Sterben - das Schwierige im Leben - Werner Schweidtmann - E-Book

Sterben - das Schwierige im Leben E-Book

Werner Schweidtmann

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Beschreibung

Sterben bedeutet für viele Menschen: eine letzte große Lebenskrise muss bestanden werden. Bei der Begleitung im Sterben stehen üblicherweise medizinische Behandlungsaspekte im Vordergrund. Eine emotionale Begleitung verunsichert oder überfordert die Beteiligten oft, spielt jedoch eine ebenso entscheidende Rolle beim Fortschreiten der Erkrankung. Dieses Buch beleuchtet die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien am Lebensende mit Einblicken aus der Bewältigungsforschung und der Persönlichkeitspsychologie. Anhand von Gesprächsaufzeichnungen mit sterbenden Menschen werden typische Kommunikationshürden identifiziert und Hinweise gegeben, wie eine hilfreiche und professionelle Begleitung ganzheitlich gelingen kann.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einführung

1 Das Ende – eine kritische Anfrage an uns alle

1.1 Sterben – eine persönliche Herausforderung

1.2 Ein integrativer Ansatz

1.3 Sterben in früherer Zeit – Erkenntnisse der historischen Demographie

1.3.1 Beeinflussung des Verhältnisses zum Tod durch die Erhöhung der Lebenserwartung

1.3.2 Die veränderte Lebenserwartung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft

1.3.3 Der Zusammenbruch eines übergreifenden Sinnzusammenhangs

1.4 Versuch einer neuen Sterbekultur

1.4.1 Sterben als prozesshaftes Geschehen: Die Praxis der Sterbebegleitung nach Elisabeth Kübler-Ross

1.4.2 Vom Hospiz zur Palliative Care

1.5 Entscheidend: Von der Haltung zum Verhalten

1.5.1 Postulate allein genügen nicht

1.5.2 Wie kann das geschehen?

2 Sterben – das Erleben der Betroffenen

2.1 Was bedeutet Sterben?

2.1.1 Sterben als ganzheitliches Geschehen

2.1.2 Sterben im persönlichen Erleben

2.1.3 Schwerwiegende Anpassungsleistungen

2.1.4 Abschiednehmen aus dem aktiven Leben

2.1.5 Erkenntnisse der Humanwissenschaften

2.1.6 Sterben im Krankenhaus

2.1.7 Authentische Nähe hilft

2.1.8 Das Ende

2.1.9 Tod in der ersten Person

2.2 So ereignet sich Sterben

2.2.1 Ich habe Nebel im Kopf

2.2.2 Ich sterbe

2.2.3 Sie sah erbärmlich aus, als sie in die Notaufnahme kam

2.2.4 Das kann doch nicht wahr sein

2.2.5 Einmal möchte ich noch nach Rom – die schmerzliche Erkenntnis des ungelebten Lebens

2.2.6 Jeder Tag lohnt sich, gelebt zu werden

2.2.7 Du hast mein Leben zerstört

2.2.8 Ich habe immer diesen ausgezehrten Körper vor Augen

2.2.9 Lebensende im jugendlichen Alter – Es ist doch nicht der Sensenmann

2.2.10 Ich will leben für meine Kleine

3 Wahrheit – die gefürchtete Annäherung an das Unausweichliche

3.1 Die Abhängigkeit von überindividuellen, gesellschaftlichen Einstellungen

3.2 Doch besser eine defensive Haltung?

3.3 Plädoyer für einen offenen Umgang

3.4 Wahrheit als Entwicklung und Prozess

3.5 »Middle Knowledge«

3.6 Wahrheit ist kommunikatives Geschehen

3.7 Grundlagen des Umgangs mit der Wahrheit – Zusammenfassung

4 Wie wird man mit der Krankheit fertig? – der Beitrag der Bewältigungsforschung

4.1 Entwicklung und Erkenntnisfortschritt

4.2 Bewältigungsforschung bei Richard S. Lazarus

4.3 Das transaktionale Stresskonzept

4.4 Bewältigungsfunktionen

4.5 Die Relevanz für die Patientenbegleitung

4.6 Weitere Konzepte der Bewältigungsforschung

5 Wie wir wurden, was wir sind – Grundzüge einer Persönlichkeitspsychologie

5.1 Der Wunsch nach Eigenständigkeit und Abgrenzung: Die schizoide Persönlichkeit

5.2 Der Wunsch nach Kontakt und Nähe: Die depressive Persönlichkeit

5.3 Das Bedürfnis nach Dauer und Sicherheit: Die zwanghafte Persönlichkeit

5.4 Das Bedürfnis nach Wandel, Ablenkung und Veränderung: Die hysterische Persönlichkeit

5.5 Zusammenfassung

6 Die Angehörigen – das noch größere Problem?

6.1 Auch Angehörige brauchen Hilfe

6.2 Rollentausch

6.3 »Ich muss bleiben, bis sie 18 ist« – trotz Pankreastumor

6.4 Wie umgehen mit der Angst vor dem Ende?

6.5 Die Irritation der Professionellen – Gespräch mit der Tochter einer Patientin

6.6 Begleitung der Angehörigen nach Eintritt des Todes

6.7 Der letzte Weg in den eigenen vier Wänden – Gespräch mit Herrn D.

6.8 »Das Hospiz hat uns wieder zusammengebracht« – Gespräch mit Frau St.

7 Gute Sterbebegleitung – was macht sie aus?

7.1 Die Bedeutung von Kommunikation und Beziehung

7.2 Gespräch auf der Intensivstation

7.3 Die Sorge etwas falsch zu machen

7.4 Kommunikation kann man lernen

7.5 Voraussetzung für eine personenzentrierte Gesprächsführung

7.6 Die personenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers

7.7 Abgrenzung ist wichtig

7.8 Selbstfürsorge und Stressprophylaxe

7.9 Wesentliche Erkenntnisse für Angehörige, Pflegende, Ärzte, Mitarbeiter in Hospizen oder ambulanten Hospizdiensten

Literatur

Der Autor

Dr. rer. medic. Dr. theol. Werner Schweidtmann ist Medizinwissenschaftler und Psychoonkologe und arbeitet schwerpunktmäßig in der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen und ihrer Angehörigen im Krankenhaus und in seiner Praxis für Medizinische Psychologie im Fachartzentrum am Ev. Krankenhaus Lippstadt.Weitere Informationen finden Sie auf der Website:https://schweidtmann.de

Werner Schweidtmann

Sterben – das Schwierigeim Leben

Hilfen und Hinweise für die Begleitung am Lebensende

Verlag W. Kohlhammer

Für meine Tochter Constanze

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041797-7

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041798-4epub: ISBN 978-3-17-041799-1

Einführung

Sterben ist das Schwierige im Leben

Sterben ist das Schwierige im Leben – wie wahr!

Wie damit umgehen – vor allem dann, wenn es ernst wird mit dieser »Wahrheit«, wenn sie mir näherkommt – möglicherweise buchstäblich auf den Leib rückt? Das Ende gehört zum Leben, wie das Geborenwerden am Anfang. Der ist üblicherweise begleitet von freudiger Erwartung, verbunden mit Glücksgefühlen und Begeisterung über einen neuen Erdenbürger.

