Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz nach Silviahemmet - Ursula Sottong - E-Book

Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz nach Silviahemmet E-Book

Ursula Sottong

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Beschreibung

Public awareness of the topic of dementia is steadily increasing. In various countries, including Germany, national strategies have been developed to improve the quality of care for people with dementia and to focus on their social milieu. Supervising and caring for people with dementia requires not only professional competence but also tremendous openness and sensitivity in order to ensure a good quality of life and self-determination up to the end of life. As long as 25 years ago, the Swedish foundation ?Silviahemmet= started efforts to make the best possible quality of life available for all those affected, further developing care and support for people with dementia, and easing the burden on relatives by providing palliative care. This approach has been successfully established in Sweden and other countries, including Germany. Against this background, the book provides comprehensive, practical medical and nursing information on the subject of dementia and uses practical examples to show how to succeed in caring for people with dementia, in both outpatient and in-patient settings.

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Die Autorin

Dr. med. Ursula Sottong, Ärztin, Gesundheitswissenschaftlerin MPH, Master in Demenz MSc (Karolinska Institutet/Medizinische Universität Stockholm), systemische Therapeutin, Silviahemmet-Trainerin und Silvia Doctor (Silvia-Ärztin).

Ursula Sottong

Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz nach Silviahemmet

Wie Leben mit Demenz gelingen kann

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039588-6

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039589-3

epub:        ISBN 978-3-17-039590-9

Vorwort

 

 

Stockholm im Winter 2003. Als ich das erste Mal die Tagespflege von Silviahemmet betrete, fällt mir diese besondere Atmosphäre auf, die so gar nicht meinem Bild einer teilstationären Einrichtung entspricht. Viele freundliche Gesichter, die mich willkommen heißen und die ich zunächst gar nicht zuordnen kann. Ein älterer Herr in hellem Anzug mit Fliege spricht mich hocherfreut auf Deutsch an. Wer ist hier Tagesgast und wer Pflegekraft?

Zuvor hatte mir eine Kollegin immer wieder von Silviahemmet und der dortigen Arbeit berichtet, die auf der Palliativen Philosophie basiert. In den folgenden Jahren war ich noch oft in Stockholm und hatte Gelegenheit, die Arbeit intensiver kennenzulernen und von der Ausbildung zu profitieren. Doch dieses erste Mal hat sich tief in meinem Gedächtnis eingeprägt.

An diesem Tag traf ich sowohl die Palliativmedizinerin Prof. Barbro Beck-Friis, Geriaterin und erste ärztliche Leitung des Silviahemmet, als auch ihre Nachfolgerin, Dr. Wilhelmina Hoffmann, eine erfahrene Geriaterin, mit der ich bis heute in der Arbeit verbunden bin, und Lotta Roupe, Silvia-Schwester und Pflegedienstleitung.

Ihr aller Anliegen: kompetente und emphatische Versorgung, Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz, Entlastung der Angehörigen, Selbstbestimmung, Lebensperspektive und ein gelingendes Leben in der Vielfalt bis zum letzten Atemzug.

Die Begleitung von Menschen mit Demenz fordert uns alle heraus. Dabei gilt es, gemeinsam – immer wieder neu – nach individuellen Lösungen zu suchen. Denn jeder Mensch ist »anders«, auch in der Demenz. Das ist »person-centered care«, zu deutsch: Personen-zentrierte Versorgung und Pflege.

Von eingefahrenen Straßen und Routinen abzuweichen, die individuellen Fähigkeiten zu entdecken und zu fördern, die Veränderung des Lebensraums basierend auf den vier Säulen der Palliativen Philosophie im Team würdig zu gestalten und zu begleiten – und dabei die Angehörigen mitzunehmen, das ist Silviahemmet.

In den vergangenen Jahren hat sich viel in Deutschland getan. Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und -pfleger, Altenpflegekräfte, Physio- und Ergotherapeutinnen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind – berufsübergreifend – zu Silviahemmet-Trainerinnen und -Trainern ausgebildet worden. Sie haben an den verschiedenen Standorten – ambulant wie stationär – gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen Silviahemmet Wirklichkeit werden lassen.

Ihnen allen sowie vor allem I. M. Königin Silvia und ihrem Team, die diese Arbeit und damit das Buch ermöglicht haben, gilt mein ausdrücklicher Dank. Danken möchte ich auch dem Journalisten Hubert Schulze Hobeling, der über die Jahre die Umsetzung von Silviahemmet in Deutschland filmisch begleitet und nun das Manuskript gegengelesen hat sowie Dr. Klaus Weil, der als erfahrener Geriater den Text auf Herz und Nieren geprüft hat.

Nicht vergessen werden sollen die vielen Interviewpartnerinnen und -partner, die neben I. M. Königin Silvia von Schweden und Dr. med. Wilhelmina Hoffman sich aus ihrer Perspektive zur Silviahemmet-Philosophie geäußert haben – PD Dr. med. Albert Lukas, Renate Schlieker, Mario Schneeberg, Jaqueline Haase, Ulrich Zerhusen, Dr. rer. medic. Eva-Maria Rexhausen, Georg Gal, Dr. med. Jochen Hoffmann, Rebekka Kleinpaß, Walter Bors, Dr. med. Klaus Weil, Katrin Raimann, Dr. med. Rainer Löb, Prof. Dr. rer. medic. Michael Isfort, Hans Ulrich Schmidt und Prof. Dr. med. Pierluigi Nicotera.

Last but not least möchte ich ganz besonders meinem Lehrer Professor Lars-Olof Wahlund vom Department of Neurobiology, Care Sciences and Society des Karolinska Institutet/Stockholm danken. Ihm und seinem Team ist es gelungen, den Ansatz von Silviahemmet in die akademische Lehre einfließen zu lassen.

Menschen mit Demenz mit ihren Bedürfnissen nach Teilhabe und Selbstbestimmung zu integrieren, ist eine Aufgabe, die nur gemeinsam bewältigt werden kann. Menschen mit Demenz sind eine Herausforderung in der täglichen Arbeit, aber kein Problem – und wenn doch, sind wir alle Teil des Problems.

