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Stillen erfreut sich seit Jahren wieder zunehmender Beliebtheit und wird auch von Seiten der Hebammen und Ärztinnen und Ärzte positiv unterstützt. Gründe sind neben einem zunehmend breiten ökologischen Bewusstsein u. a. die Tatsache, dass Stillen zu jeder Zeit und an jedem Ort kostenlos ausreichend warme, keimfreie, nährstoffreiche und auf die Bedürfnisse des Säuglings angepasste Nahrung bietet. Der Zusammenhang zwischen Stillen und Fruchtbarkeit ist zwar viel beforscht, allerdings wenig in der (Fach-)Literatur aufgearbeitet. Die Tatsache, dass Stillen das älteste natürliche "Verhütungsmittel" darstellt und das Wiedereinsetzen des Zyklus und damit die Rückkehr der Fruchtbarkeit/der Fertilität entscheidend hinauszögern kann, ist vielen Frauen, Ärztinnen und Ärzten daher nicht bewusst. Das hat Konsequenzen, u. a. für die Wahl und den Zeitpunkt eines Verhütungsmittels. Mit der Renaissance des Stillens in den 1970er-Jahren in den Ländern der westlichen Welt und einer Stillförderung in den sog. Entwicklungsländern durch internationale Organisationen wie Family Health International und die WHO zur Bekämpfung von Säuglings- und Müttersterblichkeit war das Thema Familienplanung durch Stillen plötzlich wieder aktuell und zahlreiche Forscherinnen und Forscher haben sich in den 1980er-Jahren dem Thema gewidmet und z. T. sehr fantasievoll beforscht. Heute gibt es aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse konkrete Beratungsmöglichkeiten im Hinblick auf Familienplanung und Verhütung für stillende Frauen. Das Buch liefert einen Überblick über den Zusammenhang zwischen Stillen und Fertilität. Dabei werden sowohl kulturhistorische Belege als auch wissenschaftliche Studienergebnisse herangezogen, um die Bedeutung des Stillens als Methode der Familienplanung für die heutige Zeit einordnen zu können.
