Sternenstaub am Horizont oder Breakable - Zerbrechlich: Der Fall - Antonia Katharina Tessnow - E-Book

Sternenstaub am Horizont oder Breakable - Zerbrechlich: Der Fall E-Book

Antonia Katharina Tessnow

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Beschreibung

'Es gibt Geschichten im Leben, die hätte man lieber nicht erlebt.' Diese Aussage trifft auf viele Ereignisse zu. Doch meist ist diese Aussage nur auf den ersten Blick wahr. Geht man jedoch der Frage nach: Was hat mir dieses Ereignis zu sagen? oder: Was hat mich dieses Ereignis zu lehren? , wird oft der tiefere Sinn einer Erfahrung offenbar. Nicht nur die Geschichte, die in dem Roman Breakable - Zerbrechlich verarbeitet ist, war eine dieser Erfahrungen, sondern auch all das, was um den Roman herum geschah. Vordergründig ein Thriller, hintergründig eine wertvolle Lektion über Selbstwert und Zerstörung. Was geschieht, wenn der Selbstwert fehlt? Welche Auswirkungen hat das Fehlen von rechtzeitig gesetzten Grenzen? Und in welche Abgründe kann der Weg führen, wenn entscheidende Lebensthemen ungelöst bleiben? In dem Roman Breakable - Zerbrechlich veranschaulicht die Autorin diese Problematiken und bietet im zweiten Teil eine psychoanalytische Draufsicht, Aussichten für Betroffene sowie Lösungsansätze. Ein unumgängliches Buch für jeden, der schon einmal an seinem Selbstwert zweifelte und hofft, einen soliden Weg zur eigenen, inneren Wertschätzung zu finden. Webseite der Autorin: www.antonia-katharina.de

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Nach einer wahren Begebenheit

FÜR DEN EINEN DER ALLES WAR

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Teil II

Teil III

TEIL I

"Du wirst immer hübscher", begrüßte sie ihr Chef, als er ihr die Tür zu seinem privaten Büro öffnete.

Nicola sah ihn verhalten an und antwortete mit einem Lächeln.

"Langsam wird es langweilig, nicht? Immer wieder muss ich dir dasselbe sagen. Aber es stimmt!" Herr Conrad hatte die seltene Gabe, ihr das Gefühl zu geben, etwas Wunderbares zu sein. Etwas Besonderes und bedingungslos Liebenswertes. Den einen Tag in der Woche, den sie für ihn die Büroarbeit erledigte, fühlte sie sich auch so. Im Gegensatz zu sonst.

"Komm, koch uns erst mal einen Kaffee und setz dich zu mir. Und dann erzählst du mir alles."

Im Stillen hoffte er jedes Mal, einen flüchtigen Blick in ihr, wie er es bezeichnete, aufregendes Leben zu erhaschen. Sie dagegen empfand sich eher als verloren und orientierungslos auf einem Weg ohne Richtung und Ziel. Die Begeisterung, die Herr Conrad für sie und ihren Werdegang an den Tag legte, konnte sie nur schwer nachvollziehen und im Innersten nicht begreifen. Sie fühlte sich schwach und von dem Gehalt, was er ihr zahlte, komplett abhängig. Ihr gesamtes Dasein beruhte auf dem Wohlwollen dieses einen Mannes. Armselig, dachte sie von Zeit zu Zeit. Sie beruhigte sich lediglich mit der Tatsache, dass unzählig viele Menschen nichts anderes sind als Sklaven ihrer Jobs, die ihre Existenzgrundlage bedingen und von denen sie ebenso abhängig waren wie sie von ihrem. Der einzige Unterschied zwischen ihr und allen anderen war, dass ihre Arbeitskonstellation etwas exotischer war als es normalerweise der Fall ist. Gute 13 Jahre ist es her, dass sie diesen Deal gemacht hat, der seitdem besteht und ihr Leben regiert. Sie war flexibel und fünf Tage die Woche in Bereitschaft, jederzeit frei, im Büro zu erscheinen, wann immer Termine oder Arbeit anlagen. Unter diesen Umständen konnte sie natürlich keine andere Arbeit annehmen oder sich eine Selbstständigkeit aufbauen, die erfordert hätte, feste Termine zu vereinbaren und diese dann auch einzuhalten.

Für Herrn Conrad spielte das keine Rolle. Er war von ihren Fähigkeiten und ihrer Persönlichkeit vom ersten Tag an überzeugt. Er meinte, sie kann alles erreichen, was sie will, hat unzählige Talente und obendrein lieferte sie solch akkurate Arbeit im Büro ab, dass er sich eine bessere und zuverlässigere Mitarbeiterin nicht wünschen konnte. Dazu kam, wie er nicht müde wurde zu erwähnen, ihre galanten Umgangsformen, vor allem mit den Herren der Bank, die regelmäßig im Büro erschienen, aber auch sonst, am Telefon und in Sitzungen. Sogar ihre Ausdrucksweise in den Emails wurde gelobt. Herr Conrad glaubte an sie. Glaubte daran, dass sie Großes vor sich hatte. Warum, hat sie in all den Jahren nicht herausgefunden.

Während der Kaffee durchlief, schaltete sie den Computer ein, druckte die eingegangenen Emails aus und legte sie ihm stillschweigend neben seine Kaffeetasse auf den Tisch. Sie setzte sich ihrem Chef schräg gegenüber auf die bequemste Couch, auf der sie je gesessen hat und wartete, bis er die Papiere fertig studiert hatte.

"Wie geht es dir", fragte er, noch während er die Zettel vor der Nase hatte.

"Mit geht’s ganz gut. Das neue Haus ist fast fertig saniert und die Renovierungsarbeiten soweit abgeschlossen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Endlich keine Bauarbeiten mehr!"

Herr Conrad schaute sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg an:

"Wie lange wohnst du jetzt dort?"

"Seit eineinhalb Jahren."

"Puh", Herr Conrad legte die Papiere zur Seite, "eineinhalb Jahre ist das schon wieder her. Du warst aber auch fleißig! Und dein Mann? Wie geht’s dem? Kommt der mit seinem Roman voran?"

Nicola schwieg. Ihr Schweigen gab ihrem Chef die Antwort, die er erwartet hatte. Er lehnte sich vor, griff nach seinem Kaffee, hob den Blick und schaute ihr direkt in die Augen. Schon immer hatten sie die seltene Gabe, dasselbe zu denken und es dem anderen anzusehen, ohne dass Erklärungen notwendig gewesen wären.

Herr Conrad, 78 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Lübeck, begann sein Leben als Lokalreporter im Nachkriegsdeutschland der 50er Jahre und arbeitete sich in den Vorstandsvorsitz eines der größten Verlage der USA. Er deckte täglich die Vereinigten Staaten mit den aktuellsten Schlagzeilen und Artikeln ein, hatte mehrere Zeitschriften unter sich und im Außenposten sogar eine Tageszeitung in Canada, allerdings nur im französischsprechenden Teil, und dort auch nur als stellvertretender Geschäftsführer.

Er kannte sich mit der Schreiberei aus und wenn es etwas gab, das ihm geläufig war, dann die Schwierigkeiten, die einem begegneten, wenn es galt, bestimmte Themen und Gedanken in die richtigen Worte zu kleiden. Und das, so schien es, machte Nicolas Partner, der als Schriftsteller arbeitete, allergrößte Schwierigkeiten. Sie schüttelte den Kopf:

"Nichts. In den dreieinhalb Jahren, die wir zusammen sind, hat er keine 50 Seiten geschrieben."

"Aber das Haus ist fertig", bemerkte Herr Conrad, "vielleicht liegen seine Stärken ja im Handwerk? Schließlich ist er gelernter Maurer und scheint durchaus praktisch begabt zu sein."

"Meine Rede", bestätigte Nicola. "Ohne ihn wäre das Projekt 'Alte Köhlerkate' gar nicht möglich gewesen. Wenn es ums Praktische geht, ist er Gold wert. Er ist geschickt, er ist bei der Sache, er leistet gute Arbeit und er hilft mir bei der Umsetzung von allen Ideen, die mir so im Kopf herum spuken.".

"Und du liebst ihn."

"Unser Leben funktioniert", antwortete sie ausweichend. "Wir haben uns zusammen gefunden. Schließlich bin ich durch ihn zum Schreiben gekommen. Ohne ihn hätte ich nie angefangen, Romane zu konzipieren. Und jetzt liegen schon fünf fertige Bücher bei meinem Literaturagenten in München. Was will ich mehr?"

Herr Conrad schaute sie skeptisch an. Er hielt nicht viel von ihrer Beziehung, besaß aber genügend Feingefühl, ihr nicht die Illusionen zu rauben und sagte zum wiederholten Male:

"Nimm ihn so, wie er ist und nutze das, was er dir geben kann. Als praktische Hilfe, als Lektor, als Ideengeber. Wenn du durch ihn inspiriert wirst und gute Literatur zu Papier bringst, dann ist es vielleicht auch nicht so schlimm, wenn ihr zwei getrennte Wohnungen in eurem Haus bewohnt und er die meiste Zeit alleine sein will. Das hat auch Vorteile. So hast du ebenfalls deine Ruhe, kannst neue Geschichten entwerfen und vor allem nachts ruhig schlafen, ohne dass dich jemand stört."

