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Der zweite Schwarzwaldkrimi um Lehrer Hubertus HummelKein guter Tag für Hubertus Hummel: Erst verliert seine Eishockeymannschaft gegen den Erzrivalen, dann bleibt die Schwarzwaldbahn mitten im Schneegestöber stehen und Hummels Freund Klaus Riesle stößt in der Zugtoilette auf den ermordeten Chef einer ortsansässigen Brauerei. Vom Täter weit und breit keine Spur. Gibt es einen Zusammenhang mit der drohenden Übernahme der Firma durch eine Großbrauerei? Die Hobbydetektive Riesle und Hummel haben alle Hände voll zu tun, doch dann geschieht ein zweiter Mord …
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© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020
© 2003 Romäus Verlag Villingen-Schwenningen (Erstausgabe)
Ummenhofer, Stefan & Alexander Rieckhoff GbR
© Piper Verlag GmbH, München 2012
Covergestaltung: bürosüd, München
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1. Eishockeyblues
2. Schwarzwaldbahn – 20 Uhr 50 ab Offenburg
3. Drei schlechte Zeugen
4. Ziiieh!
5. Verfolgungsjagd
6. Budenzauber
7. Bärenfamilie
8. Donauquell
9. Stille Nacht
10. Rendezvous mit der eigenen Frau
11. Bäuerle und Silbermann
12. Orgelpfeifen
13. Die Quittung
14. Tennenbronn
15. Prokurist Prokopp
16. Romeo in Marbach
17. Heiße Spur im Schnee
18. Vorteil Müller
19. Neujahrskonzert
Dampfschwaden lagen über Bahnsteig 2 des Mannheimer Hauptbahnhofs. Sie stammten von den Fahrgästen, die steif gefroren auf den Intercityexpress in Richtung Basel warteten. Hubertus Hummel zog sich seine Pudelmütze tief ins Gesicht. Er war Mitte vierzig und von Beruf Lehrer. Momentan musste er froh sein, dass ihn keiner seiner Schüler zu Gesicht bekam. Um den Hals trug er seinen blau-weißen Schal, der noch immer nach Glühwein roch. Immer wieder stampfte er mit den Füßen auf, doch seine blutleeren Zehen wollten einfach nicht warm werden.
Aber nicht nur deshalb war er schlecht gelaunt.
»Das war’s dann. So ein verdammter Mist, Klaus«, murmelte er seinem Begleiter zu.
Klaus Riesle, der Lokaljournalist vom Schwarzwälder Kurier, sah auch nicht gerade glücklich aus. Dabei war der drahtige Mann mit den kurzen dunklen Haaren ansonsten stets hellwach und begierig, irgendwelche Neuigkeiten aufzuschnappen. Die beiden Freunde hatten über die Jahre mindestens dreihundert Eishockeyspiele ihres Lieblingsklubs Schwenninger ERC mitverfolgt. Doch eine Stunde zuvor hatten Hubertus, Klaus und weitere zwölftausend Zuschauer das letzte Saisonspiel der »Wild Wings«, wie die Schwenninger Mannschaft neuerdings genannt wurde, mitverfolgt – und zwar ausgerechnet beim Erzrivalen »Mannheimer Adler«. Drei zu fünf hatten sie an diesem Freitagabend nach einem harten Kampf das siebte und letzte Play-off-Viertelfinale verloren. Und dabei waren sie so knapp an einer Sensation dran gewesen!
»Das Leben ist nicht fair«, seufzte Riesle und beobachtete ein paar laut johlende Mannheimer Eishockeyfans, die siegestrunken in einen der auf Gleis 5 wartenden Vorortzüge stolperten. Hummel warf einen Blick auf die Anzeige.
»Verdammt. Zehn Minuten Verspätung«, fluchte er. »So kriegen wir den Anschluss in Offenburg nie.« Er holte die Hände aus den Taschen und hauchte mehrmals kräftig in die Fäuste: »Wir hätten eben doch mit einem der Fanbusse fahren sollen.«
»Oder mit dem Kadett«, ergänzte Klaus Riesle. Auf seinen alten Opel ließ er nichts kommen. Nur mit Mühe hatte Hubertus ihn davon überzeugen können, angesichts der großen Schneemenge den Zug zu nehmen.