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Seitenzahl: 175
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Cover
Titelei
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
1 Zurück in die Fruchtbarkeit
1.1 Stillen, ein Rundum-Paket
1.2 Stillförderung ist Gesundheitsförderung für das Kind
1.3 Große Studien zu Stillen und Fertilität
1.4 Was macht die Studien so bedeutungsvoll?
1.5 Stillen und Fertilität gestern und heute
1.6 Stillverhalten in Deutschland
2 Rund ums Stillen
2.1 Bedeutung des Stillens für die Gesundheit von Mutter und Kind
2.2 Mutter-Kind-Beziehung
2.3 Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
2.4 Nationale Stillkommission in Deutschland
2.5 Stillverhalten in Deutschland
2.6 Bedeutung des Stillens für die postpartale Fertilität
2.7 Still-Definition durch Nationale Stillkommission
2.8 Stilldefinition durch Cochrane
2.9 Barbara Gross und Co.
2.10 Bellagio Consensus
2.11 Stillförderprogramme – Wer informiert wen?
3 Von Kirchenregistern und Grabsteinen
3.1 Ethnologen, Demographen und Fruchtbarkeit
3.2 Forschungskritik
3.3 Familienplanung heute
4 Kulturelle Einflüsse – Stillvorgaben, Sextabus und andere Gewohnheiten
4.1 Der Einfluss westlicher Gesellschaften
4.2 Studien rund um den Globus
4.2.1 Die Eskimos in Alaska
4.2.2 Die Hutterer in Nordamerika
4.2.3 Die Jäger der Kalahari – !Kungs
4.2.4 Kalahari/Botswana versus USA
4.2.5 Ruanda/Afrika
4.2.6 Paraguay/Südamerika
4.2.7 West- und Zentralafrika
4.2.8 Tansania – Postpartale Sextabus
4.2.9 Malawi
4.2.10 Nigeria
4.2.11 Tarok/North-Central Nigeria
4.2.12 Kamerun
4.2.13 Gaza/Palästina
4.2.14 Durango/Mexiko
Exkurs: Das Ammenwesen
Exkurs: Die Sache mit dem Kolostrum
5 Das Prolaktin und seine Bedeutung für die Fruchtbarkeit
5.1 Das Prolaktin
5.1.1 Die Prolaktin-Ausschüttung
5.1.2 Prolaktin in der Schwangerschaft und postpartal
5.1.3 Unterschiede im Prolaktin-Profil
5.2 Das Oxytocin
5.3 Stillen eines »fremden« Kindes
6 Bellagio Consensus – LAM (Lactational Amenorrhea Method)
6.1 Studienbesonderheiten
6.2 Studien vor LAM
6.2.1 Erste Daten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – eine Übersicht von Anna Flynn
6.2.2 Daten von Chile
6.2.3 Übersicht über Studiendaten aus Australien
6.3 LAM
6.3.1 Bellagio Consensus
6.3.2 Definition Stillverhalten nach Bellagio
6.4 Studien nach LAM
6.4.1 Bellagio-Folgekonferenzen und Studien
6.4.2 Chile
6.4.3 Bolivien
6.4.4 Bangladesch
6.4.5 Australien
6.4.6 USA
6.4.7 USA/Manila
6.4.8 Cochrane und LAM
6.5 Zusammenfassung
7 Studien in Deutschland
7.1 Rückkehr der Fertilität nach der Geburt
7.2 Beispiel aus dem Forschungsprojekt (anonymisiert)
7.3 Ergebnisse
7.3.1 Erste vollwertige Ovulation p. p.
7.3.2 Individuelle Fertilitätsmuster
7.3.3 Abstand von 1. zur 2. vollwertigen Ovulation
7.3.4 Stillfrequenz und Länge der ersten Temperaturhochlage p. p.
7.3.5 Weitere Einfluss-Variablen
7.4 Zusammenfassung
8 Sexualität und Partnerschaft
8.1 Wenn sich alles verändert
8.2 Erfahrungen von Stillfrauen weltweit
8.3 Notwendigkeit von Kontrazeption – Zahlen aus Deutschland
8.3.1 Sexualverhalten
8.3.2 Libido
8.3.3 Familienplanung in der Stillzeit
9 Ohne LAM, nach LAM – was dann?
9.1 Empfehlungen von ärztlicher Seite
9.2 Fertility Awareness – Stillen, Fruchtbarkeit und Körperzeichen
9.2.1 Zervixschleim
9.2.2 Zuverlässigkeit der Zervixschleim-Beobachtung in der Stillzeit
9.2.3 Zervix/Gebärmutterhals
9.2.4 Basaltemperatur
9.2.5 Bestimmung der möglichen empfängnisfähigen Phasen
9.2.6 Eintragung ins Zyklusblatt
9.3 Beispiele von Stillfrauen
9.4 Herausforderungen im Alltag
9.5 Resümee
10 Konsequenzen für die Praxis
10.1 Stillen braucht Begleitung
10.2 Empfehlungen an die Politik
10.3 Stillförderung durch den Gesetzgeber
10.4 Babyfreundliches Krankenhaus
10.5 Familienplanung in der Stillzeit
10.6 »Contraceptive Strategy versus Post-Amenorrheic Strategy«
11 Stillen – doch kein Rund-um-Paket?
Glossar
Literatur
Die Autorin
Dr. med. Ursula Sottong, Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin (MPH), befasst sich seit vielen Jahren im Rahmen wissenschaftlicher Studien mit dem Thema Fertilität, Stillen und Familienplanung. In den 1980er Jahren hat sie eine große Studie gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS) zu diesem Thema durchgeführt.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-042861-4
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-042862-1epub:ISBN 978-3-17-042863-8
Es war der 19. World Congress on Human Reproduction in Venedig. Eine Tagung reich an Vorträgen über neue Entwicklungen, Technologien, Laborparameter und Messungen. Bei der Überfahrt von Giudecca zur Piazza San Marco erfüllte das empörte Schreien eines winzigen Erdenbürgers das gesamte Vaporetto. Als dann die sehr entspannte junge Mutter sich auf einen Sitz setzte und das Kleine in aller Ruhe an die Brust legte, wurde mir die Bedeutung des Wortes Stillen in seiner doppelten Bedeutung wieder bewusst. Der Hunger wird gestillt und das Kind kommt zur Ruhe und wird still.
Stillen ist das Selbstverständlichste der Welt und doch anscheinend so kompliziert, dass das Thema ganze Bibliotheken füllt. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass Frauen ihrem Körper nicht mehr vertrauen und auf Experten setzen (müssen).
