leute bis zum Ende durchhalten möchten und durch alle möglichen Behandlungen versuchen, noch den letzten Lebenstropfen herauszuquetschen. Das ist gut für sie, aber nicht für mich.« Sie habe ein wunderschönes Leben geführt, aber jedes Leben ende einmal und dies sei nun der richtige Zeitpunkt für sie. Es sei nicht ihre Entscheidung, dass sie sterben werde: »Wir alle sterben früher oder später. Aber es ist meine Entscheidung wann und wie.«

Zusammen mit ihrer Familie überlegte sie in aller Offenheit, wie sie sterben könne, da ja »ihre Zeit gekommen sei«. Gemeinsam mit ihrem Sohn David las sie den drei Jahre zuvor erschienenen Bestseller »Final Exit«. Derek Humphry, ein britischer Journalist und Vorkämpfer des assistierten Suizids, propagiert darin das Recht todkranker Menschen, ihr Leben zu beenden. Verschiedene im Buch beschriebene Suizidmethoden schienen Virginia jedoch nicht der richtige Weg für sie zu sein. »Was kann ich sonst tun? Kann ich aufhören zu essen?«, fragte sie ihren Sohn, der sich daraufhin mit dem Hausarzt besprach, der bereit war, trotz einiger Bedenken allenfalls die nötigen Medikamente zu verschreiben. Tags darauf feierten die Angehörigen und ihr Freundeskreis mit einer Party den 85. Geburtstag Virginias. Sie freute sich über das Fest, aber auch darüber, dass sie nun wusste, wie sie sterben würde. Sie aß ein letztes Stück Schokolade.

Während der nächsten vier Tage begrüßte Virginia ihre Besucherinnen und Besucher mit einem Lächeln – ihre depressiven Gedanken waren verschwunden. Zwischendurch schlief sie, wachte aber sofort auf, wenn sie jemand kurz anstieß. Am fünften Tag war sie sehr schwach und sprach kaum mehr: »Wenn jemand ihre Hand nahm, öffnete sie die Augen und lächelte.« Tags darauf, am sechsten Tag ohne Nahrung und Flüssigkeit, war sie nicht mehr ansprechbar. David M. Eddy: »Ihr Gesicht wirkte entspannt, mit einem natürlichen Lächeln, sie atmete ungleichmäßig, aber friedvoll. Wir hielten ihre Hand noch zwei Stunden, bis sie starb.«

Vor ihrem Tod hatte Virginia Eddy ihrem Sohn gesagt: »Schreib darüber, David! Sag den anderen, wie gut dies für mich funktioniert hat. Ob sie nun todkrank sind oder hartnäckige Schmerzen haben wie ich – wenn für sie feststeht, dass ihre Zeit nun gekommen ist, dann sollten die Leute wissen, dass dieser Weg existiert. Und vielleicht gibt es dann auch mehr Ärzte, die ihnen helfen, diesen Weg zu finden.«

Zu den Quellen der Fallbeispiele

Zu den Lebensläufen der porträtierten Personen standen uns teilweise ausführliche, teilweise allerdings nur recht wenige Angaben zur Verfügung. Daraus sowie auch aus den persönlichkeitsrechtlichen Erwägungen erklärt sich die unterschiedliche Länge der Porträts. Schwerpunkt aller Fallbeispiele ist die Zeit des Sterbefastens.

·

Einige der Fallbeispiele wurden von Peter Kaufmann und Christian Walther recherchiert. Wenn möglich wurden die korrekten Vornamen verwendet. Auf Wunsch der Angehörigen wurden teilweise Vornamen weggelassen und lediglich der Name abgekürzt. Einige Namen und biografische Details mussten jedoch aus persönlichkeitsrechtlichen Überlegungen anonymisiert werden. Alle Texte sind autorisiert worden.

