Stimmen im Wald - Ralf Kramp - E-Book

Stimmen im Wald E-Book

Kramp Ralf

4,8

  • Herausgeber: KBV
  • Kategorie: Krimi
  • Serie: Jo Frings
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Niemand im Dorf nimmt Michel Frings ernst, wenn er auf der Suche nach dem Luchs die Wälder der Eifel durchstreift. Als er eines Morgens tot auf einer Lichtung gefunden wird, wundert es niemanden, dass das Herz des alten Sonderlings aufgehört hat zu schlagen. Sein Bruder Jo reist zur Beerdigung an. Im Gegensatz zu Michel hat er das Dorf schon früh verlassen und im Ausland Karriere gemacht. Schon bald stolpert er über Ungereimtheiten, über wohlgehütete Dorfgeheimnisse, über Eifersucht und Betrug, und er beginnt zu ahnen, dass der Tod seines Bruders alles andere als ein Unfall war. Wer einmal gemordet hat, der wird es vielleicht schon bald ein zweites Mal tun. Das weiß Jo, aber er ist viel zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Geheimnis zu bewahren, als dass er die tödliche Gefahr erkennt, die sich ihm langsam aber stetig nähert.

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Seitenzahl: 276

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Sammlungen



Ralf Kramp

Stimmen im Wald

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Abendgrauen (Hg.)

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss

Abendgrauen II (Hg.)

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord

Ein kaltes Haus

Abendgrauen III (Hg.)

Totentänzer

Nacht zusammen

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze

Tatort Eifel 3 (Hg.)

Ralf Kramp, geboren am 29. November 1963 in Euskirchen, lebt heute in Flesten in der Vulkaneifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er den Förderpreis des Eifel-Literaturfestivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane, unter anderem auch die Reihe um den kauzigen Helden Herbie Feldmann und seinen unsichtbaren Begleiter Julius, die mittlerweile deutschlandweit eine große Fangemeinde hat. Seit 1998 veranstaltet er mit großem Erfolg unter dem Titel »Blutspur« Krimiwochenenden in der Eifel, bei denen hartgesottene Krimifans ihr angelesenes »Fachwissen« endlich bei einer Live-Mördersuche in die Tat umsetzen können.

Im Jahr 2002 erhielt er den Kulturpreis des Kreises Euskirchen.

Seit 2007 führt er mit seiner Frau Monika in Hillesheim das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« mit 26.000 Bänden, dem »Café Sherlock« und der Buchhandlung »Lesezeichen«. www.ralfkramp.de · www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Stimmen im Wald

1. Auflage 20102. Auflage 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlagillustration: Ralf Kramp unter Verwendung von: © Sabine Hortebusch und © losif – www.fotolia.deRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-940077-43-1E-Book-ISBN 978-3-95441-068-2

Für meine Monika.

Und für Margarete und Franz Mörsch,deren Haus uns liebevoll aufgenommen hat.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Ein Dankeschön …

Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern redenund tauscht bei ihnen seine Seele um.Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.

(Erich Kästner, aus: Die Wälder schweigen)

1. Kapitel

Es schien einer von den guten Tagen zu werden. Die Luft war hier, im Schatten des Waldes, der an die Wiese grenzte, taufeucht und kühl. Michel hatte keine Kopfschmerzen, sein Frühstück hatte nur aus einer Tasse Tee und einem Apfel bestanden.

Er fühlte sich stark und unternehmungslustig. Seine Schritte waren fest. Das hohe, nasse Gras strich ihm über die Stiefelschäfte und die Cordhose, die ersten Sträucher kratzten über die dunkelgrüne Haut der Wachsjacke. Über ihm griffen die ersten Äste ineinander.

Heute würde er keine Stimmen hören. Die Stimmen kamen nur in der Dunkelheit. Ein wenig so, als scheuten sie sich davor, am helllichten Tag Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Er blieb stehen und sah sich um. Unten aus dem Dorf war die Melodie der Kirchenorgel zu hören. Jetzt setzte auch der Gesang ein. Ein auffrischender Wind trug die Töne fort, ließ sie verblassen. Im Osten hing fern über der Nürburg ein graues Wolkenband, das sich langsam entfernte. Der Aremberg im Norden glänzte bereits golden. Die Morgensonne ließ die Konturen des Waldes schärfer hervortreten.

