Schwarzwaldrätsel - Alexander Rieckhoff - E-Book

Schwarzwaldrätsel E-Book

Alexander Rieckhoff

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Beschreibung

An seinem 75. Geburtstag droht der Mühlenbesitzer Kurt Weisser seinen Kindern mit Enterbung. Sie hätten die Eltern im Stich gelassen, um ein oberflächliches Lebens in der Großstadt zu führen. Mit einem Schwarzwaldrätsel gibt er ihnen eine letzte Chance, doch noch an das Erbe zu kommen. Am gleichen Abend wird Weisser ermordet. War es jemand aus der Familie? Oder hat die Tat mit einem Immobiliengeschäft zu tun? Der Villinger Lehrer Hubertus Hummel und der Journalist Klaus Riesle verfolgen die Rätsel-Spur quer durch den Schwarzwald, von den Triberger Wasserfällen bis zur Schwenninger Südwest Messe. Erschwert wird die Jagd durch Hummels Enkel sowie einen Hagelsturm mit Folgen...

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96324-4

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Erstausgabe: Romäus Verlag, Villingen-Schwenningen 2004

Umschlaggestaltung und -illustration: bürosüd°, München

Umschlagabbildung: Hiroshi Higuchi/Getty Images (Mühle), Shutterstock (Rest)

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1. Nachts, wenn alles schläft

Hubertus Hummel wurde allmählich ratlos.

»Buäääääh!«

»Maxi«, flüsterte er sanft.

Kurze Pause.

»Buäääh!«

»Maxi, bitte!«, sagte Hummel jetzt etwas lauter und nahm seinen Enkel aus der Wiege. Behutsam schaukelte er den Kleinen im Arm. Das schien ihm gutzutun.

Dann strich er ihm über den Kopf, streichelte über die winzige Hand und den kleinen blauen Strampelanzug, den ein Braunbär zierte.

Hubertus Hummel, Lehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde am Villinger Romäusring-Gymnasium, schaute auf die Uhr über der braunen Holzkommode. Es war schon fast Mitternacht.

»Buääääh!«

Seit zwei Stunden ging das nun schon so. Mindestens.

Hummel seufzte und wiegte das Kind noch etwas schneller. Er liebte seinen Enkel über alles – nur die Tatsache, dass er unablässig schrie, beeinträchtigte bisweilen seine Begeisterung ein klein wenig.

Vier Monate war Maximilian nun alt und so süß, dass Hummel kaum Worte dafür fand. Oder besser gesagt: Er fand sehr wohl Worte dafür.

Viele sogar. Und häufig.

Besonders Hummels bester Freund Klaus Riesle litt erheblich darunter. Es verging kaum ein Tag, an dem Hummel ihm nicht die Attraktivität seines Enkels und jede seiner Bewegungen in den schillerndsten Farben und in erschöpfender Ausführlichkeit schilderte.

»Die Füßchen, Klaus, die Füßchen – die sind so niedlich. Hast du dir die schon mal genauer angeschaut? Und die Nase – die muss er von Martina haben. Und Martina hat ihre ja von Elke.«

Klaus Riesle, Lokaljournalist, kinderlos und mittlerweile wieder Single, war an der Physiognomie des Hummel-Enkels nur mäßig interessiert. Er hatte in den ersten Wochen noch mildes Verständnis für die Begeisterung seines Freundes aufgebracht. Doch da er sich fast täglich die neuesten Fotos anschauen musste und über die Nuckel- und Spuckgewohnheiten des Nachwuchses besser Bescheid wusste, als er es sich je gewünscht hatte, war er nun dazu übergegangen, etwas weniger oft bei Hummels anzurufen und in der Villinger Südstadt vorbeizuschauen.

»Er sieht halt aus wie jedes Baby, Hubertus«, hatte er kürzlich gesagt. Seitdem war das Verhältnis zwischen Klaus und Hubertus ein wenig abgekühlt.

»Wie jedes Baby«, flüsterte Hummel seinem Enkel empört ins Ohr. »Du bist wirklich viel mehr als irgendein Baby. Du bist das schönste Kind im ganzen Schwarzwald.«

Maximilian stimmte ihm brüllend zu.

