Strafzeit - Alexander Rieckhoff - E-Book

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Alexander Rieckhoff

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Beschreibung

Studienrat Hubertus Hummel mangelt es nicht an Problemen: Seine Frau ist zu einem schleimigen Anwalt übergelaufen, seine Tochter lässt sich nichts mehr sagen, und dann wird auch noch während des Eishockeyspiels seiner »Wild Wings« ein Kollege erschossen. Schon bald stellt sich heraus, dass der Tote ein schillerndes Privatleben führte. Zusammen mit dem findigen Journalisten Klaus Riesle beginnt Hummel zu ermitteln. Die Jagd nach dem Täter führt die Freunde quer durch den Schwarzwald und bis an den Bodensee …

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Hummels erster Fall erschien zuerst 2000 im Verlag Mory’s Hofbuchhandlung unter dem Titel »Eiszeit« und wurde für die vorliegenden Taschenbuchausgabe komplett überarbeitet und erweitert.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Juli 2011

ISBN 978-3-492-95235-4

© Piper Verlag GmbH, München 2011 Erstausgabe: Verlag Mory’s Hofbuchhandlung, Donaueschingen 2000 unter dem Titel: »Eiszeit« Umschlag: semper smile, München Umschlagmotiv: David Muir / Getty Images / Photographer’s Choice

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

1. FREITAGSÄRGER

»Freitage!«, brummte Hubertus Hummel wütend. »Ich hasse Freitage.«

Als wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, dass sein Auto heute Morgen nicht angesprungen war und er beim dadurch nötig gewordenen fünfzehnminütigen Marsch von der Südstadt zum Schulhaus auf dem glatten Gehsteig ausgerutscht war, weshalb nun das Hinterteil seines üppigen 95-Kilo-Körpers schmerzte. Nein, jetzt waren dem Hausmeister obendrein die belegten Vollkornbrötchen ausgegangen. Und für einen Besuch beim Bäcker reichte die Zeit vor der nächsten Stunde auch nicht mehr.

Hubertus war Gymnasiallehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde in Villingen-Schwenningen im Schwarzwald. Genauer gesagt, im Stadtbezirk Villingen. Noch genauer: am Romäusring, direkt neben der historischen Stadtmauer. An der Schule, die er selbst einst besucht hatte – damals, in den Siebzigern und frühen Achtzigern.

Zu seiner Zeit hatten noch andere Zustände geherrscht. Wissbegierig waren sie gewesen und hatten die Dinge hinterfragt. Umweltverschmutzung, Aufrüstung, die Stationierung der Pershings in Deutschland – daran hatte man sich reiben können. Reiben müssen.

Und heute? Nichts davon war übrig. Das politische Interesse seiner Neuntklässler ging gegen null. Vor dem Computer und mit ihren iPods kannten sie sich zweifelsohne besser aus als er. Aber in Deutsch? Goethe? Hesse? Dürrenmatt? Brecht? Fehlanzeige.

»Pah«, murmelte Hubertus vor sich hin. »Was für eine Generation.« Er schlurfte ins Lehrerzimmer, öffnete eine Flasche biodynamisch erzeugten Apfelsaft und nahm gedankenverloren einen Schluck.

Eine Schulstunde noch, dann war endlich Wochenende. Und es würde nicht ein x-beliebiges Wochenende werden: Am Abend war Eishockey in der Schwenninger Helios-Arena angesagt. Schon die ganze Woche fieberte er der Partie entgegen. Die Schwenninger »Wild Wings«, vielmehr der SERC, wie Hubertus das Team heute noch bezeichnete, obgleich es schon vor einem Jahrzehnt umbenannt worden war, standen im Play-off-Finale gegen den Rivalen aus Ravensburg. Es winkte die Rückkehr in die oberste deutsche Eishockeyliga – dorthin, wo der SERC seit den späten Siebzigern mehr als zwei Jahrzehnte lang gespielt hatte. Mit einem frierenden, leicht korpulenten Fan an seiner Seite, der Woche für Woche jedes Spiel auf einem Stehplatz in Höhe der Mittellinie verfolgt hatte: Hubertus Hummel.

Natürlich gehörte sein SERC in die erste Liga – die DEL.

