Stimme und Sprechen in der Psychotherapie - Lothar Schattenburg - E-Book

Stimme und Sprechen in der Psychotherapie E-Book

Lothar Schattenburg

0,0

Beschreibung

Zu den aktuellen Trends in der Psychotherapie gehören Begriffe wie Dr. Google, E-Mental Health, internetgestützte Interventionen, Skype, Apps, virtuelle Realitäten und "sprechende" Roboter. Die Digitalisierung in der Psychotherapie kann Patientinnen und Patienten auf vielfältigste Weise unterstützen, gerade in Zeiten von Kontaktverboten. Die lebendige Sprache in einer Unterhaltung von Angesicht von Angesicht ist damit jedoch nicht zu ersetzen und entfaltet in therapeutischen Prozessen eine faszinierende Wirkung. Lothar Schattenburg trägt Grundlagenwissen zur Stimme und zum Sprechen und deren Rolle in der Psychotherapie zusammen und zeigt im Praxisteil, wie achtsamer Stimmeinsatz in der Therapie aussehen und wie er geübt werden kann. Dabei stehen Selbsterfahrung und Supervision im Mittelpunkt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 254

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lothar Schattenburg

Stimme und Sprechen in der Psychotherapie

Ein Leitfaden zur Selbsterfahrung und Supervision

Mit 2 Abbildungen und 11 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Pascal Schattenburg: Spektrogramm, 2020

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99976-0

Für Klaus-Eberhard Sander

Inhalt

Vorwort

TEIL I Theoretische Grundlagen

1 Ein-Stimmung

2 Zur Rezeption der Stimme in der wissenschaftlichen Literatur

3 Warum bleiben die Stimme und das Sprechen wichtig im digitalen Zeitalter?

4 Technische Entwicklungen

5 Gesellschaftliche Risiken des technischen Fortschritts

6 Das Abc der Stimme

7 Neurobiologische Befunde

8 Stimme, Mimik und Gefühle

9 Stimme und Körperhaltung der Patient*innen

10 Stimme und Identität der Therapeut*innen

11 Nonverbale und verbale Elemente in der Psychotherapie

11.1 Stimme, Sprechen und Hören

11.2 Stimme, Sprechen und Schweigen

11.3 Stimme, Sprechen und Schreien

11.4 Stimme, Sprechen und Weinen

11.5 Stimme, Sprechen und Lachen

11.6 Stimme, Sprechen und Redepause

11.7 Interaktionen zwischen Sprechen, Hören, Schweigen, Schreien, Weinen, Lachen und Redepause

12 Empirische Ergebnisse zur Stimmforschung in der Psychotherapie

12.1 Der Ansatz von Grawe

12.2 Der psychodynamische Aspekt der Stimme

12.3 Der Ansatz von Streeck

12.4 Der Ansatz von Buchholz

12.5 Stimme und Bindungsstil

12.6 Stimme und Therapie der sozialen Phobie

13 Die Bedeutung der Stimme im psychotherapeutischen Kontext

13.1 Die Stimme im Rahmen des radikalen Konstruktivismus

13.2 Die Stimme als Katalysator der Übertragung

13.3 Die Stimme in der Paartherapie

13.4 Die Stimme in der Familientherapie

13.5 Die Stimme in der Gruppentherapie: das Prinzip Antwort im Göttinger Modell

13.6 Die Stimme im Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK)

14 Prosodie der Stimme und therapeutische Interventionen

14.1 Der Ansatz von Riemann

14.2 Der Ansatz von Geuter

14.3 Der Ansatz von Erickson

14.4 Der Ansatz von Clarkin, Yeomans und Kernberg

14.5 Der Ansatz von Kernberg und Kohut im Vergleich

15 Nach der Pflicht die Kür: Stimme, Sprüche und Aphorismen

TEIL II Die Selbsterfahrung und das Training der Stimme in der Ausbildung und im Beruf

16 Selbsterfahrung und Supervision der Stimme in der Praxis

16.1 Zum Einstieg: Leitfaden für die Supervision der Stimme der Psychotherapeut*innen

16.2 Übung zur Selbstwahrnehmung der Stimme

16.3 Übung zum Embodiment und zur Selbstwahrnehmung der Stimme

16.4 Basale Atemübung

16.5 Stabilisierung der Stimme mit Atmung

16.6 Körperhaltung und Stimme der Therapeut*innen

16.7 Selbsterfahrung der Wahrnehmung der eigenen Stimme

16.8 Selbsterfahrung der Stimme im Kontext von offener vs. strukturierter Gesprächsführung

16.9 Rollenspiel zur Stimme: Therapeut-Patient-Interaktion

16.10 Das Prinzip Antwort im Göttinger Modell

16.11 Feedback und Imaginationsübung mit VoceVista Video

16.12 Leitfaden für die Supervision der Stimme in der Gegenübertragung

16.13 Skalen zu rhetorischen Fähigkeiten in der Psychotherapie

16.14 Skala zur Stimme bei Psychoedukation und bei Vorträgen

16.15 Skala zu Stimme und Schweigen

16.16 Skala zu Stimme und Lachen

16.17 Skala zu Stimme und Pause in einem therapeutischen Gesprächsverlauf

16.18 Skala zu Stimme und Redepause für eine Therapiestunde

16.19 Skala zur Stimme im Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK)

16.20 Skala zur Umbewertung der Stimme eines Gegenübers als Schallwellen

16.21 Skala zur Umbewertung der Stimme des Therapeuten als Schallwellen

16.22 Skala zu Stimme und emotionaler Ansteckung

16.23 Skala zu Stimme des Therapeuten und Abwehr

16.24 Skala zu Stimme des Patienten und Abwehr

16.25 Skala zur Stimme beim Gebrauch von Sprüchen und Aphorismen

16.26 Skala zur Kongruenz der vier Kanäle: Prosodie der Stimme, Mimik, Inhalt der Intervention und Körperhaltung des Therapeuten