Die Uhr der St. Nicolaikirche schlug halb Neun. Nicolas Blick wanderte aus dem Fenster des obersten Stockes eines alten, urtümlichen Herrenhauses und schweifte über die Elbe, den Deich, die Schleuse, die Dächer unwirklich wirkender Villen. Und die Menschen, die irgendwie alle am Leben Teil nahmen und mitten drin standen, im Gegensatz zu ihr. Sie stand irgendwo am Rand, ganz für sich allein, lebte mit einem Mann zusammen und war doch einsamer als je zuvor. Sie lebte in einem abgelegenen Haus in Alleinlage hinter einem kleinen Dorf im tiefsten Mecklenburg-Vorpommern, an einem zerfurchten und oft matschigen Landwirtschaftsweg, der nur zur Erntezeit von Treckern und entsprechenden Maschinen befahren wurde. Weit ab ein verlassenes Gehöft, dass man nur von Ferne ahnen konnte und das an dunstigen Novembertagen im Nebel verschwand, hinter ihr die Wiesen der Feldberger Seenlandschaft, neben ihr ein Mann in der zweiten von zwei Wohnungen einer alten Köhlerkate, der nichts anderes wollte, als von ihr in Ruhe gelassen zu werden. Sie nippte an ihrem Kaffee. Der warme, bohnige Geschmack übermalte das bedrückende Gefühl, nicht zu wissen, wie sie ihr Leben weiterhin ertragen sollte.

"Und deine Hündchen? Was machen die?"

Nicolas Augen klarten schlagartig auf:

"Sie sind mein Sonnenschein!" Das war absolut wahr. Ihre zwei kleinen Schoßhündchen von drei Monaten und neun Wochen erlaubten ihr, das Gefühl der Isolation so weit es ging von sich zu weisen. Sie waren die Lösung. Glaubte sie.

"Sie weichen nicht von meiner Seite und lieben mich aus tiefstem Herzen. Mehr als jeder Mensch, der mir bisher begegnet ist."

Auch das stimmte. Als hätten die Zwei einen siebten Sinn, klebten sie an ihr wie Kaugummis unterm Schuh und suchten permanent ihre Nähe, fast so, als wollten sie ihrem Frauchen die innere Einsamkeit nehmen, die ihr selbst nicht in diesem Ausmaß bewusst war, die die kleinen Hündchen jedoch sensorisch erfassten und sensorisch darauf reagierten. Die Hunde füllten ihr Leben mit einer Liebe, nach der sie sich mehr als nach irgendetwas sehnte. Und vor allem: sie suchten ihre Nähe. Schon lange hat das niemand mehr getan.

Ihr Blick war noch immer nach draußen aus dem Fenster gerichtet, folgte ein paar Möwen, die vorbeiflogen und sich in der Luft um ein Stück trockenes Brot kabbelten. Sie liebte ihr Schreien, waren die Laute der Möwen doch gleichzusetzen mit dem Klang des hohen Nordens. Hamburg. Jedes Mal enthob sie diese Stadt und ihre kurzen Besuche dem Leben, das sie in Mecklenburg fristete. Ohne zu merken, was geschah, glitt sie, sobald sie zurück war, in ein Gefühl der Resignation ab. Und dabei dachte sie, sie wäre glücklich.

Es war still in der Köhlerkate. Ab und zu hörte man Traktoren vorbeifahren, doch auch die nahm Nicola schon gar nicht mehr wahr. Erst als es draußen ungewöhnlich laut rumpelte bemerkte sie, dass jemand auf den Hof gefahren sein musste.

Sie zog ihren Hausmantel aus, denn sie wusste, dass er immer den Eindruck erweckte, als sei sie gerade aufgestanden, und streifte sich eine Strickjacke über. Gerold stand schon in der Tür. Sie ging durch den neuen Durchgang, den Gerold und sie erst vor einem halben Jahr innerhalb des Hauses geschlagen hatten. Zwei Mauern haben sie aufgestemmt, neue Rigipswände gestellt, tapeziert, verspachtelt, gestrichen, nur um eine Verbindung zwischen ihm und ihr zu schaffen und nicht bei jedem Wind und Wetter außen herumgehen zu müssen, wenn sie sich mal besuchen wollten. Genützt hat es nichts. Näher sind sie sich dadurch nicht gekommen.

Sie stand neben ihrem Freund, der ihr vorkam wie ein Fremder, nur dadurch vertraut, dass sie seit fünf Jahren regelmäßig Zeit miteinander verbrachten, und sah zu, wie der soeben auf den Hof gefahrene Bauer von seinem Trecker sprang. Er schaute sie an. Und sie traf der Schlag.

"Hallo", begrüßte er Nicola und Gerold, unbedarft und fröhlich, nichts von der Kälte ahnend, die doch so offensichtlich zwischen ihnen stand und von der Nicola meinte, jeder im Umkreis von 10 Kilometern müsse sie spüren. "Ich hab euch ein paar Steine hingekippt. Die wolltet ihr doch haben, richtig?"

Die Hunde liefen in Freude aufgelöst auf den Bauern zu, sprangen jedoch nicht an ihm hoch und begrüßten ihn, so wie sie es sonst immer taten, sondern machten kurz vor ihm Halt, schlugen einen Bogen, guckten und drehten wieder ab. Dabei war sich Nicola bisher sicher, dass sie jeden Einbrecher mit Liebesbekundungen überschüttet hätten und erst weinen würden, wenn er wieder vom Hof führe, ihr Komm-bald-zurück-Gesicht aufgesetzt und die herzzerreißendsten traurigen Augen, die es auf der Welt gab.

"Danke, danke", sagte Gerold mit seiner gewohnt übertriebenen Lässigkeit, für die Nicola ihm am liebsten eine reingehauen hätte. Ihr war es peinlich, neben diesem Mann zu stehen in dem Bewusstsein, dass dieser Fremde wusste, dass es ihr Lebenspartner war. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Sie hatte schließlich mehrere Jahre Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen.

"Na ihr zwei Kleinen", begrüßte der Bauer die Hundchen, die jetzt zwischen ihm und Nicola hin- und herliefen. Er streichelte sie abwechselnd, je nachdem, wer sich von den beiden gerade von ihm anfassen ließ. Nicola dagegen stand da wie angewachsen und brachte kein Wort heraus.

"Habt ihr selbst auch so was Kleines?", er zwinkerte Gerold und ihr zu. Nicola wurde schlecht.

Glücklicherweise nicht!

"Ne, ne", scherzte Gerold, "soweit sind wir noch nicht."

"Na dann wird’s aber langsam Zeit. Dann habt ihr auch was, das ihr da oben abgeben könnt", er zeigte in Richtung Kindergarten. 'Das Geisterschloss' wurde er genannt. Wie passend. Die Vorstellung, mit Gerold ein Kind zu haben und damit ein Leben lang an ihn gebunden zu sein, war mindestens so gruselig wie dieser Name.

"Das wird wohl auch nicht passieren", flüsterte Nicola. Keiner hörte sie, aber der Fremde schaute sie an. Nein, er schaute in sie hinein.

"Keine Sorge, ich will euch nicht zu nahe treten", er berührte sie kurz am Arm. Eine beschwichtigende Geste, eine, die man tausendundein Mal im Laufe eines Tages macht, doch das hier war anders. Anders als alles, was Nicola je erlebt hat.

Immer noch angewachsen glotzte sie nur blöd, wollte was sagen, öffnete sogar schon den Mund, aber heraus kam - nichts. Dass Gerold irritiert guckte, bemerkte sie nicht.

Der Bauer sagte noch ein paar Sätze, die ungehört an ihr vorbeirauschten, bevor er sich umdrehte und viel zu schnell wieder ihren Hof verließ. Als er in seinen Trecker stieg, lächelte er sie an. Nicola glaubte für ein paar Momente, den Verstand zu verlieren.

*

Sie musste diesen Mann treffen. Wer war er? Wie lebte er? War er verheiratet? Hatte er Kinder, so wie alle hier im Ort? Es gab niemanden, der alleine lebte und unverheiratet war. Nicht hier. Nicht hier, in diesem kleinen, gemütlichen Dorf am Rande der Feldberger Seenlandschaft, wo die Welt noch in Ordnung war. Alle lebten ein gleichmäßiges Leben, alle lebten in geregelten Verhältnissen, alle waren verheiratet, hatten Kinder, waren glücklich. Und vor allem: alle hatten ein Leben. Im Gegensatz zu ihr. Sie verbrachte ihre Zeit mit irgendwelchen Dingen, von denen sie selbst nicht recht wusste, was sie waren; schrieb Bücher, von denen noch kein einziges verlegt wurde; machte Musik und bereitete sich auf die wenigen Auftritte vor, die hier in McPom für sie als Fremde abfielen und kümmerte sich ansonsten um ihre Hunde. Ging Gerold aus dem Weg bzw. er ihr, und war allein. Sie war permanent alleine. Eigentlich war sie immer alleine. Im Grunde genommen lebte sie alleine. Und viel mehr: sie lebte isoliert. Dabei war sie hier rausgezogen, um mit Gerold ein Leben aufzubauen. Gemeinsam.