Dort unten sangen sie, die Philister, die Scheinheiligen, die glaubten, dass sie mit einer läppischen Sonntagsmesse all ihre Schuld und all ihr Versagen wieder glatt bügeln konnten. Michel Frings schnaufte verächtlich. Sie waren ihm zuwider. Die Menschen, das ganze Dorf … Vor seinen Augen fanden sie keine Gnade.

Schroff wandte er sich wieder um und folgte dem kleinen Pfad zwischen den Buchenstämmen hindurch. Es war nicht viel mehr als eine kleine Spur durch den Laubteppich, die nur er sehen konnte. Bald würden hier wieder Horden von Pilzsammlern einfallen. Das große Waldgebiet zwischen Schlehborn, Flesten und Leudersdorf war sehr beliebt bei dieser rücksichtslosen Bande. Ein paar hundert Meter weiter in Richtung Leudersdorf gab es einen Wanderparkplatz, auf dem sie ihre Autos abstellten und mit ihren Körben und Hunden aufbrachen, um sich zu nehmen, was ihnen nicht gehörte. Manchmal konnte er auch in der Nacht die Lichter der Autos sehen, die dort oben stundenlang parkten und in denen sich die Liebespärchen ihren schmutzigen, kleinen Vergnügungen hingaben. Nicht, dass er es ihnen missgönnte! Es ekelte ihn nur an, dass sie es im Versteck tun mussten, weil die Leute aus den Dörfern sie zu dieser schäbigen, lichtscheuen Heimlichkeit zwangen.

Er sah am Wochenende oft Heerscharen von Wanderern mit merkwürdigen Skistöcken, er beobachtete die Waldarbeiter, die den Wald »aufräumten«, die mit schwerem Gerät, mit Lärm und Gestank alles sauber und geordnet gestalteten – so wie ein Wald auf keinen Fall sein sollte.

Keiner von all denen liebte den Wald so sehr wie er. Keiner hörte die Stimmen, mit denen das Laub zu ihm sprach, mit denen die Regentropfen ihm ihre sanften Geschichten erzählten, mit denen die Tiere ihn zu einem der ihren erklärten.

Keiner von all denen hatte jemals das beobachtet, was er hatte beobachten dürfen. Und wenn der Zufall ihnen die Gelegenheit gegeben hätte, hätten sie nicht erkannt, was sie sahen, hätten nicht begriffen, welches kostbare Geschenk ihnen in diesem Moment gemacht wurde.

Er selbst würde alles dafür geben, diesen Anblick nur noch ein einziges Mal zu erleben. Das große Tier, das ihm ganz ohne Scheu einen langen Blick geschenkt hatte, bevor es sich ruhig entfernt hatte.

Das erste Zeichen tauchte auf. Michel Frings legte die flache Hand auf die rissige Oberfläche des Baumstamms. Ein bisschen Farbe, das machte den Bäumen nichts. Er reckte das Gesicht nach oben. »Nicht wahr, das macht dir nichts«, brummte er und erschrak darüber, wie rau seine Stimme klang. Er sprach zu wenig, zu selten.

Seine Linke griff nach der olivfarbenen Umhängetasche, die von seiner Schulter baumelte. Er durfte niemals die Sprühdose vergessen. Er musste immer gerüstet sein, wenn es noch einmal geschah.

Dreizehn Zeichen hatte er in den vergangenen Monaten gesprüht. Dort, wo er Fährten entdeckt hatte, bei denen er vermutete, dass es die richtigen waren. Dort, wo er angefressenes Aas gefunden hatte, bei dem er sich fast sicher war. Und natürlich dort, wo sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Die Zeichen leuchteten in einem grellen, giftigen Grün, und wenn er an die Stellen kam, spürte er die Sehnsucht stärker denn je.