 

Troisdorf, im Jahr 2021

Dr. Ursula Sottong

 

 

Inhalt

 

 

Vorwort

1   Einführung

1.1   Menschen wie du und ich

1.2   Teilhabe und Selbstbestimmung trotz Demenz

1.3   Demenz und Alter

1.4   Demenz und Lebensqualität

1.5   Demenz, Palliative Care und Silviahemmet

2   Silviahemmet

2.1   Palliative Care – Effekte

2.2   Silviahemmet – Ziele

2.3   Die vier Säulen der Arbeit

2.3.1   Symptomkontrolle/person centered care

2.3.2   Kommunikation und Begegnung

2.3.3   Unterstützung der Angehörigen

2.3.4   Team

2.4   Schulungen und Weiterbildungen

2.4.1   Aufbau der Ausbildung

2.5   Zertifizierung durch Silviahemmet

2.6   Svenskt Demenscentrum

2.7   Silviahemmet international

2.8   Tagespflege und SilviaBo

3   Medizinische Grundlagen

3.1   Die oberste Schaltzentrale – Das zentrale Nervensystem

3.1.1   Das Großhirn und seine Funktionen

3.1.2   Das Zwischenhirn

3.1.3   Das Limbische System

3.1.4   Der Hirnstamm

3.1.5   Die Nervenzellen und ihr Informationssystem

4   Altersphänomene

5   Demenz

5.1   Exkurs: Kognition

5.2   Demenzformen

5.2.1   Alzheimer-Demenz

5.2.2   Frontotemporale/Frontallappendemenz

5.2.3   Parkinson-Demenz

5.2.4   Lewy-body-Demenz

5.2.5   Gefäßbedingte (vaskuläre) Demenz

5.3   Demenzdiagnostik

5.4   Bedeutung der hausärztlichen Versorgung

5.5   Therapie

5.5.1   Nicht-medikamentöse Maßnahmen

5.5.2   Medikamentöse Maßnahmen

6   Typische Demenzsymptome und deren Bewältigung

6.1   Kognitive Symptome

6.1.1   Gedächtnis

6.1.2   Orientierungsvermögen

6.1.3   Sprache

6.1.4   Rechnen

6.1.5   Geistige Fähigkeiten, Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen

6.2   Exekutive Fähigkeiten

6.3   Apraxie

6.4   Agnosie

6.5   Psychiatrische Symptome

6.6   Körperliche Symptome

6.6.1   Inkontinenz

6.6.2   Steifigkeit und Muskelzuckungen

7   Herausfordernde Verhaltensweisen – Wer fordert wen heraus?

7.1   Nichts geschieht ohne Grund

7.1.1   Medizinische/pflegerische Aspekte

7.1.2   Kommunikationsprobleme und subjektiv erlebte Kränkungen

7.1.3   Umfeld: Wohnumgebung, Umgebungs-/ Ortswechsel, Geräusch-/Lärmpegel

7.1.4   Eingeschränkte Mobilität und Freiheits- einschränkungen

7.2   Weitere Auslöser

7.3   Therapie

7.3.1   Nicht-medikamentöse Therapie

7.3.2   Medikamentöse Therapie

8   Demenz, Delir, Depression

8.1   Depression

8.2   Delir

8.3   Prävention vor Therapie

9   Schmerzen

9.1   Schmerzskalen

9.2   Ursachenforschung

10 Eine Orientierung fördernde Umgebung

10.1   Das Umfeld

10.2   Unterstützung der örtlichen Orientierung – Angewandte Biografiearbeit

10.3   Farbgebung

10.4   Bodenflächen

10.5   Licht

10.6   Mobiliar

10.7   Auffinden erleichtern – Kennzeichnungen

10.8   Die Sache mit dem Spiegel

10.9   Zeitliche Orientierung

10.10 Eine die Orientierung unterstützende Kommunikation

10.11 Leben in und mit der Natur

10.12 Sicherheit durch technische Assistenzsysteme

11 Aktivierung – mehr als Beschäftigung

11.1   Beibehalten, was Freude macht

11.2   Reminiszenz

11.3   Musik und Tanz

12 Biografiearbeit

13 Ernährung und Mahlzeiten

13.1   Der tägliche Einkauf

13.2   Probleme beim Essen

13.3   Exkurs: Geschirr

13.4   Unter- und Mangelernährung – Schluckstörungen

14 Kommunikation und Begegnung

14.1   Verbale und nonverbale Kommunikation

14.2   Validation

14.3   Berührung

15 Spiritualität

15.1   Spiritual Care – Seelsorge – Sorge um die Seele

15.2   Spiritual Care konkret – Lebenssinn und Zuversicht geben

16 Angehörige/Familie

16.1   Die Krankheit der Angehörigen

16.2   Eine neue Beziehung aufbauen

16.3   Wenn ein Umzug ansteht …

16.4   Der lange Abschied …

17 Team

17.1   Achtsame Kommunikation

17.2   Arbeiten unter einer Leitung

17.3   Reflexion im Team

18 Pflege – Person-centered-care

18.1   Tipps für eine gute Pflege

18.2   Traumata

19 Best-Practice-Beispiele

19.1   Silviahemmet in Deutschland – Beispiele guter Praxis

19.1.1   Pilotprojekt Malteser und Silviahemmet – 2019/2010

19.2   Silviahemmet und ambulante Angebote

19.2.1   MalTa Tagestreff Bottrop – Das kleine Silviahemmet

19.2.2   Malteser Tagespflege Duderstadt

19.3   Silviahemmet und Altenhilfe

19.3.1   St. Anna Stift/Kroge – Wohnbereich Silvia

19.3.2   Zertifizierung Papst Leo Haus in Essen

19.4   Silviahemmet und Krankenhaus

19.4.1   24-Stunden-Management

19.4.2   Station Silvia – eine Oase im Krankenhausalltag

19.4.3   Station Silvia in Flensburg

19.4.4   Demenzsensibles Krankenhaus St. Carolus

19.5   Versorgung von Menschen mit Demenz in der Notfallrettung und im Krankentransport

19.5.1   Weiterbildung für Rettungsdienst und Krankentransport

20 Lessons learned

21 Der Blick in die Zukunft

21.1   Prävention

21.2   Leben, wo ich hingehöre – Smart-City Forst

21.3   Zukünftige Forschungsfelder

Literatur

Stichwortverzeichnis

1          Einführung

 