Als ich vor vielen Jahren als junge Ärztin verzweifelt versuchte, gegen alle Beratungen und Angebote an Zusatznahrung meine Tochter zu stillen, war mein Rettungsanker eine Stillgruppe in der Nähe, die mich durch dieses Tal der Tränen so kompetent begleitete, dass ich diese Tochter fast acht Monate voll stillte.
Neugierig geworden auf das Thema habe ich dann ab 1985 eine große Stillstudie zur Rückkehr der Fruchtbarkeit in der Stillzeit verantwortet, bei der mich die Stillgruppen mit ihrem bundesweiten Netzwerk breit unterstützt haben. 173 Frauen haben ab der Entbindung ihr Stillverhalten dokumentiert, in insgesamt fast 800 Zyklen ihre Körperzeichen beobachtet und erfasst und regelmäßig Kontakt zur Studienzentrale gehalten. Dank dieser hoch motivierten Frauen liegen umfangreiche Daten vor, die Auskunft geben über eine Reihe von Fragen, die sich bis heute beim Thema Stillen stellen.
In meinem Arbeitszimmer gibt es reichlich Kartons mit den Ergebnissen des damaligen Projekts und Stillstudien und Still-Literatur aus der ganzen Welt. Ich durfte die wissenschaftlichen Pionierinnen und Pioniere noch persönlich kennenlernen und mit ihnen über unsere Ergebnisse diskutieren. Es gibt also einen riesigen Wissensschatz, global und auch bei uns in Deutschland. Nur – bis heute ist er kaum in den medizinischen Alltag eingedrungen.
Dieses Buch soll einen Überblick über die Fragestellungen und die zur Verfügung stehenden Erkenntnisse vermitteln, neugierig machen auf mehr und die Tür zu einer positiven Stillförderung weit aufmachen. Die großen Organisationen wie die WHO und UNICEF engagieren sich schon viele Jahre in Sachen Stillförderung zum Erhalt der mütterlichen und kindlichen Gesundheit. Stillen aber ist mehr. Es ist ein Geschenk der Natur an Mutter und Kind, das die Beziehung von Mutter und Kind nachhaltig fördert und unterstützt. Wir sollten alles tun, um das zu unterstützen.
Mein Dank gilt allen Frauen, die engagiert und motiviert an den vielen Forschungsprojekten weltweit teilgenommen haben, den Stillgruppen und Organisationen, die überwiegend ehrenamtlich die Stillmütter kompetent begleiten, den medizinisch Tätigen, die sich an ihrem Platz der Stillförderung widmen, und meinen Töchtern, die mir den Weg zu diesem Thema eröffnet haben. Außerdem danke ich ganz besonders meiner Schwester Christel für ihr akribisches Korrekturlesen und meinem Mann, der die »Schwangerschaft und Entbindung« dieses Buches mit viel Geduld und Kaffeekochen mitgetragen hat.
Troisdorf, im Jahr 2023Dr. Ursula Sottong
AFSArbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen
AG NFPArbeitsgruppe Natürliche Familienplanung
BDLBerufsverband Deutscher Laktationsberaterinnen
B.E.StB.E.St.® Kriterien (Bindung – Entwicklung – Stillen) entsprechend der Vorgaben von UNICEF und WHO
BFHI(Still-) Babyfreundliches Krankenhaus
BgVVBundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin
BMELBundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
BMFSFJBundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BfRBundesinstitut für Risikobewertung
DGEDt. Gesellschaft für Ernährung e. V.