Hier war es gewesen.

Michel Frings blieb stehen und hielt inne. Als jede Falte seiner Kleidung, seine Umhängetasche, seine Stiefel, als jede Faser seines Körpers erstarrt war, hörte er nur noch den Wald. Dann erlaubte er seinen Augen zu wandern. Langsam suchten sie die kleine Lichtung ab, wanderten nach rechts und links wie zwei Suchscheinwerfer und blieben stehen, wann immer sich etwas regte. Ein Zweig, ein kleines Tier, die Sonnenstrahlen der frühen Morgensonne, die durch das Laub drangen, das sich bereits verfärbte …

»Wo bist du?«, fragte er leise und krächzend. »Warum versteckst du dich vor mir?«

Unvermittelt raschelte es ganz dicht hinter ihm. Michel Frings’ Herz stolperte.

Etwas knackte, etwas bewegte sich durch das Unterholz. Sein Herz schlug ein wenig schneller, geriet aus dem Takt. Sein Beutel schlug ihm um die Hüften.

Was?

Wer?

Als er erkannte, woher das Geräusch rührte, packte ihn eine namenlose Enttäuschung. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Sein Herz schlug immer noch unregelmäßig.

»Du«, knurrte er. »Du hier? Warum bist du nicht bei denen da unten?«

Es kam wie ein Blitzschlag. Er fasste sich an die Brust. Ein Schmerz, den er nur allzu gut kannte, breitete sich aus. Frings wühlte in seiner Tasche. Farbdose, Fotoapparat … wo war nur … Papiertaschentücher … wo war denn nur, verdammt …? Er fand endlich das kleine Sprayfläschchen, das ihm augenblicklich Linderung bringen konnte, führte es zum Mund. Er durfte nicht zögern, das konnte ihn das Leben kosten. »Mich so zu erschrecken!«

Mit der zitternden Linken zog er das Käppchen ab, der Zeigefinger der Rechten legte sich auf die winzige Pumpe, er führte die Öffnung zum Mund.

Plötzlich schoss eine Hand nach vorne und schlug zu, erwischte seine verkrampften Finger, mit denen er die erlösende Dosis Nitrospray in seine Lunge pumpen wollte. Das Fläschchen wurde durch die Luft geschleudert und landete weit weg irgendwo im Laub.

»Was soll das? Bist du …?« Er fuhr herum und suchte mit wirren Blicken die Lichtung ab. »Verdammt noch mal, das war …« Er fuhr herum. »Warum tust du das?«

Und als Michel Frings den Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers sah, erkannte er, was los war. Plötzlich breitete sich alles mit bestechender Klarheit vor ihm aus. Er verstand in diesem Moment, was damals geschehen war und was unweigerlich hier und jetzt geschehen würde. Die Muskeln seines kranken Herzens zuckten unkontrolliert, gerieten völlig aus dem Takt, so wie vor einem Jahr schon einmal, als er bei einem heftigen Streit auf dem Dorfplatz zusammengebrochen war. Damals war sofort Rettung da gewesen, aber heute …

»Du?« Er heftete die geweiteten Augen auf sein Gegenüber. »Natürlich. Du. Jetzt verstehe ich alles!«, sagte Frings ächzend, und obwohl sich ein glühender Schmerz durch seinen Oberkörper biss, zuckte es in seinen Mundwinkeln, und er zeigte den Anflug eines Lächelns. »Deshalb bist du also hierhergekommen. Deshalb bist du nicht unten und bettelst um Gnade. Du …«

Es warf ihn von den Beinen. Sein Brustkorb brannte wie Feuer, der Schmerz schoss ihm in die Arme. Laub wirbelte auf, als er zusammenbrach.

»Hilfe«, stieß er hervor. »Hilfe!« Und er wusste, dass er keine helfende Hand gereicht bekommen würde, dass sie ihm einfach nicht gereicht werden durfte.