Doch aus diesem gemeinsamen Leben wurde nichts, weil er kein Interesse daran hatte, sein Leben mit irgendwem zu teilen. Das hatte er noch nie. Er wollte nichts anderes als seine Ruhe haben. Arbeitete nicht, ließ den Genervten raushängen, wenn sie mal irgendwas von ihm wollte, stöhnte, als erwarte man sonst was, wenn man ihm eine Frage stellte oder noch mehr: ihn um einen Gefallen bat. Kurz und gut: Nicola fand sich damit ab, ihre Tage damit zu verbringen, ihn nicht zu stören. Auch eine Beschäftigung, der man nachgehen konnte. Doch natürlich schenkt diese Art der Beschäftigung keine Erfüllung, sondern hinterlässt eine gähnende Leere, die tief in die Dunkelheit führt. Das Licht in ihrem Leben konnte sie nur wiederfinden, wenn sie sich von Gerold abwandte und ihr eigenes finden und leben würde. Das wusste sie schon lange. Das wusste sie eigentlich schon von Anfang an. Doch wirklich gestellt hat sie sich dieser Wahrheit erst vor ein paar Monaten, in dieser einen Silvesternacht, in der sie begriff, dass nichts, was sie je für diese Beziehung getan hat, einen Sinn machte und nichts, was sie jemals tun wird, einen Sinn machen würde. In dieser Nacht hatte sie akzeptiert, dass es vorbei war. Schweren Herzens. Und dass all ihre Bemühungen umsonst gewesen sind. Seit jeher. Von Anfang an.

Als der letzte Winter kam, die Tage kürzer und die Nächte länger und ungemütlicher wurden, dämmerte ihr, was sie nicht mehr von sich weisen konnte: Die Beziehung zwischen ihr und Gerold war so tief in diesen seltsamen, dunklen Abgrund gerutscht, dass sie nicht mehr zu retten war, egal wie sehr sie es sich auch beide wünschten, egal wie oft sie sich gegenseitig ihre Liebe beteuerten.

Die Rauhnächte kamen heran. Die Zeit zwischen den Jahren stand vor der Tür, und die letzten Fäden ihrer Verbindung rissen nach und nach ab, einer nach dem anderen. Silvester. Sie saß allein im Dunklen, Stunde um Stunde, ein Glas Wein vor sich, wo sie sonst nie Alkohol trank. Es blieb bei diesem einen Glas und der Erkenntnis, dass die Beziehung zu Gerold unwiederbringlich vorbei war. Seit diesem Tag war sie offiziell allein. Ihre Beziehung war vorbei. Und es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können.

Sogar diese Kate hatte sie gekauft. Für ihn. Für ihre Liebe zu ihm, die sich nie erfüllte. Dabei hatte sie es doch so sehr gehofft! Hatte gehofft, wenn all seine Wünsche erfüllt wären, wenn die Lebensverhältnisse so wären, dass sie seinem Wesen entsprachen, wenn alles so wäre, wie er es sich wünschte, dann, ja dann würde er sie auch lieben und ein Leben mit ihr teilen wollen.

Sie hatte sich geirrt.

*

Und nun? Was war nun? Wo stand sie und wohin blickte sie? Hielt sie Ausschau nach Erlösung? Nach Trost? Nach Ablenkung und Versenkung?

Vielleicht. Möglicherweise war es genau das, was sie suchte und wollte. Denn ihr eigenes Leben zu ertragen, erschien ihr mittlerweile unmöglich. Sie wollte es einfach nicht mehr. Wollte nicht mehr weitergehen. Hatte einfach keine Kraft mehr, sich selbst zu motivieren, was sie schon seit gefühlten tausend Jahren tat. Ohne Erfolg.

Und dann? Kam er - dieser Fremde - und umgehend geriet ihre ganze Welt ins Wanken. Dieser eine Augenblick, in dem sie sich zum ersten Mal begegneten, änderte alles.

Ihre Einsamkeit verdrängte sie. Die wollte sie nicht sehen. An sie wollte sie nicht denken. Sie wollte nicht, dass wahr ist, was wahr war: ihr Leben war inhaltslos, und niemand auf der Welt würde in der Lage sein, diese Leere zu füllen. Auch er nicht.

*

Am kommenden Tag schnappte sie sich bei der erstbesten Gelegenheit ihre Hunde und ging eine große Runde über die Wiesen. Der Naturpark der Feldberger Seenlandschaft ist ein wundervolles Areal, das sich aus herrlichem Weideland, Wiesen und Feldern zusammensetzt, durchzogen von Bächen und Seen, umsäumt von Bäumen und Sträuchern. Das Grün stand voll und saftig, die Wege waren zwar zerfahren, doch da es trocken war, einfach zu begehen.

Ihre Hunde liebten die Gegend. Und sie liebte ihre Hunde. Es machte sie glücklich ihre Tiere glücklich zu sehen. Stundenlang konnte sie ihnen beim Spielen zuschauen und sich daran erfreuen, wie sie herumtollten und immer wieder ihre Nähe suchten. Ihre Tiere liebten sie über alles und aus ihren Augen blitzte jenes Licht, das ihr in ihrem Leben fehlte.

Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte es weiter gehen? Schon lange wartete sie darauf, dass Gerold endlich auszog. Er gehörte nicht mehr hierher, nicht mehr zu ihr. Sie wollte ihn auch nicht mehr um sich haben. Spätestens Silvester wurde das deutlich. Doch rausschmeißen wollte sie ihn auch nicht. Und Krach vermied sie. Auf keinen Fall wollte sie sich mit Gerold entzweien. Warum, wusste sie nicht. Doch sie schwor sich, nichts zu tun, was ihre ohnehin schon zerbrechliche Verbindung vollends zerstört hätte.

Doch jetzt, wo er - dieser neue Mann, wer auch immer er war - in ihr Leben trat, änderte sich die Situation schlagartig. Sie spürte, wie Ungeduld in ihr aufstieg. Sie musste etwas unternehmen. Irgendetwas. Vielleicht sollte sie sich auf die Suche nach ihm machen. Nach diesem Mann. Und herausfinden, was es mit dieser geheimnisvollen Begegnung auf sich hat.

*

Sie musste ihn treffen. Egal wie. Sie musste ihn ausfindig machen. Ständig und überall ging er ihr durch den Kopf. Als wäre sie besessen; als hätte er bei dieser kurzen Begegnung mit seiner flüchtigen Berührung in Bruchteilen von Sekunden ihre Seele in Besitz genommen.

Ihre Hunde, ihre geliebten Hunde, waren ihr Alibi für alles. Sie musste natürlich raus mit ihnen, und so begann sie, ausgedehnte Spaziergänge zu machen. Und zwar ständig. Permanent war sie draußen, nur um ihm irgendwann, irgendwo über den Weg zu laufen.

Es dauerte nicht lange, und die Gelegenheit kam. Sie war gerade im Dorf angekommen und stand auf der alten Dorfstraße. Rechts und links taten sich Häuser, kleine Höfe auf. Vor dem einen war eine kleine Obstkoppel angelegt, die Apfelblüte gerade vorbei und an den Bäumen zeigten sich erste Andeutungen von Früchten. Ein Traktor ratterte die Dorfstraße herunter. Sie hörte ihn schon von Weitem. Der Trecker bog um die Ecke und vor ihr stand - er. Der Motor ging aus, das Knattern verstummte, er sprang heraus und ihr entgegen, schmiss die Tür hinter sich zu und wieder war sie vom Blitz getroffen; ihre Knie wurden weich. Sie zitterte. Ihr Herz raste.

"Hallo", begrüßte er sie lässig, "na, unterwegs?"

Was für eine blöde Frage! Doch noch blöder von ihr, darauf einzugehen, ohne zu realisieren, wie inhaltslos diese Konversation werden würde:

"Ja, mit meinen Hunden."

Die kamen auch gleich angesprungen, machten aber erneut unweit vor ihm Halt und drehten abermals ab. Irgendetwas tief in Nicolas Bewusstsein beschloss, dies zu ignorieren. Sie ging einen Schritt auf ihn zu. Dasselbe tat der nächste Nachbar, ein Haus weiter. Auch er hatte diesen Mann, dessen Namen sie bis jetzt nicht wusste, gesehen und kam herbei gelaufen. Offensichtlich mit irgendeinem Anliegen, denn seine Schritte war eilig.

"Ich habe gehofft, dich zu treffen", flüsterte Nicola schnell und leise, "sehen wir uns mal, auf einen Kaffee?"

Der Fremde zückte sein Handy, gab ihr ebenso schnell wie sie gesprochen hatte, seine Nummer:

"Warum nicht?"

Er lächelte. Die Welt um sie herum entschwand.

"Hey Lolli, ich hab hier ein Problem mit der Abwasserleitung, für die ich gerad am Ausschachten bin. Das müsste unbedingt noch gemacht werden. Ich wollte dir das mal zeigen. Hast du kurz Zeit? Können wir da morgen vielleicht mal bei gehen?"

"Morgen ist schlecht. Ich habe einen Zaun zu reparieren. Schwager ist schon bestellt. Das wird schwierig."

"Komm doch mal kurz mit, ich zeig dir, was ich meine", und schon lief der Nachbar los.