16.27 Skala zur Bewertung der Stimme als Wirkfaktor in der Psychotherapie

16.28 Skala zu Stimme des Patienten und Selbstfürsorge des Therapeuten

16.29 Skala zur digitalen Identität des Therapeuten

16.30 Zusammenfassung der Ziele unserer Workshops

17 Ausblick für Forschung und Praxis

18 Fazit

Literatur

Vorwort

Gib Worte deinem Schmerz: Gram, der nicht spricht, presst das beladne Herz, bis dass es bricht.

(Shakespeare, »Macbeth«)

Zu den neuen Trends in Medizin und Psychotherapie zählen folgende Begriffe: Dr. Google, E-Mental-Health, internetgestützte Interventionen, virtuelle Realität, Therapie per Skype, YouTube-Therapie, Apps, Telematik, Telemedizin, Digital Health, iPatient, algorithmisches Selbst, digitale Senioren-Assistenzsysteme mit GPS, implantierte Chips zur Überwachung von Herz-Kreislauf-Parametern, Robotik in der Pflege, elektronische Patientenakte usw. Zudem werden Kurse in der Psychotherapieausbildung gegenwärtig häufig mit dem Titel »Wie werde ich ein guter Online-Therapeut?« angeboten. Der aktuellste Hype der Digitalisierung besteht darin, dass sich die Schweden Mikrochips unter die Haut der linken Hand einpflanzen lassen. So brauchen sie für ihre Wohnungs- oder Haustür keinen Schlüssel mehr, es genügt, die Hand an die Tür zu halten. Dieser Miniaturchip – klein wie ein Reiskorn – birgt ungeahnte Möglichkeiten für die Registrierung von Körperfunktionen. Was früher an einen James-Bond-Film erinnert hätte, ist jetzt Realität (Augsburger Allgemeine, 2018).

Diese Trends, die unsere Gesellschaft fundamental verändern werden, stoßen auf sehr unterschiedliche Reaktionen bei allen Beteiligten im Feld der Psychotherapie – sei es bei den Patient*innen oder Therapeut*innen. Einige Kolleg*innen unterstützen diese Entwicklungen, andere Kolleg*innen reagieren hingegen mit mehr oder weniger starker Somatisierung oder Flucht auf diese Trends (siehe dazu sehr detailliert und scharfsinnig das Schwerpunktthema Digitalisierung der Zeitschriften »Psychotherapeut«, 2018, und »Psyche«, 2019). Die aktuell hochgehandelte Telemedizin wird viel, aber nicht alles richten können: Sogar aus der Medizin kommen kritische Stimmen, etwa aus dem Fachbereich Orthopädie, wo die Untersuchung mit den Händen bei vielen Erkrankungen nach wie vor von entscheidender Bedeutung ist (Müller-Wohlfahrt, 2018). Viele Tagungen reagieren auf die digitalen Trends, etwa die ursprünglich geplante Jahrestagung der Milton Erickson Gesellschaft in Bad Kissingen (2020) unter dem Motto: »Die Geister, die ich rief: Bewusstsein und Beziehung im Zeitalter von Digitalisierung und KI« (wegen der Corona-Krise musste diese Tagung verschoben werden). Auch auf Kongressen gibt es Schwerpunktthemen mit Titeln wie: »Fluch und Segen der Digitalisierung in der Psychosomatik«.

Mein Anliegen mit diesem Buch ist, in den heutigen schnelllebigen Zeiten für einen Moment innezuhalten, um sich die Bedeutung der Stimme in der Psychotherapie zu vergegenwärtigen. Gerade in dem Hype einer digitalisierten und sich weiterhin digitalisierenden Gesellschaft darf das Training der Stimme im Studium sowie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung nicht vergessen werden. Sonst würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Psychotherapie ohne gesprochene Sprache? Wäre dies wünschenswert? Es besteht dabei die Gefahr, dass über die Technisierung im Gesundheitswesen die Bereitschaft, mit den Patient*innen direkt zu sprechen, zurückgedrängt wird. Die Kommunikation mit den Patient*innen braucht Zeit und emotionale Zuwendung. »Das Gespräch als Therapie« lautet der Titel des in der Tradition von Hans-Georg Gadamer stehenden Buches von Hermann Lang (2000). In naher Zukunft werden junge aufstrebende Autor*innen, nennen wir sie Herr X oder Frau Y, ein Buch veröffentlichen mit dem Titel »Die Digitalisierung als Therapie«.