Ganz anders unsere Wahrnehmung zum Lebensende, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Warum ist das so? Sterben ist das Schwierige, oder sollte man sagen, das Schwierigste im Leben? Und das gilt für beide Seiten: Für die, die als Familie, als Verwandte und Freunde diesen Prozess des Verabschiedens von außen, aber eben doch hautnah erleben, ebenso wie für diejenigen, die es als Person zutiefst persönlich trifft.

»Was meinen Sie, muss ich sterben? Wie lange habe ich noch? Meinen Sie, dass ich wieder gesund werden kann?«

Für alle, die mit Sterbenden zu tun haben – egal ob als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter in einem Krankenhaus, Altenheim, in Hospizen oder ambulanten Hospizdiensten, ob als Angehörige oder Freunde1 –, wird diese Frage früher oder später zu einer Herausforderung, nicht selten auch zu einem Albtraum. Immer wieder wurde ich gefragt, in der Klinik und bei vielen Fortbildungsveranstaltungen: »Was soll ich sagen, wenn ...?« In dieser Frage bündelt sich das ganze Ausmaß an Verunsicherung, wie heute mit Sterben und Tod umzugehen sei.

Warum trifft uns eine solche Diagnose auf beiden Seiten bis ins Mark, erschüttert uns zutiefst, wo wir doch alle »wissen«, zumindest vom Kopf her, dass wir sterblich sind – und nicht erst, wenn und seit eine solche Wahrheit in unser Leben eingebrochen ist. Wir sprechen von der tödlichsten Sicherheit – und realisieren doch selten wirklich, was wir da sagen: Dass es keine tödlichere Sicherheit gibt als die, dass wir irgendwann – früher oder später – diese Erde auch wieder verlassen werden.

Wenn es heißt, jeder solle seinen eigenen Tod sterben können und Sterben in Würde sei das Ziel aller Betreuung und Begleitung, so ist das zwar ein hehres Ziel; wie sich das aber in den Niederungen des Alltags realisieren lässt, wie eine passgenaue, auf diesen speziellen Menschen zugeschnittene Begleitung aussehen kann, das bleibt häufig wenig ausdifferenziert. Zugespitzt und möglicherweise etwas holzschnittartig formuliert könnte das bedeuten: Händchenhalten allein reicht in einer qualifizierten Sterbebegleitung nicht aus. Gut gemeint heißt noch lange nicht: Gut gemacht! Was passiert, wenn mitunter von einem Tag auf den anderen nicht nur ein ganzes Leben, sondern auch das innerste Erleben auf den Kopf gestellt wird? Ein Patient hat es mir gegenüber einmal so formuliert: »Gestern hatte ich Gastritis, heute habe ich ein Gallengangskarzinom mit Lebermetastasen.« Wie wird das verarbeitet, wie kann ein solcher Schock bewältigt werden?

Als Hilfe von außen braucht es dazu einerseits eine gute Wahrnehmung für das Gegenüber und gleichzeitig eine professionelle Haltung im besten Sinne des Wortes. Ich kann nie von vornherein wissen, wie mein Gegenüber »tickt«, in welchem Stadium zwischen Offenheit und Widerstand dieser Mensch sich gerade befindet, ob und wie er im Hinblick auf die Akzeptanz seiner »Wahrheit« unterwegs ist, ob eher ein Schritt vor oder zurück dran ist, wieviel »Verdrängung« notwendig, wieviel Offenheit möglich ist.

Immer noch ist Begleitung in schwerer Krankheit und im Sterben primär auf ein medizinisches Behandlungskonzept ausgerichtet, selbst dann, wenn es einem palliativen Ansatz folgt im Sinne von Schmerztherapie und Symptomkontrolle. Das Sterben eines Menschen umfasst aber deutlich mehr: Es ist das Herauslösen aus »seiner Welt«, die für ihn Bedeutung gehabt hat, woran sein oder ihr Herz hängt im Sinne dessen, was emotional bedeutsam war und innerlich als bedeutsam erlebt wird. In diesem Sinne ist Sterbe-Begleitung auch Begleitung durch die verschiedenen Stadien des Bewusstseins und der Emotionen, die dabei erlebt und verarbeitet werden müssen: Die Trauer und der Seelenschmerz genauso wie das Aufbegehren, der Widerstand und der Ärger über das Unabänderliche. Das heißt: Loslassen, Abschied nehmen in vielen Dimensionen, und letztendlich realisieren, was nie mehr sein wird ...

Das gilt für alles, was das Leben ausgemacht hat, vor allem natürlich für die Personen, die den Sterbenden innerlich nahestehen. Dieser innere Weg, dieses emotional prozesshafte Geschehen, dieses Herauslösen aus »meiner Welt«, wie sie mir vertraut war, das alles braucht »Raum«, Zeit, Verständnis und Begleitung.

Eine in diesem Sinne ganzheitliche Behandlung folgt einem bio-psycho-sozialen Verständnis, bleibt in der Versorgungsrealität jedoch oftmals eine leere Versprechung, auch wenn häufig genug von einem würdigen Sterben als Postulat gesprochen wird. An genau diesem Defizit möchte dieses Buch ansetzen und möglichst konkrete Hinweise dazu geben, wie Begleitung von »außen« zum Sterben in Würde beitragen kann.

Ich selbst kenne diese Problematik nur allzu gut, weil ich über mehrere Jahrzehnte Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet habe. Häufig war ich selbst ratlos und »am Ende«. Oftmals war ich aber auch der, der von ihnen an die Hand genommen wurde, mitgenommen bis an die äußerste Grenze des Lebens. Ich habe sehen und erleben dürfen, wie Menschen das machen: Sterben, wie sie es für sich gestalten. Sterbende haben mich teilnehmen lassen, was sie erleben, was sie beschäftigt: An ihren Ängsten, an ihren Sehnsüchten, jedoch auch an ihrer Verzweiflung, ihrem Zerfall und ihrer Hinfälligkeit. Oft war das ein erschütterndes, aber ebenso oft auch ein tröstliches Erleben, besonders dann, wenn Verständigung darüber möglich war, wenn wir uns von Mensch zu Mensch begegnen konnten. Dadurch habe ich lernen können, mit meinen eigenen Ängsten vor dieser Realität umzugehen – zu begreifen, dass Sterben ein Teil des Lebens ist und dass Sterben ein sehr lebendiges Geschehen sein kann. Was das konkret und existenziell bedeutet, möchte ich an der Erfahrung eines Sterbeverlaufes deutlich machen.

Ein Mensch stirbt

Begonnen hatte alles bereits vor sechs Jahren. Er war damals 50 Jahre alt. Wie aus heiterem Himmel kamen die Beschwerden, wie aus heiterem Himmel kam auch die Diagnose: Hypernephrom – bösartiger Nierentumor. Sie wissen, wie das dann geht: Er musste operiert werden – Nachbehandlung – Bestrahlung ... Eine Niere wurde entnommen, aber der Schock saß und blieb. Die Angst hatte sich eingenistet in seinem Innern, festgefressen tief im Inneren seines Bewusstseins. Er wurde sie nie wieder los – bis zum Ende nicht –, sie wurde ihm zum ständigen Begleiter. Besonders zu den halbjährlichen Nachuntersuchungen wurde sie immer wieder hochgeschwemmt. Die Familie erzählte, dass man es schon zwei Wochen vorher merken konnte. Innere Unruhe und Schlaflosigkeit waren die äußeren Symptome dieses inneren Leidens, das Angst hieß – Angst, dass sich doch wieder etwas zeigen könnte. Und gerade in dem Moment, in dem alles gut überstanden schien, nach vier Jahren nämlich, wurde die schlimme Befürchtung zur Gewissheit: Auch die andere Niere ist befallen – auch sie muss zur Hälfte heraus.