Über ihm tanzten die Baumkronen einen Totentanz. Er hörte ihre traurigen Stimmen, die Abschiedsworte flüsterten, sah undeutlich das leuchtend grüne Zeichen aus Farbe. Er sah eine Gestalt dicht neben ihm, sah ein ausdrucksloses Gesicht, er sah die diffuse Gestalt der Sonne, die sich ihren Weg hinauf in den Himmel bahnte, aber er sah nicht … ihn.

2. Kapitel

Die Kleine von Christa hatte Michel Frings gefunden. Zuerst hatte sie im Haus nach ihm gerufen. Wütend, mit Tränen in den Augen hatte sie seinen Namen gebrüllt und sämtliche Türen aufgestoßen. Dann hatte sie gesehen, dass seine Tasche nicht am Haken hing, und gewusst, wo er sich aufhielt. Im Stall hatte sie dann gar nicht mehr nachgesehen, sondern war gleich den Hang hinauf zum Waldrand gestapft. Sie hatte gespürt, wie ihr Zorn mit jedem Schritt schwächer wurde, wie die frische Luft durch ihren Kopf fegte und ihre hitzige Stimmung dämpfte. Dort oben im Wald hätte sie ohnehin nur leise mit ihm sprechen können. Etwas anderes duldete Michel nicht. Dabei hätte sie ihre Wut gerne laut herausgebrüllt. Sie mochte es nicht, dass Michel und ihre Mutter gemeinsame Sache machten, wenn es um die Schule ging. Es war nicht seine Aufgabe, ihr den Lebensweg zu erklären, den sie künftig zu beschreiten hatte! Er hatte sich da rauszuhalten, und das hatte sie ihm sagen wollen.

Sie entdeckte seinen reglosen Körper auf der Lichtung, auf der er schon so oft mit ihr gestanden und gelauscht hatte. Seine Hände waren im Laub vergraben, sein Mund stand weit offen. Der Hut war Michel Frings vom Kopf gerutscht und lag neben ihm, das rote Bändchen der Lesebrille hatte sich beim Sturz über seine hohe Stirn gelegt wie ein blutiger Striemen.

Die Kleine wusste sofort, was zu tun war. Sie stürzte auf die Knie und legte die Hand in seine Halsbeuge, dorthin, wo sein Puls hätte sein müssen – und fühlte nichts mehr. Sie überwand sich, die Lider seiner Augen, deren gebrochener Blick ins Blätterdach gerichtet war, zu schließen. Erst dann hatte sie begonnen, zu weinen.

Als sie später ins Dorf zurückkehrte, war die Sonntagsmesse beendet, die wenigen Kirchgänger traten ins Freie und verteilten sich. Sie wartete, an die Kirchhofsmauer gelehnt, auf ihre Mutter, die auch unter ihnen gewesen war, so wie jeden Sonntag. Sie erschien auf den Treppenstufen, in ein angeregtes Gespräch mit einer Nachbarin verwickelt, und als sie zu ihr herüberblickte, schien sie gleich zu wissen, dass etwas geschehen sein musste.

Wenig später wurde die Totenglocke von Schlehborn geläutet.

Es gab niemanden, der Zweifel daran hegte, dass Michel Frings eines natürlichen Todes gestorben war, obwohl manch einer sich hatte vorstellen können, dass es einmal ein anderes, ein gewaltsames Ende mit ihm hätte nehmen können. Frings hatte ein Herzleiden gehabt, das wusste jeder, und er lebte allein, scherte sich nicht um das Dorf und seine Bewohner, beschimpfte jeden und machte um Ärzte grundsätzlich einen großen Bogen. Nur den Tierarzt ließ er zu den Kühen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

Nelles, der Ortsbürgermeister, ersparte es der Kleinen nicht, in allen Details zu schildern, wie sie den toten Frings gefunden hatte. Seine bohrenden Fragen, was sie überhaupt auf dem Fringshof verloren habe und warum sie den alten Querulanten habe aufsuchen wollen, beantwortete sie nicht.

Nelles schüttelte den Kopf, als hätte er eine unrettbar verlorene Seele vor sich.