Hummel war für die Kinderaufsicht eingeteilt worden, weil Martina schlicht und ergreifend nicht mehr konnte. Wegen des ständigen Brüllens und Stillens schlief sie nachts höchstens drei Stunden. Außerdem war sie mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt: In ein paar Tagen sollte es so weit sein. Bei dieser Gelegenheit stand auch noch die Taufe von Maximilian im Villinger Münster an. Und da ihr baldiger Ehemann Didi Bäuerle tagsüber arbeitete und abends als Handwerker für den kindgerechten Ausbau der Hausmeisterwohnung werkelte, hatte Martina ihre Eltern um Hilfe gebeten.

Dabei war es eigentlich umgekehrt gewesen. Hubertus hatte ihr nahegelegt, ein paar Wochen bei ihm und Elke einzuziehen. Er wollte näher bei seinem Enkel sein, auch wenn er das so natürlich nie zugegeben hätte.

Dass es derart anstrengend würde, hatte er allerdings nicht geahnt. Er wurde immer unruhiger. Wenn das so weitergeht, dachte er sich, werde ich morgen in der ersten Stunde ein Wrack sein.

Gegen Schuljahresende wusste er seinen Stundenplan zum Glück endlich auswendig: Mit der 11b galt es, zu Beginn des Tages »Effi Briest« zu besprechen. Das würde er wahrscheinlich auch in einem derart derangierten Zustand schaffen.

»Buäääh!«

»La-Le-Lu …«, stimmte Hubertus einen Schlaflied-klassiker an. Während er den schreienden Maximilian weiter im Arm wiegte, schaute er abermals auf die Uhr. Diesmal war es das Funkradio in der Küche, denn dort war er auf seinem Beschwichtigungskurs gelandet. Er machte sich schon den dritten doppelten Espresso.

Halt durch!, sagte er sich.

Fünf nach zwölf. In etwa einer halben Stunde durfte er die im Obergeschoss schlafende Martina wecken. Dann war die nächste Milchration für Maximilian fällig.

»Maxiii!«, flehte Hubertus. »Bitte! Hör doch auf!«

Seine Frau Elke, die vergangene Nacht mit der Betreuung des Enkels an der Reihe gewesen war, momentan aber einen zweitägigen Meditationskurs mit dem Titel »Auf der Reise mit den Delfinen« besuchte, war bei der Betreuung des Kleinen erfolgreicher gewesen.

Er seufzte, setzte sich mit dem Enkel in den braunen Ledersessel im Wohnzimmer und sinnierte darüber, woran es wohl liegen könnte, dass Maximilian so unruhig war.

Anfangs waren sie davon ausgegangen, dass er Hunger hatte, was in Anbetracht des Großvaters keine allzu gewagte These schien. Doch weder häufigeres Stillen noch das Zufüttern von Babynahrung hatten zu einer Beruhigung geführt. Auch die Besuche in schulmedizinischen und anthroposophischen Kliniken, bei Heilpraktikern und Osteopathen waren bislang nicht von größeren Erfolgen gekrönt gewesen.

Maximilian schrie immer weiter – auch jetzt, um zwanzig nach zwölf. Hubertus schlich mit ihm kurzerhand die Treppe hinauf und weckte Martina. Sollte sie das Stillen eben ein paar Minuten vorverlegen …

2. Beschwichtigungskurs

Immer wieder kippte Hubertus’ Kopf nach vorne. Die Augenlider fielen ihm zu. Der Kampf gegen den Schlaf wurde immer aussichtsloser. Er starrte auf die Uhr: Inzwischen war es zehn vor vier. Zwischenzeitlich hatte Maximilian zwar eine halbe Stunde Ruhe gegeben, doch jetzt war er wieder in Hochform.

Nervös strich sich Hubertus über den weinroten Pyjama mit den schwarzen Punkten, der ziemlich am Bauch spannte. Kein Wunder, den hatte er zum dritten Hochzeitstag bekommen. Fast zwanzig Jahre war das her. Damals war Martina nur wenig älter gewesen als Maxi jetzt.

Hubertus verfiel in sentimentale Erinnerungen. Gerührt betrachtete er seinen Enkel. Fast schien es ihm, als würde Maximilian mit ihm in der Vergangenheit schwelgen, so ruhig war er plötzlich.

Jung waren Elke und er damals gewesen, beide hatten sie in Freiburg ihr Referendariat gemacht. Und obwohl sie nur wenig Geld gehabt hatten, war es eine herrliche Zeit gewesen. Komisch – daran, dass Martina auch geschrien hatte, konnte er sich gar nicht mehr erinnern.