Wieder die ganze Prozedur der Nachbehandlung! Aber kaum, dass ein Jahr überstanden ist, zeigen sich Lungenmetastasen. Ich glaube, die innere Panik ist kaum zu benennen und kaum zu beschreiben, die einen vitalen, zupackenden, agilen Mann in den besten Jahren ergreift, wenn er mit einer solchen Wahrheit konfrontiert wird. Die Abgründe der schlaflosen Nächte sind für den kaum nachzuvollziehen, der solches nie erlebt hat. In der Lungenfachklinik in der nordrhein-westfälischen Stadt Hemer wird ein Lungenlappen entfernt. Wider alle Erwartungen erholt er sich schnell und ist bald wieder auf den Beinen. Aber als sei dieser Leidensweg noch nicht ausgeprägt genug – es treten bohrende Kopfschmerzen auf und das, was niemand zu denken wagt, tritt ein. Das CT bringt es an den Tag: Metastasierung im Gehirn. In diesem Stadium erlebe ich ihn zum ersten Mal, als er zur Bestrahlung kommt. Ein wenig geschwächt ist er schon, irgendwie gezeichnet durch den bisherigen Leidensweg, aber er ist doch sehr noch der Alte: Dieser Hüne von Mann, mit breiten Schultern, in seiner freundlichen, entgegenkommenden Art, den warmherzigen Augen ... Er ist mir auf den ersten Blick sympathisch!

Gleich bei der ersten Begegnung bittet er mich um ein persönliches Gespräch. Es wird zu einer regelrechten Lebensbilanz. Er erzählt von dem, was er erreicht hat in seiner wissenschaftlichen Laufbahn, worauf er stolz ist als Professor und was ihm wichtig ist, wofür er gelebt hat, woran sein Herz hängt. Aber er lässt selbstkritisch auch die Stellen nicht aus, wo er meint, gekniffen zu haben, wo er sich ein deutlicheres Wort von sich selbst gewünscht hätte. Eingehend spricht er auch über seine Familie. Er breitet sein Leben wie eine Panoramakarte vor mir aus, durchschreitet noch einmal die Tiefen und die Höhepunkte – verweilt an einzelnen Stellen –, schaut einzelne Menschen noch einmal an. Er ist hochkonzentriert und gleichzeitig tief berührt von dem, was da an gelebtem und ungelebtem Leben an ihm vorüberzieht – und ich bin es auch. Es ist, als wenn er am Ende mit einem tiefen Seufzer sagen möchte: Dies war – dies ist mein Leben.

Und mich brauchte er dabei offenbar als den gleichzeitig emotional engagierten und doch auch außenstehenden Begleiter, der mit ihm sein Leben noch einmal anschaute, durchging und nacherlebte. Und er brauchte mich als den Therapeuten, denn dies war gleichzeitig eine Bilanz seines Lebens, die er mit jemandem teilen wollte.

Einige wenige Szenen mögen das innere Erleben dieses wochen- und monatelangen Sterbens beleuchten:

1. Eines Tages, als er für einige Zeit nach Hause entlassen ist, sitzt er morgens mit seiner Familie beim Kaffee. Er will die Kaffeetasse in die Hand nehmen, aber er kann sie nicht mehr halten. Er versucht es ein zweites Mal, er lässt sich nicht kleinkriegen. Er probiert es ein drittes Mal, aber es geht einfach nicht. Dann haut er die Tasse wütend auf die Untertasse und will angesichts dieses kränkenden Erlebens ernsthaft in den Hungerstreik treten. Und er erlebt bei sich: Die Zeitspannen, in denen er sich konzentrieren kann, werden immer geringer. Zuletzt arbeitet er viertelstundenweise mit vielstündigen Pausen dazwischen. Aber er will die Arbeit zu Ende führen, mit eiserner Energie – als käme alles andere einer Kapitulation gleich. Und dann geht auch das nicht mehr – er kann nicht mehr lesen. Dieser intellektuelle Mann, der sich ein ganzes Leben lang mit »seinen« Büchern beschäftigt hat, kann plötzlich nicht mehr lesen!

2. Er wird von anfallsartigen Krämpfen heimgesucht, die ihn völlig überraschend treffen – am Tage oder auch nachts im Schlaf. Wie von einem furchtbaren Dämon wird er hin- und her geschüttelt, bis er dann in eine tiefe Ohnmacht fällt. Und immer lassen ihn diese Anfälle mit größerer Angst zurück, dass sie sich jeden Augenblick wiederholen könnten. Er verfällt immer mehr, schwankend zwischen tiefer, abgrundtiefer Verzweiflung und immer neuer Hoffnung, dass die Therapie vielleicht doch irgendwann anschlägt und Erfolge zeigt – dass der unaufhaltsame Prozess des Zerfalls gebremst oder sogar aufgehalten werden könnte. Es ist eine Hoffnung, die sich nicht bestätigt.

Mir wurde es manchmal schwer, ihn zu besuchen. Ich spürte meinen Widerstand, diesem unaufhaltsamen Sterben zuzusehen. Die Sympathie, die uns verband, machte es mir schwer, tatenlos zuzuschauen, mitzuerleben – und sie half mir auch gleichzeitig, wenn die Schwelle wieder einmal überwunden war, wenn ich mir ein Herz gefasst hatte und einfach hingegangen war, da zu sein – ihm zu zeigen: Sie sind für mich nicht abgeschrieben, kein hoffnungsloser Fall, sondern ein Mensch, der versucht, die letzte, schlimme Strecke seines Lebens zu bewältigen – äußerlich, und besonders auch innerlich.

Als dann morgens der Anruf kommt, es gehe merklich schlechter, da hatte er schon einige Tage bewusstlos dagelegen – ein Bild des Jammers. Aber ich sah doch nicht nur das bevorstehende Sterben in seinem hinfälligen, ausgezehrten Körper, sondern auch das behütete Leben. Es ist, als wenn die Liebe und Barmherzigkeit, die er zu geben fähig gewesen war, gerade in dieser Schwachheit zu ihm zurückfließen – von seiner Frau und seinen Kindern, die Tag und Nacht um ihn sind, und ebenso vom Pflegepersonal. Und so behütet stirbt er auch. Als ich ihm die Hand halte, da tut er ruhig und wie selbstverständlich seinen letzten Atemzug. Und lässt uns alle tief bewegt und betroffen und zugleich friedlich und getröstet zurück. Im Tod findet er doch noch jenen Frieden, um den er die ganzen Jahre gerungen und gekämpft hatte.

Was ich von Sterbenden lernen kann

Wieder einmal spüre ich, wie wenig ich mich innerlich heraushalten kann, wenn ich dem Sterben anderer Menschen begegne. Es ist, als berührten sie mit ihrem Sterben auch mein eigenes Leben, meine Befindlichkeit als Mensch.