»Mädchen«, sagte er mit Grabesstimme, »wenn sich bei dir nicht bald was ändert …«

»Was dann?« Ihre dunkelbraunen Augen funkelten ihn böse an.

Anstelle einer Antwort seufzte er tief. Er hatte sich breitbeinig in der Mitte des Aufenthaltsraums hinter Christas Friseursalon aufgebaut und rieb sich das kräftige Kinn.

»Schlimm genug, dass du ihn finden musstest. Was hast du auch immer verloren bei diesem …«

»Lass sie in Ruhe, Nelles. Lass mein Kind in Ruhe!« Ihre Mutter hatte eine schlanke Flasche mit klarer Flüssigkeit aus dem Unterschrank der Spüle genommen und schüttete zwei kleine Schnapsgläschen voll.

»Gib ihr auch einen«, sagte Nelles, bevor er den Inhalt hinunterstürzte. »Nur einen auf den Schreck.«

Christa wollte gerade etwas Wütendes erwidern, aber ihre Tochter kam ihr zuvor: »Trinkt das Dreckszeug selber. Mit dir trinke ich sowieso nicht, Nelles. Mit dir nicht. Du willst ja nur anstoßen darauf, dass er endlich tot ist!« Es war, als spucke sie ihm die Worte vor die Füße.

Er holte instinktiv mit der Hand aus, hielt aber im letzten Moment inne, sammelte sich mit geschlossenen Augen, atmete tief durch und ließ sich von Christa nachschenken. »Das wünsche ich keinem«, murmelte er tonlos. »Ich hab ihm nicht den Tod gewünscht. Glaub das mal bloß nicht.« Und leiser murmelte er: »Er sollte nur einfach weg.«

Das Mädchen sprang auf und trat wütend gegen einen großen Karton, der in der Ecke stand. Die Pappe platzte an der Kante auf, und ein paar Plastikflaschen voller Haarspülung fielen heraus. Mit dumpf kollernden Geräuschen schlitterten sie über den Linoleumboden. Das Mädchen verließ den Raum zum Treppenhaus hin und knallte hinter sich die Tür so heftig zu, dass die Milchglasscheibe in der hölzernen Einfassung klirrte.

»Was mache ich nur mit ihr?« Christa kniff verbittert die Lippen zusammen.

»Dein Problem. Du hast die Zügel lange genug schleifen lassen. Die tanzt dir auf der Nase rum.« Als er ihr erneut das leere Schnapsglas hinstreckte, verschraubte sie wortlos die Flasche und stellte sie zurück unter die Spüle. Er knallte das Glas auf den Tisch mit der Kunststoffdecke.

»Und jetzt werde ich versuchen, seinen Bruder aufzutreiben.«

Christa bückte sich nach den Plastikflaschen. »Wird schwer genug sein.«

»Hat sich beharrlich von dem armen Irren ferngehalten. Na, der wird sich bedanken.«

Dr. Johannes Frings wirkte fehl am Platz. Wie ein Sturm wirbelte es um ihn herum. Die Schulkinder mit den gewaltigen Ranzen quetschten sich an ihm vorbei, stießen sich gegenseitig an und schrien und quiekten wie eine knallbunt angezogene Herde kleiner Ferkel, die aus dem Stall ausbricht.

Er hielt in der geöffneten Tür des Nahverkehrszugs inne und ließ den Blick über den Bahnsteig schweifen. Die Kinder entfernten sich lärmend, und als ihre klappernden Schritte und ihre schrillen Stimmen verklungen waren, blieb nur ein einzelner, groß gewachsener Mann im schlecht sitzenden, schwarzen Anzug auf dem Bahnsteig zurück. Er stand beim Fahrkartenautomaten und guckte teilnahmslos vor sich hin.

Frings trat auf den Bahnsteig hinaus, und nur wenige Augenblicke später schoben sich die Flügel der automatischen Tür hinter ihm zusammen. Der Zug fuhr an und entfernte sich mit elektrischem Surren in Richtung Trier.