Lolli? Wie kann man einen erwachsenen Mann Lolli nennen? Wäre Nicola nicht so ergriffen gewesen von ihren Gefühlen, sie hätte laut losgelacht. Zumindest gegrinst. Doch sie verkniff sich eine Reaktion. Lolli. Dieser alberne, kindliche Name zu dieser Erscheinung: groß gewachsen, kräftig, aber nicht dick; muskulös. Man sah ihm die viele körperliche Arbeit an. Kurze, dunkelrote Haare, ein ebenmäßiges Gesicht mit klaren Zügen, grüne Augen, Dreitagebart; er glich eher einem Iren, einem alten Kelten vielleicht oder einem Wikinger aus vergangenen Zeiten als einem Deutschen Bauern; und hatte eine Stimme, tief wie ein Bariton. Zum Dahinschmelzen! Lolli.

Er drehte sich noch ein paar Mal nach Nicola um, zuckte mit den Schultern als wollte er sagen: 'Was soll ich machen?'

Sie nickte. Er hob seicht die Hand. Dann drehten sich beide um und gingen ihrer Wege. Der ereignisreichste Moment des Tages klang noch bis zum nächsten Morgen in ihr nach.

*

Sie wollte nicht sofort anrufen oder ihm schreiben. Einen ganzen Tag hielt sie durch, doch dann konnte sie nicht mehr anders. Die erste SMS wurde abgesetzt. Es kam keine Antwort. Für den Rest des Tages: keine Reaktion. Es wurde hell, es wurde dunkel und über ihre Seele legte sich ein Schleier der Melancholie.

Die Nacht war lang. Ihre Gedanken kreisten um ihr eigenes Leben. Was machte sie hier, weit ab von diesem kleinen Dorf, inmitten tiefer Dunkelheit? In dieser alten Köhlerkate, die ihr und ihrem Mann so viel Mühe und Schweiß abverlangt hatte, und die dennoch keine heimatlichen Gefühle wecken wollte. Sie entglitt in erste Wachträume. Sah sich am Tag ihres Umzugs in der Wohnung von Gerold auf seinem Bett liegen. Sie schreckte an jenem Morgen plötzlich auf. Es war früh um vier und sie wurde von einem Gefühl aus dem Schlaf gerissen, das ihr laut zurief: 'NEIN! Ein Riesenfehler, diese Kate gekauft zu haben und dorthin zu gehen! FALSCHER WEG!' Ihr schrie es damals förmlich aus ihren Gedanken entgegen.

Sie erlebte in ihren inneren Bildern die Szene wieder und wieder. Blickte selbst auf sich herab, wie sie sich an jenem Morgen in Gerolds Bett aufsetzte und laut schreien wollte. Doch sie schrie nicht. Sie blieb stumm. Und ertrug dieses schwarze Gefühl und akzeptierte diese dunkle Vorahnung, die nichts Gutes bedeuten konnte. Denn das einzige, das noch stärker war als diese dunkle Wolke, war ihre Angst, aufzustehen und alles wieder rückgängig zu machen: den Umzugswagen abzubestellen, den Kaufvertrag aufzukündigen, den Notar und den Vorbesitzer zu kontaktieren sowie ihren Makler, der längst das Exposé für ihr kleines Häuschen online gestellt hatte. Ganz zu schweigen von Gerold, all den Leuten, die für den Umzug organisiert waren und überhaupt ... sie wachte auf. Das dunkle Gefühl blieb.

*

Sie stand auf und wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser, um wieder etwas zu sich zu kommen, um Kühlung zu finden, um diese Schwere von sich zu waschen. Es gelang nur dürftig.

Sie kehrte zurück ins Bett. Was sollte sie auch tun? Zwar wusste sie, dass dort ihre schweren Gedanken und dunklen Ahnungen auf sie warteten, doch wo sollte sie sonst hin?

Alles in ihrem Leben war den Bach runtergegangen. Von diesem Tage an. Außerdem hatte sie am Tag des Umzugs zum allerersten Mal das Gefühl, Gerold sei nicht der Richtige für sie. Sie ärgerte sich dermaßen über ihn, benahm er sich doch im wahrsten Sinne des Wortes hirnlos, dass sie erschrocken, traurig und in ihrer Vorahnung bestätigt zugleich war.

Von diesem Tage an war nichts mehr wie zuvor. Sie haben sich von da an immer weiter voneinander entfernt bis sie schließlich komplett entzweit waren. Hier. In der alten Köhlerkate. Wo sie doch ihr gemeinsames Leben beginnen wollten. Allein. In herrlichster Umgebung und mit viel Ruhe zum Schreiben und Arbeiten. In einem Haus mit zwei Wohnungen, wo jeder sein Reich hatte und sie doch gemeinsam wohnen, wirtschaften und sich gegenseitig inspirieren konnten. Die Idee war gut. Das Konzept passte zu ihnen und ihren Lebensentwürfen. Doch mit dieser dunklen Energie hatte niemand gerechnet. Das schwarze Loch, das alles anzog und verschlang stand nicht auf dem Plan. Davon war nie die Rede.

*

Sie lag wieder in ihrem Bett. Es dauerte lange, bis sie Ruhe fand und sie sich von ihren Erinnerungen erholte.

Die Müdigkeit legte sich erneut über sie und sie sank in einen leichten Schlummer. Die Dunkelheit, in der sie sich fand, war nach wie vor finster wie tiefste Nacht. Ein gewaltiger Schlag, der sich mit aller Wucht gegen sie richtete, ein ungekannter Hass, der übermächtig war und sich mit aller Gewalt entlud, traf sie mitten ins Gesicht und riss sie aus dem Halbschlaf. Sie zuckte zusammen und blickte um sich. Es war niemand da. Sie war allein.

*

Abbie, die neben ihrem Kopfkissen lag, guckt sie verstört an, kam sofort zu ihr, freute sich, ihr Frauchen wach zu sehen und begann umgehend, sie mit Liebesbekundungen zu überschütten. Tara Maus dagegen, ihre zweite Hündin, drei Monate jünger als Abbie, blieb seelenruhig liegen; guckte zwar zu Nicola auf, aber Abbie hatte wie immer die Situation voll im Griff. Kein Grund für Tara, zu reagieren.

Es blieb ruhig. Bis zum nächsten Morgen. Ein Tag verging. Sie setzte sich an ihre Texte, schrieb weiter, ging mit ihren Hunden spazieren und Gerold aus dem Weg. Kein

Lebenszeichen von Lolli. Ihre nächtlichen Albträume beunruhigten sie nicht. Ihr ungutes Gefühl, hatte sie gelernt zu ignorieren. Seit dem Umzug wusste sie, mit diesem Gefühl zu leben. Es wurde ein Teil von ihr. Es begleitete sie seit jenem Morgen Tag und Nacht.

Und jetzt stand er plötzlich vor ihr. Dieser eigenartige, neue Mann, den sie nicht kannte, zu dem sie sich so hingezogen fühlte, der ihr aber gleichzeitig unheimlich war. Noch nie hatte Nicola solche

Träume. Doch kaum war Lolli da, begannen sie. Nur: was war zuerst da? Das dunkle Gefühl, und darum zog sie sich jemanden wie Lolli ins Leben, oder war er es, von dem diese Dunkelheit ausging, in der sie sich wiederfand? So oder so, das Gefühl war und blieb ein Schlechtes. Vielleicht wäre es am Besten, dieser seltsame Mann mit dieser unheimlichen Anziehungskraft meldete sich gar nicht erst wieder. Wenn sie alles vergessen könnte, einfach mit Gerold weiterleben würde, ihr Leben und ihre Schreiberei fortsetzte und sich darauf konzentrierte, ihren Frieden wieder zu finden, würde vielleicht am Ende doch alles gut werden. Ihr Gemüt hellte bei diesen Gedanken sofort auf. Sie atmete durch. Eine gute Idee!

Das Telefon ging und unterbrach ihre Gedanken: Lolli.

"Tut mir Leid, dass ich mich jetzt erst melde, ich hatte so viel zu tun.

Ich habe deine SMS gekriegt."

Stille. Das Licht am Ende des Tunnels ihrer Gedanken, das sich soeben für den Bruchteil eines Momentes auftat, verschwand umgehend.

"Sehen wir uns bald?"

"Äh ..", sie musste sich kurz sammeln. Diese tiefe, bestimmende Stimme, die sofort wieder diesen Sog auf sie ausübte, lähmte sie.

"Klar", sagte sie, ohne es zu wollen.

Gespräch beendet. Oder sagten sie noch was? Sie setzte sich und konnte sich nicht mehr erinnern.

Was nun? Sie musste ihn sehen. Sie wollte es nicht, doch irgend etwas trieb sie in seine Richtung.

*

Die Wiesen waren wie immer herrlich, die Stille Balsam für ihre Seele. Die täglichen Spaziergänge durch den Naturpark der Feldberger Seenlandschaft Heilung, obwohl sie nicht einmal wusste, wovon. Vom Leben? Von ihren erdrückenden Gedanken? Von der Welt, vor der sie sich immer mal wieder fürchtete und der sie oft

genug versuchte zu entkommen? Sie schaute neben sich. Ihre Hunde! Sie waren nach wie vor ihre

Rettung. Sie gaben ihr Halt. Und Kraft.

Sie würde einfach bei ihm vorbei gehen. Sie würde eine Runde mit den Hunden drehen und ihn besuchen. Musste sie doch ohnehin mit ihnen täglich raus.