»Best of Five« lautete das Motto dieses Finales gegen Ravensburg. Wer zuerst drei Spiele gewonnen hatte, würde die Niederungen der zweiten Liga verlassen und sich fortan mit den reichen Großstadtvereinen messen dürfen, die allerdings deutlich weniger Eishockeytradition hatten. Heute Abend fand die dritte Partie der Finalserie statt – und sie war natürlich restlos ausverkauft. Beide Mannschaften hatten bislang je einmal gegeneinander gewonnen, also brauchten beide noch zwei Siege bis zum Aufstieg.

Mit viel Begeisterung und kontrollierter Aggressivität wolle man dem Gegner Paroli bieten, hatte der Schwenninger Trainer in der gestrigen Pressekonferenz gesagt, wie man im Schwarzwälder Kurier hatte lesen können. Kontrollierte Aggressivität, das war gut. Das spiegelte auch Hummels derzeitigen Gemütszustand wider.

Und wie konnte man diese kontrollierte Aggressivität in einer Schulstunde umsetzen? Ganz einfach: mit einem unangekündigten Test. Sein Gemeinschaftskunde-Leistungskurs in der Zwölften sollte mal zeigen, was er so drauf hatte. Er verdrängte, dass er solche repressiven Maßnahmen früher einmal streng verurteilt hätte.

Jetzt aber schnell. Hubertus Hummel rauschte um die Ecke in Richtung Klassenzimmer – und prallte fast mit dem Kollegen Mielke zusammen, der Sport und Mathematik unterrichtete. Ausgerechnet Mielke, der braun gebrannte blonde Schönling. Neid und Verachtung hielten sich bei Hubertus die Waage. Durchtrainiert war er, der Mann, aber eben doch ein Spießer. Frau, Kinder, Mitglied in mindestens zehn Vereinen und ein Häuschen im Ortsteil Pfaffenweiler vor den Toren der Stadt. Ein Teil des Establishments eben.

»Ah, Herr Kollege«, sagte Mielke. »Gut, dass ich Sie treffe. Gehen Sie heute auch zum Eishockey? Da könnten Sie mich doch mitnehmen. Meine Frau braucht unseren Wagen.«

»Ein andermal gern«, murmelte Hubertus verlegen. »Aber der Wagen ist defekt. Vielleicht sehen wir uns im Bus oder in der Bahn.«

»Im Bus?«, echote Mielke. »Da braucht man ja zwei Stunden.«

Hubertus zuckte mit den Schultern und klopfte auf seine alte Armbanduhr: »Tut mir leid. Ich muss.«

Hätte er Mielke sagen sollen, dass er selbst schon einen Fahrer organisiert hatte? Nein. Sollte sich Mielke doch von einem seiner Vereinsmeier nach Schwenningen kutschieren lassen. Wenn einer schon eine Sitzplatz-Dauerkarte hatte …

Für Hubertus war es hingegen Ehrensache, seinen stetig anwachsenden Bauch auf die Stehränge zu zwängen. Auch nach all den Jahren noch. Und sogar nachdem man die Zahl der Sitzplätze beim Umbau der Arena deutlich erhöht hatte und viele seiner Tribünennachbarn auf den oberen Ring gewechselt waren. Natürlich hatte man von dort den besseren Blick aufs Eis. Aber Hubertus blieb auf seinem Stammplatz.

Die Stunde mit der Zwölften verging trotz des Tests fast überhaupt nicht, der Nachmittag dafür umso schneller. In der Wohnung musste zumindest etwas aufgeräumt werden. Seit seine Frau vor einigen Wochen umgezogen war, herrschte das reinste Chaos. »Kreatives Chaos«, wie Hubertus nicht müde wurde sich und anderen klarzumachen. Martina, seine siebzehnjährige Tochter, war ihm beim Haushalt alles andere als eine Hilfe. Seit Neuestem trug sie zu allem Überfluss ein Zungenpiercing – ihre Mutter hatte dazu die Einwilligung gegeben.

An diesem Nachmittag hatte sie sich zum Cappuccinotrinken in ein Eiscafé in der Nähe des Riettors verabschiedet und ihn obendrein um zehn Euro angebettelt. Was Elke betraf, so war »umgezogen« vielleicht nicht der ganz korrekte Ausdruck. Die werte Gattin war nicht um-, sondern ausgezogen.

