Stierkampfnovelle - Tim Schneider - E-Book

Stierkampfnovelle E-Book

Tim Schneider

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Beschreibung

Stierkampfnovelle erzählt von der unerhörten Begebenheit der Begeg­nung zweier Männer mit diametral entgegen­gesetztem Naturell und kulturellem Hintergrund, deren Lebens­wege sich für kurze Zeit im Um­feld des hochum­strittenen spanischen Nationalrituals kreuzen. Für den aus einfachsten Verhältnissen stammenden andalusischen Fischer­sohn José Sanchez, einer derben rustikalen Kraft­na­tur, ist die Corrida in erster Linie ein gut be­zahl­ter Kampf mit dem Stier, ein »Niederringen der Bestie«, die er »zur Not auch totprügeln« würde. Dage­gen interessiert sich der aus bundesdeutschem Akademikermilieu stammende feinsinnige Schöngeist Thomas E. Hilpert vorrangig für die Tauromachie als Kunstform, in der das Töten des Stiers »nur ein Moment eines ästhetischen Formprozesses« dar­stellt. Die sich wech­sel­seitig ergän­zende Gegen­sätz­lichkeit ihrer Anlagen scheint zunächst die innige Freund­schaft der beiden jungen Männer zu befesti­gen - ehe eine scheinbar banale Frauengeschichte sie auf Jahre entzweit. Erst bei ihrem zunächst versöhnlichen Wie­der­sehen in ge­setz­tem Alter kommt es zum Show­down, in dem die Prin­zipien und die Körper mit voller Wucht auf­einanderprallen.

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Tim Schneider

Stierkampfnovelle

Stierkampfnovelle erzählt von der unerhörten Begebenheit der Begegnung zweier Männer mit diametral entgegengesetztem Naturell und kulturellem Hintergrund, deren Lebenswege sich für kurze Zeit im Umfeld des hochumstrittenen spanischen Nationalrituals kreuzen. Für den aus einfachsten Verhältnissen stammenden andalusischen Fischersohn José Sanchez, einer derben rustikalen Kraftnatur, ist die Corrida in erster Linie ein gut bezahlter Kampf mit dem Stier, ein »Niederringen der Bestie«, die er »zur Not auch totprügeln« würde. Dagegen interessiert sich der aus bundesdeutschem Akademikermilieu stammende feinsinnige Schöngeist Thomas E. Hilpert vorrangig für die Tauromachie als Kunstform, in der das Töten des Stiers »nur ein Moment eines ästhetischen Formprozesses« darstellt. Die sich wechselseitig ergänzende Gegensätzlichkeit ihrer Anlagen scheint zunächst die innige Freundschaft der beiden jungen Männer zu befestigen – ehe eine scheinbar banale Frauengeschichte sie auf Jahre entzweit. Erst bei ihrem zunächst versöhnlichen Wiedersehen in gesetztem Alter kommt es zum Showdown, in dem die Prinzipien und die Körper mit voller Wucht aufeinanderprallen.

Tim Schneider wurde im Zeichen des Stiers am 14. Mai 1964 in Radolfzell am Bodensee geboren. Er studierte zunächst Klavier in Stuttgart und Basel, später Philosophie, Musikwissenschaft und Linguistik in Köln. Seit 1999 lebt er als freier Autor, Übersetzer und Musiker in Berlin.

www.timschneidertexte.jimdofree.com

Tim Schneider

Stierkampfnovelle

© 2021 Tim Schneider

Umschlaggestaltung: Tim Schneider

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN 978-3-347-31397-2 (Paperback)

ISBN 978-3-347-31399-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und des Autors

unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige

Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet die Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Vorbemerkung

Im Text gelegentlich vorkommende spanische Wörter und Wendungen, besonders Jargon- und Fachausdrücke der Stierkampfsprache, finden sich in einem Glossar am Ende des Bandes übersetzt bzw. erläutert.

Auf Übersetzung des streckenweise auf Englisch geführten Dialogs glaubte der Autor hingegen verzichten zu dürfen, da er die heutzutage bei deutschen Leser*innen standardmäßig voraussetzbaren Englischkenntnisse als zum Verständnis dieser Passagen ausreichend einschätzt.