Auch Frings trug einen schwarzen Anzug. Die lange Reise hatte ihm nichts anhaben können. Gutes Tuch, teuer. Kaum Knitter, der dunkelgraue Mantel, der lässig über dem linken Arm hing, sah tadellos aus. Dr. Johannes Frings schien einem Hochglanz-Modemagazin für Business-Männer entstiegen zu sein. Der Jünkerather Bahnhof umrahmte ihn wie eine verschossene Fotografie aus den Achtzigern.

Der Mann vom Fahrkartenautomaten zeigte keine Gefühlsregung, als er langsam ein paar schwerfällige Schritte auf den Neuankömmling zu machte. Frings setzte seine Aktentasche ab und ergriff eine große, grobe Hand. Er hatte dabei das Gefühl, ein Stück Holz anzufassen.

»Guten Morgen … nein … guten Tag.« Die Stimme war rau. Der Mann hatte einen Akzent, den Frings nicht einordnen konnte. Etwas Osteuropäisches wahrscheinlich.

Er sah auf die Uhr. Es war bereits halb eins.

»Ja, nur zehn Minuten zu spät. Nicht mal schlecht.« Frings zeigte ein Lächeln. Seine Zähne waren makellos weiß. Weiß wie sein Kragen. Silbergraue Schläfen, dezentes Aftershave.

Sein Gegenüber war trotzdem unbeeindruckt.

»Nett, dass Sie mich abholen, Herr …«

»Kein Gepäck?«, fragte der Mann kühl.

»Nur meine Aktentasche. Wenn ich Ihnen erzähle, was mir passiert ist, dann …«

»Wir müssen beeilen. Kommen zu spät.« Der andere drehte sich um und stapfte voran, den trostlosen Bahnsteig entlang, auf die Treppe der Unterführung zu.

Frings rückte sich den Knoten seiner schwarzen Krawatte zurecht, während er fasziniert auf die Schuhe des Mannes starrte. Grobe braune Feldschuhe. »Die Sache mit dem Gepäck … also, die ist …«

»Wagen steht auf Rückseite.« Sein slawisches Empfangskomitee schien offenbar überhaupt nicht an der abenteuerlichen Odyssee interessiert, die Frings zu erzählen hatte. Sie stiegen in den verkommenen Fußgängertunnel hinab, in dem es nach Urin stank und von der Decke tropfte.

Die nächste Skurrilität erwartete ihn auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Bahngelände. Der Wagen war ein vergammeltes, altes Armeegefährt ohne Seitenfenster. Johannes Frings blieb stehen und fixierte ungläubig das rostfleckige Fahrzeug.

Der Mann stand bereits an der Fahrertür und sagte lakonisch: »Auto von Ihrem Bruder. Anderes gibt’s nicht.« Er stieg ein und winkte mit der Hand. »Kommen zu spät!«

Der Wagen fuhr schnell. Schneller jedenfalls, als Frings das erwartet hätte. Während sie an dem großen Gelände der Eisengießerei den Berg hinauf in Richtung Feusdorf rollten, brüllte der Motor heiser auf. Beim Umschalten der Gänge klang es, als stochere jemand mit einem Schraubenzieher in einem Ventilator herum.

»Munga«, sagte der Mann.

»Ein was?«

»Munga. Alter DKW von Bundeswehr.«

Das Auto, aha. Frings hatte nach einem Tier Ausschau gehalten.

»Dreiundfünfzig Jahre.« Der Scheibenwischer verwandelte ein paar winzige Regentröpfchen in milchige Schlieren.

»Ein Jahr älter als ich.« Frings versuchte, seinen Mantel zu bändigen, der immer wieder aus der Türöffnung flatterte.

»Sonst nur noch Trecker. Der noch schmutziger. Nicht gut für feine Klamotten.«

»Ich bin froh, dass ich schon den schwarzen Anzug anhabe. Sonst wäre er jetzt da, wo mein restliches Gepäck ist.«

»Zurück kann Sie mit Trecker fahren … wenn Sie wollen.« Ein merkwürdiger Glanz in den Augen des Mannes verriet Frings eine Art Vorfreude auf den Tag, an dem er wieder abreisen würde.