1. Sie konfrontieren mich mit meiner eigenen Sterblichkeit, mit meiner eigenen Endlichkeit. Ich erlebe an ihnen, dass auch ich nicht unendlich Zeit habe für mein Leben, dass ich nicht leben kann unter dem Vorzeichen: In hundert Jahren sind wir alle tot, wir alle, nur ich nicht! Sie zwingen mich zu der Wahrheit, die ich in ihrem Sterben erlebe und die auch mein Leben prägt: Mein Leben ist begrenzt und gerade durch die Begrenzung wird das wichtig, was geschieht, was jetzt ist. Ich kenne die Gefahr, in meiner Vorstellung, in meiner Fantasie das Eigentliche in die Zukunft zu verlegen. Das Wesentliche kommt noch – die Gefahr, auf bessere Zeiten zu warten und zu hoffen. Das ist trügerisch! »Wenn erst mal die Kinder groß sind, wenn ich das Examen bestanden habe, wenn ich erst mal diesen Posten erreicht habe, dann ...«

Ich erlebe es tragisch in den Aussagen von Angehörigen: »Das ganze Leben haben wir uns nichts gegönnt, wir haben nichts gekannt als Arbeiten und Schaffen und wollten uns einen schönen Lebensabend machen – und jetzt?« Ja, jetzt ist alles zunichte! Ich kann nicht mein Leben auf die Zukunft verschieben, irgendwann demnächst. Dies ist mein Leben, hier und jetzt! So wie es auf einer Sonnenuhr zu lesen ist: »Vielleicht gibt es bessere Zeiten, doch dies ist unsere!«

Diese Wahrheit habe ich mühsam und schmerzlich und gegen viele Widerstände in mir von den Sterbenden gelernt. Sie wirft ein kritisches Licht auf all das, was an unerledigten Geschäften vor mir liegt – was ich an Entscheidungen vor mir herschiebe. Daran wird so deutlich, wie kostbar, wie einmalig jeder Augenblick ist – auch der jetzt. Wir könnten uns noch viele Male treffen am gleichen Ort, in der gleichen Zusammensetzung, und doch wäre es nie wie jetzt. Auch dieser Augenblick ist einmalig!

2. Das Miterleben von Sterben macht mir deutlich, wie sehr ich auch im Sterben der bin, der ich im Leben war: Im Sterben spiegelt sich das Leben, oft wie unter einem Brennglas gebündelt. Was ich mir im Leben nicht erworben habe, das steht mir auch im Sterben nicht zur Verfügung. Wenn Eheleute zum Beispiel nicht gelernt haben, sich gegenseitig nahe zu sein, Gefühle zu leben und zuzulassen, auch die negativen und die quälenden, wenn sie immer versucht haben, sich gegenseitig etwas vorzuspielen und den anderen zu schonen, wie sollen dann im Sterben, in dieser dramatischen Situation, plötzlich andere Haltungen zur Hand sein? Wie kann dann eine Offenheit da sein, die nie gewachsen ist, eine Nähe entstehen, die auch die schmerzlichen Seiten des Lebens nicht ausspart, sondern zu integrieren fähig ist – also letztlich die einzige Nähe, die dann wirklich tragen kann?

3. Eigentlich geschieht »Sterben« immer wieder mitten im Leben. Wir spüren es, wenn wir Geburtstag, besonders einen runden Geburtstag feiern. Wenn plötzlich eine andere Zahl vor der Null erscheint, wird uns bewusst: Auch mein Leben schreitet voran, auch ich lebe nicht endlos, auch meine Uhr tickt. Die bereits gelebte Zeit kommt nie wieder, ist Geschichte, in nichts wiederholbar. Dieses Jahr ist endgültig und ein für alle Mal vorbei!

Auch das ist Erleben von Endgültigkeit, von Endlichkeit. Auch das hat etwas von »Sterben« im Kleinen. Selbst wenn wir es nicht allzu bewusst wahrnehmen oder wahrnehmen wollen. Das geschieht immer wieder, wenn Lebensabschnitte zu Ende gehen oder auch Beziehungen. Es sind die kleineren Herausforderungen im Erleben von Endlichkeit, bevor der große Abschied auf uns wartet.

4. Zudem wird mir wieder einmal deutlich, wie wenig Sterben nur ein zu Ende gehen von Organfunktionen ist. Das ist natürlich zunächst grundlegend: Die Nieren arbeiten nicht mehr gut, das Herz macht Probleme ... Diesem Ausschnitt von zu Ende gehendem Leben wenden wir unendlich viel Aufmerksamkeit zu – aber dem anderen Bereich, dem damit einhergehenden Erleben von Menschen und der notwendigen Begleitung durch die letzte Lebensphase, stehen wir meist ausgesprochen hilflos gegenüber. Und doch wird das Sterben ja nicht selten zu der großen Lebenskrise, die allein zu bewältigen kaum jemand in der Lage ist.

Denn Sterben ist, um es noch einmal deutlich zu sagen, nicht nur das zu Ende gehen von Organfunktionen, sondern der Zusammenbruch meiner Welt, meiner Welt von Bezügen und Beziehungen, die mich ausgemacht, die mich getragen, die mir Halt und Stabilität gegeben haben. Das bin ich – daraus habe ich Lebenskraft und Sinn bezogen – das ist meine Identität: Was ich für Andere bin, was ich kann, was ich darstelle.

In dem Beispiel, von dem ich eben berichtet habe, ist dies so deutlich: Nach und nach ging ihm alles, was ihn ausmachte, verloren – wurde das, was er war und konnte, brüchig: Der langsame, unaufhaltsame Zusammenbruch seiner Welt. Alles, was er aufgebaut hatte, äußerlich und auch innerlich an Wissen, an Beziehungen zu Menschen, zu Dingen, zu Ideen und Theorien, alles, woran sein Herz hing, wohinein er Kraft und Energie gesteckt hatte, das musste er loslassen und immer mehr zurücknehmen. Oder wenn ein Paar zwanzig, dreißig oder mehr Jahre verheiratet ist. Was ist da entstanden an Beziehung und Bindung – wieviel Kraft ist da hineingeflossen? Wie sehr kann einen Menschen das niederwerfen und aus dem Gleis bringen, wenn er sich daraus wieder lösen muss!

Von daher ist das Wort wohl sehr berechtigt, mit dem die Psychologen dieses Phänomen belegen: »Trauerarbeit« sagen sie, und es ist vielleicht das härteste Stück Arbeit, das überhaupt auf uns zukommt. Genau am Anfang dieses Weges sammeln sich die Ängste. Die Angst, wenn ich das nicht mehr kann oder nicht mehr habe, dann bin ich nichts mehr, dann zähle ich nicht mehr, dann gehöre ich nicht mehr dazu und werde abgeschrieben. Ein Leben lang habe ich darum gekämpft, nicht tot zu sein: Nicht im sozialen, nicht im seelischen, nicht im körperlichen Sinn. Und nun fürchte ich: Genau das kommt auf mich zu! Ist es nicht normal und verständlich, dass ich mich dagegen wehre, dass ich Angst habe, dass ich abblocke?