Auf jeden Fall sah Maxi genauso aus wie Martina damals.

Und in einer Woche würde seine kleine Martina den Bund fürs Leben eingehen. Obwohl Hubertus seinen künftigen Schwiegersohn Didi schon lange kannte und eigentlich auch mochte, eine große finanzielle Perspektive konnte er Martina nicht bieten. Hummel seufzte, dabei hatte er sich damit eigentlich schon abgefunden.

Hauptsache, die beiden blieben mit Maxi auch die nächsten Jahre hier in der Gegend.

Dem Enkel schien diese Dosis an Sentimentalität zu genügen – er begann wieder zu schreien. Hummel hatte Mitleid mit ihm. Es war sicher nicht einfach, so plötzlich in diese brutale Welt hineingeboren zu werden …

Jetzt denke ich schon wie Elke, unterbrach er seine Grübeleien. Und zehn Minuten später war das Mitleid für den Enkel in Selbstmitleid übergegangen. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Ein Kollege von Klaus fiel ihm ein, Bernd Bieralf, der seine drei Kinder mit dem Auto durch die Gegend kutschiert hatte, wenn sie nicht einschlafen wollten.

Das Auto steht in der Garage, dachte Hummel. Dummerweise nützt mir das ohne Führerschein gar nichts.

An Fasnacht hatte er seine Fahrerlaubnis wegen Alkohols am Steuer für acht Monate abgeben müssen. Den genauen Tag hatte er sich ohne Weiteres merken können – er war nämlich gerade auf dem Weg ins Krankenhaus gewesen, wo Maxi wenig später zur Welt gekommen war.

In vier Monaten würde er den Führerschein also wieder zurückhaben – aber vier Monate zu warten war im Moment keine gute Option.

Hummel wurde immer nervöser und gereizter.

»Maxi«, flüsterte er beschwörend in Richtung des weinenden Enkels, murmelte es, sprach es, rief es, brüllte es schließlich fast. Zehn Schreiminuten später stand sein Entschluss fest.

Um zehn nach vier war kein Mensch in der Südstadt unterwegs – geschweige denn ein Polizist. Er legte Maxi behutsam in die Sitzschale, zog ihm eine winzige, blaue Strickjacke und ein grün-weiß gestreiftes Mützchen an. Dann trug er seinen Enkel zum Astra Caravan und schnallte ihn an. Das Garagentor quietschte, als er es wieder schloss.

Mangels Übung fuhr Hummel ziemlich ruckartig an. Autofahren verlernt man nicht, dachte er sich, als er durch die Südstadt kurvte. Einmal, zweimal, dreimal, immer im Kreis herum.

Maximilian war nun ruhig. Er schlief noch nicht, aber es schien ihm zu gefallen. Und das war das Einzige, was für den erschöpften Hubertus zählte: Hauptsache, er brüllte nicht mehr.

Nach der sechsten Runde ums Karree wurde es Hummel allmählich langweilig, und er hatte trotz des Kaffeekonsums arge Mühe, sich wach zu halten.

Was soll’s, dachte er schlaftrunken und beschloss, die Runde zu verlängern. Am besten würde er ein längeres Stück geradeaus fahren, da das gleichmäßige Geräusch des Motors den kleinen Maximilian zum Einschlafen bringen würde.

An der Neuen Tonhalle ging es vorbei auf die Umgehungsstraße in Richtung Bad Dürrheim. Als er die Abzweigung nach Marbach passierte, bemerkte er beim Blick in den Rückspiegel zweierlei. Erstens: Maximilian schien endlich eingeschlafen zu sein. Zweitens: Das näher kommende Fahrzeug hinter ihm war ein Polizeiwagen. Und das war so ziemlich das Letzte, was Hummel in diesem Moment sehen wollte.

Er achtete exakt darauf, die vorgeschriebene Geschwindigkeit einzuhalten, doch vergebens: Der Polizeiwagen wurde schneller, fuhr nun mit Blaulicht, setzte zu einem Überholmanöver an, scherte kurz vor Hummels Auto wieder ein und … fuhr weiter.

Hummel atmete erleichtert auf.

Mit einem äußerst flauen Gefühl im Magen bog er links nach Bad Dürrheim ab, wendete und fuhr die acht Kilometer zurück nach Hause. Maximilian schlief immer noch – und das wollte nun auch Hummel endlich tun.