Es waren herrliche Tage, die Sonne schien, der Frühling war voll im Gange und die allgemeine Stimmung, die in der Luft lag, dementsprechend. Was also sollte schiefgehen?

*

Gesagt, getan. Am nächsten Tag würde sie sich auf den Weg machen.

Am nächsten Tag? Warum eigentlich erst am nächsten Tag? Warum nicht gleich?

Sie stieg ins Auto, fuhr den unebenen Feldweg entlang bis sie das Dorf erreichte.

Etwas unsicher navigierte sie ihren Wagen in die Richtung, die ihr beschrieben wurde. Das musste der Hof sein! Herrje! Das war doch der Schrotthändler! Jedenfalls hatte sie das lange geglaubt.

Kurz nachdem sie und Gerold hier ankamen und wiederholt an diesem merkwürdigen Hof vorbei fuhren, auf den man von der Dorfstraße aus einen unverstellten Blick auf den hinteren Teil hatte, dachten sie, hier haust ein Schrotthändler: alte Viehwagen, verrostete Metallgestänge, Müll, Matsch, Dreck. Einfach widerlich! Hier gab es also auch Messis. Nicht nur in ihrer alten Heimatstadt Saarow, nein, auch in dem gutbürgerlichen, gepflegten, geordneten Linderow.

Seitdem nannten sie diesen Hof, von dem sie nicht wussten, wer dazugehört, liebevoll 'den Schrotthändler'. Doch es war kein Schrotthändler, sondern einer der letzten Bauern im Dorf. Lolli.

Zaghaft ging sie um das Gehöft herum. Den vorderen Teil hatte sie noch nie gesehen. Eine große Hecke stand davor und versperrte die Sicht. Sie musste etwas suchen, bevor sie den Eingang zum Hof fand: eine kleine, verrostete Tür, die quietschte, als Nicola sie öffnete. Vor dem Haus begegnete sie einem alten Mütterchen, die hinkte und in gebückter Haltung, auf einen Stock gestützt, über den Hof schlich und sie mit strahlenden Augen begrüßte.

"Ich suche Lolli", brachte Nicola hervor.

"Lolli ist hinten am Schuppen. Warte. Ich bring Sie hin", antwortete ihr ein zartes Stimmchen.

'Wow, was für eine Frau!', dachte Nicola. Doch der erste Eindruck täuschte. Wie sehr sie hier in die Irre geleitet wurde, hätte sie in ihren kühnsten Träumen nicht erahnen können. Und doch wissen müssen.

Aber sie wollte die Alarmglocken, die ununterbrochen in ihrem Kopf hallten, nicht hören. Sie hatte sich schon zu sehr an sie gewöhnt. Dass diese jedoch einen anderen Klang hatten und anders geartet waren als all jene, die seit ein paar Jahren in ihrer Seele schallten, nahm sie nicht mehr wahr. Und wollte es auch nicht. Zu lange hatte sie in Dunkelheit gelebt. Was also sollte noch passieren? Sie hatte ihren Mann - den Mann, für den sie ihre Heimat verlassen und ein Haus gekauft hat - verloren. Sie fühlte sich von ihrer eigenen Courage betrogen, die ihr verbot, den Kauf der Kate im letzten Moment rückgängig zu machen. Damals, an diesem schicksalhaften Tag, der eine Weiche ihres Schicksals stellte. Jetzt, zwei Jahre später, lag alles in den Brüchen. Sie hatte verloren wofür sie ihr Leben gegeben hätte.

Was also hatte sie zu verlieren? Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

Sie betrat zum ersten Mal den Stall. Ein verwahrloster Schäferhund an der Kette sprang ihr aggressiv entgegen, bellte, fletschte die Zähne. Die alte Frau, die sie geleitete, stockte:

"Komm, wir gehen anders rum."

Sie drehten ab, entfernten sich von dem kläffenden Hund, gingen durch die viel zu dunkle Scheune, durch einen stinkenden, kleinen Stalltrakt, der notdürftig aus herausgebrochenem Beton und zusammengeschweißten Eisenstangen bestand, zu einer halb zerfallenen Holztür. Hier liefen ein paar Kühe auf blankem Beton in einem kleinen Areal, das mit einem Stromdraht eingezäunt war:

"Hier kannst du durch", die Alte zeigte auf die Kühe.

"Ach so", also durch die klapprige Holztür, unter dem Draht durch, der beständig tickte - Strom war also an - vorbei an den Kühen, auf der anderen Seite wieder unter dem Draht durch, hinten auf den Hof.

Nicola nickte.

Die Frau verschwand.

Der Beton war verdreckt. Es roch penetrant nach Kuhscheiße. Doch Nicola ekelte sich nicht. Sie hatte den Großteil ihres bisherigen Lebens in Pferdeställen verbracht, war lange Zeit als Berufsreiterin tätig gewesen und am Ende sogar Landesverbandstrainerin im Olympiastadion ihrer Heimatstadt Berlin gewesen. Stallgeruch schreckte sie nicht ab. Tierdung, vollgesogenes Stroh, Futterreste auf dem Boden, altes Heu, all das kannte sie. Allerdings nur aus Pferdeställen, in denen immer auch Kundenverkehr herrscht und die daher relativ sauber waren.

Sie kroch unter dem ersten Draht durch. Abbie und Tara folgten ihr. Die Kühe guckten weniger in Nicolas Richtung als in Richtung der Hunde, die sie sofort anvisierten. Tara schrie sogleich vor Angst auf. Nicola scheuchte die Kühe weg und rettete ihre kleine Hündin, die sofort zitternd auf ihren Arm sprang.

Zärtlich strich sie ihr übers Fell, sprach ihr gut zu, drückte sie an sich, küsste sie. Tara beruhigte sich. Abbie wich ihr nicht von der Seite und schielte mit eingekniffenem Schwanz zu den Riesentieren. Nicola kroch unter dem zweiten Draht durch, ließ Tara runter und lief über den Hof. Die Hunde sprangen erleichtert vor ihr her. Die erste Gefahr war überstanden.

Irgendjemand saß im Trecker und rangierte ihn hin und her. Lolli stand auf dem Hof, ein alter, klappriger Holzschuppen daneben, und begrüßte sie sogleich:

"Hallo!", strahlte er ihr entgegen.

"Hallo", entgegnete Nicola, "ich wollte meinen Hunden mal den Hof zeigen." Nicola kam sich hirnlos vor, doch Lolli schien das nicht weiter aufzufallen.

Die kleine Tara wuselte etwas orientierungslos auf den ausgelegten Steinplatten umher. Lolli dirigierte den Typen im Trecker, und als er ansetzte, rückwärts zu fahren, nahm er die kleine Tara auf den Arm. Was für ein eigenartiges Bild! Dieser herbe, kräftige Mann mit diesem kleinen bisschen Hund in der Hand. Irgendwie surreal.

Nach einer Weile zog der Typ samt Traktor in Richtung Koppel ab, die direkt an den Hof angrenzte. Nicola war das erste Mal mit Lolli allein.

"Was treibt dich hierher?", fragte Lolli, obwohl er die Antwort genau kannte.

"Ich wollte einfach mal vorbei kommen. Nur so." Sie schauten sich an und beide wussten, dass nichts, was hier passierte, 'nur so' geschah. Ihre Verbindung war tief und berührte beide in den tiefsten Schichten ihrer Seele. Da gab es etwas, das nicht zu leugnen war.

"Und du lebst also dort unten in der Köhlerkate. Zusammen mit einem Mann?", stieg Lolli sogleich ins Thema ein.

"Nein, ich lebe allein", erwiderte sie, sehr zu seiner Verwunderung.

"Ich dachte, du lebst dort mit deinem Mann zusammen?"

"Wir sind schon seit langem getrennt. Eine richtige Beziehung war es schon nicht mehr, als wir hier ankamen. Irgendwie haben wir zwar weiter gemacht, weil das zu diesem Zeitpunkt eben so war, aber funktioniert hat es schon seit dem ersten Tag nicht mehr."

Lolli stutzte, versuchte aber gleichzeitig, es sich nicht anmerken zu lassen. Ihre Blicke trafen sich. Wieder diese magische Energie, die jedes Mal dieselbe zu sein schien, obwohl es dennoch immer neue Momente waren.

"Wir leben seit langem nebeneinander her. Er will einfach nichts mehr von mir."

"Wie, er will nichts mehr von dir?" Lolli guckte verständnislos.

"Er will lieber allein mit sich sein. In jeder Hinsicht." Nicola wusste in diesem Augenblick nicht, warum sie das gesagt hatte. Sie kannte Lolli schließlich kaum. Aber er war ihr vertraut und sie öffnete sich umgehend.

"Das ist aber doch nicht normal. Du bist doch ein hübsches Mädel."

Lollis Augen musterten ihre Gestalt, als sie da stand und ihn ansah. Sein Blick fiel auf eine junge, zierliche Frau, keine 1,70 groß. Ihre langen, hellen Haare, ein schimmerndes goldblond, fielen ihr leicht gelockt über die Schultern.

"Lass mich raten. Du wiegst höchstens 55kg?", scherzte er.

"So in dem Dreh. Keine Ahnung. Ich habe keine Waage", sie blickte verstohlen auf den Boden. "Ich weiß auch nicht", fuhr sie fort, "er will einfach keine Beziehung. Mit niemandem. Er ist lieber allein. Da kann man nichts machen. Und ich habe es akzeptiert."