 

In den letzten Jahren hat die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Demenz zugenommen. Zum einen, weil die Zahl der Erkrankten mit der steigenden Lebenserwartung weltweit zunimmt, zum anderen, weil die Tatsache, dass noch keine Heilung möglich ist, bei vielen Menschen große Ängste und Sorgen auslöst. Die Angst vor einer Demenz (42 %) ist nach Umfragen derzeit größer als die vor Krebs (35 %) (Sicherheitsreport 2020). Im Verlauf der Erkrankung sind Menschen mit einer Demenz immer mehr auf Unterstützung und Hilfe angewiesen. Sie brauchen ein Umfeld, das um ihre Einschränkungen weiß und aufmerksam und einfühlsam auf ihre Möglichkeiten eingehen kann. Das erfordert neben fachlicher Kompetenz eine große Offenheit und Sensibilität für die betroffenen Personen und ist die Gewähr für Lebensqualität, Selbstbestimmung und Lebensperspektive bis zum Ende.

Mit einer Demenzerkrankung sind Gedächtnisverlust, Sprach- und Orientierungsstörungen und – mit Fortschreiten der Erkrankung – erhebliche körperliche Einschränkungen verbunden. Oft können die Menschen ihre Bedürfnisse, Wünsche, Sorgen, Ängste und Schmerzen – für ihre Umwelt – nicht mehr verständlich ausdrücken. Das stellt die sie Begleitenden vor hohe Anforderungen.

1.1       Menschen wie du und ich

Unterstützung – eine Aufgabe für alle

Menschen mit einer Demenzerkrankung sind Menschen wie »du und ich«, mit ihrem je eigenen Weg durch die Krankheit. Das gilt es sich immer wieder bewusst zu machen. Es geht um die individuelle Person, die an einer bestimmten Form und Ausprägung einer Demenz erkrankt ist und darunter leidet. Ihr die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen, ist eine Aufgabe für alle.

Stolpersteine

Die Stolpersteine auf diesem Weg sind nicht zu unterschätzen. Der nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in den öffentlichen Medien zu findende Sprachgebrauch »dement« oder der »Demente« steht für ein Verständnis, das mit dem Anspruch an Wertschätzung und Würde nur schwer zu vereinbaren ist.

Der Begriff »Demenz« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie »ohne Geist«, »ohne Verstand«, was weder dem Krankheitsbild noch der davon betroffenen Person entspricht. Zwischenzeitlich gibt es verschiedene Versuche einer neuen Nomenklatur, die sich im Alltag allerdings bisher nicht durchsetzen. Deshalb wird in diesem Buch der Begriff Demenz wegen der allgemeinen Verständlichkeit benutzt. Medizinisch wird von einer fortschreitenden, neurodegenerativen Erkrankung gesprochen.

Wörterbuch Demenz

Die Deutschsprachigen Alzheimer- und Demenzorganisationen haben ein »Wörterbuch« herausgebracht, das Vorschläge für ein angemessenes Wording enthält (Deutschsprachige Alzheimer- und Demenzorganisationen 2020).

1.2       Teilhabe und Selbstbestimmung trotz Demenz

Nationale Demenzstrategie

Wie es gelingen kann, Menschen mit Demenz mit ihren Bedürfnissen nach Teilhabe und Selbstbestimmung im Alltag zu integrieren, ist eine Herausforderung, die nur gemeinsam bewältigt werden kann. 2020 hat die Bundesregierung mit einer Vielzahl von Akteuren eine Nationale Demenzstrategie für Deutschland (NDS) vorgelegt, um die gesellschaftlichen Herausforderungen nachhaltig anzugehen (BMFSFJ/BMG 2020).

In vier Handlungsfeldern (HF) werden die aktuellen Herausforderungen und Bewältigungsstrategien aufgezeigt:

•  HF 1: Strukturen zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Demenz an ihrem Lebensort aus- und aufbauen.

•  HF 2: Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen unterstützen.

•  HF 3: Die medizinische und pflegerische Versorgung von Menschen mit Demenz weiterentwickeln.

•  HF 4: Exzellente Forschung zu Demenz fördern.

Ziel der Strategie ist es, Leiden zu lindern, die Lebenssituation von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen in einer Gesellschaft des langen Lebens zu verbessern und Menschen mit Demenz darin zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen zu können.

1.3       Demenz und Alter

Risiko Alter und soziale Vereinsamung

Demenzielle Erkrankungen treffen Menschen aller Altersgruppen und Schichten, allerdings sind Alter und soziale Vereinsamung das größte Risiko für die Entwicklung einer Demenz.

Für die Situation in Deutschland werden aktuell Zahlen zwischen 1,6 und 1,7 Mio. Erkrankte angegeben (Thyrian et al. 2020).

Insgesamt sind mehr Frauen (70 %) als Männer (30 %) betroffen (Thyrian et al. 2020). Zum einen, weil Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer haben, zum anderen, weil sie anscheinend mit der Erkrankung länger leben. Verschiedene Untersuchungen lassen vermuten, dass neben dem Alter und der sozialen Vereinsamung auch der Grad der Gebrechlichkeit (Frailty), die in der Regel mit dem Alter zunimmt, bei der Entwicklung einer Demenz eine Rolle spielt.

Die publizierten Zahlen zu Prävalenz (Erkrankungshäufigkeit) und Inzidenz (Neuerkrankungen) sind allerdings indirekte Zahlen, unter anderem basierend auf Daten von Kostenträgern, da es für den deutschsprachigen Raum bis heute noch kein Demenzregister gibt.