Er stellte den Opel vor der geschlossenen Garage ab, weil er den Lärm fürchtete, den das Tor beim Öffnen verursachte. Vorsichtig trug er die Sitzschale mit dem schlafenden Enkel über die Schwelle, sanft stellte er sie an der Treppe zum Obergeschoss ab.

Im selben Moment ging es wieder los – Maximilians Geschrei!

3. Der mit dem Baum spricht

Zwei Stunden, überschlug Hummel grob. Zwei Stunden hatte er insgesamt in der vergangenen Nacht geschlafen. Missmutig rührte er in seinem Kaffee, während Maximilian im Hintergrund schon wieder schrie. Immerhin – es war kurz nach sieben, also war nicht er dran, sondern Martina.

Heute hatte die Aussicht auf einen Morgen in der Schule für Hubertus etwas Verlockendes: Die Schüler schrien nicht. Zumindest nicht in dieser Frequenz.

Ich muss noch etwas an die frische Luft, dachte er, öffnete die Terrassentür und ging die Steintreppe hinunter auf den Rasen, der längst mal wieder gemäht gehörte. Auf dem schmiedeeisernen Tisch im hinteren Teil des Gartens hatten sich Tautropfen gesammelt. Einige Vögel zwitscherten, und es versprach ein wirklich schöner Frühsommermorgen zu werden.

Die frische Schwarzwaldluft tat gut. Er beschloss, wieder etwas nach vorne zu schauen, positiv zu denken. Er musste abends mal wieder weggehen, mal wieder in seine Stammkneipe Bistro. Und an einem der nächsten Nachmittage würde er wie jedes Jahr die Südwest Messe besuchen.

Diesmal würde es sich besonders zu lohnen: Zum einen wollte er erstmals seinen Enkel mitnehmen und mit ihm in die Sonderschau »Familien in Aktion!« gehen – bei seinem derzeitigen Status als frischgebackener Großvater ein Muss. Andererseits nahm sich Hummel vor, auch die Hallen X, Y und Z auf dem Schwenninger Messegelände zu durchstöbern.

Dort stellte die Abteilung »Bauen und Renovieren« aus. Vielleicht schaffte er es ja, seinem baldigen Schwiegersohn beim Umbau der Wohnung etwas zur Hand zu gehen und seine Scheu vor Handwerkszeug aller Art zu überwinden. Seinem Enkel zuliebe würde er das tun. Vorausgesetzt, er fände einen Fahrer …

In das Vogelgezwitscher und das allmählich leiser werdende Schreien seines Enkels mischte sich ein anderes Geräusch – ein Gemurmel. Als Hubertus in den angrenzenden Garten schaute, wusste er, woher es rührte. Die Pergel-Bülows, seine neuen Nachbarn, die vor gut einem Monat eingezogen waren, inspizierten ebenfalls ihr Grundstück.

Sie hieß Pergel, er hingegen trug einen Doppelnamen, was in Hubertus’ Augen einer Kastration gleichkam. Es war ihm völlig schleierhaft, wie man als Mann seinen Nachnamen zugunsten einer so unhandlichen Konstruktion aufgeben konnte.

Klaus-Dieter Pergel-Bülow, Oberstudienrat für Deutsch und Geschichte, hatte fast die gleiche Fächerkombination wie Hubertus und war wie er am Romäusring-Gymnasium tätig.

Nicht, dass die Pergel-Bülows so richtig unsympathisch gewesen wären. Selbst Hubertus musste zugeben, dass sie sich immer freundlich und zuvorkommend gaben. Meist sogar etwas zu freundlich, etwas zu zuvorkommend, und für seinen Geschmack mischten sie sich etwas zu sehr in die Belange ihrer Nachbarn ein.

»Ganzheitlich denken« nannte das Regine Pergel, natürlich ebenfalls Lehrerin. Sie unterrichtete Gemeinschaftskunde, leitete die Theater-AG, die Umwelt-AG, die Spanisch-AG und mindestens fünfzig weitere Arbeitsgemeinschaften am »Romäus«.

Zwar hatte auch Hummel einige Eigenarten, die man gemeinhin Lehrern zuschreibt. Er hatte aber den Vorteil, dass Martina und Elke es ihn wissen ließen, wenn mal wieder der Oberstudienrat mit ihm durchging und er ihre Satzstellung verbesserte, Lokalgeschichte abfragte und ihnen dann Zensuren erteilte. Das Überengagement hingegen überließ er seiner Frau, die ihre Mitmenschen stets mit neuen politischen, ökosozialen und spirituellen Errungenschaften beglückte.