»Wäre mal was anderes. Sagen Sie mir Ihren Namen?«

Es dauerte unverschämt lange. »Arkadi. Richtig Arkadiusz. Arkadiusz Wójcik.«

»Aus Russland?«

»Polen.«

»Kannten Sie meinen Bruder gut?«

»Ich für ihn gearbeitet. Jeden Tag.« Er guckte auf seine Armbanduhr und verzog grimmig den Mund. »Kommen zu spät.«

»Wann beginnt die Beerdigung?«

»Jetzt.«

Der Mann war nicht gerade ein Schwätzer, soviel stand fest. Frings kannte solche Typen. Erst mal kommen lassen. Erst mal warmlaufen lassen, so wie bei einem Motor. Für Smalltalk waren sie nicht zu gebrauchen. Sie beschränkten sich auf die wichtigen Dinge oder auf die, die sie für wichtig erachteten. Die Geschichte seiner Bahnreise würde er an anderer Stelle loswerden müssen.

In Feusdorf bogen sie rechts ab. Frings versuchte, sich an die Strecke zu erinnern. Es war alles sehr lange her. Zuletzt war er mit dem Auto hierher gekommen, aber auch das lag schon mindestens zehn Jahre zurück. Als er den Blick über die langgestreckte Hügellandschaft zwischen Feusdorf und Wiesbaum schickte, verspürte er ein Gefühl der Einsamkeit, das sich wie eine klamme Hand auf seine Brust legte. Wenn man es darauf anlegte, konnte man hier sicher Stunden umherlaufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Er war das nicht mehr gewohnt. Seit Jahren lebte er inmitten von Bienenstöcken, im Zentrum der Rattennester, im betäubenden Lärm und im wirren Strudel der Städte.

Links erkannte er schwarzgrüne, kerzenförmige Silhouetten der Wacholderbüsche auf einem gerundeten Bergrücken. Zwischen den Wolken brachen Fetzen blauen Himmels hervor und ließen Lichtflecken über die Hügel tanzen. Ein erhabenes Schauspiel.

Als sie Wiesbaum passiert hatten, folgten sie der breiten Straße, die sich schnörkellos durch den Wald fraß. Überall entdeckte er große, niedrig bewachsene Areale, in denen die Natur seit vielen Jahren langsam und bedächtig dabei war, die Wunden zu schließen, die der Sturm vor zwanzig Jahren geschlagen hatte. Frings konnte sich noch daran erinnern. Das Dorf war für viele Stunden von der Umwelt abgeschnitten gewesen. Kurz danach hatte er die Eifel verlassen. Hier war ihm alles zu eng geworden.

Als die Straße den höchsten Punkt erreicht hatte, wies plötzlich unvermittelt ein Schild linker Hand in Richtung Schlehborn. Frings konnte nicht verhehlen, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief, als sie abbogen. Und als wenige Minuten später die ersten Häuser im Talkessel zu erkennen waren, nestelte er nervös an seinem Mantel herum.

Er bemerkte verunsichert, dass Arkadi Wójcik ihm einen schnellen, prüfenden Seitenblick zuwarf. Was erwartete der Mann von ihm? Trauer? Rührung? Ehrfurcht oder etwas Ähnliches?

Die graufleckige Kirche hatte den alten Ortskern um sich versammelt. Der Friedhof befand sich etwas weiter entfernt, am Hang des nächsten Hügels, hinter dem der Nachbarort Leudersdorf lag.

Sie rollten über die Hauptstraße, und Frings hatte Mühe, alle Eindrücke zu sammeln und zu speichern. Er hatte so viele Jahre hier verbracht, und doch hatte er das Gefühl, schon länger als ein ganzes Menschenleben von hier fort gewesen zu sein.

Als der Munga vor der Bruchsteinmauer des Friedhofs zum Stehen kam, schickten seine Bremsen ein schrilles Kreischen über das Tal, Frings wurde mit einem kräftigen Ruck nach vorne geworfen und fiel wieder in den harten Sitz zurück.