Hubertus winkte ab: »Was soll’s, lässt sich jetzt eh nicht ändern. So treffen wir wenigstens Edelbert.«
Edelbert Burgbacher war ein guter Freund der beiden. Er hatte mit Eishockey allerdings so wenig am Hut wie Klaus mit der Schauspielerei. Letztere war die Leidenschaft von Burgbacher, der das kleine Zähringer-Theater in Villingen leitete. Im Eishockeystadion war er nur einmal in seinem Leben gewesen: damals, als Hubertus und Klaus den Mord an einem Lehrerkollegen von Hummel aufgeklärt hatten. Damals waren die »Wild Wings« nach einer langen Durststrecke wieder in die oberste Spielklasse aufgestiegen.
Edelbert war am heutigen Tag zu Gast in der Frankfurter Oper gewesen. Auf dem Programm hatte Wagner gestanden, »Der fliegende Holländer«. Ein wenig zu wuchtig für Edelbert, der eigentlich italienische Opern vorzog, doch bei Freikarten durfte man sich nicht beschweren.
Die Freunde hatten sich für die Rückfahrt verabredet. Edelbert wollte den ICE um achtzehn Uhr fünfzig ab Frankfurt Hauptbahnhof nehmen und Hubertus und Klaus um neunzehn Uhr fünfunddreißig in Mannheim aufgabeln.
Doch nun zeigte die Uhr über dem Gleis bereits neunzehn Uhr zweiundvierzig an – und vom Zug war weit und breit nichts zu sehen.
Plötzlich knarzte die Stimme der Zugansagerin in breitem Mannheimerisch durch den Lautsprecher: »Auf Gleis 2 fährd jetzt ein der verspädede Intercityexpress nach Basel.«
Hubertus und Klaus stiegen ein und durchforsteten die Abteile auf der Suche nach ihrem Freund. Erst kurz vor Karlsruhe fanden sie ihn – im Speisewagen, bei einer teuren Flasche Rotwein, völlig vertieft ins Gespräch mit einem eleganten Mann um die fünfzig, der dunkles, grau meliertes Haar hatte und eine stilsichere randlose Brille trug.
»Das Ableben Sentas hätte man nun weiß Gott eindrücklicher inszenieren können«, dröhnte Burgbachers Bass durch den Wagen. Die Äderchen auf seiner Stirn und an den Schläfen pochten vor Empörung, auf seiner Glatze spiegelte sich das matte Zuglicht. Auch er hatte sich heute in Schale geworfen und trug einen dunklen Anzug. »Preis deinen Engel und sein Gebot!«, deklamierte er. »Hier steh’ ich – treu dir bis zum Tod.«
»Ich verstehe auch nicht, warum man sie aus einem Pappleuchtturm statt von einem Felsen hat springen lassen«, stimmte der Graumelierte zu.
Von Hubertus und Klaus nahmen die beiden Kunstsinnigen keine Notiz. »Großartig, Edelbert!«, meinte Klaus. »Wir rennen kreuz und quer durch den Zug – und du sitzt hier, beachtest uns nicht und schwafelst über Opern!«
»Die Frist ist um, und abermals verstrichen sind sieben Jahr’«, zitierte Edelbert textsicher, kehrte dann aber wieder in die Realität zurück. »Bitte entschuldigt, darf ich euch Dr. Peter F. Schlenker vorstellen, wenn ihr ihn nicht ohnehin schon kennt: Kunstliebhaber, Mäzen, Vorstandsvorsitzender und Miteigentümer der Schwenninger Bären-Brauerei. Das ist der Mann, dem ich die Freikarten für die Frankfurter Oper verdanke. Ich habe sie doch beim Brauereifest gewonnen.«
»Als du es geschafft hast, in einer Minute ein ganzes Fass Bären-Bier zu leeren?«, frotzelte Klaus.
Edelbert schaute ein wenig überheblich und sagte dann: »Von wegen. Hättest du etwa gewusst, dass es Giacomo Puccini ist, dem wir ›Tosca‹ verdanken? Das war nämlich die Preisfrage. Da hättet ihr Kulturbanausen im Gegensatz zu Dr. Schlenker und mir passen müssen.«
Hubertus war pikiert. Als Banause wollte er sich, gerade vor einem Fremden, nicht bezeichnen lassen. Auch wenn ihm Schlenker nicht ganz fremd war. Er kannte den Mann immerhin aus Zeitungsberichten im Schwarzwälder Kurier. Gerade in letzter Zeit waren einige Artikel über die ungesicherte Zukunft der Schwenninger Brauerei erschienen, an deren Spitze Schlenker stand.