Kein Wunder, dass Elke sofort Feuer und Flamme gewesen war, als sich die neuen Nachbarn mit Tofubällchen und fair gehandeltem Kaffee bei ihnen vorgestellt hatten.

Mit Tofubällchen!

»Guten Morgen, Hubertus«, säuselte die Nachbarin, die gerade mit ihrem Mann Hand in Hand vor einer stattlichen Buche stand. »Schreit der kleine Maximilian immer noch so viel?«

Hubertus nickte stumm und schaute verwundert die Pergel-Bülows an. Was machten sie morgens im Garten vor der Buche?

»Du warst heute Nacht mit ihm unterwegs, oder?«, fiel ihr Mann ein. »Wir haben gehört, wie du das Garagentor zugeschlagen hast.«

War das ein Vorwurf?

»Aber das macht gar nichts«, fuhr Pergel-Bülow fort. »Wir alle wollen mit daran arbeiten, dass es Maximilian bald besser geht. Das ist das Wichtigste!«

Hubertus schwieg.

»Nur: Mit dem Auto, das ist doch nicht gesund für den Kleinen, oder? Die vielen Abgase!«

»Du kannst immer bei uns klingeln, Hubertus, wenn ihr mal Hilfe braucht«, versicherte Frau Pergel. »Auch nachts. Gerade jetzt vor der Hochzeit eurer Tochter braucht ihr Entlastung.«

Woher wussten die das schon wieder? Hummel nickte und überlegte, ob er dieses Angebot rein aus Gehässigkeit bald einmal annehmen sollte.

Dann blickte er wieder zur Buche und fragte sich, ob das Gemurmel, das er vorhin gehört hatte, Teil eines Tagtraums gewesen war.

»Wir reden immer mit unseren Pflanzen und Bäumen, ehe wir morgens zur Schule gehen«, erklärte die Nachbarin, die Hubertus’ fragenden Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. »Das ist wichtig – für sie und für uns. Wir merken, wie gut es ihnen tut, wie schön sie gedeihen.«

Ihr Mann nickte. »Das solltest du auch mal versuchen, Hubertus.«

Hummel blieb eine Antwort schuldig und nickte gequält.

Er zögerte kurz und sagte dann: »Ich bin ohnehin sehr betroffen, weil mein Kopfsalat schon seit Tagen nicht mehr mit mir spricht.«

Zu spät, die Pergel-Bülows waren im Haus verschwunden.

4. Ein ganz besonderer Geburtstag

»So eine Schnapsidee«, schnaubte Klaus Riesle, während er kräftig in die Pedale trat. »Mit dem Fahrrad nach Stockburg – wie konnte ich nur.« Er blickte auf die Armbanduhr: fünf Minuten nach zehn.

Eigentlich hätte er jetzt schon in dem kleinen Schwarzwaldweiler sein müssen.

»Und das für einen 75.Geburtstag!«, schimpfte er weiter und rieb sich über die nass geschwitzte Stirn. Der harzige Duft der Schwarzwaldfichten stieg ihm in die Nase.

»Als gäbe es nichts anderes zu berichten!«

Riesle beschleunigte etwas. Kurz nach dem Steinbruch überquerte er den Bahnübergang und sah endlich das Ortsschild »Stockburg – Stadt St.Georgen«. Vor ihm lagen satte, mit Raureif überzogene Wiesen, ein paar verstreute Schwarzwaldhäuschen, links und rechts des Groppertals dichter Fichtenwald. Eigentlich ein schöner Anblick, dachte er. Wäre nur dieser blöde Lokaltermin nicht gewesen.

Dabei gehörte Stockburg nicht einmal zu seinem eigentlichen Berichtsgebiet.

Normalerweise arbeitete Klaus in der Lokalredaktion Villingen des Schwarzwälder Kuriers. Sein Chef hatte ihn jedoch als Urlaubsvertretung für ein paar Wochen in die Redaktion St. Georgen geschickt. Ausgerechnet ihn, der nach seiner Alkoholfahrt an Fasnacht noch immer ohne Führerschein war – genau wie sein Freund Hubertus.