Sie sprach nicht weiter, vermied es, Lolli wiederholt anzusehen, und schaute zu ihren beiden Hündinnen hinüber, die freudestrahlend die Güllegrube inspizierten. Sie fanden den Schmutz und den Kuhdung toll. Für sie schien dieses Dreckloch ein Paradies.

"Sowas verstehe ich nicht", unterbrach Lolli ihre Gedanken, der ihrem Blick gefolgt war und ebenfalls zu den Hunden rüber schaute.

"Sowas kann ich einfach nicht verstehen."

Nicola wurde ganz warm ums Herz, denn tief in ihrem Innern konnte sie es auch nicht verstehen. Wie man lieber mit sich alleine sein wollte anstatt seinen Partner, die geliebte Person, zu erleben und zu genießen. Sie hatte es nie verstanden und hatte sich in ihrer Sehnsucht nach Nähe und aus Liebe zu diesem Mann zu sexuellen Abartigkeiten hinreißen lassen, die sie am liebsten für immer vergessen würde. Es schauerte sie, wenn sie daran dachte.

"Es läuft schon sehr lange nichts mehr zwischen uns." Ihre Stimme war weich und klang traurig, als sie das sagte, doch Lolli registrierte es nicht. Oder doch?

"Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen", sein Blick glitt wieder zu ihr rüber.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Lolli bemerkte es und lächelte zurück. Was für eine zärtliche Übereinkunft.

Sie erlaubte sich für einen kurzen Moment, erfüllt zu sein. Auch wenn tief in ihrem Innern alle Alarmlampen rot blinkten und ihre innere Stimme mindestens genauso laut schrie wie vor zwei Jahren. Doch weil sie sich ja schon seit dem Tag ihrer Ankunft in Linderow dazu entschieden hat, alle Alarmsignale zu überhören, fielen die paar mehr, die jetzt angingen, auch nicht mehr ins Gewicht. Obwohl die Schwere, die sie bis hierher begleitet hat, noch schwerer wurde. Nur überstrahlt von diesen paar Augenblicken, in denen er ihr in die Augen sah. Und sie glaubte, glücklich zu sein.

Dieses Treffen gab ihrer Seele und ihrer Phantasie neues Futter. Sie schwelgte in Vorstellungen und ihren Gefühlen, die sie von einem aufs andere Mal davontrugen, beflügelt von dem Gedanken an seine Stimme, seine Augen, seine Ausstrahlung, die sie ganz in seinen Bann zog.

Er war tatsächlich allein. Hatte lediglich zwei Beziehungen in seinem Leben gehabt; eine Kurzzeitehe, die nach ein paar Monaten auseinander ging, wohl weil sie einen anderen ihm vorzog; und einer Wochenendbeziehung, zehn Jahre später. Auch sie lebten sich auseinander. Wiederum zehn Jahre später trat nun Nicola in sein Leben. Als die dritte Frau an seiner Seite. jedenfalls hoffte sie, sie würde es werden. Zumindest sehnte sie sich danach; und in ihren Träumen war sie es schon längst.

Wann nur konnte sie ihn wieder sehen? Was sollte sie tun, um ihm abermals zu begegnen? Erneut ihre Runden drehen um ihn zu treffen? Es blieb ihr nichts anderes übrig.

Daheim setzte sie sich immer noch jeden Morgen nach dem Aufstehen an ihren Computer. Aus Gewohnheit. Dabei war das letzte Projekt abgeschlossen und ein neues nicht in Sicht. Sie hatte die vergangenen Jahre mit Hochdruck an ihren Büchern gearbeitet, hatte einen autobiographischen Roman über Indien verfasst, das sie vor einer endlos scheinenden Zeit einmal besuchte und das damit verknüpfte Schicksal es so wollte, dass sie statt der geplanten 14 Tage drei Jahre in diesem Land verbrachte. Sie hatte eine Kinderbuchserie in drei Bänden geschrieben, die beinahe ebenso autobiografisch war wie der Roman, zumindest was den Lebenslauf des Hauptcharakters, des Pferdes, betraf. Sie hatte eine kurze Sommergeschichte verfasst und ein heilpraktisches Sachbuch über Pflanzenheilkunde geschrieben, inspiriert und gefördert von ihrem Hamburger, wie sie ihren Chef umgangssprachlich nannte. Er kannte den Markt besser als die meisten anderen und prophezeite ihr einen Riesenerfolg mit diesem Werk, denn Frauen und gesundes Leben, das sei schon immer ein Thema gewesen, was jede Frauenzeitschrift zu einem Renner machte. Meinte er. Der Erfolg blieb aus.

Nur theoretisch hatte er Recht gehabt. Leider haben sich die Zeiten geändert und der Buchmarkt lief schlecht wie nie. Dazu kam, dass Nicola einen Literaturagenten mit dem Temperament einer Schlaftablette hatte, wenn es darum ging, Bücher an den Mann zu bringen. Er war gute 65 und gesättigt. Hatte seine erfolgreichen Jahre hinter sich und kein Verlangen mehr nach Neuem. So geschah es, dass er Nicola und ihren Mann am langen Arm verhungern ließ.

Und sie verhungerten tatsächlich. Ihm stand die Privatinsolvenz ins Haus, da er Schulden angehäuft hatte, die er schon lange nicht mehr zu tilgen vermochte; und sie lebte von ihrem Einkommen, das Hamburg mit nach Hause brachte; von einem Job, der keine Zukunft hatte. Es war nur eine Frage des Glückes, wieviel Zeit ihr noch blieb bis auch sie ohne Einkommen dasitzen würde.

Und die Bücher wollten und wollten einfach nicht laufen. Was also sollte Nicola jetzt tun? Was war der nächste Schritt auf ihren Weg? Sich hinsetzen und den nächsten Roman schreiben? Dazu fehlte ihr der Optimismus, dass jemals irgendetwas aus der ganzen Sache herausspringen würde.

Wohin blinder Optimismus führt, sah sie an Gerold, der auf dieses Metier setze und existenziell am Rande des Abgrundes stand.

Allerdings arbeitete er auch schon lange nicht mehr. Viele Jahre war es her, als er - gemeinsam mit einem Freund - ein erfolgreiches Projekt gelandet hatte, das sogar verfilmt worden war. Er war zu seiner Zeit sehr gefragt gewesen, ist wochenlang durch Deutschland zu Lesungen aller Art gereist und hatte überdurchschnittlich viel Geld verdient. Doch das war lange vorbei. Seinen Lebensstil aber behielt er bei. In seinem Bewusstsein schwebte er immer noch in den unerreichbaren Gefilden eines erfolgreichen Schreibers mit vollen Konten, was er längst nicht mehr war. Nicola ertrug die unrealistischen Selbstdarstellungen schon lange nicht mehr, ganz im Gegenteil: es widerte sie an. Ihre Liebe zu ihm erstarb und ihre Gefühle zu ihm versickerten nach und nach im Morast seiner überzogenen, wahnhaften Selbstdarstellung.

Lolli schien das ganze Gegenteil: bodenständig, realistisch, sich darüber im Klaren, was er hatte und was nicht. Eben ein waschechter Bauer. Ohne Hirngespinste und abgehobene Vorstellungen. Ganz auf dem Boden der Tatsachen.

*

Sie hatte abermals Glück. Ihr Abendspaziergang führte sie an den Rand des kleinen Wäldchens, das zwischen ein paar verpachteten Gartenparzellen und einem Maisacker lag. Ein Nachbar bewirtschaftete sein Grundstück, von dem aus man einen traumhaften Blick über die weite Ebene des Naturparks hatte. Das Panorama, das sich einem von hier aus bot, war atemberaubend.

Die herumlaufenden Hühner auf seinem Grundstück dienten vor allem der Belustigung von Nicolas Hunden, die mal aufgeregt, mal ängstlich am Zaun auf- und abliefen, mal bellten, mal winselten und sich einfach nicht entscheiden konnten, ob sie die seltsam gackernden Wesen komisch oder beängstigend finden sollten.

Ein Knattern war zu hören. Irgendjemand fuhr mit einem alten Moped den angrenzenden Acker ab. Nicola erhaschte einen Blick durch die Sträucher. Lolli!

Kaum sah er sie, kam er auch schon an, schaltete den Motor aus und ging ihr entgegen. Was für eine Ausstrahlung! Umwerfend! Nicola verliebte sich auf der Stelle ein zweites Mal in ihn.

Kaum war Lolli bei ihnen, kam schon wieder dieser blöde Nachbar angelaufen, der ihr schon das erste Mal ihre Begegnung verdorben hatte. Nicht dieses Mal! Was für eine Nervensäge! Hatte der einen Peilsender in der Tasche oder was wollte der schon wieder hier?

Die drei Männer begannen sofort mit belanglosem Smalltalk. Einer von ihnen scherzte, er habe noch nie solch saubere Kühe gesehen wie die von Lolli, die zur Zeit auf der kleinen Weide vor dem Haus der Nervensäge standen.

"Ich behandle alle meine Frauen gut", meinte Lolli, der Nicola aus den Augenwinkeln beobachtete, sie aber nicht direkt ansah.