·

Eine weitere Gruppe bilden prominente Personen der Zeitgeschichte. Über sie sind in der Regel mehrere Beiträge in internationalen Fachzeitschriften, in Tageszeitungen, sowie in Büchern und im Internet veröffentlicht worden. Alle diese Quellen wurden ausgewertet, miteinander verglichen und bei offenen Fragen wurden, wenn immer möglich, Angehörige oder Fachpersonen kontaktiert, die weitere Auskünfte geben konnten. Über die Quellenangaben können bei einer Internet-Suche weitere Informationen gefunden werden. Bei dieser Gruppe von Fallbeispielen sind die echten Namen angegeben.

Wir haben es hier mit keiner wissenschaftlichen Erhebung zu tun und können daher auch keine statistische Auswertung vornehmen, selbst wenn sich einfache Fragen, wie etwa die nach der mittleren Dauer des Sterbeprozesses, beantworten ließen.

Nicht wenige der Geschichten können aufwühlend wirken, selbst wenn sie von relativ friedlichen Verläufen des Sterbefastens handeln. Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass ja zunächst eine Vorgeschichte beschrieben wird, deren Ende meist unerfreulich ist: Krankheiten, Verluste, manchmal auch Sinnkrisen. Doch dies sind Situationen, unter denen auch andere Menschen in ihrer letzten Lebenszeit leiden, ohne dass sie einen FVNF in Erwägung ziehen oder auf sich nehmen. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich aus der Gesamtheit der Beispiele ein persönliches Urteil über das Sterbefasten bilden möchte. Auf dieser Grundlage hoffen wir bei denjenigen, die den FVNF als eine mögliche Entscheidung für ein vorzeitiges Sterben eher kritisch bewerten, etwas Verständnis für die selbstbestimmte Handlungsweise jener Menschen zu erreichen, die sich zu diesem Schritt entschließen. Wer jedoch für das Sterbefasten ohnehin bereits aufgeschlossen ist, dürfte nach der Lektüre der Fallgeschichten wohl besser in der Lage sein, zu entscheiden, ob er diesen Weg aus dem Leben eines Tages für sich oder beispielsweise einen nahen Angehörigen als eine Möglichkeit in Betracht ziehen wird.

Fall 1: Am Ende Sterbefasten – der lange Weg eines selbstbestimmten Mannes aus dem Leben

Weil zu einer Vielzahl von Erkrankungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen nun auch noch schwere Bauchschmerzen hinzukamen, entschloss sich Heinrich T. im Alter von 89 Jahren zum Sterbefasten. Seine Familie unterstützte den selbstbestimmten und oft wortkargen Mann fürsorglich, und dies trotz großen Abschiedskummers. Wie kam es zu diesem Entschluss?

Schon im Jugendalter lernte Heinrich T. auch die dunkleren Seiten des Lebens kennen. Als 17-Jähriger wurde er zwei Jahre vor dem Ende des 2. Weltkriegs noch zur Wehrmacht eingezogen und musste den Eid auf Hitler leisten. Obwohl damals statistisch gesehen jede Stunde rund 100 deutsche Soldaten starben, überlebte Soldat T. mit einer Kriegsverletzung, die ihm dann Jahrzehnte später wieder zu schaffen machte. Nach Kriegsende erlernte er den Beruf des Zimmermanns. Später war er als Berufsschullehrer tätig und absolvierte berufsbegleitend noch ein dreijähriges Studium der Mathematik als Zusatzqualifikation. Mit 26 Jahren heiratete Heinrich T.: Aus der glücklichen Ehe gingen drei Kinder hervor.

Heinrich T. war ein sehr selbstbestimmter, jedoch auch einfühlsamer Mann, eher wortkarg, dennoch gut sozialisiert. »Er war auch musikalisch«, erzählt eine seiner Töchter, »viele Jahre spielte er Klavier. Er war zudem sehr naturverbunden und liebte es, zusammen mit unserer Mutter lange Ausflüge oder sogar Reisen mit dem Fahrrad zu machen.« Für den Bekanntenkreis aus Nachbarn, ehemaligen Kollegen und deren Angehörigen organisierte er mehrfach Städtereisen innerhalb Europas. Hierbei war er – wie so oft – »Primus inter pares« (die führende Person). Anders als seine Frau lehnte er es hingegen ab, sich noch mit den modernen, digitalen Kommunikationstechniken (beispielsweise Computer, Internet, Smartphone) vertraut zu machen, denn dies bedeutete ihm nichts. Andererseits hatte er viel Spaß an intellektuellen Herausforderungen wie etwa komplizierten Kreuzworträtseln.