Klaus hatte mit dem Unternehmer sogar schon direkt zu tun gehabt, als er einmal vertretungsweise eine Bilanzpressekonferenz der Bären-Brauerei besuchen musste und in seinem Artikel so ziemlich alle Zahlen durcheinandergebracht hatte, was eine Beschwerde Schlenkers beim Verleger zur Folge gehabt hatte. Ansonsten war ihm der Mäzen eher durch verschiedene von seiner Brauerei gesponserte Sportveranstaltungen bekannt.
Klaus wusste auch, dass Schlenker ein Faible für Opern hatte. Es war typisch für ihn, dass er selbst auf einem Brauereifest eine Preisfrage zu klassischer Musik stellte.
Schlenker nickte Hummel und Riesle kaum merklich zu, widmete sich dann aber sofort wieder seinem Gegenüber.
Klaus gab Hubertus ein Zeichen, wieder zurück in die zweite Klasse zu gehen. Opernfanatiker unter sich – da störten andere nur.
»Edelbert vergisst sicher, in Offenburg umzusteigen, wenn wir kein Auge auf ihn haben«, meinte Hummel und schaute auf seine Uhr. »Wenn wir überhaupt den Zug dort kriegen.«
Doch die Sorge war unbegründet. »Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten werden wir in Offenburg einfahren. Trotz unserer Verspätung von etwa fünfzehn Minuten werden alle Anschlusszüge erreicht«, erklang es in badischem Singsang aus dem Lautsprecher. »Der Regionalexpress nach Konstanz über Haslach, Hausach, Triberg, St. Georgen, Villingen, Donaueschingen und Singen steht abfahrbereit auf Gleis 5.«
Falls Hubertus und Klaus vermutet hatten, Edelbert könnte nun für ihren Eishockeykummer zugänglicher sein, sahen sie sich getäuscht. Schlenker stieg nämlich mit um und folgte den Freunden in das hinterste Abteil des altgedienten Waggons. Der Brauereichef nahm, nachdem er seinen Aktenkoffer im Gepäcknetz verstaut hatte, gegenüber von Edelbert an der Schiebetür Platz.
Vermutlich fuhr er normalerweise eher erster Klasse.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Es war zehn vor neun. Burgbachers und Schlenkers Unterhaltung kreiste weiter um die Kulturlandschaft des Schwarzwalds, das Wirken Wagners und seiner Nachkommen sowie die vermeintliche Überlegenheit italienischer Opernkunst.
Hubertus, der sich einen Platz am Fenster gesichert hatte, runzelte die Stirn. Durch das Heizungsgitter stieg mollig-warme Luft empor. Eigentlich hätte er gegenüber diesem Dr. Schlenker auch gerne mit seinem Bildungsbürgerwissen geprahlt, aber in puncto Klassik konnte er es wohl doch nicht ganz mit den beiden Diskutanten aufnehmen.
Er entschied sich für einen anderen Beitrag: »Edelbert, weißt du eigentlich, was Woody Allen über Wagner gesagt hat?«
Edelbert drehte sich zu Hubertus um, und auch Schlenker schaute ihn nun aufmerksam an.
»Jedes Mal, wenn ich Wagner höre, bekomme ich Lust, Polen zu überfallen!«, zitierte Hubertus.
Klaus klopfte sich auf die Schenkel und lachte schallend los. Schlenker runzelte die Stirn und wandte sich wieder Edelbert zu.
»Ein dummer Scherz«, meinte Edelbert. »Ein unglaublich dummer Scherz! Was kann denn Wagner für die Einvernahme durch Hitler? Bin ich als Wagnerliebhaber denn etwa auch ein Nazi? Ich?«
Er schien wirklich empört.
Schlenker fand die Bemerkung schlichtweg »degoutant«, wie er leise murmelte.
Die Fahrt mit der Schwarzwaldbahn war zu jeder Jahreszeit ein Erlebnis. Gerade zogen dicke Schneeflocken am Fenster vorbei. Gelegentlich blitzte und flackerte es gewaltig, wenn die Stromabnehmer der Lok an der vereisten Oberleitung entlangstreiften.
Am Abteilfenster flog die Silhouette der einstmals Freien Reichsstadt Gengenbach vorbei, die zwischen Wald und Reben am Eingang des Kinzigtals lag. Hubertus blickte den von Scheinwerfern angestrahlten Toren und Türmen gedankenverloren nach. Der Zug folgte dem Verlauf der Kinzig – allerdings in umgekehrter Richtung, den Schwarzwald hinauf. Hummels Blick streifte die vom Schnee leicht überzuckerten Weinberge, die im Mondschein nur schemenhaft zu erkennen waren.