Das Sterben anderer berührt mein Leben

Ich habe im Laufe der Jahre gelernt: Es ist das Wichtigste in der Begleitung kranker und sterbender Menschen, zunächst das zu akzeptieren, was ist. Und dazu gehört auch die Angst und das Vermeidungsverhalten. Es gibt in jedem ein empfindliches seelisches Gleichgewicht – das hat im Leben dieses Menschen seinen Grund. Ich habe nicht das Recht, ein vielleicht lebenslang eingeübtes subtiles Vermeidungsverhalten in der letzten Lebensphase zu verändern oder zu durchbrechen. Viel wichtiger ist es herauszufinden, was diesem Menschen möglich ist und was auch nicht: Noch anzugehen, noch zu verarbeiten, noch auszusprechen. Alles andere würde mich und die Beteiligten hoffnungslos überfordern. Ich möchte den Anderen so nehmen, wie er/sie jetzt ist – so wie auch ich angenommen sein möchte – und das heißt eben auch mit meinem Schutzbedürfnis und mit meinem Vermeidungsverhalten (Kakari 2020).

Das hört sich so leicht und spielerisch an und ist doch so schwer zu realisieren. Wir meinen immer, wir müssten etwas tun, etwas machen – und haben so wenig Vertrauen, dass es schon viel ist, einfach da zu sein. Darin kann schon unendlich viel an Verwandlung geschehen, wenn wir dabeibleiben, wenn wir mit aushalten und einfach akzeptieren: Die offenen und die verborgenen Gefühle, den Widerstand gegen die neue Herausforderung.

Es ist immer wieder die Angst, das, was ist, kann ich nicht ertragen, das bringt mich um. Wenn ich das an mich heranlasse, was ist, dann würde ich das nicht durchstehen können, dann würde ich mich selbst aufgeben, eben innerlich sterben, bevor ich es äußerlich tue. Im Vorhinein meine ich, das ist das Ende – im Verlauf spüre ich: Nicht ich bin gestorben, sondern nur dieser Teil in mir, der nicht leben wollte oder konnte mit dem, was jetzt die Wirklichkeit und die Wahrheit meines Lebens ist.

Zum Aufbau des Buches

Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen und einem kurzen historischen Rückblick auf den Umgang früherer Generationen mit diesem Thema möchte ich im 2. Kapitel zunächst betroffene Menschen zu Wort kommen lassen. Sie sind es, an denen wir uns zu orientieren haben. Wo sie äußerlich und medizinisch, vor allem auch innerlich und gefühlsmäßig stehen, ist die Grundlage jeder realistischen Intervention. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass wir zu wissen glauben, was der Andere braucht oder was für ihn hilfreich ist. Genau deshalb reicht persönlich gut gemeintes Engagement nicht aus. Genau deshalb braucht es Ausbildung, Schulung, Supervision. Denn für diese sehr spezielle Form der sensiblen Kommunikation gilt nicht: Man hat sie oder man hat sie nicht. Man kann, ja man muss sie lernen. Das ist u. a. eine der Voraussetzungen jeder angemessen, hilfreichen Intervention bei der Problematik, um die es im 3. Kapitel geht: Die Annäherung an beziehungsweise die Bewältigung der »Wahrheit«.

Wissen und Hilfestellungen für angemessenes Reagieren auf die jeweilige individuelle Persönlichkeit, auf ihre biographischen Wurzeln und lebensgeschichtlichen Prägungen wollen die nächsten Kapitel beisteuern, in denen es um die Erkenntnisse der Bewältigungsforschung geht und um Hinweise aus der Persönlichkeitspsychologie.

Kapitel 6 beschäftigt sich mit den Angehörigen, von denen Seminarteilnehmer immer wieder berichten, der Umgang mit ihnen gestalte sich oft schwieriger als mit den Patienten oder Bewohnern selbst.

Das letzte Kapitel 7 befasst sich damit, was Menschen in ihrer letzten Lebensphase brauchen und wie wir für sie als Außenstehende, als »Professionelle« hilfreich sein können im besten Sinne des Wortes: Im direkten. Kontakt, in unserem Verhalten.

In diesem Sinne möchte ich einen Beitrag dazu leisten, den Umgang mit Menschen am Lebensende zugewandter, angstfreier und gelassener zu gestalten.

Endnoten

1Der besseren Lesbarkeit wegen wird hier wie im Folgenden in der Regel, wenn Personengruppen benannt werden, die grammatikalische Form des generischen Maskulinums verwendet. Sie schließt alle Geschlechterformen mit ein. Ist bspw. von »Freunden« oder »Ärzten« die Rede, ist stets ein »(m/w/d)« mitzudenken.

1 Das Ende – eine kritische Anfrage an uns alle

1.1 Sterben – eine persönliche Herausforderung

Wir Menschen sind die einzige Spezies auf dieser Welt, die mit der Bewusstheit über das tot-sichere Ende der eigenen Existenz leben müssen. »Dabei ist der Tod im Leben der Lebenden die vielleicht größte Herausforderung« (Thieme 2016, S. 11). Wie damit leben, wie damit umgehen – vor allem, wenn es ernst wird mit dieser »Wahrheit«, wenn sie mir immer näher kommt? Und das gilt für beide Seiten: Einerseits die direkt und ganz persönlich betroffenen Menschen am Lebensende, andererseits die vielen, die von außen »betroffen« sind im doppelten Sinne dieses Wortes, weil ein vielleicht über Jahrzehnte liebgewordener Mensch droht, aus dem Leben zu gehen.

Wir müssen lassen, los-lassen auf beiden Seiten. Als solches bezeichne ich den inneren Weg der Annäherung an diese Wahrheit, die uns das Leben schwermacht, es aus den Angeln hebt und uns in so heftige innere emotionale Turbulenzen versetzt. Es scheint, als würde uns der Boden unter den Füßen weggezogen.

Infobox: Definition Sterben

·

Zuendegehen der Organfunktion

·

Zusammenbruch meiner vertrauten Welt

-

von Bezügen

-

von Beziehungen

-

von Identität

Je enger die emotionale Bindung ist oder war, desto heftiger ist dieser Weg des Abschiednehmens, des Hergebens eines für mich bedeutsamen Menschen. Insofern ist Sterben eben nicht nur eine letzte Phase des gelebten Lebens, sondern ein ungeheuer dichter, intensiver Weg des Abschiednehmens und des Loslassens. Das können äußere Dinge sein, die mir lieb und teuer (gewesen) sind – jedenfalls dann, wenn es sich um einen längeren Weg handelt bis zum Tod und nicht so sehr um ein plötzliches Sterben durch Unfall oder Sekundenherztod. In diesem Sinne bedeutet Sterben nicht nur das zu Ende gehen von Organfunktionen im rein medizinischen Sinn – das sicher auch, wenn etwa aufgrund einer onkologischen Erkrankung ein Weiterleben nicht mehr möglich ist. Sterben bedeutet drüber hinaus den Zusammenbruch meiner eigenen Welt mit all seinen Bezügen, den »Rollen«, die ich im Leben gespielt habe, den persönlich bedeutsamen Beziehungen und damit der eigenen Identität. Das betrifft alles, was ich mir an Wissen, Kompetenzen und Status erworben und häufig durch viel persönlichen Einsatz aufgebaut habe. Wer ich war, beruflich wie persönlich, all das muss ich lassen.