Und als wäre dies nicht schlimm genug: ausgerechnet zu Bröse, diesem aufgeblasenen Wichtigtuer. Dr. jur. Guntram Bröse. Zu Hubertus’ Leidwesen galt Bröse als Staranwalt von VS.

VS – so wurde die gut achtzigtausend Einwohner zählende Stadt Villingen-Schwenningen gemeinhin genannt. Seit der Fusion im Zuge der Kreisreform 1972 war aus den beiden Orten zumindest auf dem Papier eine Doppelstadt geworden. Die badisch-katholischen und eher bürgerlich geprägten Villinger und die Bewohner von Schwenningen, das durch die florierende Uhrenindustrie erst Anfang des 20. Jahrhunderts zur Stadt geworden war, hatten immer noch so ihre Schwierigkeiten, sich mit dem Ausdruck VS zu identifizieren, und der eine Stadtteil erzählte über den jeweils anderen durchaus gehässige Witze.

Studiert hatte Bröse – wie Hubertus – im siebzig Kilometer entfernten Freiburg. Aber während Hubertus gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr gekämpft und in Vollversammlungen für mehr Mitbestimmung der Studierenden im Universitätsbetrieb eingetreten war, hatte Bröse seine Zeit in einer schlagenden Verbindung verbracht. Ein Schmiss zierte des Anwalts Wange und zeugte von den damaligen Fechtduellen. Dass Elke so etwas gefiel, zeigte wieder einmal, dass Frauen ihre innersten Überzeugungen verrieten, sobald sie nur mit genügend Süßholz vollgeraspelt wurden … Kein Wunder, dass sie einen zutiefst integren Menschen wie ihn nicht zu schätzen wusste, dachte Hummel.

Er hatte versucht, sich seine politischen Ideale aus der Studienzeit zu bewahren. Allerdings mit nachlassendem Erfolg, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Er spürte, dass auch er immer konservativer wurde. War sein zunehmendes Alter daran schuld? Oder lag es an den Schülern? Gar an seiner kleinbürgerlichen Herkunft?

Egal. Heute ging es um Sport, nicht um Politik. Hubertus zwängte sich in seinen alten Pullover, wickelte sich den langen blau-weißen Schal in den Vereinsfarben um, den ihm Elke vor Urzeiten mal gestrickt hatte, und machte sich auf den Weg zum Treffpunkt mit seinem Freund Klaus. Mit der linken Hand grüßte er im Vorübergehen einen Nachbarn, der – ebenfalls in einen großen blau-weißen Schal gewickelt – gerade in seinen Ford stieg.

Die Südstadt war ein idyllisches Viertel von Siedlungshäusern, die zu einem guten Teil in den Dreißigern, manche auch in den Fünfzigerjahren entstanden waren. Hier ging es bodenständig zu, und man kannte sich. Die meisten Bewohner waren echte Villinger und lebten schon seit Jahrzehnten hier.

Obwohl es mittlerweile April war, hatte sich der Schwarzwälder Winter noch einmal zurückgemeldet – mit Schnee und Temperaturen im Minusbereich. Was zweifellos gut für die Eishockeyatmosphäre war, gefiel denjenigen, die sehnsüchtig auf den Frühling warteten, weniger. Immerhin bestätigte es das Bonmot, dem zufolge man den Hochsommer in Villingen daran erkenne, dass man den Wintermantel nun offen trage.

Es dämmerte bereits in der Südstadt. Bloß nicht noch mal hinfallen, dachte Hummel und achtete auf jeden Schritt.

Kurz darauf raste Klaus Riesle mit seinem alten Opel Kadett und überhöhtem Tempo in eine Parkbucht der Saarlandstraße. Am Heck prangte immer noch der alte Aufkleber: »SERC – das Höchste im Schwarzwald«.

Klaus war klein, schwarzhaarig, drahtig und Lokaljournalist beim Schwarzwälder Kurier. Deshalb wusste er immer das Neueste aus der Stadt. Momentan allerdings war er nicht ganz auf dem letzten Stand, denn er hatte Urlaub und wohl deshalb für Hubertus’ Geschmack zu gute Laune.

»Alles fit, Alter?«

Schweigen.

»Mensch, was ist denn los?«

Hubertus grummelte etwas Unverständliches.