Ich folge gedanklich der am MIT lehrenden Psychologin Sherry Turkle (2019), die im Kontext der Entwicklung von »Empathie-Maschinen« – etwa einem sprechenden Roboter im Altenheim – dazu auffordert, uns Gedanken darüber zu machen, »ob wir uns eines Tages damit begnügen werden, kein menschliches Gegenüber mehr zu haben« (S. 741). Die Autorin verweist darauf, dass in absehbarer Zeit Maschinen über automatisierte Spracherkennungssysteme, wie etwa Siri, durchaus als »Psychiater« fungieren können. Patienten würden dann mit Maschinen sprechen. In Bezug auf unser Thema – die Stimme – kann ein Mensch solch eine Maschine abwerten, beleidigen oder sogar anschreien, ohne sanktioniert oder mit einem kritischen Feedback versehen zu werden. Die Maschine wird programmiert, mit einer gleichmäßig sonoren Stimme zu sagen: »So beruhigen Sie sich doch mal. Sie sind ja ganz aufgeregt.« Es handelt sich hier um eine maschinell vorgetäuschte, somit illusionäre Empathie. Wollen wir diese »Empathie-Maschinen« (Turkle, 2019) in einem therapeutischen Kontext? Einige werden nach den Überlegungen von Turkle bei Pflege- und Altersheimen oder Krankenhäusern ohne Personal so argumentieren: »Besser dies als gar nichts!«

Dieses Buch stellt jedoch keine Ablehnung von Technologien in der Therapie, Pflege oder Forschung dar, denn ohne diese gibt es keinen Fortschritt. Wir brauchen dringend die Digitalisierung auf dem Land, in den Verwaltungen, Schulen, Hochschulen, der Bahn usw. Dies würde niemand ernsthaft abstreiten. Auch angesichts einer ansteckenden Epidemie oder Pandemie (Corona-Virus) ist eine Online-Beratung etwa bezüglich einer Krankschreibung per Skype ohne direkten körperlichen Kontakt notwendig, um die Arztpraxen oder die Kliniken zu schützen. Darüber hinaus wird sich unsere Arbeitswelt in den nächsten Jahren durch die Digitalisierung komplett verändern. Es gilt, sich auf diese Veränderung einzustellen. Alles richtig. Dennoch: Es darf ein Plädoyer dafür gehalten werden, dass in der Praxis persönlich gesprochen werden sollte und nicht nur schriftlich über PC, Apps oder Smartphone kommuniziert wird. Virtuelle Realitäten bei der Behandlung von Angststörungen sind effektiv, sollten aber stets in einen sprachlichen Kontext gestellt sein. Dies bedeutet natürlich auch, dass von den Entscheidungs- und Kostenträgern sichergestellt werden muss, dass für eine sprechende Medizin, Pflege und Psychotherapie nach wie vor genügend Raum, Personal und Geld zur Verfügung steht und dass die Patient*innen nicht nur an einen PC gesetzt werden oder ihnen ein Smartphone mit einer entsprechenden App in die Hand gedrückt wird. 2018 wurde auf dem Deutschen Ärztetag die Berufsordnung dahingehend geändert, dass unter bestimmten Umständen eine Fernbehandlung möglich ist, ohne den Patienten im direkten Kontakt untersucht zu haben – eine weitreichende Entscheidung, die in Zeiten des Ärztemangels auf dem platten Land natürlich Vorteile haben wird. Für die Psychotherapie gilt aktuell diese Entscheidung noch nicht. Auch wird von der Psychotherapeutenkammer eine Online-Supervision von Psychotherapeut*innen zumindest im Moment nicht zugelassen, von der Corona-Krise in 2020 abgesehen. Wir sind natürlich die Neandertaler von morgen. Vielleicht werden diese Einwände in naher Zukunft auch durch die voranschreitende Digitalisierung außer Kraft gesetzt.

Die Stimme der Patient*innen und die Stimme der Therapeut*innen können untersucht werden, genauso die Interaktion zwischen beiden Stimmen. Das ergibt hochkomplexe Muster. Ich konzentriere mich in diesem Buch im Wesentlichen auf die Stimme von Psychotherapeut*innen, berücksichtige aber auch die Stimme der Patient*innen. Das Buch enthält sowohl kasuistische Ausführungen als auch Hinweise auf empirische Forschungen. Technische Entwicklungen zur Messung der Stimme werden rezipiert; der Fokus liegt jedoch auf psychotherapeutischen Aspekten. Mir ist vollkommen klar, dass es einen hohen Zeitaufwand bedeutet, sich mit den empirischen Analysen von Gestik, Mimik und Stimme zu beschäftigen. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf der Selbsterfahrung und Supervision der Stimme der Psychotherapeut*innen – ein Thema, dem bislang wenig Beachtung geschenkt wurde. Nach Durchsicht der Literatur und eigenen Umfragen als Lehrtherapeut unter Ausbildungskandidat*innen spielt die Stimme bei der Ausbildung in der überwiegenden Mehrzahl keine nennenswerte Rolle.

Betrachtet man die Prosodie der Stimme, stehen unbewusste, unwillkürliche Prozesse im Fokus. Sie laufen in der Regel automatisiert ab. Der Einfluss der nonverbalen Signale ist groß – so wie das, was gesagt wird, von großer Wirkung ist. Wie die Stimme von Psychotherapeut*innen in der Ausbildung trainiert werden kann, zeigen die Erfahrungen meiner Workshops. Das Ziel dieser Workshops ist ganz basal: nämlich dass die Therapeut*innen die Selbstwahrnehmung ihrer Stimme trainieren und ein Gefühl für die Prosodie ihrer eigenen Stimme bekommen – allein dies ist ein sensibles und anspruchsvolles Unterfangen, wie die Evaluation der von mir durchgeführten Workshops zeigt.