1.4       Demenz und Lebensqualität

In der Begegnung mit demenziell erkrankten Menschen stellt sich schnell die Frage nach deren Lebensqualität, da in der Wahrnehmung ihrer Umwelt sich diese Krankheit vor allem durch Verluste und Defizite auszeichnet. In einigen publizistischen Beiträgen ist sogar davon die Rede, dass Menschen mit einer Demenz nur »fast bis in das schwere Krankheitsbild hinein« ihre Umwelt bewusst wahrnehmen und am Leben teilhaben, was den Eindruck erweckt, dass sie nur noch »dahinvegetieren« und Lebensqualität am Lebensende damit kein Thema mehr ist.

Lebensqualität, Teilhabe und Selbstbestimmung

In den letzten Jahren sind neben Interessensvertretungen, wie sie unter anderem die Alzheimer Gesellschaft darstellt, Initiativen von Erkrankten entstanden, die sich nach dem Prinzip der Selbsthilfe organisieren und öffentlich äußern (Demenzsupport Stuttgart). Ihre Themen sind Lebensqualität, Teilhabe und Selbstbestimmung. Faktoren, die die Lebensqualität beeinflussen, sind alle Aspekte einer demenzfreundlichen Umgebung, die Kontinuität gewährleisten und die Menschen mit einer Demenzerkrankung in ihrem Alltag die Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigen (Keating & Gaudet 2012).

Interessanterweise zeigen die wenigen existierenden Untersuchungen zur Lebensqualität von Demenzpatientinnen und -patienten, dass Lebensqualität durch die Erkrankten selbst besser beurteilt wird, als zum Beispiel durch die begleitenden Angehörigen, die durch die Erkrankung oft sowohl physisch als auch psychisch enorm belastet sind (Keating & Gaudet 2012).

Palliative Care

Lebensqualität ist auch das Stichwort, wenn es um Fragen der Therapie geht. Die verschiedenen Formen der Demenzen sind bis heute nicht heilbar, aber therapierbar. Das heißt: es ist mittels verschiedener therapeutischer Ansätze möglich, die durch die Demenz bedingten Symptome zu lindern und so Lebensqualität zu ermöglichen. Diese Art der Versorgung wird unter der Überschrift »Palliative Care« oder Palliativmedizin zusammengefasst.

1.5       Demenz, Palliative Care und Silviahemmet

Versorgung, Begleitung, Betreuung, Behandlung und Pflege

»Care« wird in der Regel mit dem Begriff »Pflege« ins Deutsche übersetzt, wobei dieser dem englischen Sprachschatz entstammende Begriff mehr bedeutet, nämlich »Versorgung, Begleitung, Betreuung, Obhut, Behandlung und Pflege« und damit über die Pflegekräfte hinaus alle beteiligten Akteure einbezieht.

Der Palliative-Care-Gedanke kommt ursprünglich aus dem Bereich der Tumormedizin (Onkologie) und beschrieb zunächst die terminale, interdisziplinäre und multiprofessionelle Versorgung und Begleitung von Tumorpatientinnen und -patienten. Dieser terminale Ansatz ist möglicherweise der Grund, warum lange Zeit Krankheitsbilder wie die Demenz mit ihrem sehr langen zeitlichen Verlauf nicht der Palliativ-Versorgung zugeordnet wurden.

WHO-Definition

Diese ursprüngliche Definition ist 2002 von der WHO auf andere Krankheitsbilder erweitert worden (WHO). Es geht um die Linderung von Schmerzen und weiteren krankheitsbedingten Symptomen sowie um die Bewältigung von sozialen, psychologischen und spirituellen Problemen.

Balzargarden

Prof. Barbro Beck-Friis – Ärztin, Geriaterin und Pionierin der Palliativmedizin in Schweden – hat bereits in ihrer 1988 in Motala/Östergotland eröffneten Einrichtung »Balzargarden« den Grundstein für die Übertragung des palliativmedizinischen Gedankenguts auf die Versorgung demenziell erkrankter Menschen gelegt (Beck-Friis 1988). Als sie in den 90-er Jahren mit dem schwedischen Königshaus in Kontakt kam, wurde sie Mitbegründerin und leitende Ärztin von Silviahemmet und bildete die ersten Silvia-Schwestern nach diesem Palliative-Care-Gedanken aus.

Prinzipien der Arbeit

Zu den Prinzipien der Arbeit von Silviahemmet gehören neben einem vertieften Verständnis für das Krankheitsbild Demenz, die Arbeit im Team, eine achtsame wertschätzende Begegnung und vor allem die Unterstützung und Entlastung der Angehörigen, damit auch ihre Lebensqualität erhalten bleibt (Beck-Friis 1999).

Die Erfahrungen der ersten Jahre und auch die ersten Ausbildungen legten das Fundament für die heute vielfach über die schwedischen Landesgrenzen hinaus angebotenen Qualifizierungen und Zertifizierungen durch Silviahemmet.

Interview

I. M. Königin Silvia von Schweden, Gründerin der Silviahemmet Stiftung und Vorsitzende

25 Jahre Silviahemmet

Ihre Majestät, die Stiftung Silviahemmet ist am 14. Februar 2021 25 Jahre alt geworden. Im Rückblick: Was waren für Sie die wesentlichen Erfolge?

Als meine Mutter leider vor über 25 Jahren an Demenz erkrankte, ging ich davon aus, dass es eine »normale Alterserscheinung« war. Wenige wussten damals, dass Demenz eine Krankheit ist und als solche besondere spezifische Aufmerksamkeit braucht.

Dies zu erkennen und danach zu handeln, war die Voraussetzung um die Patienten, sowie deren Familienmitglieder zu unterstützen und ihnen zu helfen. – Eine wichtige Erkenntnis. Aber die Ausbildung von Krankenschwestern und Pflegepersonal in Demenz war ebenso wichtig. Deshalb gründete ich Silviahemmet, ein Ausbildungszentrum (Theorie wie Praxis). Kurse für das Pflegepersonal und die Krankenschwestern in Zusammenarbeit mit der Sophiahemmet Hochschule und für Ärzte und Therapeuten in Zusammenarbeit mit dem Karolinska Institutet wurden entwickelt und durchgeführt.