»Ist es immer noch wegen Elke?«

»Elke, das defekte Auto, die Schüler, die Kälte …«

»Mensch«, fuhr ihn Klaus an. »Jetzt reiß dich mal am Riemen! Es ist Wochenende, und in ein paar Tagen sind die ›Wild Wings‹ aufgestiegen.«

Er stimmte einen alten Fangesang zur Melodie von »Go West« an: »Und sooo spielt man Eishockey, und sooo spielt man Eishockey!«

Hubertus’ schlechte Laune war auch sechs Kilometer weiter am Ortseingang von Schwenningen noch nicht verflogen.

»›Wild Wings‹! Was für ein bescheuerter Name. Ich sag dir, diese Amerikanisierung ist einfach nicht zum Aushalten! SERC heißt der Verein. Schwenninger Eis- und Rollsportclub 1904 e.V.!«

Klaus sagte nichts. Er wusste, dass Widerspruch Hubertus zu noch längeren Monologen anstachelte. Der war ohnehin mächtig in Fahrt: »Unser jetziges Team ist spitze – aber erinnere dich mal, was wir Ende der Achtziger zu bieten hatten. Du weißt schon: Wally Schreiber, Grant Martin, Bruce Hardy, George Fritz …«

Klaus winkte ab und konzentrierte sich dann auf die Parkplatzsuche.

»Restlos ausverkauft«, bemerkte er. »Ohne meine Kontakte wären wir wohl gar nicht an Karten rangekommen. Na ja, die ›Wild Wings‹ können das Geld gebrauchen.«

»Der SERC.«

»Okay, dann eben der SERC. Aber du musst schon zugeben: Tabellenführer nach der Hauptrunde, seit neun Spielen keine Heimniederlage … Da kannst eigentlich nicht mal du meckern, Huby.«

Er brachte den Wagen neben dem Gustav-Strohm-Stadion zum Stehen, wo der BSV in den Siebzigerjahren fußballerisch in der zweiten Bundesliga für Furore gesorgt hatte.

Jetzt spielte die sportliche Musik im Bauchenbergstadion, das vor ein paar Jahren grundlegend umgebaut, aufgehübscht und nach einem Sponsor zur Arena umbenannt worden war. Brauchte man früher leere Bierkisten, um einen einigermaßen guten Blick auf das Eis zu ergattern, so hatte man diesen jetzt ohne jegliches Hilfsmittel beispielsweise vom schicken Oberrang, der durchweg mit bequemen Sitzschalen ausgestattet war.

Wo man früher wegen einer offenen Hallenseite befürchten musste, schon im zweiten Drittel dem Kältetod zu erliegen, konnte man nun die klimatisierten Vorteile einer Multifunktionsarena genießen. Außerdem gab es deutlich mehr Sitzplätze als früher, wobei dennoch auf die traditionellen Fans mit ihrer Vorliebe für Stehplätze Rücksicht genommen worden war. Ebenso auf die VIPs, für die es eine verglaste Lounge gab, die über der alten Sitzplatztribüne zu schweben schien und aufgrund der jüngsten Erfolge der »Wild Wings« beinahe überquoll. Wer im wirtschaftlichen und politischen Leben der Region etwas auf sich hielt, musste sich hier sehen lassen – und ab und an riskierte man zwischen den Häppchen auch einen Blick aufs Geschehen, das sich unten auf dem Eis abspielte.

Dem über Jahrzehnte chronisch klammen Verein schien jedenfalls eine rosige Zukunft zu blühen – vorausgesetzt, er schaffte nun auch sportlich den Aufstieg.

Erste Geräusche drangen aus der Arena auf den Parkplatz. Hubertus’ Stimmung stieg: Derbyfieber. Finalfieber.

»Heute müssen sie einfach gewinnen«, sagte er. »Der SERC gehört schließlich nach ganz oben!«

Außer Hummel und Riesle waren noch sechstausendzweihundertfünfzehn andere Eishockeyfans da – falls die offiziellen »Ausverkauft«-Angaben stimmten. Beinahe tausend davon waren aus dem hundertzwanzig Kilometer entfernten Ravensburg angereist und ebenso heiß auf den Aufstieg wie die Schwenninger. Optisch unterschieden sich die Fans der beiden Teams kaum – die Vereinsfarben Blau-Weiß dominierten hier wie da. Hubertus brachte sich auf der Gegengerade in Stimmung, indem er finster den Fanblock des Gegners musterte. Er erinnerte sich an die Trainerworte von der kontrollierten Aggressivität.