Aber nicht nur des schönen Ausblicks wegen besserte sich nun seine Laune. Erstens hatte er etwas Dampf abgelassen. Zweitens bestand schließlich nicht die ganze Welt aus Eishockey. Drittens war bald Weihnachten, was für Hubertus dieses Jahr in doppelter Hinsicht das Fest der Liebe werden sollte.
Nach einem massiven privaten Tiefschlag – seine Ehefrau Elke hatte ihn verlassen – sah er jetzt wieder Licht am Ende des Tunnels, um in der Eisenbahnsprache zu bleiben. Gerüchten zufolge verstand sich Elke nämlich nicht mehr so gut mit dem Villinger Staranwalt Dr. Guntram Bröse, in dessen Arme sie zunächst geflüchtet war.
Das hatte sich zumindest im badischen Ortsteil von Villingen-Schwenningen schon herumgesprochen. Und das Beste: Elke hatte einer Einladung von Hubertus zu einem Abendessen zugestimmt – »an neutralem Ort«, wie sie es formuliert hatte. Sie hatte ein Villinger Innenstadtrestaurant mit gehobener regionaler Küche vorgeschlagen.
Hubertus hoffte auf eine lohnende Investition.
Mit etwas Glück lag wirklich eine schöne Zeit vor ihm. Weihnachten in Villingen, das war etwas Besonderes, verbunden mit vielen Erinnerungen an Kindheit und Jugend, aber natürlich auch an Elke. Mit der würde es sich schon wieder einrenken, redete sich Hubertus ein.
Auch auf den morgigen Tag freute er sich: Gemeinsam mit seiner Tochter Martina wollte er zum Weltcup-Skispringen nach Titisee-Neustadt – fünfunddreißig Kilometer von Villingen-Schwenningen entfernt. Die Siebzehnjährige fieberte seit Wochen dem Ereignis entgegen. Nachdem sie als kleines Mädchen noch auf Martin Schmitt geschworen hatte, der aus dem Villinger Vorort Tannheim stammte, war sie nun der größte Severin-Freund-Fan.
Der Zug schob sich die Hänge empor. Ob Intercity, Regionalexpress oder Interregioexpress – das war der rauen Natur des Schwarzwalds einerlei. Auf der kurvigen und steilen Strecke kam keiner der Züge über ein Kriechen hinaus.
»Nächschter Halt: Hornberg«, dröhnte der Zugführer, der mit seiner eindringlichen Stimme gar keinen Lautsprecher benötigt hätte. Noch hinkte man dem Fahrplan hinterher. Was soll’s, dachte Hubertus nun großzügig und blickte durch das Gangfenster auf der gegenüberliegenden Seite. Dort überragte der Schlossberg mit der beleuchteten Burg das Städtchen, das durch das Hornberger Schießen berühmt geworden war. Hubertus hätte die Geschichte, wie die Hornberger ihren Herzog mit »Piff-Paff«-Rufen begrüßten, nachdem sie ihr Pulver vorzeitig verschossen hatten, gerne zum Besten gegeben. Doch die beiden Opernfreunde fabulierten mittlerweile über große Tenöre.
Hubertus war genervt. Eigentlich musste er gar nicht auf die Toilette, aber er befand es für nötig, einfach mal einen Moment dieses Abteil zu verlassen. Er schob die Tür auf und trat auf den Gang. Der Waggon war fast leer. Nur wenige Meter weiter stand ein großer, kräftiger Mann mit spitzer Nase, der regungslos durch ein Gangfenster den verschneiten Schwarzwald betrachtete.
»Entschuldigung«, meinte Hubertus. »Darf ich mal vorbei?«
Der Mann presste seinen Bauch wortlos gegen die Scheibe, Hubertus zog den seinen ein. Schließlich gelang es ihm, an dem mindestens einen Meter neunzig großen Hünen vorbeizukommen.
Wenig später stand Hummel vor dem Waschbecken der Zugtoilette und überlegte. Einen Speisewagen gab es in der Schwarzwaldbahn nicht, in den man hätte ausweichen können. Irgendwann würden die Opernexperten ja hoffentlich alle Tenöre durchgekaut haben. Also kehrte er schließlich zurück ins Abteil, nachdem er sich abermals an dem großen Mann vorbeigezwängt hatte.