Sie haben Ihren Namen mit dieser so wichtigen Arbeit verbunden. Warum?

gute »Engel« und Botschafter in Demenz

Als ich merkte, dass das Pflegepersonal und die Krankenschwestern, die eine so wichtige Arbeit leisteten, im Allgemeinen wenig Anerkennung von der Bevölkerung erhielten, habe ich mich entschlossen, sie als meine »guten Engel« und Botschafter in Demenz zu bezeichnen. Deswegen habe ich sie nach bestandenem Examen zu »Silvia-Krankenschwestern« usw. ernannt. Es ist für mich immer eine große Freude ihnen jedes Jahr in die Augen schauen zu können, ihren Stolz, ihre Wissbegier und innere Sicherheit zu sehen, wenn ich ihnen ihr Diplom persönlich überreiche!

Die Stiftung Silviahemmet ist auch international tätig und wird mit ihrem Palliative-Care-Ansatz in der Versorgung von Menschen mit Demenz als stilbildend erlebt. Was sind in Ihren Augen die noch zu bewältigenden, also die vor Ihnen liegenden Aufgaben?

Als Familienangehörige weiß ich, wie schmerzhaft es ist, die langsame Veränderung und die zunehmende Hilflosigkeit eines geliebten Menschen mitansehen zu müssen.

Interview

Bedarf an Unterstützung jeglicher Art

Leider handelt es sich bei der Demenz um eine sehr ernste Erkrankung, die langsam zum Tode führt. Obwohl man alles daransetzt, Heilmittel gegen Demenz zu entwickeln, ist es der pharmazeutischen Industrie noch nicht gelungen, eine Lösung zu finden. Allerdings gibt es einige Arzneimittel, die den Verlauf der Krankheit aufhalten, verlangsamen. Jedem Angehörigen möchte ich empfehlen, Expertenhilfe anzunehmen. Man muss mit jemandem reden können, Erfahrungen austauschen, man braucht Unterstützung, auch seelisch! Keiner schafft es allein! Untersuchungen zeigen, dass Familienangehörige mit der Zeit erkranken, wenn sie nicht an ihre eigene Gesundheit denken, Freunde treffen und sozial aktiv sind.

Angehörige von Menschen mit Demenz erfahren in der Begleitung großes Leid, wenn sie die Veränderungen und die zunehmende Hilflosigkeit miterleben. Was würden Sie den Angehörigen mit auf den Weg geben?

Demenz kann jeden treffen

Menschen mit Demenz gibt es überall, in allen Gesellschaftsschichten! Vielleicht denkt man nicht daran, aber alle, Ärzte, Zahnärzte, Bankangestellte, Verkäufer, Polizisten, Pfarrer, Politiker, usw. können Menschen mit Demenz begegnen, wissen aber nicht, wie sie sich verhalten sollen! Wir bieten Kurse und Beratung für Familienangehörige, Taxifahrer, Polizisten und Bankangestellte an und auch Kurse mit Abschlussdiplom für Zahnärzte, Therapeuten, und jetzt auch für Pfarrer und Diakone … Das internationale Interesse an unseren Kursen ist sehr groß.

Auch haben wir – zusammen mit IKEA/BoKlok – ein Wohnungskonzept entwickelt, das ganz den Bedürfnissen einer Person mit Demenz angepasst ist. Es sind hübsch eingerichtete und preiswerte Wohnungen, die praktische und sichere Details in Küche, Bad und Schlafzimmer haben, um das tägliche Leben mit einem Menschen mit Demenz zu erleichtern.

Nur so, wenn alle Voraussetzungen durchdacht sind und das tägliche Leben sich einfach und risikolos gestalten lässt, kann der an Demenz erkrankte Mensch zusammen mit seinem Partner, seiner Partnerin noch ein gutes und positives Leben führen.

2          Silviahemmet

 

 

Palliative Philosophie

Silviahemmet, die von Königin Silvia von Schweden 1996 gegründete Stiftung, hat auf der Basis von Palliative Care eine Philosophie zur Versorgung und Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen entwickelt und durch Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote multipliziert. Wesentliche Elemente der Philosophie sind Verstehen des Krankheitsbildes Demenz undLernen vom erkrankten Menschen, eine wertschätzende Kommunikation und Begegnung, die Arbeit im Team und die Entlastung der Angehörigen.

Lernen vom erkrankten Menschen

Die gemeinnützige Stiftung Silviahemmet ist 1996 von Königin Silvia von Schweden unter dem Eindruck der Erkrankung ihrer Mutter gegründet worden. Ausdrückliches Ziel von Silviahemmet ist es, Menschen (Angehörige, Fachpersonal, Betreuerinnen und Betreuer, Entscheidungsträger, Öffentlichkeit etc.) zu einem qualifizierten und respektvollen Umgang mit demenziell erkrankten Menschen zu befähigen, die Forschung zu fördern und das Thema Demenz in der Öffentlichkeit zu enttabuisieren. Die seither gewonnenen Erfahrungen werden bereits in vielen schwedischen stationären und teilstationären Einrichtungen der Altenhilfe, in ausgewählten Krankenhäusern sowie in betroffenen Familien umgesetzt.

2.1       Palliative Care – Effekte

Die Stiftung Silviahemmet gehört zu den ersten, die das Palliative Care Konzept basierend auf den Erfahrungen von Prof. Barbro Beck-Friis mit ihrem Projekt Balzagarden in den 80-er Jahren erfolgreich auf die Begleitung, Versorgung und Pflege von Menschen mit Demenz übertragen hat (Beck-Friis 1988).

Entlastung der Fachkräfte und Stärkung des sozialen Netzes

Wissenschaftliche Studien belegen, dass dieser Ansatz zu einer Entlastung der Fachkräfte, einer Stärkung des sozialen Netzes, einer Verbesserung der Beziehung Angehörige-Kranke und der Lebensqualität aller Beteiligten durch einen »lebensperspektivischen« Umgang mit dem an einer Demenz erkrankten Menschen beiträgt (Albinsson 2002; Sottong & Tucman 2015).