FFRFertility Focus Report
FKEForschungsdepartment Kinderernährung der Universitätskinderklinik Bochum
FSHFollikelstimulierendes Hormon
GnRHGonadotropin Releasing Hormon
HVLHypophysenvorderlappen
IBCLCInternational Board Certified Lactation Consultant (international geschützter Titel für examinierte Still- und Laktationsberaterinnen)
IUDIntrauterine device oder Intrauterine contraceptive device (IUCD) – Spirale
KiGGSLangzeitstudie des RKI zur gesundheitlichen Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
LAMLactational Amenorrhea Method (Laktationsbedingtes Ausbleiben der Regelblutung)
LHLuteinisierendes Hormon
LLLLa Leche Liga (für Deutschland; international: La Leche League)
MRIMax-Rubner-Institut
NSKNationale Stillkommission
P.I.H.Prolaktin hemmendes Hormon
p.p.post partum/postpartal (nach der Entbindung)
RKIRobert-Koch-Institut
SuSeStudie »Stillen und Säuglingsernährung in Deutschland« des FKE im Auftrag der DGE gefördert durch das BMEL
TFRFruchtbarkeitsrate
UNUnited Nations (Vereinte Nationen)
UNICEFUnited Nations Children's Fund (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen)
USAIDUnited States Agency for International Development (Entwicklungshilfeagentur der Vereinigten Staaten)
WHOWorld Health Organisation (Weltgesundheitsorganisation)
Die weibliche Fruchtbarkeit ist ein Thema, das Frauen rund um den Globus während ihrer fortpflanzungsfähigen Jahre von der Menarche bis zur Menopause Zyklus für Zyklus neu beschäftigt. Das Wahrnehmen der Fruchtbarkeitsvorgänge am eigenen Körper anhand zyklisch auftretender Symptome, die Wiederkehr der Periodenblutung, schwanger werden oder nicht, Verantwortung für Familienplanung und die Rückkehr der Fertilität nach einer Entbindung sind einige ihrer Themen.
Was bis heute kaum in das öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, das ist die Tatsache, dass Fragen der Familienplanung und damit der Anwendung kontrazeptiver Methoden partnerschaftlich zu lösen sind. Denn es geht stets um die gemeinsame Fruchtbarkeit von Mann und Frau, die erst eine Schwangerschaft ermöglicht. Und da spielt die mehrtägige Befruchtungsfähigkeit der Spermien gegenüber der nur maximal einen Tag überlebenden Eizelle eine entscheidende Rolle.
Auch wenn westliche Ideen über »Gender Equality and Equity« bis in die letzten Winkel dieser Erde gedrungen sind und 1995 im Abschlussdokument der UN-Weltfrauenkonferenz von Peking (United Nations Digital Library) das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung und Entscheidungen über das eigene Leben von den Mitgliedsstaaten festgeschrieben wurde, haben in vielen paternalistisch geprägten Kulturen, vor allem im afrikanischen und asiatischen Raum, die männlichen Partner immer noch die Entscheidungshoheit über die gelebte Sexualität, Kinderzahl und die Anwendung kontrazeptiver Methoden, was die Lebensperspektive von Frauen entscheidend beeinflusst.
Hier kommt in der Zeit nach der Entbindung dem Stillen eine wichtige Rolle zu. Schwangerschaft, Entbindung, Wochenbett und die Geburtenabstände bleiben nicht ohne Auswirkung auf die Gesundheit der jeweiligen Frauen und ihrer Kinder. Deshalb setzen sich internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausdrücklich für Stillförderung ein. Auch deshalb, weil Stillen eine der wesentlichen Einflussgrößen für die Rückkehr der Fruchtbarkeit und damit für die Geburtenabstände (child spacing) darstellt.
Stillen ist ein echtes Rundum-Angebot für Mutter und Kind. Neben den Vorteilen, dass Muttermilch optimal auf die Bedürfnisse des Säuglings abgestimmt ist, das Kind vor diversen Infektionen schützt und Mutter und Kind in den Monaten des Stillens eine liebevolle Nähe erfahren lässt, ist Stillen die älteste natürliche Methode der Empfängnisregelung überhaupt.
Vor Einführung der modernen hormonellen Kontrazeptiva war Stillen mit allen damit verbundenen kulturellen Vorgaben weltweit der Hauptfaktor, der den Abstand zwischen zwei Schwangerschaften beeinflusst hat. Frauen, die nicht stillen, regelmäßig Verkehr haben und keine Kontrazeptiva benutzen, sind in der Regel in weniger als sechs Monaten nach der Entbindung wieder schwanger. Vollstillende Frauen haben dagegen Geburtenabstände von zwei Jahren und mehr. In den sogenannten Entwicklungsländern, wo vor allem im ländlichen Raum die meisten Frauen noch mehr als 12 Monate stillen, werden auch heute noch mehr Schwangerschaften durch Stillen vermieden als durch alle anderen Methoden.