Er schaute auf seine Armbanduhr: Einundzwanzig Uhr siebenunddreißig. In wenigen Minuten würde der Zug in Triberg sein. Die Strecke der Schwarzwaldbahn kannte Hubertus wie seine Westentasche. Schließlich war sein Vater hier in den Nachkriegsjahren erst Heizer, dann Lokführer gewesen.
Als der Zug in Triberg eintraf, war von der Stadt, die sich über mehrere enge Täler erstreckte und vor allem wegen des höchsten Wasserfalls Deutschlands bekannt war, nicht viel zu sehen. Rechts ragten Felsen empor, die durch Gitter und einige in den Berg gerammte Sprossen vom Sturz auf die Gleise abgehalten wurden. Auf der anderen Seite war der verschneite Bahnhof zu erahnen.
Kein Mensch weit und breit, nur ein paar tiefe Fußstapfen auf dem Bahnsteig, die vom mühsamen Fortkommen einiger Reisender zeugten.
Ein schriller Pfiff unterbrach die Stille.
Mit einem kräftigen Ruck setzten sich die Waggons in Bewegung.
Peter F. Schlenker erhob sich und öffnete die Schiebetür des Abteils. Offenbar wollte er die Toilette aufsuchen.
Wieder fuhr der Zug in einen Tunnel ein. Schlenker war weg – endlich eine Gelegenheit für Hubertus, zu einem seiner legendären Vorträge anzusetzen. Er schwadronierte wild gestikulierend vom »technischen Meisterwerk« Schwarzwaldbahn und seinem Erbauer Robert Gerwig herum, erzählte von den neununddreißig Tunnels und den daran beteiligten italienischen Fremdarbeitern, die vor rund hundertvierzig Jahren für das Projekt geschuftet hatten.
Doch auf sein Auditorium hatte der Monolog eine eher einschläfernde Wirkung. Bald schnarchte Klaus mit offenem Mund vor sich hin. Und auch Opernfreund Burgbacher nickte ein.
Fast hätte sich Hubertus empört, hätte nicht langsam auch von ihm eine heftige Müdigkeit Besitz ergriffen. Das Rattern und Schütteln des Zuges tat ein Übriges: Hummel döste nach kurzer Zeit ein.
Der Regionalexpress schlängelte sich langsam weiter an den dicht bewaldeten Hängen entlang in Richtung Passhöhe bei Sommerau.
Erst ein kräftiger Ruck riss Hubertus aus dem Schlummer. Sein Nacken schmerzte von der gekrümmten Schlafstellung auf den unbequemen Polsterbänken. Draußen erblickte er das mit einer Schneehaube versehene Schild »St. Georgen/Schwarzw.«.
Nur noch neun Minuten bis Villingen.
»Faaahrscheinkontrolle!«, rief Hummel, um seine Mitreisenden zu wecken.
Riesle war sofort hellwach, um Hubertus kurz darauf genervt anzuschauen. Auch Burgbacher war sauer, wenn auch aus anderen Gründen: »Wagner und Hitler. Pah!«
Auf der rechten Hälfte seines Gesichts zeichnete sich der Abdruck des Polsterrands ab, an den er sich im Schlaf gelehnt hatte.
Von Peter F. Schlenker keine Spur.
»Ich gehe dann mal unseren Mäzen von der Toilette vertreiben«, sagte Klaus und verließ das Abteil.
»Vielleicht hat Schlenker keine Fahrkarte und versteckt sich dort gleich bis Donaueschingen?«, meinte Hubertus ironisch.
»Quatsch – er fährt nur bis Villingen. Und natürlich besitzt er eine Fahrkarte«, entgegnete Edelbert, der die Andeutung wohl verstanden hatte.
Die in Donaueschingen ansässige große Edelmann-Brauerei war, so hatte es mehrfach im Kurier gestanden, im Begriff, die kleinere Bären-Brauerei zu übernehmen. Schlenker galt zur Freude vieler Schwenninger als Gegner der Fusionsbestrebungen. »Der Bär bleibt hier«, lautete sein Motto.
Aus diesem Grund, und nur aus diesem, hätte er Hubertus eigentlich sympathisch sein müssen. Erst neulich hatte er seinen Freund Klaus in der gemeinsamen Stammkneipe »Bistro« mit einer Tirade gegen die Bierglobalisierung genervt.
Der Zug rollte an. Die Räder ratterten wieder leise vor sich hin.
Plötzlich ertönte ein lauter Schrei.
Hubertus und Edelbert schreckten gleichzeitig auf.
Aufgeregt stürzten sie aus dem Abteil in Richtung Toilette, von der das Geräusch gekommen zu sein schien.