Deshalb gibt es bei vielen sterbenden Menschen noch einmal diesen Blick zurück, den wir häufig als »Lebensbilanz« bezeichnen. Noch einmal das eigene Leben durchschreiten, anschauen und bewerten, mit einem Blick von oben: Was war mir bedeutsam, was ist mir gelungen und was weniger, was habe ich geleistet, worauf bin ich stolz? Eine ältere Dame hat mir gegenüber das einmal so ausgedrückt: »Ich habe fünf Kinder und alle sind sie was geworden!« Das ist ihre Lebensleistung, das hat ihrem Leben Sinn gegeben und weil sie alle »etwas geworden sind«, auf einem guten Weg sind. Deshalb kann sie zufrieden auf ihr gelebtes Leben zurückschauen und sich innerlich ausgesöhnt dem Sterben überlassen. Sie kann sich in Ruhe verabschieden, auch wenn sie so gerne noch erlebt hätte, wie sich ihre Urenkel entwickeln.

Infobox: Emotionales Erleben

·

Abschied von allem, woran mein Herz hängt

·

Trauer ist der Preis für Beziehung und Liebe

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Trauern ist der Prozess des inneren Loslassens

Dieser innere Prozess, den wir mit dem Wort Trauer bezeichnen, beschreibt genau diese Ambivalenz: Einerseits stehe ich noch mitten im Leben mit allem, was für mich in meinem Leben emotionale Bedeutung hatte. Andererseits beginne ich zunehmend zu realisieren, dass genau das im Sterben zu Ende geht, zu einem hoffentlich guten und ausgesöhnten Ende kommt. Dass sich eine solche grundlegende Wende des Bewusstseins und der emotionalen Ausrichtung nicht auf Knopfdruck herbeiführen lässt, dürfte mehr als nachvollziehbar sein. Dieser Prozess wird häufig subsumiert unter dem Begriff eines »guten Sterbens« oder auch eines »eigenen Sterbens«, das zu dieser spezifischen Person und ihrer Lebensgeschichte passt.

Was aber bedeutet wirklich, gut zu sterben?

Schon den österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) beschäftigte Anfang des 20. Jahrhunderts diese Frage, der er mit folgender »Definition« und dem darin enthaltenen Wunsch Ausdruck verleiht:

O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod.Das Sterben, das aus jenem Leben geht,darin er Liebe hatte, Sinn und Not.(Rilke 1966, S. 713)

Ihn bewegte ganz offenbar die damals geläufige Praxis, dass mehr oder weniger anonym in großen »Gesundheitsfabriken«, wenig betreut und behütet und nicht selten in abgetrennten, isolierten Kammern oder großen Krankensälen, massenhaft gestorben wurde. Deshalb der Wunsch nach dem »eigenen« Tod, der persönlich sein sollte, dieser einmaligen Persönlichkeit angemessen und das möglichst nach einem erfüllten Leben, das neben der häufig anzutreffenden Not auch sinnstiftende Elemente hatte und vor allem eingebettet war in liebevolle, tragfähige Beziehungen. Es geht ihm offenbar um ein Sterben, in dem die Lebensgeschichte dieser unverwechselbaren Person zu einem guten und versöhnlichen Abschluss kommt.

Damit hat Rilke zentrale Aspekte eines »guten Sterbens« benannt. Es geht darum, dass im Sterben das Leben noch einmal gewürdigt wird, Lebenskontext und individuelle Lebensgeschichte Berücksichtigung finden und es zu einer inneren Akzeptanz dessen kommt, was unausweichlich geworden ist, dass es kein Zurück ins Leben mehr geben wird.

Aus einer ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Sichtweise ergeben sich unterschiedliche Schwerpunkte und Sichtweisen auf den Sterbeprozess. Ich will versuchen, sie kurz einzeln zu beleuchten, um sie dann in einem Gesamtbild zu integrieren.

1.2 Ein integrativer Ansatz

Biologisch-medizinisch gesehen stehen primär im Fokus die Fragen, die sich mit dem physischen Sterben beschäftigen und dem Tod des Körpers. Dabei existieren durchaus unterschiedliche Definitionen, je nachdem, ob es sich z. B. um ein plötzliches Geschehen handelt (Unfall/Sekundenherztod), wobei ein Sterbeprozess komplett fehlt und der primär den Zustand der Agonie beschreibt (Draguhn 2012) oder um eine gelebte oder erlebte letzte Phase des Lebens, wie ihn die Bundesärztekammer im Rahmen ihrer Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung beschreibt (Bundesärztekammer 2011). Sie benennt einen Sterbenden als »Kranken oder Verletzten mit irreversiblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen, bei dem der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist.« Das sollte dann allerdings auch Konsequenzen haben für den Umgang und die Behandlung, wie sie hier im Folgenden beschrieben werden.

Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2011):

1.

Es gibt Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik- und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sind.

2.

Art und Ausmaß der Behandlung sind vom Arzt zu verantworten, er muss dabei den Willen des Patienten achten und sollte in seiner Entscheidungsfindung mit ärztlichen und pflegerischen Mitarbeitern einen Konsens finden.

3.

Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien in die Länge gezogen werden.

4.

Bei Sterbenden kann die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen, dass eine möglicherweise dadurch bedingte Lebensverkürzung hingenommen werden muss.

5.

Die Unterrichtung des Sterbenden über seinen Zustand und mögliche Maßnahmen muss wahrheitsgemäß sein.

6.

Der Arzt soll Angehörige und andere nahestehende Personen informieren, soweit dies nicht dem Willen des Patienten widerspricht.

7.

Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Kenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit versterben werden, ist eine Änderung des Behandlungsziels geboten, wenn lebensverlängernde Maßnahmen Leiden nur verlängern oder die Änderung des Behandlungsziels dem Willen des Patienten entspricht. An diese Stelle tritt dann die palliativmedizinische Versorgung.

Auf eine zeitliche Dauer dieses Prozesses legt sich diese Definition bewusst nicht fest. Denn es ist durchaus umstritten, inwieweit ein Sterbender der Mensch ist, der umgangssprachlich ausgedrückt unmittelbar »im Sterben liegt« (terminale Phase). Andererseits gelten häufig auch die Patienten als sterbend, die eine irreversibel zum Tode führende Krankheit diagnostiziert bekommen, die sich nicht selten über Monate oder jedenfalls einen längeren Zeitraum hinziehen kann.

Gemeinsam ist diesen Sichtweisen die primär rein medizinisch-naturwissenschaftliche Zuschreibung, wobei offen bleibt, ob der Schwerpunkt der Behandlung jeweils primär kurativ oder palliativ geführt wird.

Mir dagegen ist wichtig, dass wir in der Sterbebegleitung von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehen. Das sollte zunehmend Bedeutung haben für die Medizin als Ganze und besonders in der Begleitung von Menschen mit einer terminalen Erkrankung Geltung haben. Hier spielt, noch mehr als sonst, die Krankheit in der ganzen Dimension ihres Erlebens, also auch in ihren psychischen und sozialen Aspekten eine entscheidende Rolle. Das geschieht immer dann, wenn die Bedrohung durch die Krankheit zunimmt, Emotionen sich mit Wucht Bahn brechen und die sozialen Kontakte noch einmal eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Gerade dann braucht es das Postulat eines ganzheitlichen Ansatzes für Behandlung und Begleitung.