Auch in Europa war Stillen bis in die Industrialisierung hinein eine wichtige Einflussgröße für den Abstand zwischen zwei Schwangerschaften. Überlebte das Kind die ersten Wochen bzw. Monate nicht, erfolgte die nächste Schwangerschaft in einem engeren Zeitraum, was wiederum die Geburtenrate entsprechend erhöhte.
Wie stark Stillen die Fertilität einer Bevölkerung beeinflusste und es bis heute tut, lässt sich auch am Ammenwesen (»wet-nursing«) ablesen. So hatten die adeligen Familien, speziell die Königshäuser, meist eine hohe Kinderzahl. Bekannte Beispiele sind Kaiserin Maria Theresia von Österreich und Königin Viktoria von England.
Über Jahrhunderte gehörte Stillen zu den entscheidenden weiblichen Erfahrungen und Kompetenzen, die unterstützt durch Hebammen und weise Frauen von den Müttern auf die Töchter übergingen. Mit der Einführung der adaptierten Säuglingsnahrung und der Verlagerung der Stillberatung in die gynäkologische Sprechstunde hatte Stillen dann über viele Jahrzehnte den Geruch des ausreichend »natürlichen« und die Frauen das damit verbundene Wissen – auch um den Einfluss auf die postpartale Fertilität – verloren.
Viele Studien in den Entwicklungsländern haben gezeigt, dass lange Stillphasen Vorteile sowohl für das gestillte als auch für die folgenden Kinder haben. Die gestillten Kinder gedeihen besser und erfahren eine größere Zuwendung und Nähe durch die Mutter. Wenn dann nach einem guten Abstand eine erneute Schwangerschaft eintritt, kann die Mutter dem neuen Kind mehr Zeit widmen und es auch besser ernähren.
Mit der Renaissance des Stillens in den 1970er-Jahren in den Ländern der westlichen Welt und einer Stillförderung in den sogenannten Entwicklungsländern durch internationale Organisationen wie Family Health International und WHO zur Bekämpfung der Säuglings- und Müttersterblichkeit war das Thema Stillen und Familienplanung durch Stillen plötzlich wieder aktuell.
Zahlreiche Forscherinnen und Forscher haben sich deshalb in den 1980er- und -90er-Jahren in großen Feldstudien dem Thema »Breastfeeding and return of fertility« gewidmet. Namen wie Anna Flynn (England), Barbara Gross (Australien), Kathy Kennedy (USA), Miriam Labbok (USA), Suzanne Parenteau-Carreau (Kanada) und Alfredo Perez (Chile) und andere sind eng mit den Studien zur Rückkehr der Fruchtbarkeit in der Stillzeit verbunden. Die Herausforderungen bei der Durchführung der Studien rund um den Globus, teilweise in ausgeprägt »rural areas«/ländlichen Landstrichen, lassen sich heute kaum noch nachvollziehen.
Internet & Co
1989 Geburtsstunde des Worldwide Web – www1993 das Internet wird für jeden nutzbar1997 Google geht ans Netz
Diese Studien an hunderten von Frauen in den unterschiedlichen Kulturkreisen fielen in eine Zeit, in der die Daten vielfach noch mit »Papier und Bleistift« dokumentiert, auf dem Einzel-PC erfasst, und teilweise noch mit leistungsstarken Taschenrechnern ausgewertet wurden. Das Internet steckte gerade erst in den Kinderschuhen, der weltweite Datenaustausch fand zum Teil per Fax, zum Teil per Diskette statt, und »Google« war Zukunftsmusik.
Auch in Deutschland wurde in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS) in den 1980er-Jahren die Fragestellung »Stillen und Fruchtbarkeit« im Rahmen eines größeren Forschungsvorhabens untersucht (Sottong et al. 1991).
Die in diesen großen Studien weltweit gesammelten Daten sind 1988 in Bellagio/Italien diskutiert worden und in die »Lactational Amenorrhea Method« (LAM) eingeflossen. LAM wird bis heute teilweise unter der Überschrift »Bellagio Consensus« zitiert und weltweit für die Stillzeit als Methode der Empfängnisregelung für den Übergang empfohlen.