 

Vom Tode seines Jugendfreunds, des einst umjubelten Stierkämpfers José Sánchez, erfährt der unumjubelte, obgleich auskömmlich erfolgreiche Filmmusikkomponist Thomas E. Hilpert, als er an einem sonst vielversprechenden Junimorgen des Jahres 2016 in einer Berliner Espressobar wie gewohnt auf seinem Laptop durch die Online-Ausgabe von El País scrollt. Kurz und lapidar gab die Meldung bekannt, dass Sánchez, bei den Aficionados besser bekannt unter seinem Künstlernamen Pez Espada, am Vorabend des Vortages aus einem Sevillanischen Bordell, wo er, einen der dort angebotenen Dienste in Anspruch nehmend, einen Herzinfarkt erlitten hatte, von der Notambulanz abgeholt worden und noch in derselben Nacht im Krankenhaus verstorben sei, nachdem ein erfahrenes Ärzteteam mehrere Stunden vergeblich um seine Wiederbelebung gerungen hatte, wie es hieß.

Die erste Empfindung, die Hilpert beim Lesen überkommt, ist eine zweifache Verstimmung: erstens über den Druckfehler im Namen des Freundes (Sánghez statt Sánchez); zweitens über die seiner Ansicht nach bezeichnende, und zwar im ärgerlichen Sinn bezeichnende Tatsache, dass sich die fast schamhaft wenigen Zeilen ganz am Ende der Seite in den Obituarios fanden, als etwas gleichsam in den hintersten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung Abgeschobenes und Verdrängtes, anstatt in angemessener Aufmachung im Deporte-Teil zu erscheinen, wo stattdessen lang und breit das für das Weiterkommen in der Champions League gerade so hinreichende 1:1 besprochen wurde, das Real vergangenen Samstag zuhause gegen Atletico erzielt hatte.

Nicht einmal ein Bild des Pez Espada, etwa das in den 80er Jahren in Spanien wie eine Pop-Ikone verbreitete mit dem bullig herben Gesicht und der unorthodox ein wenig zu tief in die Stirn gezogenen, so den Ausdruck brutaler Entschlossenheit, Sánchez’ Markenzeichen, unterstreichenden Montera, hatte man dem Text beigefügt. Dabei wäre das doch, im Zeitalter der digitalen Medien, kein großer Aufwand gewesen, dachte Hilpert. Hier aber war offenbar selbst der kleinste gescheut geworden.

Es war alles nicht mehr das.

Während sein Gehirn reflexhaft Sounddesigns und rhythmische Patterns durchscannt, die sich zur Untermalung der Szene eignen würden, die jetzt vor seinem inneren Auge abrollt wie eine Sequenz aus einer der schwachsinnigen TV-Serien, für die er regelmäßig seine Scores abliefert – Bordellzimmer in funzeligem Rotlicht, darin ein Geschlechtsakt von verschwitzter Schludrigkeit, dann Sánchez’ Körper schwerfällig auf dem Bett zusammen sackend, Schnitt, Blaulichtkarussell, eilige Sanitäter mit Trage, Schnitt, Intensivstation, Messgeräte mit grünen Flimmerkurven, Arztkommandos höchster Alarmstufe, Defibrillatoren in ächzender Action und so weiter – fragt sich Hilpert in einer Mischung aus Neid und Ekel, ob er sich den Jugendfreund im Augenblick des Todes als glücklichen Menschen vorstellen muss: ob José seine letzten Minuten in den Armen seiner Stammnutte in seinem Stammpuff verbringen durfte, oder ob er bei irgendeiner anonymen Sexdienstleisterin gelandet ist, die keinen Schimmer hatte, wen sie da zu Tode ritt oder blies – falls sie den ihr ganz unbekannten Kunden (nachdem dieser, vielleicht auf eine Vergünstigung hoffend aufgrund des Renommees, das seiner Meinung nach Stierkämpfer bei Frauen noch immer genossen, sich ihr offenbart hatte als einstmals berühmter Matador, nämlich als José Sánchez, der Schwertfisch, die Stierkampflegende seiner Zeit) nicht einfach nur auslachte, indem sie erstens auf Stierkämpfer einen Dreck gab und zweitens solch Wuchern mit dem Pfund einer großen Vergangenheit, angesichts der Fettleibigkeit, die Sánchez nach dem Ende seiner aktiven Karriere sich nach und nach angefressen hatte (und deren Anblick auf alles andere als Geschicklichkeit im Ausweichen vor anstürmenden Kampfstieren zu deuten schien), ihr ohnehin nur als plumpe Aufschneiderei und besonders billiger Trick vorkam.

All diese Erwägungen münden in Hilperts Hirn schließlich in die Erkenntnis, dass er über die letzte Phase im Leben seines Freundes imgrunde gar nichts weiß.