»Wenn Sie als Arzt ganzheitlich denken, dann werden Sie nicht nur die ›biologische‹ Störung von Organen und Organfunktionen betrachten, sondern ihre Patienten als Kranke in einer bestimmten Verfassung mit ihrer persönlichen Geschichte und vor ihrem individuellen Lebenshintergrund sehen, der durch die Erkrankung Veränderungen und Gefahren ausgesetzt sein kann. Bio-psycho-sozial bedeutet, dass Sie sich [...] nicht darauf beschränken, [...] das Karzinom zu behandeln, sondern den kranken Menschen, der mit Hoffnungen und Erwartungen, Sorgen und Ängsten zu ihnen kommt und gleichsam seine ganze Biographie und seinen Lebenshintergrund mitbringt« (Egle et al. 2020, 43 f.; Ermann et al. 2006, S. 8).

Das beinhaltet eine Ergänzung des bio-medizinischen Pathogenese-Konzeptes um eine psychologische und eine soziologische Dimension.

Die psychologische Perspektive fragt danach, wie ein Mensch mit dem Wissen der Begrenztheit seiner Lebenszeit umgeht, wieviel Verdrängung notwendig, wieviel Offenheit möglich ist und nicht zuletzt, welche inneren Strategien er einsetzt, um mit diesem Wissen fertig zu werden (Coping). Die Form der Bewältigung, die jemand wählt, ist sehr spezifisch und im hohen Maße individuell, letztlich immer auch in der Lebensgeschichte und der Lebensanschauung dieses Menschen begründet (intrapsychische Faktoren bzw. Personen-Ebene). Deshalb gibt es aus psychologischer Sicht auch keine »Patentrezepte« für den Umgang. So individuell die Persönlichkeit, so spezifisch sollte auch die Begleitung gestaltet sein. Trotzdem gibt es inzwischen aus Forschung und Therapie Handlungsanleitungen, die hilfreich sein können für den Umgang und das Verhalten am Krankenbett. Dazu wird unter anderem in ▶ Kap. 4 und ▶ Kap. 5 ausführlich Stellung genommen.

Letztlich geht es immer wieder darum, wie diese letzte große Lebenskrise, die eben nicht nur biologisch-physiologische, sondern auch emotionale und bewusstseinsmäßige Aspekte beinhaltet, durch äußere Unterstützung besser bewältigt werden kann (Riedel 2017). In diesem Zusammenhang spielt ein psychologischer Gesichtspunkt eine entscheidende Rolle. Hoher emotionaler Stress entsteht für alle Beteiligten dadurch, dass jedes Sterben eine Kränkung darstellt gegenüber dem eigenen Anspruch, zu helfen oder das Leiden zu heilen. Das Sterben eines Menschen konfrontiert dagegen alle Beteiligten mit der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen. Wenn diese Ohnmachtserfahrungen nicht bewusst angenommen und verarbeitet werden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie zum inneren und/oder äußeren Rückzug führen.

Aus soziologischer Sichtweise kommen noch weitere Aspekte hinzu, denn Sterben und Tod sind nicht nur individuelle Vorgänge und Erlebnisweisen. Sie betreffen zutiefst auch die Gesellschaft als Ganze. Dabei geht es z. B. darum, an welchen Krankheiten Menschen sterben und wie alt sie im Durchschnitt werden. Wir erleben nach einer inzwischen relativ gesichert hohen Lebenserwartung, wie erschüttert die Gesellschaft auf den Tod eines Kindes oder eines jungen Erwachsenen reagiert.

Darin zeigen sich gesellschaftlich geprägte Muster, wie wir den Tod erleben und bewerten. All das folgt kulturell und damit gesellschaftlich geprägten Normen und Mustern. Und die haben sich im Laufe der Jahrhunderte deutlich verändert: Ob das Sterben massenhaft und immer wieder direkt im Rahmen des eigenen familiären Umfeldes stattfand oder wie heute üblich ausgegliedert wird in Institutionen wie Krankenhäuser, Alten-Pflegeheime oder Hospize. Dass es dadurch weitgehend dem direkten persönlichen Erleben entzogen wird, macht einen, für die Beziehung unserer Gesellschaft ausgerichteten, erheblichen Unterschied.

Das wiederum spiegelt sich u. a. auch wider im Umgang mit den Sterbenden und dem Tod – auch in den Formen, wie er aufgenommen und gestaltet wird, oder eben nicht.

»Entfremdet und tabuisiert ist der Tod da, wo er aus dem Blick geraten ist. Das ist in der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft oft der Fall, weil andere – das professionelle Gewerbe [...] und die kommunale Bürokratie – sich der Sterbenden und der Toten annehmen und den Tod für die Hinterbliebenen unsichtbar machen. Religiöse Erlösungsversprechungen sind entwertet, weil verzichtbar geworden« (Thieme 2019, S. 5).

Allein in dieser Schilderung wird deutlich, wie grundlegend gesellschaftliche Rahmenbedingungen sich gewandelt haben – u. a. auch durch die Wirkung der Philosophie der Aufklärung. Noch ein letzter, nicht weniger bedeutsamer Aspekt, der Aufmerksamkeit erweckt, sollte thematisiert werden: Die Rolle des Sterbenden.

Soziologisch beschreibt das Konzept der Sterberolle jene Zuschreibung, dass dieser Mensch nicht mehr zurückkehrt in den Kreis der Gesunden »und seine Mitmenschen deshalb keine gemeinsamen Anstrengungen unternehmen, damit er seine einstige soziale Rolle eines Tages wieder ausfüllen kann. Im Gegenteil zielen die Bemühungen darauf, den Sterbenden geordnet aus der Gesellschaft auszugliedern und die gemeinsame Wirklichkeit neu, nämlich ohne denjenigen, zu definieren« (Streeck 2020, S. 41).

Das Eintreten in die Rolle als Sterbender hängt keineswegs nur von der Umgebung ab (Krankenhauspersonal/Pflegende/Angehörige), sondern primär von den Patienten selbst, die mit sehr unterschiedlicher Offenheit mit dieser Beschreibung umgehen. Ich erlebe immer wieder Patienten, die mit unerschrockener Deutlichkeit ihren Zustand als »auf dem Weg heraus aus dieser Welt« beschreiben. Häufig besprechen sie mit ihren Angehörigen letzte wichtige Dinge und organisieren nicht selten ihre eigene Beerdigung. Andere dagegen tun sich schwer mit dieser Rolle und willigen erst dann in sie ein, wenn sie ihren körperlichen Abbauprozess wirklich nicht mehr verleugnen können. Wiederum andere verweigern sich dieser Rolle bis zuletzt (▶ Kap. 3). Die Betrachtung dieser drei Dimensionen von Sterben und Sterbenden legt nahe, dass nur ein integrativer, aber gleichwohl differenzierter Ansatz dieser sensiblen Wirklichkeit angemessen ist.

So ist die fachlich-medizinische Sichtweise wichtig, um das aktuelle Befinden des Patienten richtig einzuschätzen. Denn darauf beruhen u. a. psychologische Interventionen, die eine völlig falsche Richtung nehmen können, wenn Diagnose und Prognose nicht wichtige Basisinformationen liefern. Nur mit diesem »Wissen« kann man den Menschen angemessen begegnen und sie behutsam mit den eigenen »Realitäten« in Verbindung bringen.