Wodurch ist dieses Buch in der Flut von Publikationen zu rechtfertigen? Zunächst geht es um ein aktuelles Plädoyer für die lebendige, nicht PC-gestützte Stimme in der Psychotherapie. Für die Untermauerung meines Plädoyers resümiere ich wissenschaftliche Arbeiten, die zeigen, warum die Stimme auch in einer digitalisierten Welt von Bedeutung ist. Zudem enthält das Buch als Neuerung viele Vorschläge, wie die Stimme von Psychotherapeut*innen in der Ausbildung trainiert und supervidiert werden kann. Mein fachlicher Hintergrund ist eine verhaltenstherapeutische und psychodynamische Ausbildung, kombiniert mit einem großen Interesse an der Hypnotherapie von Milton Erickson. Dementsprechend habe ich die Beispiele in dieser Ausbildungsperspektive integrativ ausgesucht. Ich konzentriere mich hier in jedem Fall auf die Erwachsenenpsychotherapie, denn für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wären andere Schwerpunkte zu setzen. Das Buch ist zwar im Rahmen der Arbeit mit angehenden Psychotherapeut*innen entstanden, es richtet sich aber interdisziplinär an alle Berufsgruppen, die sich im Gesundheitswesen stimmlich mit Klient*innen oder Patient*innen engagieren – sei es in der Medizin, Pflege, Sozialarbeit, Beratung, klinischen Arbeitspsychologie, im Coaching oder in der Psychotherapie.

Anmerkung: Mein Manuskript ist vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschrieben worden. Es enthält kritische Anmerkungen zur Digitalisierung und Online-Nutzung. Es muss daher betont werden, dass natürlich im Rahmen einer Ausnahmesituation wie der Corona-Pandemie alle Möglichkeiten der Digitalisierung und Online-Kommunikation genutzt werden müssen.

Dieses Buch ist eine Ausarbeitung von fünf Workshops, die ich 2017 bei dem Symposium »Ressource Musik – Musiker im Mittelpunkt« am Campus Bad Neustadt des Rhön-Klinikums sowie 2018 und 2019 am Centrum für Integrative Psychotherapie (CIP) in München gehalten habe. Die Übungen zur Stimme und Selbstfürsorge entstammen den Workshops an der Akademie für Psychotherapie (AfP) in Erfurt 2017 und 2018. Den Teilnehmer*innen all dieser Workshops danke ich für ihr konstruktives Feedback. David Trachsler (Zürich), Fachpsychologe für Psychotherapie, ehemals Sprecher vom Schweizer Fernsehen SRF, danke ich für die wertvollen Diskussionen und seine weiterführenden Hinweise. Prof. Dr. Bernhard Strauß (Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Universität Jena) hat mich auf aktuelle Arbeiten zur Stimme aufmerksam gemacht, die an seinem Institut durchgeführt worden sind. Die Gesangspädagogin Henrike Rottmann (Bad Neustadt) gab mir wichtige Anregungen, für die ich mich herzlich bedanken möchte. Dr. med. Gregor Grzybowski und den Kolleg*innen aus meiner Sektion in der Psychosomatischen Klinik Bad Neustadt danke ich für ihre kontinuierliche emotionale und kompetente fachliche Unterstützung. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Sandra Englisch und Ulrike Rastin vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihre tatkräftige lektorische Unterstützung. Ganz besonders danke ich meiner Familie sehr herzlich für ihren stimmlichen Austausch beim gemeinsamen Essen ohne digitale Zutaten.

Lothar Schattenburg

Teil I

Theoretische Grundlagen

1 Ein-Stimmung

Sigmund Freud beschrieb die Psychotherapie als einen »Austausch von Worten« und er betonte dabei die »Zauberkraft« der Worte (Freud, 1890). Diese »Zauberkraft« muss heutzutage wieder aktiviert werden. Freud standen die modernen technischen Möglichkeiten (Tonband, Video, PC-gestützte Analysemethoden) noch nicht zur Verfügung. Textmitschriften zu kodieren (in puncto Lautstärke, Intonation, Pausen etc.), wäre Freud vermutlich auch nicht in den Sinn gekommen – als Homme de Lettres hätte er dies eventuell abgelehnt. Tonbandaufnahmen wurden erstmals von Carl Rogers im größeren Stil in der Gesprächspsychotherapie, später von der Ulmer Textbank in der Psychoanalyse durchgeführt. Die Stimme spielt sowohl im gesellschaftlichen Alltag als auch in der Kultur eine große Rolle. Schon der Volksmund weiß um die Prosodie der Stimme: »Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus.« Eine Stimme kann uns aufbauen oder uns runterziehen, sie kann passiv sein, aber auch suggestiv. Sie kann von charismatischen Rhetorikern zum Aufbauen von Ressourcen und Versöhnung (wie bei Nelson Mandela) oder zum Zerstören und Hetzen (wie bei Joseph Goebbels) verwendet werden. Je nach Musik- oder Literaturgeschmack hören wir Sänger oder Lyriker, um uns durch deren Stimme emotional beeinflussen zu lassen. Wir sind berührt von der Trauer der Stimme, von der guten Laune oder von der religiösen Transzendenz (beispielsweise in Chorälen). Schon in der Antike gab es Sänger, denen gottgleiche Eigenschaften zugeschrieben wurden (Spahn u. Richter, 2016, S. 55 f.). Die Stimmen aus der Opernwelt inspirieren uns: Hagedorn (2019, S. 40) erlebt in Anlehnung an Rainer Maria Rilkes Formulierung die Stimme der litauischen Sopranistin Asmik Grigorian in einer ganz bestimmten Situation als »weich, so weich wie die ›Innenseite von einer Frucht, die an der Luft verdirbt‹«. Dass das Singen hohe therapeutische Wirkungen hat und das Bindungshormon Oxytocin auslöst, ist in vielen Studien nachgewiesen worden (Bossinger, 2005; Stegemann, 2018). Kurzum: Stimme und Seele sind eng aufeinander bezogen.