Hilpert schließt die El-País-Seite und klappt den Laptop zu. Kurz erwägt er, ob er Blanca Isabel anrufen soll, doch verwirft er den Gedanken gleich wieder. Wenig wahrscheinlich, dass Blanca noch dieselbe Nummer hat wie vor – bezeichnenderweise muss Hilpert erst nachrechnen – dreiundzwanzig Jahren. Genau so wenig wahrscheinlich, dass die einstige Olivenkönigin über die späten Lebensumstände des Stierkämpfers mehr wissen sollte als er, Hilpert, selber. Kaum wahrscheinlicher außerdem, dass Blanca Isabel ausgerechnet jetzt, nach fast einem Vierteljahrhundert Funkstille, Lust haben sollte, ausgerechnet mit ihm, Hilpert, ausgerechnet über José zu sprechen, wohl wissend, dass sie abgesehen von dem pikanten Detail, für kurze Zeit die Verlobte seines besten Freundes gewesen zu sein, in seinem Leben keine größere Rolle gespielt hat als irgendeine der paar Dutzend Affären, die er im Lauf der Jahre mehr oder weniger elegant abserviert hat.

Da er das Handy schon in der Hand hat, überlegt Hilpert noch, ob er Renate anrufen soll, gibt aber auch diesem Impuls nicht nach. Garantiert würde Renate, in der ihr eigenen misstrauischen Art, sofort unterstellen, er, Thomas E., versuche jetzt, zwei Jahre nach ihrer Trennung, den Tod des Jugendfreundes als Vorwand zu benutzen, um wieder mit ihr in Kontakt zu treten. Womit seine Exfrau, wie Hilpert zum Glück noch rechtzeitig bemerkt, nicht einmal ganz falsch gelegen hätte.

Da ihm aber auch sonst niemand einfällt, mit dem er jetzt über José Sánchez reden könnte, sieht im Moment alles danach aus, als müsste Thomas E. Hilpert mit dem Tod seines Freundes gerade so allein bleiben wie dieser selber mit seinem Tod. Genau genommen, überlegt Hilpert, sogar noch alleiner. Schließlich ist bei ihm noch nicht mal eine Nutte.

Für den Rest des Tages hat der Filmmusikkomponist nichts Besonderes vor. So gesehen hätte Hilpert jetzt ebenso gut in seiner Espresso-Bar sitzen bleiben, den Laptop aufgeklappt lassen und Word öffnen können, um mangels anderer Leute, die mit ihm über José Sánchez hätten reden wollen, die Geschichte ihrer Freundschaft aufzuschreiben.

Leider ist das Schreiben nicht gerade Hilperts Stärke. Besser schon, wir übernehmen das für ihn. Entlassen wir also Thomas E. Hilpert aus der Espresso-Bar und sehen ihm, bevor wir loslegen, noch ein Weilchen nach, wie er in der strahlenden Junisonne eine dieser bunten modernen verkehrsberuhigten Straßen auf dem Prenzlauer Berg hinuntergeht, sich an seine letzte denkwürdige Begegnung mit José Sánchez erinnert und auf weitere Empfindungen wartet.

I. Teil

1

Giovanni: E la luce?

Juan: ¿Y la lucha?

(Anonym)

Thomas E. Hilpert erhielt seinen zweiten Vornamen, Ernesto, von seinem Vater, Ernst Heinrich Hilpert, damals international angesehener Professor für Kunstgeschichte, Experte für die Malerei des Siglo de Oro.

Des Professors Liebe zu Spanien hatte immer schon weit mehr umfasst als nur jene reiche Tradition der Bildenden Künste, die für jeden Kenner Gegenstand gegründeter Wertschätzung und staunender Bewunderung ist. In einer Art sehnsüchtigen Schwärmerei, die sich mit zunehmendem Alter ins geradezu Idolatrische steigerte, galt Hilperts Liebe vielmehr dem Spanischen schlechthin, genauer gesagt dem, was sich in seinem Kopf in letzter Verdichtung als der spanische Gedanke festgesetzt hatte. Großzügig (obschon darin zugleich selektiv und nicht immer gerecht gegen die Vorzüge anderer Länder, insbesondere des eigenen) verströmte sich Hilperts Spanienliebe, die manch einer selbst seiner Freunde in gutmütigem Spott auch schon mal einen Fimmel nennen mochte, über die iberische Nation als Ganzes, ergoss sich ebenso bekenntnishaft wie lustvoll über Sprache, Landschaften, ehrwürdige alte Städte, die gesamte Kultur und Lebensart, so auch nicht zuletzt die spanische Küche, den Wein und die Frauen, deren Kenner und Liebhaber Hilpert war.