»Warum wollt ihr denn aufsteigen?«, rief er in Richtung Ravensburger – freilich ohne dass ihn irgendjemand außer Klaus hören konnte. »Da stimmt doch die Infrastruktur nicht. Unser Stadion ist doppelt so groß wie eures – von unserer Tradition mal ganz zu schweigen.«

Klaus grinste. Hubertus zuliebe hatte er wieder einmal auf einen Platz auf der Pressetribüne verzichtet. Mitten unter den Fans machte das Ganze noch mehr Spaß. Hier, wo man andauernd Leuten ausweichen musste, die sich mit ihren Bier- oder Glühweinvorräten in Styroporbechern an einem vorbeiquetschten, wo einen nach einem Tor wildfremde Menschen umarmten – hier war das Sportereignis noch viel unmittelbarer.

»So kenne ich dich ja gar nicht«, brüllte Riesle seinem Freund ins Ohr. »Seit wann spielt denn die Größe des Stadions für dich eine Rolle?«

»Geld regiert halt eben auch die Eishockeywelt«, meinte Hubertus. »Aber es stimmt: Wenn jetzt schon Hamburg nur wegen des Geldes und einer großen Arena in der obersten Liga mitspielen darf, ist das der Anfang vom …«

Die letzten Worte gingen im Gejohle unter, als die Mannschaften kamen. Ein Konfettiregen ergoss sich über Hubertus und Klaus, Wunderkerzen wurden angezündet. Jeder der Schwenninger Spieler wurde einzeln auf dem Eis begrüßt. Der heisere Stadionsprecher brüllte theatralisch die Vornamen wie: »Kiiirk«, und die Fans konterten mit dem Nachnamen: »Willyyy!«

2. SCHUSS UND TOR

Das Spiel hielt, was es versprochen hatte. Die Schwenninger richteten sich allerdings nur teilweise nach der Vorgabe ihres Trainers und spielten ein ums andere Mal unkontrolliert aggressiv. Die Folge: Sie heimsten etliche Strafzeiten ein, wobei Hubertus beim Überzahlspiel der Gäste der kalte Schweiß ausbrach. Die Spielanlagen der Kontrahenten ähnelten sich – insbesondere im Bemühen, möglichst keinen Gegentreffer zu kassieren. Und so ergaben sich nur wenige Torszenen.

Null zu null hieß es nach dem ersten Drittel, eins zu eins nach dem zweiten.

»Ich hoffe, es bleibt dabei. In der Overtime sind wir in letzter Zeit fast unschlagbar«, meinte Klaus, als er mit zwei Bechern Glühwein vor der letzten Drittelpause vom Imbissstand zurückkam.

»Quatsch«, widersprach Hubertus und nahm sich eines der klebrig-heißen Getränke. »Wir kämpfen die nieder. Ich will einen Sieg innerhalb der regulären Spielzeit. Und wenn der Schiri den Ravensburgern auch mal ein paar Strafzeiten gibt, gelingt das auch.«

»Huby! Setz die Vereinsbrille ab und deine richtige wieder auf«, mahnte Klaus. Sein Freund winkte verächtlich ab, kramte dann aber doch seine Brille aus der Tasche und wischte sich ein paar Konfettiteile aus den spärlichen braunen Haaren. Die hohe Stirn glänzte unter der gleißenden Stadionbeleuchtung.

Das Spiel wogte weiter hin und her, große Torchancen gab es allerdings nicht mehr. Fünfzigste Minute, fünfundfünfzigste, achtundfünfzigste Minute, immer noch eins zu eins. Die Zuschauer standen wie ein Mann hinter ihrer Mannschaft. »Auf geht’s, Schwaben, let’s go!«, hallte es durchs Stadion, obwohl natürlich nur eine Handvoll der Spieler echte Eigengewächse waren – und obwohl eigentlich auch die Ravensburger Schwaben waren.

Auf den bulligen Center der ersten Sturmreihe der Ravensburger schossen sich die einheimischen Zuschauer allmählich ein. Ein Ellbogencheck war bereits nicht geahndet worden, nun benutzte er gar den Stock gegen die schmächtige Schwenninger Nachwuchshoffnung. Hubertus war einem Tobsuchtsanfall nahe.