Durch die Entdeckung des menschlichen Prolaktins (das sogenannte Milchbildungshormon) (▸ Kap. 5) und seinen Einfluss auf den weiblichen Zyklus in den 1970er-Jahren hatte sich eine physiologische Erklärungsmöglichkeit für die Prolaktin-abhängige zeitweilige »Infertilität« unter dem Einfluss des Stillens nach der Entbindung, den verzögerten Eintritt des Zyklus und die Geburtenabstände aufgetan. Doch die Frage blieb, was die Fruchtbarkeit neben dem Stillverhalten und der dadurch ausgelösten Prolaktin-Ausschüttung beeinflusst. Es gab zahlreiche Vermutungen wie mütterliche Ernährung, Lebensgewohnheiten, Sexualverhalten, Koitus-Tabus etc.
Passend zu den diversen Fragestellungen haben die verschiedenen Disziplinen an diesen Fragestellungen gearbeitet: Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Gesundheitswissenschaftler, Ethnologen, Sozialwissenschaftler, Pflegefachkräfte, um nur einige zu nennen. Besonders interessant waren die Studien zu den unterschiedlichen Kulturkreisen, die ohne sexuelle Tabus und in Ermangelung künstlicher Verhütungsmittel eine stillbedingte »Infertilität« von zwei und mehr Jahren aufwiesen.
Aufgrund der mannigfachen Studienergebnisse schälten sich vier wesentliche Erkenntnisse heraus:
1.
Stillen korreliert eng mit einer eingeschränkten postpartalen Fertilität, die wiederum mit der Dauer der Amenorrhoe (Ausbleiben der Regelblutung) korreliert.
2.
Die Hemmung der Ovulation (Eisprung) durch die durch Prolaktin hervorgerufene Unterdrückung der Gonadotropine, der Hormone der Hirnanhangdrüse, die den Eisprung auslösen, stellt den Schlüsselfaktor zum Verständnis der Vorgänge in der Stillzeit dar.
3.
Die Dauer der laktationsbedingten Amenorrhoe ist abhängig vom regelmäßigen Saugen an der Brust. Mütter, die ihr Kind häufig anlegen und es auch nachts stillen, haben eine deutlich längere Phase der Amenorrhoe als diejenigen, die ziemlich rasch das Stillen reduzieren und zusätzliche Nahrung/ Beikost einführen.
4.
Die laktationsbedingte Amenorrhoe ist ein wichtiger Beitrag zur »overall fertility« (Gesamtfertilität/allgemeine Fruchtbarkeit), die sich in der Familiengröße abbildet, besonders in den Ländern, wo künstliche Verhütungsmittel nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen und/oder auch nicht akzeptiert werden.
Die wesentlichen Studien zu Stillen und Fertilität sind nahezu alle in den 1970er- und -80er-Jahren durchgeführt worden. Seitdem hat sich manches in den beforschten Kulturen und Ländern verändert.
Westlich geprägte Lebens- und Ernährungsgewohnheiten haben Einzug gehalten und die Lebensweise nicht immer nur zum Vorteil der Menschen vor Ort verändert. Kürzere Stillzeiten, ein früher Übergang zum Teilstillen und ein ergänzendes Angebot von Fertignahrung sind die Folge mit allen Konsequenzen für die Gesundheit von Mutter und Kind. In manchen Landstrichen und Kulturen ist ein eher westlicher Lebensstil eingezogen, andere grenzen sich ab und leben wieder streng traditionell. Auch die weltweiten Wanderungsbewegungen sind nicht ohne Einfluss auf kulturelle Gewohnheiten geblieben.
Doch das tut den zahlreichen Studienergebnissen keinen Abbruch. Zum einen haben sie die Erkenntnisse zum Einfluss des Stillens auf die Fruchtbarkeit entscheidend bereichert, zum anderen zeigen sie Alternativen auf, wenn Lieferengpässe, strukturelle Verteilungsprobleme, ökonomische Herausforderungen, Lockdowns, Kriege und Naturereignisse die Frauen von der Versorgung durch moderne Kontrazeptiva abschneiden.
Stillen ist auch in Deutschland ein wichtiges Thema, ob in Entbindungskliniken, Geburtshäusern und in der Geburtsvorbereitung und hat seit den 1990er-Jahren kontinuierlich zugenommen. Gründe sind neben einem zunehmend breiten ökologischen Bewusstsein die Tatsache, dass Stillen zu jeder Zeit und an jedem Ort – ob am Strand, im Flieger, bei festlichen Ereignissen oder ganz schlicht zum Frühstück in den eigenen vier Wänden – warme, keimfreie, nährstoffreiche Milch kostenfrei liefert, die sich automatisch an die Bedürfnisse des Säuglings anpasst.