Man wird Ernst Heinrich Hilpert glauben dürfen, dass es nicht sein Bestreben war, dem Sohn mit jenem Segundo Apellido, Ernesto, nach patriarchaler Manier den eigenen Rufnamen, kenntlich kaschiert in der spanischen Form, als sozusagen immaterielles Vatererbe in die Wiege zu legen. Es sollte jene Taufe von nichts anderem zeugen als von Hilperts Bedürfnis, seinem leidenschaftlichen Hispanismus einen Ausdruck zu verleihen, der im Namen des Sohnes zeit dessen Lebens, und so über sein, Ernst Heinrichs, eigenes hinaus, klangvoll spanisch nachhallen würde. Mochte auch Hilpert in seiner weltanschaulichen Überzeugung ein Gegner der katholischen Religion, wie überhaupt jeglicher konfessionellen Religiosität sein: seine Spanienliebe war doch so umfassend, dass sie diese kleine Verbeugung vor der katholischen Kultur des gelobten Landes, wie die Sohnestaufe sie darstellte, ganz undogmatisch einschloss.

Einen zusätzlichen Schub erfuhr der Hilpertsche Spanienkult zu der Zeit, als unter den progressiven Intellektuellen der damaligen Bundesrepublik die später sprichwörtlich gewordene Toskana-Verklärung zunehmend en vogue kam. Obwohl politisch der diesem lieblichen Landstrich so zugeneigten Fraktion nicht ganz fernstehend, erkannte Hilpert doch in seiner spanischen Gegenutopie das geistig und ästhetisch ihm Gemäßere. Dem Milden und Sanften und der arkadischen Süße, jener vorweggenommenen Versöhnung von Allem mit Allem und von Allen mit Allen, als deren kulturlandschaftliches Sinnbild der Vulgärhedonismus (Hilpert) der Gegenpartei die Toskana beschwor, setzte er iberische Rauheit und Härte entgegen; dem schmeichelnd einlullenden mediterranen Balsamlicht die grelle, von allem Schein des der Menschenseele Entgegenkommenden gleichsam entblößte Materialität: jene trockene, schimmerlose, zuweilen feindliche und geradezu verletzende Helle, in der unter der spanischen Sonne Dinge und Gesichter in die Erscheinung traten, ja in die Erscheinung geradezu hinein sich stemmten, zu ihr vorstießen, fordernd und obszön. Dem toskanisch-elysischen Einssein von Subjekt und Natur misstraute ein Geist, der in den kargen Sierras und Hochebenen Spaniens eine Ursprünglichkeit zu erfahren vermeinte, sprachlos und uneinnehmbar resistent, deren Sinn nicht in der tröstlichen Verschmelzung von Licht und Ding läge, sondern in deren repulsivem Aufeinanderprallen; eine Ursprünglichkeit, in der nicht stille Glückseligkeit und heiteres Otium heimateten, sondern der Kampf.

Dass Hilpert als moderater Sympathisant zum weiteren Umfeld der deutschen akademischen 68er dennoch gehörte, hatte ihn seinerzeit zu einem unter den Studierenden beliebten Dozenten und gefragten Doktorvater gemacht. Dies mag insofern erstaunen, als Hilpert von den Effekten, mit denen der Kapitalismus, gegen den man sonst erbittert opponierte, die Sphäre der Kunst immer mehr mit einer buchstäblich Schwindel erregenden Vermarktung zersetzte, ganz offensichtlich profitierte. Zuzüglich einer stattlichen Erbschaft durch einträgliche Nebentätigkeiten als Gutachter bedeutender Museen und Auktionshäuser zu Vermögen gekommen, zögerte Hilpert nicht, sich einen lang gehegten Lebenstraum zu erfüllen, indem er, einige Jahre vor seiner, übrigens vorzeitigen Emeritierung, in der Gegend von El Bosque im andalusischen Hinterland eine herrlich gelegene alte Finca erwarb: La Herradura, das Hufeisen, war der Name des Anwesens.