Wohlbefinden durch Silviahemmet

»In innovativer Weise werden in Silviahemmet sowohl die Menschen mit Demenz als auch deren Angehörige als ›betroffen‹ gesehen, das Konzept richtet sich somit an das gesamte familiäre System bzw. das System der Angehörigen und Zugehörigen. Sowohl für die Menschen mit Demenz als auch für ihre An- und Zugehörigen nimmt das Wohlbefinden durch Silviahemmet zu.« (Heller & Heimerl 2010, S. 20). »Auch für Mitarbeiterinnen gibt es positive Wirkungen des Projektes. Sie können kompetenter und menschlicher handeln, fühlen sich gestärkt durch den expliziten Willen der Leitung und durch das Gemeinschaftsgefühl, das in der »Silviahemmet-Gruppe entsteht.« (Heller & Heimerl 2010, S. 25).

2.2       Silviahemmet – Ziele

Würde und Lebensqualität

Ziel der Arbeit von Silviahemmet ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität bis zum letzten Atemzug unter Einbeziehung der Angehörigen und aller am Versorgungsprozess Beteiligten (Kasten 1). Im Mittelpunkt steht die Würde der Person, die an einer progredient verlaufenden Demenz erkrankt ist, für die eine Heilung nicht möglich ist. Diese Person steht an erster Stelle, lehrt die »Anderen« und ermöglicht ihnen, das Krankheitsbild zu verstehen. Ihr wird mit liebevollem Respekt begegnet und ihre Versorgung und Pflege richtet sich nach ihren persönlichen Bedürfnissen, nicht nach den allgemeinen Vorstellungen vom Krankheitsbild Demenz.

Kasten 1: Ziele von Silviahemmet

•  Die Sicht des erkrankten Menschen einnehmen und sich an seinen Bedürfnissen und nicht an den allgemeinen Vorstellungen vom Krankheitsbild Demenz orientieren. (»Wir lernen vom erkrankten Menschen.«)

•  Die Arbeit auf die Nähe zum demenzkranken Menschen und auf seine Umgebung ausrichten.

•  Die bestmögliche Lebensqualität für den Menschen mit Demenz und seine Angehörigen sicherstellen.

2.3       Die vier Säulen der Arbeit

Symptomkontrolle, Team, Angehörige, Kommunikation

Die Arbeit nach der Palliativen Philosophie ruht auf den vier Säulen (Abb. 1): Symptomkontrolle/person centered care, Teamarbeit, Unterstützung der Angehörigen, Kommunikation und Begegnung. Diese vier Säulen sind stark miteinander verschränkt und werden in der Umsetzung nie isoliert betrachtet. Sie sind nicht ohne eine grundlegende Ethik denkbar. Denn in der Begleitung und Versorgung von kognitiv eingeschränkten Personen werden Angehörige wie Pflegende im Laufe der Erkrankung zunehmend mit ethischen Fragen konfrontiert, die unter anderem auch die Autonomie der erkrankten Person betreffen. Hier ihre Einzigartigkeit im Blick zu behalten, ihre Würde zu bewahren und die Person trotz Demenz als gleichwertig anzusehen, ist nicht immer einfach.

WHO – Ethik

Die Ethik-Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt dem Vier-Säulen-Modell zugrunde und lässt sich so zusammenfassen: »Gutes tun; Keinen Schaden anrichten; Die Autonomie der erkrankten Person respektieren; Gerecht sein« (WHO).

Abb. 1: Das Vier-Säulen-Modell

2.3.1     Symptomkontrolle/person centered care

Erhalt der Alltagskompetenz

Diese Säule steht für die Förderung und den Erhalt der Alltagskompetenz sowie für die Linderung der die Demenz begleitenden Symptome wie Angst, Unruhe, Schmerzen, Verwirrung, Depression, Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder Schlafstörungen. Die Symptomkontrolle bezieht sich stets auf die einzelne an Demenz erkrankte Person.

Mit einer guten Krankenbeobachtung und dem entsprechenden Wissen kann es gelingen, die Symptome zu erkennen, darauf zu reagieren bzw. sie präventiv zu vermeiden und die Person nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen zu unterstützen. Dazu bedarf es auch der Information über ihre Lebensgeschichte (Biografie) und ihre medizinische Vorgeschichte (Anamnese). Eine auf die einzelne Person ausgerichtete Versorgung (person centered care) kann aber nur gelingen, wenn die Arbeit im Team unter Einbeziehung aller Beteiligten erfolgt. Besonders dann, wenn die erkrankte Person nicht in der Lage ist, sich verbal zu verständigen oder wenn es darum geht, die Sinneseindrücke zu interpretieren, braucht es die Kooperation mit den Angehörigen.

2.3.2     Kommunikation und Begegnung

Achtsame Kommunikation

Wie Menschen sich begegnen, prägt entscheidend das Miteinander. Jeder Mensch ist unverwechselbar und einzigartig – auch in und mit seiner Demenz. Die Einzigartigkeit seiner Persönlichkeit bleibt über alle Brüche hinweg erhalten. Es kommt darauf an, diese Persönlichkeit immer wieder neu aus den Tiefen der erkrankten Person hervorzuholen und lebendig werden zu lassen (Maio 2020). Eine achtsame, verständliche und angemessene Kommunikation mit dem Menschen mit Demenz – aber auch mit allen anderen im Team – ist Garant für ein gutes Gelingen. Doch das braucht Geduld, Zeit, und ein genaues Zuhören und Hinschauen. Hier ist Wissen erforderlich, wie Körpersprache, Tonfall und Einstellung die Kommunikation beeinflussen. Eine gute Begegnung kann Sicherheit schaffen, sowohl für den an Demenz erkrankten Menschen als auch für das gesamte Team inklusive der Angehörigen.

2.3.3     Unterstützung der Angehörigen

Auch Angehörige sind verschieden

Die Begleitung und Unterstützung der Angehörigen ist eine Kernaufgabe und erfolgt in Orientierung an der individuellen Situation, denn auch Angehörige sind verschieden und haben unterschiedliche Bedürfnisse, was ihre Unterstützung angeht. Ihre Trauer, Sorgen und auch Schuldgefühle können viele Ausdrucksformen annehmen. Das zu erkennen, sie im Team einzubeziehen und in ihrer schwierigen Situation sowohl konkret als auch emotional zu begleiten, ist eine wesentliche Aufgabe für alle Beteiligten.