Als sie um die Ecke schossen, stand ein kreidebleicher Klaus vor ihnen, dessen Blick durch die offene Tür in den kleinen Toilettenraum gerichtet war. Er schien von den anderen beiden überhaupt keine Notiz zu nehmen.
Mit weichen Knien erhaschte Hubertus einen Blick über Klaus’ Schulter und zuckte unwillkürlich zusammen.
Peter F. Schlenker saß in leichter Schräglage auf der Zugtoilette. Ein breites braunes Klebeband versperrte den Blick auf Mund und Nase. Von seinem Gesicht waren nur seine weit aufgerissenen und entsetzlich starr blickenden Augen zu sehen. Sein behaarter Oberkörper hingegen war völlig entblößt, die Arme hinter dem Rücken offenbar gefesselt. Sein Hemd und sein elegantes Sakko lagen zerknüllt auf dem Handwaschbecken. Die zartblaue Krawatte mit den roten Querstreifen hing Schlenker noch um den Hals. Sie wirkte nun wie ein Strick.
»Erdrosselt«, flüsterte Klaus fassungslos. »Jemand hat ihn erdrosselt.«
»Oder erstickt«, ergänzte Hubertus mit Blick auf das abgeklebte Gesicht. Er schob Klaus beiseite und betrat die Toilette.
Ein lauter Knacks ertönte. Hubertus war auf Schlenkers randlose Brille getreten, die vor ihm auf dem Boden lag. Er nahm allen Mut zusammen, ging auf Schlenker zu und fasste ihm an die Halsschlagader, um nach einem Lebenszeichen zu tasten.
Nichts.
Dann schickte er sich an, den Krawattenstrick zu lösen. Einen Augenblick überlegte er noch, ob es Sinn hätte, den vermeintlich Erdrosselten wiederzubeleben. Doch als ehemaliger Rettungshelfer bei den Maltesern wusste er, dass dies ein aussichtsloses Unterfangen gewesen wäre. Dieser Mann war zweifellos tot.
»Schaffner, Schaffner!«, begann Edelbert zu rufen und lief schnaufend davon. Auch Klaus, der inzwischen aus seiner Starre erwacht war, verließ eilig den Fundort.
Auf einmal war Hubertus allein mit der Leiche.
»Klaus, bleib hier!«, rief er seinem Freund noch ängstlich hinterher.
Plötzlich gab es einen mächtigen Ruck. Hummel verlor das Gleichgewicht und donnerte mit dem Kopf gegen die Toilettenwand. Einen Moment lang verlor er das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, fühlte er eine schwere Last auf sich. Er öffnete die Augen und sah die starren Augen des Toten auf sich gerichtet. Er lag in engster Tuchfühlung mit Schlenker auf dem Boden der Zugtoilette.
»Hilfe!«, begann er hysterisch zu schreien.
Endlich hörte er Schritte. Es war der Zugführer, der durch forsches Zupacken die Leiche zur Seite schaffte. Klaus kam ebenfalls hinzu und half Hubertus beim Aufstehen.
»Was ist passiert?«, fragte Hummel atemlos.
»Ich habe die Notbremse gezogen«, antwortete Klaus leichenblass.
»Du blutest ja.« Edelbert war ebenfalls wieder aufgetaucht. Er blickte Hubertus an, im Mundwinkel eine qualmende Reval-Zigarette, die nervös zwischen den Lippen auf- und abwippte.
»Habet Sie den Mann umbrocht?«, erkundigte sich der Zugführer bei Hubertus.
Der zog ein Taschentuch hervor, um es auf seine Platzwunde zu halten.
»Sie machen wohl Scherze! Herr Riesle, mein Begleiter hier, hat ihn tot aufgefunden. Als er die Notbremse zog, ist die Leiche auf mich drauf gefallen«, erklärte Hummel empört.
»Des isch aber gar net guet«, meinte der Bahnbeamte.
Auf einmal ertönte ein lautes Knallen. Die Unterhaltung auf der Zugtoilette verstummte. Eine Waggontür war offenbar ins Schloss gefallen.
Der Mörder, schoss es Hubertus durch den Kopf. Er lief zur nahe gelegenen Zugtür und drückte seine Nase gegen die Glasscheibe. Doch nichts war zu erkennen außer dem fahlen Lichtschein einiger Laternen, die zum Kirnacher Bahnhof gehören mussten. An dem stillgelegten kleinen Gebäude wenige Kilometer vor Villingen war der Zug also zum Stehen gekommen.