Zu dieser Zeit hatte das Francoregime, dem Druck der globalen Zeitläufte nachgebend, bereits begonnen, sich der einen oder anderen liberalistischen Lockerungsübung zu befleißigen, die es, von außen betrachtet, nicht mehr ganz so präpotent grandenhaft, als vielmehr schon ein wenig donquijotesk linkisch im Sattel sitzend erscheinen ließen. Nach innen zwar versahen die Exekutivorgane des greisen Diktators noch immer weithin spürbar ihr repressives Amt, und selbstverständlich stand Hilpert dem allem vehement ablehnend gegenüber. Indes er auf La Herradura hatte ja unter den politischen Verhältnissen nicht zu leiden; außerdem war deren baldiges Ende damals schon absehbar. Und es hatte nun einmal Spanien sein müssen.

Wie Thomas Ernesto früh begreifen lernte, hatte sein Vater für das Erfüllen von Lebensträumen überhaupt eine ausgeprägte Begabung. Nur zu glücklich war für Ernst Heinrich der Erwerb von La Herradura mit der Erfüllung eines weiteren Traumes zusammengefallen. In einem vorgerückten Mannesalter stehend, das sich für ihn in jeder Hinsicht als das sprichwörtlich beste erweisen sollte, hatte nämlich Hilpert am Rande einer Tagung der CETA in Madrid eine blutjunge Spanierin kennen gelernt, die er mit seinem Charme, seinem Esprit, möglicherweise aber auch mit seiner herrlich gelegenen Finca, in wenigen Tagen nicht allein zu erobern, sondern dauerhaft an sich zu fesseln vermochte. Es war um María Asuncións willen, dass Hilpert sich wenige Monate später von Hannelore, der Mutter seines Sohnes, scheiden lassen sollte. Und während Thomas bei seiner nunmehr alleinerziehenden Mutter in einer nunmehr erheblich kleineren Reihenhauswohnung in einer nicht weiter erwähnenswerten (und darum hier auch namenlos bleibenden) Düsseldorfer Vorstadtsiedlung aufwuchs, verbrachte der Professor von nun an seine vorlesungsfreie Zeit größtenteils mit María Asunción auf La Herradura, bei Sonne, Wein, Kunstbildbänden und Liebe.

Unser Vertrauen in die Vorstellungskraft des Lesers, der, sei es aus eigener Erfahrung, sei es vom Hörensagen, mit wenigstens einer Geschichte dieser Art bekannt sein wird, lässt es geraten scheinen, den Mantel des Schweigens über die folgenden Jahre ehelicher Verwerfungen, psychologischer Scharmützel und nicht zuletzt logistischer Komplikationen zu breiten, die auf diesen tiefen Einschnitt in letztlich auch Thomas Ernestos Biografie folgten. Es genügt, zu erwähnen, dass Hannelore Hilpert, nachdem sie im Scheidungsprozess zunächst das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zugesprochen bekommen hatte, mit den Jahren mehr und mehr der Trunksucht verfiel, weshalb ihr zu guter Letzt das mit verbitterter Vehemenz Erstrittene wieder aberkannt werden und infolgedessen der damals elfjährige Junge zu Vater und Stiefmutter ziehen musste, die sich inzwischen dauerhaft auf La Herradura niedergelassen hatten.

Spanien war jetzt von der Diktatur befreit und immerhin parlamentarische Monarchie geworden – gerade rechtzeitig nachdem der Professor, nun auch seiner akademischen Verpflichtungen glücklich ledig, sich entschlossen hatte, der alten Bundesrepublik endgültig, wie man sagt, den Rücken zu kehren. Als Thomas Ernesto ihm nachfolgte, kam er in ein freies, zunehmend der kulturellen Moderne zugewandtes Land, das sich im Bewusstsein einer Art Rundumverjüngung in einen Prozess neuer Selbstfindung begeben hatte, was sich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in einem Klima von Freiheit, Fortschrittlichkeit und Weltoffenheit niederschlug.

Bald nach Thomas Ernestos Ankunft auf La Herradura folgte ihm sein geliebter Bechsteinflügel nach, den der Junge eine Reihe von Jahren schon, seit er mit dem Klavierunterricht angefangen hatte, eifrig zu bespielen pflegte und den er nun von seiner Mutter, deren Eigentum er eigentlich war – wir möchten, um es so wertfrei wie möglich auszudrücken, sagen: übernommen hatte. Geschenkt nämlich hatte ihm die Mutter das Instrument eigentlich nicht; es ein Erbstück zu nennen verbietet sich angesichts der Tatsache, dass Hannelore Hilpert, wenn auch in mehr und mehr zerrüttetem Zustand, noch lebte; von Diebstahl zu sprechen aber hieße sowohl dem Jungen eine Böswilligkeit unterstellen, an die sein kindliches Gemüt damals bei weitem noch nicht heranreichte, als auch der Mutter einen Besitzanspruch, den sie zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr dezidiert zu stellen in der Lage war.