»Aaargh!«, brüllte Hummel so laut, dass sich ein paar Leute in seinem Block umdrehten. Seine Stimme wurde langsam so rau wie das Schmirgelpapier des Schulhausmeisters.

Der Schiedsrichter hatte das Foul gesehen und schickte den gegnerischen Stürmer auf die Strafbank, während der Stadionsprecher den dazu passenden Klassiker »Komm doch mal rüber« von Ingrid Peters aus den Siebzigern über die Lautsprecher dröhnen ließ.

Eine Minute und zweiundvierzig Sekunden vor Schluss: Überzahl für die Schwenninger, fünf gegen vier Spieler auf dem Eis.

Hubertus biss vor Aufregung in seinen Schal. Klaus machte auf Pessimist. »Bei unserem Überzahlspiel müssen wir froh sein, wenn wir nicht noch einen kassieren.«

Tatsächlich tat sich zunächst nichts, und die »Wild Wings« kamen nicht mal richtig ins gegnerische Drittel. Dann jedoch, die klobige Stadionuhr in der Mitte der Halle zeigte noch achtzehn Sekunden Restspielzeit an, formierten sich die Schwenninger endlich zum Power-Play. Die Verteidiger schoben sich den Puck zweimal zu, zogen dann ab, der Puck wurde in dem Gerangel vor dem Kasten abgefälscht, offenbar vom neuen SERC-Kanadier Kirk Willy. Die Hartgummischeibe ging an den Pfosten und – ins Tor!

Die Helios-Arena wurde binnen Sekunden zum Tollhaus. Hubertus warf seinen Glühweinbecher in die Luft, scherte sich nicht darum, dass dieser noch halb gefüllt war, und umarmte Klaus. Seine Brille fiel zu Boden. Von hinten drängten weitere freudetrunkene Fans in einem Jubelknäuel nach vorne.

Zwei zu eins, elf Sekunden vor Schluss. Kaum zu fassen. Auch die Schwenninger Spieler auf der Bank stürzten aufs Eis, sogar der Ersatztorwart kam mit. Sie begruben den Torschützen unter sich, während der Stadionsprecher den Radetzkymarsch als Torjubel eingelegt hatte.

Hubertus war außer sich. »Ich hab’s gewusst. Das habe ich gewusst! Ja, jaaa, jippie!«

Was für ein Tag! Vergessen war der Ärger vom Morgen. Herrlich. Nur noch ein weiterer Sieg bis zum Aufstieg in die Deutsche Eishockey Liga.

Sogar seine Brille fand Hubertus Hummel nach kurzer Zeit wieder. Ein Glas war zerkratzt, aber was war das schon gegen diesen Sieg?

Er setzte die Brille wieder auf. Sein Blick richtete sich auf die Spielerbank mit dem immer noch jubelnden Trainer, streifte die Sitzplatztribüne. Dort schienen die Sanitäter sich um jemanden zu bemühen.

Ein Herzinfarkt, durchfuhr es Hubertus. Kein Wunder bei diesem Spiel.

Der Jubel im Stadion schwoll nur ganz allmählich ab. Wie gebannt schaute Hubertus zur gegenüberliegenden Seite.

Klaus folgte seinem Blick. In ihm erwachte die journalistische Neugier.

»Ich gehe rüber«, meinte Klaus.

Hubertus zögerte, schloss sich dann aber an. Gemeinsam kämpften sie sich durch die feiernden Anhänger.

Mittlerweile lief das Spiel wieder, und die Fans in Blau-Weiß zählten die letzten Sekunden lautstark mit. »Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins! Jaaa!«

Die Schlusssirene ertönte.

Kurz darauf war Klaus am Eingang zur Haupttribüne angelangt. »Schwarzwälder Kurier«, sagte er und zeigte seinen Presseausweis. »Wir müssen da durch.«

Der Ordner machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Er war viel zu begeistert vom Endergebnis des Spiels.

Klaus steuerte zielstrebig auf den Pulk von Rettungssanitätern zu. Hubertus folgte ihm mit dem gebotenen Abstand, er wollte nicht als Gaffer erscheinen.