Deshalb nahm er nun üblicherweise den Neun-Uhr-Zug von Villingen nach St. Georgen. Sein Fahrrad hatte er immer dabei. Riesle musste jeden Tag aufs Neue erfahren, warum der 15000-Einwohner-Ort die »Bergstadt« genannt wurde. Auf mindestens tausend Höhenmeter schätzte er das Pensum, das er täglich abzustrampeln hatte.

Heute würde er die siebzehn Kilometer nach St. Georgen komplett mit dem Fahrrad zurücklegen, weil der 75.Geburtstag auf dem Weg lag. Und im Groppertal, wo der Jubilar wohnte, hielt die Schwarzwaldbahn schon lange nicht mehr.

Bei seinem Chef hatte Riesle derzeit keinen guten Stand. Und das nur, weil er mit einem Tag Verspätung von seinem Indienurlaub zurückgekehrt war. Noch immer ärgerte er sich: über die Indian Airlines, die den Flug kurzerhand um vierundzwanzig Stunden verschoben hatten. Über das indische Essen, das ihm jetzt noch gelegentlich Verdauungsschwierigkeiten bereitete.

Und über Elke. Die war eigentlich an allem schuld.

Sie hatte ihn nämlich zu diesem Indientrip überredet.

»Du musst zu dir selbst finden, Klaus«, hatte sie ihm nach der Trennung von Kerstin gesagt.

Gefunden hatte er in Indien aber nur die Erkenntnis, dass Urlaube außerhalb von Ferienclubs nicht sein Ding waren. Außerdem wäre er fast von einem Sammeltaxi überfahren worden. Über Kerstin war er kein bisschen hinweg.

Und schließlich hatte er die leidvolle Erfahrung gemacht, dass sein Magen-Darm-Trakt nur keimarmes Essen vertrug.

»Selbstfindung«, schimpfte er leise vor sich hin. Sein Selbst hätte er noch eher in einem einsamen, idyllischen Schwarzwaldtal wie diesem finden können. Irgendwo, wo die echte Zivilisation nicht mehrere Flugstunden entfernt war …

Endlich lag die Weisser-Mühle mit dem großen Getreidesilo und dem für Schwarzwaldhäuser so typischen, tief heruntergezogenen Satteldach vor ihm. Ein mit Schnitzereien verzierter Holzbrunnen gluckerte leise vor sich hin und wetteiferte mit dem Plätschern der alten Mühle, deren Radschaufeln vom kalten Brigach-Wasser angeschoben wurden. Ein paar Hühner gackerten und pickten auf den sonnenüberfluteten Pflastersteinen herum.

Vor dem Eingang standen mehrere Autos. Nur eines mit dem einheimischen Kennzeichen VS, die anderen, teureren Wagen kamen aus Hamburg und Köln.

Touristen, vermutete Riesle und stellte das Fahrrad ab. Dann überlegte er, wie er sich Kühlung verschaffen könnte. So verschwitzt wollte er dem Jubilar und dem sicher auch anwesenden Bürgermeister kaum gegenübertreten. Letzterer hatte Riesle erst dazu genötigt, über den Termin zu berichten.

»Aaah«, stöhnte Riesle, während er den erhitzten Schädel unter den Wasserstrahl des Brunnens hielt. Erst als das eisige Quellwasser einen schmerzenden Stich auf seinem Hinterkopf erzeugte, zog er ihn zurück. Er schüttelte den Kopf, zog ein Taschentuch heraus und trocknete seine dunklen, kurz geschnittenen Haare. Jetzt fühlte er sich frisch. Für einen Moment kam er sich vor wie ein Schwarzwaldbauer vor hundert Jahren bei der Morgentoilette.

Toilette war ein gutes Stichwort. Die musste er gleich mal aufsuchen. Er fühlte ein Grummeln in der unteren Bauchgegend. Und das, obwohl er sich heute Morgen mit Zwieback und Kamillentee begnügt hatte. Die indische Küche hatte eine lang anhaltende Wirkung.

Riesle schnappte sich die Fototasche vom Gepäckträger und nahm die wenigen Stufen, die zur Haustür führten. Eine Türklingel gab es nicht. Die Haustür stand weit offen. Hier schien die Welt noch in Ordnung, hier vertraute man einander. Riesle überlegte, wie hoch wohl die Verbrechensquote in abgelegenen Schwarzwaldtälern lag. Vermutlich tendierte sie gegen null.