Es liegt auf der Hand, dass die Stimme in der Psychotherapie ein zentrales Thema darstellt. Watzlawick, Beavin und Jackson (1969) haben in ihrer wegweisenden Kommunikationstheorie herausgearbeitet, dass jede Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt hat. In dieser Kommunikationsstruktur spielen nonverbale Elemente wie die Stimme eine wichtige Rolle. Ulrich Streeck (2004) betont, dass nicht nur die Mitteilungen von Bedeutung sind, sondern auch die Interaktionen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen: »Mittel des Sprechens, wie Lautstärke, Tempowechsel, Unterbrechungen und Pausen oder die Sprachmelodie sowie die Konstruktion von Äußerungen, werden für die Regulierung der Interaktion eingesetzt« (2004, S. 52). Streeck formuliert eine Priorität, die es aus meiner Sicht zu relativieren gilt: »An erster Stelle steht Interaktion, nicht Erzählen« (S. 12). Das Erzählen hat – neben den Interaktionen – jedoch nach unserer Auffassung eine eigenständige therapeutische Wirkung: Der Patient kann über die Entwicklung eines Narrativs seine Identität stabilisieren, sich entlasten, Umdeutungen während der Verfassung der Gedanken beim Reden entwickeln usw. Erzählen ist immer auch Interaktion (S. 62), aber das Erzählen mit der Versprachlichung des Erlebens hat eine eigene Kraft (vgl. Boothe, 2011). Daher lautet meine These: Interaktionen und Erzählen sind wichtige eigenständige Wirkfaktoren in der Psychotherapie, die natürlich eng miteinander verwoben sind und gegenseitig aufeinander einwirken.

Unser Thema ist schulenunabhängig. Es ist in den letzten Jahren, vor allem durch die Leistung von Grawe, Donati und Bernauer (1994) sowie Wampold und Imel (2015), intensiv zum Vergleich der Therapieschulen geforscht worden, es gibt aber bis dato – soweit ich sehe – keinen systematischen Vergleich der Therapieschulen unter dem Gesichtspunkt der Stimme. Ich werde zeigen, dass der Stimme in der Ausbildung nicht die gebührende Bedeutung beigemessen wird: Die Gründe hierfür liegen im Zeitgeist der Digitalisierung, in der Onlinisierung von Medizin und Psychotherapie sowie im Personalmangel. In Städten, die von Abwanderung bedroht sind, können Bildschirme die Basisfunktion in der psychotherapeutischen Versorgung unterstützen (Strauß u. Willutzki, 2018). Die Onlinisierung der Psychotherapie hat einen Nutzen, denn eine App oder internetbasierte Interventionen können einen psychotherapeutischen Prozess gewinnbringend unterstützen (Zwerenz, Schur, Wieling, Schattenburg u. Beutel, 2018). Dies gilt, wie schon betont, vor allem in der Corona-Krise.

Neben ökonomischen Aspekten dürfte die Attraktivität der Onlinisierung der Psychotherapie auch darin liegen, dass die Therapeut*innen schwierige Beziehungen für die Gegenübertragung wesentlich »angenehmer« gestalten können, wenn sie ein verkörpertes Selbst draußen lassen. Verkörpertes Selbst bedeutet in diesem Buch: Ein Therapeut sitzt mit seinem Körper einem Patienten mit seinem Körper direkt gegenüber – ohne die Kommunikation mit ihm über einen Computer oder Maschinen. Es dürfte wesentlich distanzierter sein, einen Borderline-Patienten mit onlinegestützten Interventionen zu behandeln als in einem klassischen Setting, in dem der Patient seine Wut auf den/die Therapeut*in direkt äußert, ihn/sie anschreit, wild projiziert, abwertet usw. Turkle zitiert ihre Ingenieurskolleg*innen vom MIT in Boston, die gern die Vokabel »reibungsfrei« benutzen, wenn es um die Förderung des Einsatzes von automatisiertem Kundendialog oder Patientenbehandlung mit Robotern geht (2019, S. 727). Ist die Therapie scheinbar »reibungsfrei«, können wir schwierige therapeutische Beziehungen besser abspalten.

Die Onlinisierung ohne körperliche Präsenz ist schon weit fortgeschritten. Dies kann praktische Gründe haben, um schlichtweg große Distanzen zu überwinden (USA–China), oder Prestigeaspekte, weil die Psychoanalyse in den USA stark an Bedeutung verloren hat. Darauf hat Turkle (2019) in ihrem für unsere Fragestellung sehr lesenswerten Artikel »Empathie-Maschinen. Der vergessene Körper« hingewiesen:

»Viele Analytiker nutzen heute Skype oder FaceTime für Psychotherapie, Psychoanalyse und sogar für Lehranalysen (analytische Sitzungen mit Ausbildungskandidaten). Zunächst mag dies der Zweckmäßigkeit geschuldet sein; so tat sich für die klassische Analyse in China just zu der Zeit ein großer Markt auf, als er in den USA zu schrumpfen begann. Behandlungssitzungen via Skype wurden zunächst als etwas hingestellt, das besser ist als nichts – wenn der Patient weit weg war, gab es keine andere Option –, doch schließlich wurden sie als eine Methode gerechtfertigt, die einfach besser sei und die analytische Interaktion von Zwängen und Hindernissen befreie« (S. 726 f.) Turkle fasst kritisch, traurig und resignierend zusammen: »Maschinenvermittelte Psychoanalyse hat mittlerweile den Nimbus der Normalität angenommen« (S. 736).