Reporter dürfen eben keine Skrupel haben, dachte Hubertus, während sich Riesle über den blutüberströmten leblosen Körper beugte.

Die Unterhaltung zwischen dem Sanitäter, einem Polizisten und seinem Freund Klaus hörte Hubertus nur bruchstückhaft. Aber die Worte »Kopfschuss« und »sofort tot« ließen ihn mehrfach zusammenzucken.

Absurd, dachte er sich. Wer sollte denn einen Menschen in einem Eisstadion erschießen wollen?

Er näherte sich nun doch der Menschentraube, um von Klaus Genaueres zu erfahren. Doch noch bevor er seinen Freund erreichte, fiel sein Blick auf den am Boden liegenden Mann.

»O Gott«, entfuhr es Hubertus. »Kollege Mielke!«

3. EIN SIEG UND ACHT BIER

Zehn Minuten später stand Hubertus immer noch wie vom Donner gerührt da – um ihn herum eine größere Menschenmenge, der ebenfalls nicht mehr so recht zum Feiern zumute war.

Die Neuigkeit hatte sich bis in die Spielerkabine herumgesprochen, weshalb diejenigen Fans, die in Unkenntnis des Geschehenen immer noch »Ehrenrunde!« und »Wir woll’n die Mannschaft sehn, wir woll’n die Mannschaft sehn!« brüllten, vergebens warteten.

Klaus stieß Hubertus an. »Ich muss aktualisieren«, sagte er. »Für die VS-Ausgabe könnte es noch reichen.«

Hubertus geriet in Rage. »Verdammt, du bist im Urlaub! Hast du jetzt keine anderen Sorgen?«

Klaus schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch wohl nicht, dass unsere Sportnasen das auf die Reihe kriegen. Die sind mit dem Spielbericht beschäftigt.«

Er zückte das Handy und rief den Spätdienst in der Zentrale an.

»Wenigstens für ’ne Aufmachermeldung sollen sie noch Platz freischaufeln.«

Hubertus entdeckte indessen wenige Meter entfernt auf einer der Tribünenbänke seinen Kollegen Ziegler, der Englisch und Geschichte unterrichtete. Er hatte eine Decke der Sanitäter um die Schultern und war leichenblass.

»Unglaublich«, sagte Ziegler mit matter Stimme, als Hubertus zu ihm trat. »Er saß direkt neben mir. Zum ersten Mal bin ich diese Saison im Eisstadion, und dann wird neben mir mein Kollege erschossen.«

Mielke, dachte sich Hubertus, wer erschießt denn ausgerechnet Mielke? Und warum vor über sechstausend Zeugen?

Dann spürte er das schlechte Gewissen in sich aufsteigen.

»Haben Sie ihn im Auto mitgenommen?«, erkundigte er sich bei seinem Kollegen.

Ziegler nickte. »Ja. Er wohnt doch nur ein paar Straßen von mir entfernt.« Er hielt inne und blickte Hummel verzweifelt an. »Wohnte, meine ich.«

Hubertus schaute an sich herunter. Sein Mantel wies Glühweinflecken auf, ebenso sein Schal. Er betrachtete den Aufnäher, den er vor einigen Jahren gekauft und den Elke dort angebracht hatte. »Eishockeyfans sind faire Fans«, war darauf zu lesen.

Einer wohl nicht …

Etwa anderthalb Stunden später, kurz vor Mitternacht, liefen Hubertus und Klaus in ihrer Stammkneipe ein, dem Bistro im Zentrum der alten Zähringerstadt Villingen. Als Hubertus die schwere Holztür öffnete, kam ihm ein feuchter und rauchiger Luftschwall entgegen. Freitagabends war das Bistro immer brechend voll. Und als Luftabzug diente allenfalls das gelegentliche Öffnen der Tür.

»Mal wieder richtig gute Luft«, meinte Hubertus, hockte sich an den letzten freien Tisch und erschnorrte sich bei Bekannten eine blaue Gauloise. Eigentlich rauchte er nicht, aber in seiner Stammkneipe war das etwas anderes – zumal nach den Ereignissen des Abends.