Nicola hielt sich abseits. Sie stellte sich nicht dazu, sondern lief ihren Hunden hinterher, die mittlerweile das Hühnerhaus entdeckt hatten, das etwas weiter oben im Garten stand und die nicht fassen konnten, was sich hinter den verdreckten Scheiben dort drinnen abspielte.

'Mach doch endlich, dass du weg kommst', Nicola schielte zur Nervensäge und dem Gartenzwerg, die beide Lolli in Beschlag nahmen. Dabei war er doch nur wegen ihr hier! Und sie wegen ihm! Warum also diese Zerreißprobe mit diesen beiden Typen, die oberflächlich vor sich hin plauderten und damit ihre pure Langeweile totschlugen? Hatten die echt nichts Besseres zu tun?

Nein, hatten sie nicht.

Das erste Anzeichen, dass sich diese Runde dort auflösen würde, registrierte Nicola sofort und reagierte umgehend. Sie war auf der Stelle bei Lolli. Die Nervensäge stieg auf sein Fahrrad und machte sich endlich vom Acker - eine Floskel, die hier draußen auf dem Land eine ganz andere Bedeutung erhielt - und der Gartenzwerg kündigte an, dass er noch irgendetwas machen wolle. Wunderbar! Lolli war frei.

"Lass uns ein bisschen spazieren gehen", säuselte Nicola ihm ins Ohr, ohne dass der Gartenzwerg dies zur Kenntnis nahm oder dem Beachtung schenkte. Er drehte sich um und ging. Sie waren allein.

*

Ihr erster, gemeinsamer Spaziergang. Er schob seinen Roller neben ihr her bis sie die Köhlerkate erreichten und stellte ihn dort in der Einfahrt ab. Die Hauptwohnung, welche direkt auf die große Einfahrt zuführte, wurde von Anfang an von Gerold bewohnt - obwohl es Nicolas Haus war. Sie wusste, dass Gerold jetzt drinnen auf seinem Sessel saß, den er extra für seine Computerarbeit angeschafft hat, und der so platziert war, dass er direkten Überblick über die Auffahrt zum Hof hatte. Wie ein Wächter saß er da und beobachtete alles. Sie konnte keinen Schritt ungesehen auf ihrem eigenen Grund und Boden tun. Jeder der kam und ging wurde begutachtet. Sie spürte seine Blicke auf ihr und Lolli ruhen, obwohl sie ihn nicht sehen konnte.

Schnell wandte sie sich vom Haus ab und Lolli zu, womit auch ihre Gedanken in eine andere Richtung gelenkt wurden.

Er zeigte ihr das Land, das er bewirtschaftete und das direkt hinter Nicolas Grundstück lag. Der Acker war so weit, dass er nicht zu überschauen war. Diese einfache, klare Sicht auf das Leben und diese Bodenständigkeit, die seinen Worten und seiner Haltung entsprangen, waren Music to her ears, wie die Amerikaner sagen würden. Keine hohlen Phrasen, keine Hirngespinste, keine Wahnvorstellungen von dem, was man ist oder was man hat. Klare Worte, sichtbar vor einem liegend, eindeutig ausdrückend, was ist und was nicht ist.

Sie waren knapp auf dem Rückweg und keine Viertelstunde unterwegs, als er die ersten Annäherungsversuche machte. Er zog sie fest an sich, wollte sie küssen, doch sie blockte ab, obwohl sie sich die letzten Tage vor Sehnsucht nach ihm verzehrt hatte. Einen Quicky mit diesem Fremden schnell mal zwischen Acker und Gebüsch, war sicher nicht, was ihr vorschwebte. Sie stieß ihn von sich.

"Was willst du?", fragte er sie, ihr dabei direkt in die Augen schauend.

Diese Direktheit irritierte sie. Sie fühlte sich benommen und verwirrt und wusste auf diese Frage keine Antwort. Sie blieb still. Guckte ihn nur an und der Zauber, der seit ihrer ersten Begegnung über ihnen lag, begann, sich zu verziehen.

Als sie die Köhlerkate wieder erreichten und Lolli sein Moped wendete, kam Gerold sofort angelaufen. Nicola hatte ihre Hunde im Haus gelassen, die sie jetzt freudig begrüßten und Gerold empfand es scheinbar als unglaublich wichtig, sie ihr sofort zu überreichen. Sein fehlendes Einfühlungsvermögen für Situationen war sie zwar gewohnt, doch dass er so stumpf war, erfüllte sie augenblicklich mit Scham. Sie schämte sich für diesen Mann. Die Situation war bedrückend, die Atmosphäre zum Schneiden erstickend. Hätte er nicht wenigstens warten können, bis Lolli weg war? Nicola war sofort klar: Gerold musste ausziehen. Und zwar umgehend! Solch eine Szene würde sie kein zweites Mal ertragen.

*

Gerold hat ihr versprochen, sich um die Wohnung einer alten Bekannten zu bemühen, die ein paar Orte weiter leerstand. Beata selbst wohnte in Berlin, kam aber ursprünglich von hier. Ihre Eltern wohnten noch immer im Haus ihrer Kindheit, einem Mietshaus mit mehreren Wohnungen, von denen jeweils eine ihr und eine ihrem Bruder gehörte. Ihre stand praktisch schon immer leer. Da Gerold und sie sich schon lange kannten und - träge wie Gerold war - er ohnehin keine Lust hatte, sich große Mühe mit der Wohnungssuche zu machen, war dies die optimale Lösung.

"Beata ist in einer Woche hier. Dann machen wir die Sache klar. Sie wird mir den Schlüssel überreichen, und dann kann ich da rein."

'Wunderbar!', dachte Nicola, 'was für eine Erlösung!'

Es folgte eine Woche des Wartens. Eine Woche der inneren Zerrissenheit. Sie wartete. Sie fieberte dem Moment entgegen, in dem sie endlich ihr Haus für sich hatte, ganz allein, ohne einen Wächter nebenan, der zu jeder Tages- und Nachtzeit den Hof beaufsichtigte.

Wie herrlich würde es werden, sich endlich frei bewegen zu können!

Natürlich hätte sie ihn auch einfach rausschmeißen können. Doch irgendetwas in ihr hielt sie zurück. Aus irgend einem Grunde wollte sie ein spannungsfreies Verhältnis zu Gerold beibehalten. Sie wollte sich nicht mit ihm streiten, ihn nicht aus ihrem Leben verbannen, sondern trotz allem eine Grundlage dafür schaffen, auch in Zukunft noch normal miteinander umgehen zu können.

Was ist nur aus dem großen, selbstbewussten, starken Mann geworden, der sie einst mit seiner monumentalen Ausstrahlung in seinen Bann gezogen hat? Wo ist der einst im Leben stehende, erfolgsorientierte Mensch geblieben? Wie konnte es dazu kommen, dass er sich selbst so sehr aus den Augen verloren hat? Heute, fast fünf Jahre später und 40kg schwerer, verwahrlost und arbeitsunfähig, siechte er in seiner vollkommen verdreckten Wohnung vor sich hin und brachte nichts mehr auf die Reihe. Nicht einmal mehr seinen Geruch konnte Nicola ertragen. Sie hat sich in Gerold verliebt, so wie er viele Jahre zuvor gewesen ist. Denjenigen, den sie heute vor sich sah, hat sie nie geliebt. Nicht einen einzigen Tag lang. Ganz im Gegenteil: sie ekelte sich vor ihm; bekam Herpes, wenn sie sich seine Nähe vorstellte und seit sie hier in der Köhlerkate wohnten, jagte eine Pilzinfektion die andere, bis sie schließlich ganz aufhörte, sich von ihm berühren zu lassen. Dieser Mann machte sie im wahrsten Sinne des Wortes krank.

*

"Hast du schon etwas von Beata gehört? Wann wollt ihr euch denn nun treffen?"

Seine Zusage, in einer Woche die Wohnung zu verlassen, war jetzt schon fünf Tage her.

"Keine Ahnung", meinte er gelangweilt, in seinem Schreibsessel versunken, vor sich hinstarrend. "Die weiß noch nicht mal genau, ob sie überhaupt kommt. Ihr geht’s irgendwie nicht so gut."

Nicola dachte, sie müsste platzen und konnte sich nur mit größter Anstrengung beherrschen:

"Dann fahr zu ihren Eltern. Die wohnen ja schließlich da. Dann sollen die dir eben den Schlüssel geben. Beata braucht sie doch nur anzurufen. Das kann doch nicht so schwer sein!", fluchte Nicola in einem annähernd beherrschten Ton. Immerhin hatte sie ihn nicht angeschrien, was sie jedoch am liebsten getan hätte: ihn genommen und seine ganze furchtbare Trägheit, die Lethargie, diese unerträgliche Handlungsunfähigkeit aus ihm herausgeschüttelt. Aber sie blieb ruhig, obwohl ihr ihre Abneigung mit allergrößter Sicherheit quer übers Gesicht stand und nicht einmal für ihn zu übersehen sein konnte.

"Ich will, dass du ausziehst. Und zwar jetzt!" Sie guckte Gerold direkt in die Augen. Ihr Blick war bestimmt und ihr Ausdruck ließ keinen Platz für Diskussionen. Selten war Nicola so kompromisslos und selbstsicher wie in diesem Moment. Sie wandte sich ab und verließ seine Wohnung. Ihr war schlecht. Sie wollte Gerold einfach nicht mehr sehen. Seine Anwesenheit war von diesem Tag an für sie nicht nur unerträglich sondern geradezu abscheulich. Und der Abstand zwischen ihnen war unendlich viele Male größer als die Distanz zwischen der einen Wohnung und der anderen. Und trotz des neu geschlagenen Durchganges gab es keinen Weg mehr von ihr zu ihm.