Angesichts dieser Entwicklungen darf ich dazu einladen, dass in der Psychotherapie die gesprochene Sprache weiterhin in einem direkten Kontakt mit einem Therapeuten gepflegt wird – also nicht nur über Internet, einen »sprechenden« Roboter oder Skype. Dieser Wunsch findet seine ethische Legitimierung schlichtweg im gesunden Menschenverstand, denn der Mensch konstituiert sich durch die Sprache – wie ein Blick in die Lehrbücher der anthropologischen Philosophie und Psychologie zeigt.

Dies bedeutet: Eine Psychotherapie ohne gesprochene Sprache dürfte dem Patienten nicht gerecht werden – ferner würde sie sich auch à la longue selbst abschaffen. Wir hätten dann im schlimmsten Fall nur noch Praxen und Kliniken mit Computern, von denen aus die Patienten online betreut werden würden. Das ist jedoch eine Zukunftsversion im Bereich des Möglichen. Kehse (2019) kommt in seiner Zusammenfassung auf sechs Programme zu Online-Anwendungen und zwei Smartphone-Apps. Die Arztvisiten in Kliniken werden heute schon häufig mit dem Laptop oder Tablet durchgeführt. Diesen Einsatz unterstütze ich vollumfänglich. Aber wir müssen auch darauf hinweisen, dass der unsichere Umgang mit diesen Geräten den Effekt haben könnte, dass das Anschauen der Patient*innen reduziert wird, weil die Ärzt*innen oder die Psycholog*innen just mit ihrem Laptop oder Tablet zu sehr beschäftigt sind. Die zu fördernde Digitalisierung der Krankenhäuser oder der Praxen hat im Rahmen der geforderten Schnelligkeit, der Dokumentationsanforderungen und der Vernetzung unbestritten viele Vorteile, dennoch sollte der Augen- und Ohrenkontakt sowohl in der somatischen Medizin als auch in der sprechenden Psychotherapie nach wie vor wichtig bleiben. Dies bedeutet im Alltag, dass ein kommunikativer Einsatz von Laptops und Tablets in den Kliniken und den Praxen auch trainiert sein will.

Die Pflege der Stimme in der Psychotherapie benötigt eine interdisziplinäre Haltung. Interdisziplinär bedeutet in diesem Zusammenhang eine Kooperation von Ärzt*innen, Psycholog*innen, Pflegekräften, Gesangspädagog*innen, Logopäd*innen, Körper-, Musik- und Kreativtherapeut*innen (Schattenburg u. Schuppert, 2017) und mit den Kulturwissenschaften (Kolesch u. Krämer, 2006). Diese gewünschte Kooperation ist anspruchsvoll und erfordert Kolleg*innen, die diesen interdisziplinären Esprit auch ausstrahlen und fördern können.

Im Folgenden konzentriere ich mich auf einen Faktor, nämlich die Stimme. Dies ist lediglich eine heuristische Reduktion – mit einem didaktischen Charakter, um ausgewählte Aspekte zu verdeutlichen. Natürlich steht die Stimme in einem hochdynamischen, mit vielen Wechselwirkungen versehenen Kontext von Körperhaltung, Mimik, Gestik, den Persönlichkeitseigenschaften, den Inhalten und den hochkomplexen Situationsparametern. Die Berücksichtigung all dieser Aspekte müssen wir im Hinterkopf behalten. Bei einer kasuistischen oder wissenschaftlichen Analyse haben wir es mit hochkomplexen Interaktionseffekten zu tun. Bei der Alltagsbewältigung sind wir jedoch zur Reduktion gezwungen und müssen den Verlust an Differenzierung in Kauf nehmen.

2 Zur Rezeption der Stimme in der wissenschaftlichen Literatur

Schaut man in das Sachverzeichnis der einschlägigen wissenschaftlichen Lehrbücher respektive Monografien zur Psychotherapie von namhaften Autor*innen, so kommt darin die Stimme schlichtweg nicht vor – und zwar bezogen auf alle Schulrichtungen: sei es nun Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Mentalisierungsansatz usw. (Schattenburg, 2003; Allen, Onay u. Ataman, 2016; Herpertz, Caspar u. Mundt, 2007; Hiller, Leibing, Leichsenring u. Sulz, 2004; Leichsenring, 2004; Leibing, Hiller u. Sulz, 2003; Lutz, 2010; Margraf, 1999; Krause, 2012; Perrez u. Baumann, 2005; Strauß, Hohagen u. Caspar, 2007; Rudolf, 2006; Thomä u. Kächele, 2006a, 2006b, Wöller u. Kruse, 2010). Wurmser (1998) hat sehr detaillierte, minutiös dargelegte Behandlungssequenzen veröffentlicht, ohne darin auf die Stimme einzugehen, obwohl es zu seiner Zeit zumindest schon die Möglichkeit von Tonbandaufnahmen gab. Auch in dem 600 Seiten (!) starken Werk »Ärztliche Kommunikation« von Jana Jünger (2018) wird lediglich in einem Satz darauf verwiesen, dass die Stimme von Bedeutung ist. Im Lehrbuch von Revenstorf und Peter (2015) zur Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin gibt es immerhin einen Hinweis auf die Stimmmodulation beim Autogenen Training mit hypnotherapeutischen Elementen. Dieser Hinweis dürfte nicht überraschen, wenn es um das Autogene Training geht. Auch Kernberg und Kollegen sind zwar offensichtlich sehr sensibilisiert für die Prosodie der Sprache, haben aber interessanterweise keine weiteren Studien zu diesem Thema vorgelegt. Caligor, Kernberg und Clarkin (2010, S. 81) zeichnen ein schönes Tableau:

»In anderen Momenten setzt der Patient Übertragungen in Szene, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wir denken hier an die in spezifische Verhaltenskorrelate des Patienten eingebetteten Objektbeziehungen – etwa den Tonfall [Hervorh. d. Verf.], in dem er spricht, seine Haltung, die er dem Therapeuten, aber auch seinen eigenen ›Äußerungen‹ gegenüber einnimmt, seine Körpersprache oder auch die ›Atmosphäre‹, die in der jeweiligen Sitzung herrscht. Um zu erkennen, was ›in der Übertragung‹ abläuft, schenkt der Therapeut nicht nur den freien Assoziationen bzw. dem Inhalt dessen, was der Patient sagt, Aufmerksamkeit, sondern auch den nonverbalen Mitteilungen [Hervorh. d. Verf.] sowie seiner eigenen Gegenübertragung.«

Wie dies nun empirisch erfasst werden kann, führen Caligor et al. nicht aus. Dies soll aber keine Kritik sein, weil auch diese Autoren, die sehr viel für die Objektbeziehungstheorie bei Borderline- und bei neurotischen Patienten geleistet haben, zur Reduktion bei ihren Forschungen gezwungen sind. Es handelt sich vielmehr um eine kollegiale, konstruktive Anmerkung meinerseits.

Wenn wir uns die oben zitierte Literatur anschauen, dann könnte man sagen: Die Stimme wird in wissenschaftlichen Arbeiten der Psychotherapie beschwiegen. Dies ist ein erstaunliches Phänomen, wenn man bedenkt, dass der Psychotherapeut – zumindest aktuell noch – überwiegend mit der Stimme arbeitet.

Dieses Forschungsdesiderat zeigt sich, auch wieder überraschenderweise, auf dem Feld der Selbsterfahrung und der Supervision. Ich habe ca. 80 Ausbildungsteilnehmer*innen der Psychotherapie befragt, ob in ihrer Ausbildung ihre Stimme einmal ein Thema gewesen sei, und überwiegend ein Nein als Antwort erhalten (Schattenburg, 2017, 2018, 2019). Schaut man in das Stichwortverzeichnis der aktuellen einschlägigen Supervisionsliteratur (Möller u. Lohmer, 2017; Hamburger u. Mertens, 2017), so kommt auch hier das Stichwort »Stimme« schlichtweg nicht vor.

Warum wird nun die Stimme in den oben zitierten Lehrbüchern und Monografien wenig rezipiert? Dies dürfte mehrere Gründe haben: In erster Linie läuft aktuell der Forschungsstrang über die Neurowissenschaften. Ferner berücksichtigt die Ausbildung zum Psychotherapeuten zu wenig die Nachbarwissenschaften Musik, Gesangspädagogik, Theater und Rhetorik. Hinzu kommt, dass die aktuell stark geförderte Digitalisierung und Onlinisierung der Medizin und Psychotherapie den wissenschaftlichen Fokus absolut vereinnahmen. Dies wird aus verständlichen Gründen durch die Corona-Krise natürlich noch einmal verstärkt. Ein weiterer Grund könnte sein, dass die aktuellen empirischen Ergebnisse zur psychologischen Stimmforschung in der Psychotherapie für eine größere Rezeption schlichtweg zu dünn sind. Auf diese Ergebnisse werde ich in den folgenden Kapiteln noch weiter eingehen.

Ferner habe ich die Erfahrung gemacht, dass es in der Supervision unangenehm sein kann, die eigene Stimme supervidieren zu lassen. Dies könnte Scham auslösen. Manchmal sind die Ergebnisse zur psychologischen Stimmforschung nur oberflächlich angedacht. Da lesen wir in den Lehrbüchern, dass bei der Wirkung einer Deutung »der Klang der Stimme eine Rolle spiele« (Geuter, 2015, S. 300). Aber wie wurde der Klang gemessen? Wie die Reaktion des Patienten? Und bei welchem Thema, das therapeutisch gerade bearbeitet wurde? Oder wir lesen, dass die Prosodie, Mimik, Gestik und Körperbewegung mit darüber bestimmen, ob die Behandlung für den Patienten heilsam wird (Geuter, 2015, S. 300). Aber bitte, wie? Empirische Forschung in der Psychotherapie mit modernen Erfassungsmethoden wie mit Praat ist noch relativ wenig präsent bei einem breiteren Publikum, oft nur in Form von Pilotstudien (siehe Kapitel 12). Praat kommt aus dem Niederländischen und heißt: die Rede, das Gesprochene. Es handelt sich dabei um ein PC-gestütztes Programm für phonetische Analysen. Es wurde von Paul Boersma und David Weenink am Institute of Phonetic Sciences an der Universität Amsterdam entwickelt. Die erste Windows-Ausgabe des Programms datiert von 1998. Mit Praat können akustische Analysen durchgeführt werden (in puncto Lautstärke, Tonhöhen, Grundfrequenzverlauf usw.).

Grawe betont schon 1998 (S. 310), dass die systematische Beachtung des nonverbalen Kommunikationsverhaltens der Therapeut*innen und seine gezielte Veränderung ein ausdrücklicher Bestandteil psychotherapeutischer Ausbildungen und insbesondere der Supervision sein sollte. Diese Anregung von 1998 habe ich jetzt, mehr als 20 Jahre später, in diesem Buch wieder aufgenommen (siehe Kapitel 16).