Sein Blick wanderte zu Gisela, der unverwüstlichen Bedienung, die schon seit der Gründung der Kneipe hinterm Tresen stand. Dem entsprach auch die Sechzigerjahre-Einrichtung des Lokals: Raufaserwände, wacklige, tiefe Hocker mit olivgrünem, teilweise fleckigem Lederpolsterbezug und schäbige Granittische. An einem der Stehtische prangte ein kleines Schild. »Nicht auf den Boden spucken!« war darauf zu lesen.

Gisela hob nur den Kopf leicht an und nickte ihnen kaum merklich zu. Zwei Minuten später standen zwei frisch gezapfte Bier vor Klaus und Hubertus.

Kaum hatten sie den ersten Schluck getrunken, da schallte ein »Hallihallo« aus dem Hintergrund. Edelbert Burgbachers Auftritt. Ende vierzig, barocke Figur, kahl rasiertes Haupt, langer Armani-Mantel und obligatorischer Künstlerschal. Edelbert war nicht irgendein Gast im Bistro. Er war der Paradiesvogel in der hiesigen Kneipenszene und Kulturlandschaft. Mit seinen Inszenierungen im kleinen Theater an der Stadtmauer verzückte er immer wieder die kulturinteressierte Gemeinde. Und abends nach Proben- oder Vorstellungsschluss unterhielt der Impresario die Nachtschwärmer mit monologischen Wortschwällen, vorzugsweise im Bistro.

»Mord im Eisstadion«, begrüßte Klaus den Neuankömmling, der bereits von Gisela ein Viertel Trollinger vor die Nase gestellt bekommen hatte.

»Ist das ein Stück für die nächste Spielzeit in unserem Zähringer-Theater?«, fragte Edelbert und schlürfte genüsslich an seinem Glas.

»Nein, das ist die Umschreibung für das, was heute Abend bei den ›Wild Wings‹ passiert ist«, erläuterte Hubertus.

»Beim SERC«, murmelte Klaus.

»Ihr wollt mich wohl verarschen«, herrschte Burgbacher die beiden an und zog eine Schachtel Reval ohne Filter hervor. »Gisela, ich hab einen Mordshunger. Ein Hackfleischbrötchen, wenn ich bitten darf!« Edelberts tiefer und rauchiger Bass ließ alle aufhorchen, nicht nur auf der Bühne.

Klaus und Hubertus erzählten ihrem Freund, was vorgefallen war.

»Mord im Eisstadion? Das ist ja noch schlechter als die Boulevardkomödien, die sie im Stadttheater geben«, kommentierte Edelbert verächtlich.

Hummel schüttelte den Kopf. Als Künstler hatte Edelbert zu allem seine ganz spezielle Meinung.

»Schade um diesen Mielke«, schob Burgbacher gleich nach und nickte wissend. »Na ja, er war vielleicht etwas einfältig, aber ein wunderschöner Mann. Einfach traumhaft«, säuselte er und biss so kräftig in sein Brötchen, dass an der Seite Ketchup herausquoll.

Dann leckte er sich die Finger ab und seufzte kauend: »Ein wirklicher Recke. Lecker!« Tischmanieren gehörten nicht unbedingt zu seinen Stärken.

Ohnehin gab er nur wenig darauf, was andere über ihn dachten. Edelbert war bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Das galt auch für seine sexuelle Orientierung, mit der er nach Kräften kokettierte.

»Du kanntest Mielke?«, fragte Riesle interessiert.

»In dem Kaff kennt doch jeder jeden«, bestätigte Burgbacher.

»Genauer?«, pirschte sich Riesle vor.

»Nicht so genau, wie ich es gerne gehabt hätte«, antwortete der Impresario dröhnend und nicht unbedingt pietätvoll. »Hätte ihn sicher nicht von der Bettkante geschubst. Er tauchte dort aber leider nie auf …«

»Weißt du sonst was über ihn?«, mischte sich Hummel ein, der sich leichte Vorwürfe machte. Da hatte er den Kollegen quasi Tag für Tag gesehen, sich aber nie näher für ihn interessiert. Und das Einzige, was er von ihm gewusst hatte, war, dass Mielke in vielen Vereinen aktiv gewesen war. Und dass er dem Vernehmen nach Frauen gegenüber, nun ja …

»Der ist jeder hinterhergestiegen, die nicht bei drei auf den Bäumen war«, dröhnte Burgbacher, der die Dinge im Gegensatz zu Hummel mit größter Deutlichkeit aussprach.

Ende der Leseprobe