"Es tut mir Leid, da sind wohl meine Hormone mit mir durchgegangen." Lolli. Der Anruf kam ein paar Stunden nach dem letzten Treffen mit Gerold.

"Macht nichts", erwiderte Nicola, "das war mir tatsächlich ein bisschen zu schnell. Aber die Richtung stimmt schon."

Stille.

"Wollen wir am Wochenende was unternehmen?" Seine tiefe Stimme hallte in ihrem Herzen und ließ es bis zum Hals schlagen.

Und ob sie etwas mit ihm unternehmen wollte! Am liebsten jetzt sofort, hier und gleich.

"Am Sonntag könnten wir nachmittags auf die Freundschaftsinsel fahren. Wenn du Lust hast."

Mit dir würde ich überallhin fahren!

"Auf jeden Fall. Ich habe zwar schon von dieser Insel gehört, war aber selber noch nie da."

Natürlich war sie noch nie da. Wann denn? Und vor allem: mit wem? Gerold bewegte sich höchstens zwischen Schreibsessel, Küche und Bad hin und her. Auf diesen Wegen kam man einfach nicht viel rum.

"Komm um halb zwei zu mir. Dann fahren wir los."

*

Sonntag. Noch vier Tage. Ohne Frage: Lolli war wie eine Erlösung aus der Bedrückung ihrer eigenen vier Wände. Dabei war die alte Köhlerkate wunderschön gelegen und die Umgebung hätte schöner nicht sein können. Doch Nicola war es nicht vergönnt, in diesem Haus Frieden zu finden. Auch nicht, nachdem all die Sanierungsarbeiten abgeschlossen und das alte Fachwerk im Haus wieder freigelegt worden waren, zudem ein traumhaft schöner Kachelofen aus historischen Fliesen gesetzt wurde, den ein alteingesessener Ofenbauer noch in einer Hinterkammer zu liegen hatte. Auch nicht, nachdem das Dach neu gedeckt war und das Grundstück, gerade eingezäunt, nun einen sicheren Auslauf für ihre Hunde bot. Nicht einmal nachdem sie die Kate ausgeräuchert hatten und sogar eine Heilerin da war, die Haus und Grundstück energetisch gesäubert hat. Das alles half nichts. Das dumpfe Gefühl blieb. Ein latentes Unwohlsein begleitete jeden ihrer Schritte auf diesem Grund und Boden. Die niederdrückende Atmosphäre war nicht abzuschütteln. Ein wenig wurde sie aufgehellt durch die Gedanken an Lolli. Ein Lichtblick in der Dunkelheit. Ein Stern am Himmel. Doch in all ihrem Überschwang, geblendet von ihrer Begeisterung, merkte sie einfach nicht, dass sie dabei war, die Sonne auszuknipsen, um mit einer Kerze weiter zu wandern.

*

Die Halle war groß und finster. Die Schritte hallten in den hohen Räumen zwischen den Säulen auf dem steinernen, auf Hochglanz polierten Boden. Ein wenig Mondlicht drang durch die Scheiben und fiel vor ihre Füße, wie Strahlen, die durchs Fenster kamen und sich auf dem Marmor brachen. Sie konnte den Boden zwar kaum sehen, aber sie wusste, dass er spiegelglatt war. Hier und da blitzte etwas von dem Muster auf, verschnörkelte Ornamente, die am helllichten Tag in den schönsten Farben glänzten. Das wusste sie, denn sie konnte sich erinnern. Die Halle war ihr vertraut.

Das große Portal wurde geöffnet. Das Geräusch der sich bewegenden Flügel des Tores hallte ebenso wie ihre Schritte, die jetzt allerdings verstummt waren. Sie war stehen geblieben. Sie konnte das Portal nicht sehen, kannte sich hier aber aus und wusste, dass es etwas weiter vor ihr in der Dunkelheit lag, rechts hinter der zweiten, dicken, steinernen Säule. Auf sie zu trat er, der Herrscher, in all seiner Macht und unantastbaren Würde.

Sie realisierte, dass sie eine Sklavin war, gefolgt von jemandem mit einer Peitsche. Die Person hinter ihr erkannte sie nicht, sah nur, dass sie kleiner war als sie selbst und etwas gebückt ging. Dann sah sie an sich herab. Ihre Kleider waren einfacher Natur aber nicht zerrissen.

Sie gehörte schließlich zum Hofstaat. Sie waren allerdings dreckig, als hätte sie damit schwere, körperliche Arbeit geleistet. Vielleicht in einem Steinbruch oder einer Grube? Das wusste sie nicht genau. Was sie allerdings wusste war, dass ihr irgendetwas vorgeworfen wurde, dessen sie allerdings nicht schuldig war.

Angst stieg in ihr auf und mit jedem Schritt, den der Herrscher sich ihr näherte, wurde die Angst größer. Dann trat er ins Licht des Mondes. Lolli. Ihre Angst war nun unerträglich. Ging er noch einen Schritt auf sie zu, sie würde an ihrer Angst ersticken. In diesem Moment holte es von hinten aus und die Peitsche ging auf sie nieder.

Sie erwachte. Riss ihre Augen auf und lag erstarrt vor Schreck in ihrem Bett. Dunkelheit. Es war mitten in der Nacht. Oder war es schon morgens? Sie schaute auf ihr Handy: 3:48. Fast vier. Vier Uhr, die Stunde der Wölfe, wie ihr Chef zu sagen pflegte, oder auch: die Stunde der Wahrheit.

Wo sollte sie ihr Auto parken? Sollte sie einfach hochfahren, auf den Hof rauf? Oder lieber doch ein Stück weit weg, damit nicht jeder gleich mitbekam, wo sie war? Das Dorf war klein. Hier wusste jeder über jeden Bescheid und meinte meist, darüber hinaus noch vertrauliche Informationen zu besitzen, die es in den meisten Fällen gar nicht gab; die meistens nur halbwahr waren oder gänzlich erfunden.

Sie stellte ihr Auto etwas weiter unten im Dorf ab und lief das kurze Stück Straße hinauf. Der Hof war wirklich nicht schön gelegen. Ein Eckgrundstück, an dem allerdings keine wirkliche Straße, sondern nur ein Trampelpfad vorbei führte. Nur ein Hof weiter lag die Hauptdurchgangsstraße zwischen Trasstorf und Graven. Eine 50er Strecke, auf der die meisten mindestens 80 fuhren und nicht wenige auch mit 120 vorbeibretterten. Von dort ging die Dorfstraße ab und gleich der zweite Hof gehörte Lolli. Sie lief den kleinen Trampelpfad um den Hof herum und steuerte direkt auf den Stall zu. Eine dunkelrot gemalte, alte, fast zerfallene Tür wurde durch einen verrosteten Haken geschlossen gehalten. Sie öffnete. Der Hund schmiss sich sogleich wieder in die Kette und bellte aggressiv in ihre Richtung.

"Hallo, du bist ja schon da!", Lolli stand in einem kleinen Raum, der aussah wie eine Waschküche, und säuberte irgendwelche großen Bottiche.

"Halb zwei hatten wir gesagt, oder irre ich mich?"

Sie schauten sich an. Keiner sagte etwas. Der Blick übermalte das Gebell des Hundes, die Straße, sogar den Gestank des Stalls.

"Du siehst ja so schick aus."

Nicola schaute an sich herunter. In Lollis Stimme lag ein Unterton, der ihr auf der Stelle das Gefühl gab, dass es ihr peinlich sein musste, wie sie gekleidet war. Dabei waren es ihre ganz normalen Alltagssachen, wenn sie nicht gerade im Haus arbeitete oder auf der Baustelle stand: Einen langen Rock, der bis zum Boden reichte, aus leichten T-Shirt-Stoff, der weit fiel und ihr um die Beine spielte. Ein Trägershirt, eine Strickjacke, alles in grau und leichtem altrosé gehalten. Nichts besonderes, wie Nicola meinte. Doch unter Lollis Augen empfand sie ihre Kleidung als unangemessen.

Er stellte den letzten der vier großen Bottiche weg, wusch sich die Hände und trocknete sie an einem kleinen, verdreckten Handtuch, das an einer notdürftig angebrachten Leine baumelte, ab.

"Ich bin fertig. Jetzt muss ich mich nur noch umziehen."

"Kannst du mich vorher deinem Hund vorstellen?", bat Nicola.

Lolli guckte kurz etwas verdutzt, sagte jedoch nichts und folgte umgehend ihrer Bitte.

Er ging auf das arme Tier in der dunklen Ecke zu. Der Hund akzeptierte ihn als seinen Herrn, denn er duckte sich sogleich zur Erde und krauchte förmlich in seine Richtung.

"Komm Aestor, alles gut", der Hund war dieser tiefen Stimme genauso ergeben wie Nicola.

Sie ging zu dem Schäferhund und streichelte ihn. Er stank und sein Fell war schmierig. Sie hatte augenblicklich das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Ganz anders als bei ihren Kleinen.