Hannelore Hilpert, die sich inzwischen wieder mit ihrem sogenannten Mädchennamen Kolbe nannte, war eine durchschnittlich begabte Mezzosopranistin, die, bevor sie Gattin des Kunsthistorikers wurde, ihre prekäre Existenz mit Gesangsstunden und als Aushilfe im Opernchor finanziert hatte. Der Bechstein war, pünktlich zum Abschluss ihres Studiums, durch den Tod eines entfernten Onkels im Thüringischen auf sie gekommen, ein Erbmassenteil, für den außer ihr in der Familie niemand Verwendung hatte – eher, wenn man so sagen kann, im Gegenteil. Der ziemlich verlotterte alte Kasten war zu der Zeit schon einigermaßen heruntergespielt, der Klang im Bass pappig, im Diskant aufgespleißt und hauchdünn; doch machte der Flügel optisch etwas her, und die Mittellage erwies sich, wenigstens für die Zwecke des Gesangsunterrichts, als immer noch tauglich. Eine aufwändige Restaurierung hatte man von daher zunächst für unnötig erachtet; erst nachdem Thomas Ernesto im Klavierspiel Fortschritte machte, die allgemein als untrügliche Anzeichen von Talent gedeutet wurden, investierte Professor Hilpert die deutlich über dem Bagatellbereich liegende Summe, mit der sich ein in Ehren gealtertes Museumsstück in ein spielbares Instrument verwandeln ließ, das mit der sich rasch entwickelnden Fingerfertigkeit des Jungen mithalten konnte. Mit eifrigem Üben, zunehmendem Können und regelmäßigen Achtungserfolgen bei Jugend musiziert aber hatte sich Thomas Ernesto im Lauf der Jahre den Status des faktischen Flügelbesitzers erspielt, und als eines Morgens, wenige Tage nachdem er die mütterliche Wohnung verlassen hatte, die dreiköpfige Packertruppe des von Ernst Heinrich beauftragten internationalen Klaviertransports vor der Tür stand, dachte Hannelore Kolbe gesch. Hilpert selbst schon nicht mehr daran, dass das gute Stück eigentlich ihr gehörte.

Bald hatte sich in El Bosque ein Klavierlehrer gefunden, der ins Haus kam, sodass Thomas den gewohnten Unterricht auch in Spanien fortsetzen konnte. Dank einem angeborenen feinen Ohr und der suggestiven Beredsamkeit seiner jungen Stiefmutter, erlernte er auch das Spanische schnell. Professor Hilpert hatte dazu früher schon, durch spielerische Lektionen in der Sprache, die er selber, wie sich versteht, fließend beherrschte, gute Vorarbeit geleistet. An der Primaria, die Thomas Ernesto in El Bosque besuchte, verstand er sich rasch einzufügen; nicht länger als ein Jahr dauerte es, bis seine Leistungen den Stand wieder erreicht hatten, den er aus seinen Schuljahren in NRW gewohnt war, nämlich einen durchweg hervorragenden. Die äußere Erscheinung des Jungen mit dem hellen, zu Blässe neigenden Teint und dem luftig gelockten Blondhaar ließ ihn unter den einheimischen Klassenkameraden hervorstechen – was ihm übrigens mehr ehrfürchtige Beachtung eintrug als fremdelnde Hänseleien. Sein Spanisch dagegen war in Duktus und Intonation von dem der nativen Sprecher bald kaum noch zu unterscheiden, bis auf ein leichtes Hinterherhinken im Sprechtempo, dessen prasselndes Prestissimo er nie ganz erreichen sollte. Ansonsten aber konnte der Professorensohn, der jetzt von allen nur noch Ernesto gerufen wurde, bald als hervorragend assimilierter Deutschspanier gelten.

Indes sein Vater war entschlossen, diese Assimilation noch weiter voranzutreiben. Unter allen denkbaren Formen aber, mit der Kultur des Gastlandes in Berührung zu kommen, gab es eine, die ihm dies auf besonders privilegierte Weise zu leisten schien und die zum spanischen Gedanken den zweifellos unmittelbarsten und intensivsten Zugang bereiten musste. Er meldete Ernesto bei einer Stierkampfschule an.