Erste Einschnitte bei der Lebensqualität

Nach dem Eintritt in den Ruhestand beschlossen seine Frau und er, ihren Lebensmittelpunkt weitgehend in das selbst erbaute Holzhaus im Grünen zu verlegen; die Stadtwohnung gaben sie später ganz auf. Das Leben auf dem Lande verlief viele Jahre ziemlich glücklich und ungetrübt, doch dann kam es zu verschiedenen Gesundheitsproblemen, die ihm am Ende das Leben zur Qual machten. Mit 71 Jahren erhielt Heinrich T. die Diagnose Prostata-Krebs. Zeitlebens war er ein »guter Patient« gewesen, der sich immer genau an das hielt, was die Ärzte ihm vorschrieben. Daher willigte er diskussionslos und wohl auch schlecht informiert in eine Operation ein. Die Folge: Impotenz. Dies machte ihm zunächst schwer zu schaffen, doch fand er sich im Laufe eines Jahres damit einigermaßen ab. »Nach der schweren Operation ist er sanfter geworden; er hatte nicht mehr die Energie von früher, blieb aber entschieden, willensstark und durchsetzungsfähig«, resümierte eine der Töchter.

Mit 78 Jahren musste sich Heinrich T. einer Hüftoperation unterziehen. Diese war aufgrund von Spätfolgen einer Kriegsverletzung nötig geworden und verlief erfolgreich. Doch entwickelte sich in dieser Zeit eine schwere Allergie, die auch später immer mal wieder auftrat, ohne dass man die Ursachen herausfand. Mittlerweile war auch sein Hörvermögen so schlecht geworden, dass ihm zu einer Hörhilfe geraten wurde. Die Versuche damit waren für ihn enttäuschend, so dass er meistens darauf verzichtete. Glücklicherweise nahm sein Hörvermögen in der Folge kaum noch weiter ab, so dass man sich mit ihm mit voller Lautstärke doch noch gut unterhalten konnte. Seine Ehefrau lernte, sich zum Gespräch vis-à-vis zu positionieren und langsam, laut und deutlich zu sprechen, so dass die verbale Verständigung der Eheleute, durch Mundablesen unterstützt, weiterhin möglich blieb. In ungewohnten sozialen Konstellationen mied Heinrich T. zusehends das Gespräch mit anderen und überließ dies meistens seiner Frau. Aufgrund nachlassender Kraft und Koordinationsproblemen kam es dann zu einigen kleineren Unfällen. Deshalb hörte er auch mit dem Radfahren auf – bis dahin war er noch regelmäßig mit dem Rad zum Einkaufen gefahren. Seitdem verbrachte er nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen sehr gerne noch längere Zeit lesend im Bett. Trotz des Bewegungsmangels fühlte er sich so am wohlsten.

Mit 88 Jahren erlitt Heinrich T. einen Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmte. Im Rahmen der ärztlichen Untersuchungen wurden auch frühere kleinere Schlaganfälle nachgewiesen, wodurch sich vielleicht auch einige der vorhergegangenen kleineren Unfälle erklären lassen. Die Rehabilitation verlief erfolgreich und Heinrich T. fing nach einigen Monaten wieder an, Auto zu fahren, allerdings nur im Umkreis von wenigen Kilometern. Die Zeit der Rekonvaleszenz erschien ihm aber durch fremdbestimmte Mühsal geprägt, und er sagte, noch eine Rehabilitation werde er nicht machen. »Und sein Geschmackssinn war fast erloschen«, bemerkte eine seiner Töchter.

Ein Sommer geprägt von unliebsamer Trägheit