Insgesamt gilt für alle drei Dimensionen gleichwohl, dass sie wichtige und hilfreiche Informationen liefern, damit die Patienten diesen mentalen und hochemotionalen inneren Weg hin zum Sterben begleitet gehen können. Aber wie kann eine solche Wende gelingen, was steht ihr im Weg, in welch unterschiedlicher Weise gestaltet sich dieser individuelle Prozess? Was braucht es an Begleitung und Hilfestellung, damit er gelingt? Was sollten die Angehörigen und alle Professionellen wissen über die unterschiedlichen Etappen bei den jeweils verschiedenen Persönlichkeiten, die diesen Weg gehen und gestalten? Wie und womit kann ich hilfreich sein und was blockiert eher diesen Prozess?

Genau auf diesen »mentalen und hochemotionalen inneren Weg« möchte ich im Folgenden den Schwerpunkt meiner Ausführungen legen: Was braucht es an Begleitung und Hilfestellung, damit er gelingt?

Es hat sich sehr vieles positiv entwickelt, seit die schweizerisch-amerikanische Psychiaterin und Sterbensforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926 – 2004) 1969 ihr erstes Buch veröffentlichte: »On Death and Dying«, das 1971 auch auf Deutsch erschien unter dem Titel »Interviews mit Sterbenden«. Es war der Auftakt zu einer ganzen Flut von Publikationen zum Thema, die sich in den letzten Jahren noch einmal deutlich intensiviert hat, vor dem Hintergrund persönlich erlebter Betroffenheit, unter dem Aspekt des Wissenszuwachses (Borasio 2017; Borasio 2020) sowie unter dem Vorzeichen ethischer Fragestellungen: Darf die Medizin, was sie kann? (Jox 2014; Maio 2014a; Maio 2014b; van Loenen 2015; Welsh et al. 2017; Putz und Gloor 2011).

Ich versuche in diesem Buch langjährige Erfahrung in der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden zu verknüpfen mit Erkenntnissen aus den Humanwissenschaften, der Copingforschung, auch wenn diese schon früher angesetzt hat, und der Persönlichkeitspsychologie. Mir scheint, hier klafft eine Lücke, in der ein Wissenstransfer noch nicht wirklich gelungen ist.

1.3 Sterben in früherer Zeit – Erkenntnisse der historischen Demographie

Zahlen sind nicht selten nüchtern und abstrakt. Oft können sie aber helfen, Wirklichkeiten zu erfassen und Entwicklungen angemessen einzuschätzen. Dazu verhelfen in unserem Fall demographische Daten zu den Themen »Sterblichkeit,« »Lebensdauer« und »durchschnittliche Lebenserwartung«. Besonders der Berliner Sozialhistoriker A. E. Imhof hat durch seine Forschungen auf dem Gebiet der historischen Demographie eine erstaunliche Fülle von Daten bereitgestellt (Imhof 1981). Eindrucksvoll hat er Einblick in das Alltagsleben früherer Generationen vermittelt, in die Bedrohungen, Herausforderungen und die Art und Weise, wie Menschen damals mit ihnen umgegangen sind (Imhof 1984). Aufschlussreich ist besonders die beachtliche Veränderung im Bereich der allgemeinen Lebenserwartung gegenüber früheren Jahrhunderten und die durch sie ausgelösten durchgreifenden Veränderungen für fast alle Bereiche unseres menschlichen Lebens.

Im Fall der Untersuchung von A. E. Imhof wurden die Kirchenbücher der Berliner Kirchengemeinde Dorotheenstadt mit Hilfe des Computers ausgewertet. Die Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass damals nicht mit einem relativ konstant zu erwartenden Lebensalter zu rechnen war. So ergibt die willkürlich herausgegriffene Seite 79 aus dem Sterbebuch des Jahres 1719 in ▶ Abb. 1.1, die zehn Verstorbene registriert, ein Durchschnittsalter von 25,67 Jahren. »Zehn Menschenleben, die insgesamt 256,75 Jahre auf Erden verbrachten. Heute schaffen das vier, wenn nicht schon drei Menschenleben!«(Imhof 1986, S. 299).

Abb. 1.1:Eine Seite aus einem Sterberegister der Evangelischen Kirchengemeinde Dorotheenstadt Berlin 1719 (Imhof 1986, S. 297 – 298)

Wie groß die physische Unsicherheit angesichts eines jederzeit möglichen Todes und wie anders die damit verbundenen Lebensverhältnisse gegenüber unserer Zeit waren, können wir uns heute kaum mehr vorstellen. Es ist ein großer Unterschied, ob wir heute ziemlich fest mit 75 oder über 80 Erdenjahren rechnen können oder ob – wie im Beispiel Berlin-Dorotheenstadt – der eine ein Jahr alt wurde, der andere 65, der dritte 5 und der vierte 32. »Mitten im Leben wir sind vom Tod umfangen« (ev. Kirchenlied) – damals ja, heute gefühlt eher nein!

»... Wir haben schon den Theologen und Kirchenlieddichter Paul Gerhardt erwähnt: Wenn man sich dessen Lebensgeschichte anschaut, 1607 bis 1676, hat man da einen Mann, der für die damalige Zeit spät heiratet, nämlich mit 48 Jahren. Das Paar bekommt fünf Kinder. Von diesen Kindern lebt, als Gerhardt sechzig wird, noch ein einziger Sohn. Ein Jahr später stirbt seine Frau. Und um ihn herum sterben die Menschen im Kontext schwerer Krankheiten immerzu. Für ihn als begleitenden Geistlichen Alltag. Das war eine völlig andere Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, als wir sie heute haben.« (Büdenbender/Nagel 2022, S. 46 f.)

Heute lohnt es sich, von Anfang an in das biologisch inzwischen ziemlich gesicherte Leben zu investieren, in das eigene und in das Leben unserer Kinder: finanziell, emotional, oder auch ausbildungsmäßig. Unsere Vorfahren mussten sich angesichts der großen physischen Unsicherheit des Daseins schon mehr einfallen lassen, um ihrem Leben ein Ziel, Sinn und damit Stabilität zu geben.

Die Gesamtauswertung der Untersuchung aus der Kirchengemeinde Dorotheenstadt in Berlin, die alle Verstorbenen zwischen 1715 und 1875 umfasst, fördert denn auch erstaunliche Erkenntnisse zutage und lässt die ganze Problematik früherer Generationen angesichts des jederzeit möglichen Todes, besonders im Säuglings- und Kindesalter, erst richtig hervortreten:

»Von den insgesamt 39251 zu Grabe Getragenen waren nicht weniger als 12193 Säuglinge unter einem Jahr, das heißt ein knappes Drittel (31,1 Prozent). Rechnet man die Kleinkinder bis zu acht Jahren hinzu, hat man bereits die Hälfte der Sterbefälle erfasst (50,6 Prozent). Der ganze Rest verteilt sich anschließend etwa gleichmäßig auf alle übrigen Alter zwischen 9 und 90 Jahre« (Imhof 1981, S. 203).

Anzahl Gestorbener nach ihrem Alter in der Berliner Kirchengemeinde Dorotheenstadt von 1715 – 1875:Sterbefälle insgesamt: 39.251 (= 100 %)davon:im Alter von 0 – 1 Jahr: 12.193 (= 31,1 %)im Alter von 1 – 8 Jahre: 7.664 (= 19,5 %)im Alter von 0 – 8 Jahre: 19.857 (= 50,6 %)