PS: Natürlich bedeutet der Umstand, dass die Stimme nicht im Sachverzeichnis von Lehrbüchern und Monografien aufgeführt ist, nicht automatisch, dass das Thema nicht im Text hier und dort behandelt wird. Bei Grawe (1998) gibt es beispielsweise sehr detaillierte Ausführungen zur Stimme, obwohl diese nicht im Stichwortverzeichnis gelistet ist. Insofern müsste die oben zitierte Literatur noch einmal im Detail geprüft werden.

3 Warum bleiben die Stimme und das Sprechen wichtig im digitalen Zeitalter?

Die Psychologin Leslie J. Seltzer und ihre Kollegen (2012) haben zur Bedeutung der Stimme ein interessantes Experiment durchgeführt – mit nachvollziehbaren unabhängigen und abhängigen Variablen: 68 Mädchen zwischen sieben und zwölf Jahren wurden einem psychologischen Stresstest unterzogen. Sie mussten 15 Minuten lang verbale und mathematische Aufgaben lösen – vor einem fremden Publikum. Die unmittelbaren Effekte wurden gemessen mit dem Trier-Stress-Test für Kinder. Nach dieser Stresssituation wurden die Kinder nach dem Zufallsprinzip in vier Gruppen eingeteilt. Die Mädchen der ersten Gruppe durften jetzt zu ihren Eltern gehen und 15 Minuten lang mit ihnen direkt sprechen. Die Mädchen der zweiten Gruppe mussten jeweils allein bleiben. Als Teilnehmerinnen der dritten Gruppe durften die Mädchen mit ihren Eltern telefonieren, während die der vierten Gruppe lediglich die Chatmöglichkeit mit den Eltern hatten. Vor und nach dem Test nahm die Forschungsgruppe den Mädchen Speichelproben ab, um die Cortisol- und Oxytocinwerte zu messen.

Das Hauptergebnis dieser Studie war: Die Interaktion mit den Eltern wirkte sich bezüglich der biologischen Parameter völlig unterschiedlich aus. Das Experiment konnte die Macht der Stimme deutlich nachweisen, denn das Chatten allein tröstet nicht befriedigend. Die Kontakt- und Telefongruppe zeigten ähnliche Reaktionen: Die Cortisolwerte schwankten kaum. Der sprachliche Austausch konnte die Kinder demnach beruhigen. Hinzu kommt, dass in diesen Gruppen gleichzeitig die Oxytocinwerte anstiegen. Die ungünstigsten Werte zeigten die Mädchen, die allein blieben oder nur mit ihren Eltern chatten konnten. Bei ihnen stieg das Cortisol, das Oxytocin sank sogar. Fazit dieses Experiments: Der Austausch per digitaler Kommunikation beruhigte die Kinder in keiner Weise, sondern zeigte im Gegenteil negative Effekte bezüglich des Cortisol und Oxytocin. Diese Ergebnisse leuchten mit gesundem Menschenverstand sofort ein, wird doch der Mensch – seit der Antike – als soziales und sprechendes Wesen betrachtet. Aber es ist schön, dass der gesunde Menschenverstand wissenschaftlich nachgewiesen werden kann.

Im Rahmen dieser Forschung wäre es interessant, den Bindungsstil der Kinder zu berücksichtigen. Wenn man diesen vor und nach dem Experiment unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob sicher gebundene Kinder andere Ergebnisse erzielen als unsicher-ambivalent gebundene Kinder, so könnten Erstere beim Chatten bessere biologische Parameter erzielen als Letztere (zum Bindungsstil s. auch Kapitel 12.5).

Altenmüller (2018, S. 60 f.) referiert eine Studie mit Wiegenliedern, die ebenfalls das Stresshormon Cortisol im Fokus hat. Darin wurde der Cortisolspiegel vor und nach einem zehn Minuten langen Wiegenlied bei sechs Monate alten Säuglingen gemessen. Die überwachten Säuglinge wurden durch das Singen beruhigt, der Cortisolspiegel sank nach dem Wiegenlied. Bei den Säuglingen mit niedrigem Wachheitsgrad war aber der Cortisolgehalt vergleichsweise höher.

Im Rahmen der schon erwähnten Onlinisierung der Psychotherapie sind aktuell viele Studien am Laufen, die die therapeutische Allianz bei einer Online-Nachsorge untersuchen – ein Thema, das folglich aktuell »heiß« diskutiert wird (Zwerenz et al., 2018). Der Diskussions- bzw. Streitpunkt ist häufig, ob die therapeutische Allianz bei der Online-Therapie der therapeutischen Allianz bei einer herkömmlichen Therapie »ebenbürtig« sei. Sicherlich wäre es wünschenswert, bei zukünftigen Online-Studien vermehrt die oben genannten biologischen Marker wie Oxytocin und Cortisol hinzuzunehmen. Reagieren Patienten mit dem gleichen Anstieg von Oxytocin und der gleichen Reduktion von Cortisol in einem Setting mit gesprochener Sprache wie in einem Setting mit einer reinen Online-Nachsorge? Sollte dies der Fall sein, müsste das Konzept der therapeutischen Allianz in der Tat neu bewertet werden.

Wie wichtig und bedeutsam die Stimme ist, zeigt die Zusammenfassung von Spitzer (2003). Er betont, dass neben dem mütterlichen Herzschlag die mütterliche Stimme eines der Hauptbestandteile