2.3.4     Team

Erfolgreich im Team

Im Mannschaftssport ist diese Erkenntnis schon lange selbstverständlich: eine gute, partnerschaftliche und respektvolle Beziehung im Team ist entscheidend für die erfolgreiche Bewältigung anstehender Aufgaben und Herausforderungen. Dabei haben alle »Mitspielenden« ihre je eigene, sich an den individuellen Fähigkeiten orientierende Rolle. Zum »Silviahemmet-Team« gehören alle, die die Person mit einer Demenzerkrankung versorgen und begleiten – also alle haupt- und ehrenamtlich Tätigen, wo auch immer sie wirken, sprich: die Pflegekräfte, Therapeutinnen und Therapeuten, die Ärztinnen und Ärzte, Haushaltshilfen, etc. sowie die Angehörigen und Nahestehenden und (!) die Person mit Demenz.

2.4       Schulungen und Weiterbildungen

Weiterbildungen für alle Zielgruppen

Um den Palliative-Care-Ansatz Wirklichkeit werden zu lassen, hat die Silviahemmet-Stiftung über die 25 Jahre ihres Bestehens ein Aus-, Fort- und Weiterbildungskonzept entwickelt, das sich über alle am Versorgungsprozess beteiligten Zielgruppen (einschließlich Angehörige, Hauswirtschaftskräfte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Verwaltungsmitarbeitende, Seelsorgerinnen und Seelsorger, kommunale Entscheidungsträger, etc.) erstreckt.

In der am Sitz der Stiftung angegliederten Tagesstätte, in der 12 Tagesgäste während der Woche begleitet und versorgt werden, haben die Studierenden Gelegenheit, die Arbeit der Silviahemmet-Schwestern zu erleben und die konkrete Umsetzung bis tief in die Gestaltung des Wohnumfeldes zu erfahren.

Die ersten Personen, die ab 1996 von Silviahemmet ausgebildet wurden, waren Pflegehelferinnen und -helfer. Sie erhielten nach einem Jahr Ausbildung und erfolgreichem Abschluss von Königin Silvia den Ehrentitel »Silviasyster« (syster ist schwedisch und heißt übersetzt Schwester) verliehen.

Sophiahemmet und Karolinska Institutet

Diese Ausbildung wurde nach einigen Jahren an das Sophiahemmet angebunden (University Sophiahemmet Högskola) und dadurch akademisiert. Wenig später wurde ein entsprechendes Programm für examinierte Krankenschwestern/-pfleger implementiert.

Etliche Jahre später, 2013, startete dann in Kooperation mit der Medizinischen Universität Stockholm (Karolinska Institutet) ein webbasierter internationaler Masterstudiengang für Ärztinnen und Ärzte. Masterstudiengänge für Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten sowie akademische Studiengänge für Case Manager und Diakoninnen und Diakone schlossen sich an. Die Silvia-Ärztinnen und -Ärzte sind heute in Europa und Asien tätig.

aus der Hand der Königin die Silvia-Brosche

Alle Absolventinnen und Absolventen dieser verschiedenen Ausbildungsgänge – mittlerweile sind es weit mehr als 1.400 – erhalten nach erfolgreichem Abschluss aus der Hand von Königin Silvia ihr Diplom, ihre Silvia-Brosche sowie ihren Ehrentitel (Silvia-Schwester, Silvia-Krankenschwester/-Pfleger, Silvia-Arzt/-Ärztin, etc.).

2.4.1     Aufbau der Ausbildung

Die Ausbildung nach Silviahemmet ist für alle Zielgruppen gleich, wobei die Themen unterschiedlich intensiv bearbeitet werden. Sie dauert je nachdem wenige Tage bis etliche Monate. Ausgebildet werden Pflegeteams, Familienhelferinnen, Familienbildnerinnen und -bildner, Pflegekräfte, Altenpflegerinnen und -pflegehelfer, Ärztinnen und Ärzte, etc.

Pflegewissenklinische Ausbildung – Kombination von Theorie und Praxis

Typisch für die verschiedenen Ausbildungsangebote ist die klinische Ausrichtung, also die unmittelbare Verbindung von Theorie und Praxis. Dabei überzeugt ein Lösungsansatz, der sich stark an den in der Praxis entstehenden Herausforderungen und Problemen orientiert. Evaluationen in verschieden Projekten haben gezeigt, dass mit dieser Art der Ausbildung und Arbeit etwa herausforderndes Verhalten deutlich seltener auftritt, körpernahe Fixierungen vermieden werden können, die Mitarbeitenden zufriedener sind und die Angehörigen sich als gut begleitet erleben (Hoffmann et al. 2020; Sottong & Tucman 2015).

Die Ausbildung erfolgt in Schweden in enger Anbindung an die Tagespflege Silviahemmet in Drottningholm und hat folgenden Aufbau:

•  Theoretischer Input (Palliative Philosophie, vier Säulen: Symptomkontrolle/person centered care, Team, Kommunikation, Angehörige)

•  Diskussion, Reflexion, Erfahrungsaustausch

•  Übungen

•  Praktische Fallbesprechungen

•  Praxisaufgaben

•  Praxisanleitung

Unabhängig von der Zielgruppe und der Ausbildungszeit gehören folgende Inhalte zur Ausbildung:

•  Zentrales Nervensystem

•  Leben im Alter

•  Typische Erkrankungen im Alter

•  Demenz (Formen, Verlauf, Diagnostik, Therapie, Prävention, Medikation)

•  Unterstützung der Tagesstruktur

•  Inkontinenz

•  Kommunikation und Begegnung

•  Eine »gute Umgebung« (Anordnung des Mobiliars, Farbgebung zur besseren Orientierung, etc.)