Als er über die Türschwelle trat, musste er den Kopf einziehen. Selbst mit nur einem Meter einundsiebzig Körpergröße war Riesle für ein dreihundert Jahre altes Schwarzwaldhaus zu groß.

Er betrat einen langen, dunklen Gang, der tief ins Innere führte.

»Hallo?«, rief er zaghaft und tastete sich langsam über den Steinboden vor. Links und rechts war der Gang von kleinen, verschlossenen Holztüren gesäumt.

»Hallo? Herr Weisser?«, setzte Riesle nach.

Keine Antwort.

»Hallo? Ist da jemand?«

Eine der Türen wurde quietschend geöffnet, ein aschfahler, kahler Schädel herausgestreckt.

»Jo? Wa isch?«, kam es aus dem schmallippigen, grimmig verzogenen Mund.

»Herr Weisser?«

»Jo, wer au sonsch?«, bellte der Alte zurück.

»Riesle vom Schwarzwälder Kurier. Ich komme wegen Ihres Geburtstags. Alles Gute!«, sagte er in einem betont freundlichen Singsang und nestelte an seiner Fototasche herum.

Der Alte schien unbeeindruckt. Er schwieg eine Weile und sagte schließlich: »Vu de Zeitung? Do isch d’Tür.«

Er wies mit einer Hand in Richtung Ausgang. »Mir hän hier nix zu feiere und scho gar nix zu berichte.«

Na toll, dachte Riesle. Für diesen reizenden Menschen hatte er sich bis nach Stockburg geschwitzt. Um ein Gespräch betteln würde er aber nicht. Wortlos drehte er sich um und machte Anstalten zu gehen.

»Hallo, Moment mal!«, kam es aus dem Hintergrund.

Den tiefen Bass erkannte Riesle sofort – von beinahe täglichen Telefonaten und von Gemeinderatssitzungen. Es war der Bürgermeister der Bergstadt.

»Ah, Herr Riesle. Schön, dass Sie doch noch den Weg nach Stockburg gefunden haben«, sagte der und klopfte dem Alten kräftig auf die Schulter. »Herr Weisser, das haben wir doch gerade eben besprochen. Herr Riesle macht ein paar Fotos und stellt Ihnen einige Fragen. Schließlich gehören Sie nach wie vor zu den bekanntesten Einwohnern bei uns hier am Scheitel Alemanniens.«

Der Alte schien zu überlegen. Für einen Augenblick musterte er den Bürgermeister und dann Riesle, dem schon wieder Schweißperlen über die Stirn liefen. Dann winkte er ihn schweigend herein.

Die Holzdielen knarzten, als Riesle die Wohnstube betrat. Der alte Weisser zeigte auf einen Platz am grünen Kachelofen. Riesle legte die Kamera auf der Holzbank ab, blickte auf den Tisch, wo eine Schwarzwälder Kirschtorte und Kaffeegeschirr standen, und begrüßte mit einem Kopfnicken drei weitere Personen, die schweigend um den Esstisch herumsaßen: zwei Männer und eine Frau mittleren Alters. Der Bürgermeister setzte sich neben Riesle und zwinkerte ihm zu.

Es war eine typische Schwarzwälder Wohnstube. Mächtige, dunkle Balken durchzogen das Gemäuer. Von der tief herunterhängenden Holzdecke baumelte eine staubbesetzte Schirmlampe herunter. Sie beleuchtete den rustikalen Esstisch, denn obwohl draußen die Sonne schien, ließen die kleinen Fenster nur wenig Licht in die Wohnstube. Eine Standuhr tickte laut. Außerdem hingen gleich drei Kuckucksuhren in der Stube. Weisser schien ein großer Uhrenfreund zu sein.

Die Geburtstagsgäste stierten auf ihre Teller. Nur der Bürgermeister versuchte, die Stille zu durchbrechen. »Das sind übrigens die Kinder von Herrn Weisser«, erklärte er Riesle. »Die sind extra aus Hamburg, Berlin und Köln angereist, um ihrem Vater zum 75. Geburtstag zu gratulieren.«

»Aha«, machte Riesle. Es folgte wieder ein lang anhaltendes Schweigen. Verlegen schaute sich der Bürgermeister um. Doch auch der Alte schien seinen Blicken auszuweichen.

Ende der Leseprobe