Organisationen wie La Leche Liga (LLL), die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS), der BDL-Berufsverband Deutscher Laktationsberaterinnen IBCLC e. V., der Deutsche Hebammenverband e. V. mit seinen Landesverbänden (DHV), der Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands e. V. (BfHD), der Verband der Beleghebammen e. V., der Deutsche Fachverband für Hausgeburtshilfe e. V. (DFH) und die Nationale Stillkommission engagieren sich für das Stillen und werden dabei von medizinischer Seite positiv unterstützt.
Was noch Luft nach oben hat, das ist eine effiziente Beratung in Sachen Stillen und Familienplanung. Ob LAM oder Methoden der Fertility Awareness – die wenigsten Expertinnen und Experten trauen den Sicherheitsangaben zu diesen Vorgehensweisen aufgrund der Studienlagen. Dabei betrifft Familienplanung in der Stillzeit eine besondere Phase im Leben einer Frau. Durch die Geburt eines Kindes verändert sich die persönliche und partnerschaftliche Situation gravierend. Zudem stellt sich nach neun Monaten Schwangerschaft wieder die Frage nach der Wahl eines Verhütungsmittels und, wenn die Frau stillt, ab wann sie sich wieder damit befassen muss. Bei manchen Stillfrauen kann die Rückkehr des Zyklus Monate bis über ein Jahr dauern.
Mit anderen Worten: Bis der Zyklus wieder einsetzt, benötigen viele stillende Frauen eigentlich weniger eine Verhütungsmethode, egal welcher Art, sondern eine Vorstellung von ihrer postpartalen Empfängnisfähigkeit, das Wissen um die damit verbundenen Zeichen ihres Körpers (Fertility Awareness), Informationen, wie sie diese bewerten können und eine gute Begleitung durch ihr Umfeld – Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Stillberaterinnen und auch durch den Partner und ihre Familie.Keine einfache, aber eine lösbare Aufgabe.
Muttermilch ist im ersten Lebenshalbjahr die ideale Form der Ernährung für den Säugling und deckt alle Ernährungsbedarfe ab.
Weltweit werden mehr als 80 % der Neugeborenen mit Muttermilch ernährt (Koletzko B et al. 2016, Victora CG et al. 2016). Die Stillraten variieren dabei signifikant. In den ärmeren Ländern wird mehr gestillt als in den wohlhabenden. Schätzungen zufolge könnte aber weltweit jedes Jahr der Tod von 823.000 Kindern und von 20.000 Müttern durch Stillen verhindert werden (Victora 2016).
Gerade in den Entwicklungsländern gefährdet die industriell hergestellte »künstliche« Säuglingsernährung die Gesundheit und das Leben der Kinder. Wenn nicht ausreichend Geld vorhanden ist und die Kinder Milchersatzflüssigkeiten oder »gestreckte Milch« erhalten, also weniger Milchpulver pro Mahlzeit für die Zubereitung der Flaschenmilch verwendet wird, führt das zu einer Mangelernährung mit allen gesundheitlichen Konsequenzen.
Des Weiteren sind die Lebensbedingungen oft so, dass die hygienische Zubereitung der Milch nicht gewährleistet ist und die Kinder dadurch an Durchfall-Erkrankungen leiden. Der oftmals vorzeitige Tod der Kinder führt dann wiederum zu einer Verkürzung des Geburtenabstands mit allen gesundheitlichen Folgen für die Mutter.
In den Entwicklungsländern haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass auch unterernährte Mütter ihre Kinder ausreichend durch Stillen ernähren können und die Ernährung der Mutter wenig Einfluss auf die Geburtenabstände hat (Delgado 1978; Population Report 1984). Allerdings ist der Gehalt von Fetten und Mineralien in der Muttermilch bei unterernährten Müttern niedriger. Auch ist die Zusammensetzung der Muttermilch in ländlichen Gebieten saisonalen Schwankungen unterworfen, wie u. a. eine Studie an Stillmüttern in Gambia gezeigt hat (Population Report 1984). Dort, in der ernährungsarmen Regenzeit, sind die Milchmenge um ein Drittel und auch der Fett- und Vitamingehalt um ein Drittel vermindert.