•  Aktivitäten

•  Ernährung

•  Einbeziehung in den Alltag

•  Musiktherapie

•  Technische Hilfsmittel

•  Unterstützung der Familie/Angehörigen

•  Teamwork

•  Ethische Aspekte und existenzielle Fragestellungen

Themenhefte

Begleitend zur Ausbildung sind bereits in der Zeit von Prof. Barbro Beck-Friis Themenhefte zum »Leben mit der Demenzerkrankung« entstanden. Ziel war es, ein größeres Verständnis für das Krankheitsbild Demenz zu schaffen und für Angehörige und Pflegepersonal das aktuelle Wissen aufzubereiten. 2009 wurde das Material von der Pflegewissenschaftlerin Margareta Skog (RNT MSc) komplett überarbeitet und unter anderem ins Deutsche übersetzt.

2.5       Zertifizierung durch Silviahemmet

Zertifizierung zur Verankerung einer ganzheitlichen Perspektive

Seit einigen Jahren zertifiziert die Silviahemmet-Stiftung stationäre Einrichtungen. Ziel der Zertifizierung ist die Verankerung einer ganzheitlichen Perspektive in der Versorgung und Pflege demenziell erkrankter Personen nach der Silviahemmet-Philosophie sowie die Etablierung von fortlaufenden Weiterbildungen und regelmäßigen Reflexionen. Bis heute sind in Schweden 115 Altenhilfeeinrichtungen und Versorgungsbereiche in Krankenhäusern von Silviahemmet zertifiziert worden.

Die erste zertifizierte Einrichtung außerhalb Schwedens war 2015 der Malteser Tagestreff, das MalTa in Bottrop, eine Tageseinrichtung für Menschen mit einer beginnenden Demenz, dem ein Schulungszentrum mit Angeboten für verschiedene Zielgruppen angeschlossen ist (Malteser 2013). Das weltweit erste Krankenhaus, das 2020 als Ganzes von der Silviahemmet-Stiftung zertifiziert wurde, ist das Krankenhaus St. Carolus in Görlitz/Sachsen (Raimann & Sottong 2021). Weitere Zertifizierungen in Deutschland sind in Vorbereitung, unter anderem in Essen und Forst.

Um eine hohe Versorgungsqualität zu erreichen, gibt es drei grundlegende Elemente, auf die sich das Zertifizierungssystem von Silviahemmet konzentriert: Ausgebildetes Personal, qualifizierte Mitarbeiterführung und gemeinsame Philosophie (inklusive Gestaltung des Milieus).

Zertifizierung in 3 Phasen

Der Zertifizierungsprozess erfolgt in drei Phasen:

•  Phase 1: Alle Mitarbeitenden der Einrichtung nehmen an einer dreitägigen Basisschulung zum Thema Demenz ausgehend von der Silviahemmet-Philosophie teil.

•  Phase 2: Alle Leitungskräfte, die Phase 1 durchlaufen haben, erhalten eine eintägige Weiterbildung mit dem Schwerpunkt »Anleitung zur Teamarbeit«.

•  Phase 3: An der Reflexionsleiter-Ausbildung nehmen mindestens zwei Mitarbeitende je Bereich (Wohnbereich, Station o. ä.) teil, in dem Demenzkranke versorgt und begleitet werden. Diese Ausbildung erfolgt über drei Tage mit abschließender Supervision durch die Ausbildungsleitung.

Mit Abschluss der Zertifizierung erhält die jeweilige Einrichtung eine von I. M. Königin Silvia unterschriebene Urkunde sowie ein Logo, das für die Dauer von drei Jahren bis zur Rezertifizierung auf allen Dokumenten verwendet werden kann.

2.6       Svenskt Demenscentrum

Nationales Demenzkompetenzzentrum Schweden

2007 ist die Silviahemmet-Stiftung gemeinsam mit dem Gerontologischen Forschungszentrum Stockholm vom Ministerium für Gesundheit und Soziales (National Board of Health and Welfare) beauftragt worden, ein Nationales Kompetenzzentrum für Demenz (Svenskt Demenscentrum) aufzubauen. Das Zentrum wurde 2008 eröffnet. Die Trägerschaft liegt bei der Silviahemmet-Stiftung.

Dieses Nationale Demenzkompetenzzentrum hat die Aufgabe, Wissen über Demenz zusammenzutragen, zu ordnen und an Pflegekräfte und medizinisch Tätige, Entscheidungsträger, Pflegebedürftige und deren Angehörige weiterzugeben. Ziel ist es, Forschungsdaten zusammenzustellen und zugänglich zu machen, um die Implementierung neuer Erkenntnisse in der Versorgung, Pflege und Begleitung zu erleichtern.

In den letzten Jahren sind zahlreiche Broschüren entstanden, u. a. für Menschen mit Demenz, webbasierte Einführungen in das Thema Demenz und Initiativen für demenzfreundliche Kommunen.

2.7       Silviahemmet international

Seit 2006 ist Silviahemmet auch international tätig. Das Train-the-Trainer-Programm hat die Silviahemmet-Philosophie in mehreren Ländern, unter anderem in China, Deutschland, Japan und Polen verbreitet. Neue Silviahemmet-Trainer (Silviahemmet Instructors) werden jährlich von Silviahemmet geprüft und bei erfolgreichem Abschluss befähigt, in ihrem eigenen Land Schulungen anzubieten.

Swedish Care International (SCI)

Zur Unterstützung der internationalen Aktivitäten ist 2011 Swedish Care International (SCI) gegründet worden, das in den letzten Jahren regelmäßig Experten aus aller Welt nach Stockholm zum Dementia Forum X eingeladen hat.

2.8       Tagespflege und SilviaBo

An ihrem Standort in Stockholm betreibt die Silviahemmet-Stiftung neben ihrem Ausbildungszentrum eine Tagespflegeeinrichtung sowohl für Senioren wie für junge Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind.

SilviaBo®, ein Angebot für Ehepaare

Gleich neben der Tagespflegeeinrichtung ist das SilviaBo (SilviaBo®) entstanden, ein Pilotprojekt, das von Silviahemmet in Zusammenarbeit