Die etwa dreißig Männer und Frauen, die sich um ein frisch ausgehobenes Grab geschart hatten, wandten simultan die Köpfe zu ihnen um.

Da wäre ich also wieder, dachte Frings. Und alle hatten sich extra fein gemacht.

»Gehen wir Abschied nehmen«, sagte Arkadi mit kiesiger Stimme und öffnete die knarrende Fahrertür.

»Ja, gehen wir.«

Der Pole hielt für einen Augenblick inne, sah ihm tief und ernst in die Augen und sagte tonlos: »Sie auch, Doktor. Sie ihn auch für Verrückten gehalten. Wie alle.« Dann drückte er Frings den Schlüsselbund mit dem Autoschlüssel in die Hand. »Gehört jetzt Ihnen.«

3. Kapitel

Frings erkannte ihn sofort. Der kleine, dicke Mann drückte sich im Anschluss an das Begräbnis zwischen den Trauergästen hindurch, um ihm als Erster sein Beileid zu bezeugen. Nelles’ Aftershave roch aufdringlich, und an seinem weißen Button-down-Hemd fehlte ein Kragenknopf.

»Mein Beileid. Mein herzliches Beileid.« Er schüttelte ihm die Hand so fest, dass er das Gefühl hatte, sie müsse abfallen, und klopfte ihm mit der anderen auf die Schulter. »War gar nicht so leicht, Sie ausfindig zu machen, Herr Doktor.«

»Ich bin viel unterwegs. Die letzten beiden Jahre waren sowieso die Hölle. Diese Umzüge … Ich sollte langsam sesshaft werden.« Er lächelte kurz und zog dann die Augenbrauen zusammen. »Danke für Ihre Anteilnahme. Ich bin froh, dass so viele zur Beerdigung gekommen sind. Einige habe ich wiedererkannt.« Er nickte nach rechts und nach links, wo ihm die ernsten Gesichter der vorbeiziehenden Menschen ihr Mitgefühl signalisierten. Ab und zu schüttelte er eine Hand, die ihm gereicht wurde.

»Wir haben natürlich versucht, alles zu Ihrer Zufriedenheit zu regeln. Die Beerdigung, die Anzeigen … Wir wussten ja nicht, ob wir Sie noch rechtzeitig erreichen. Auf den Beerdigungskaffee sollten wir verzichten, haben wir gedacht. War doch in Ihrem Interesse, oder?«

»Ganz in meinem Interesse, ja. Sie haben sich offenbar die größte Mühe gegeben. Vielen Dank dafür.«

»Wir haben da so eine kleine Kasse. Was Internes. Daraus sind wir erst mal in Vorleistung gegangen.«

»Vielen Dank. Das war sehr vorausschauend.«

»War eine Selbstverständlichkeit.« Nelles winkte mit einer generösen Handbewegung ab.

»Wenn Sie mir die Summe sagen, dann …«

Nelles lachte leise. »Immer mit der Ruhe. Trinken wir noch was in der Kneipe?«

»Wenn ich ehrlich bin, würde ich lieber …«

»Natürlich, Herr Doktor, natürlich.«

Über ihnen hing ein Himmel von der Farbe eines alten Tischtuchs. Kein Vogel war zu hören, als habe man auch der Natur pietätvolles Schweigen geboten.

»Lassen wir doch den Doktor weg. Früher haben Sie mich Jo genannt, so wie alle.«

»Jo. Na klar. Gerne.«

Seiner Jacketttasche entnahm Frings eine kleine Dose, aus der er sich ein paar Krümel eines braunen Pulvers auf den Handrücken streute. Dann sog er das kleine Häufchen mit dem rechten Nasenloch ein. Nachdem er die gleiche Prozedur mit links wiederholt hatte, rieb er sich mit einem Stofftaschentuch die Nase.

Nelles beobachtete die kultivierte Geste mit anerkennend erhobenen Augenbrauen.

»Die Zugfahrt war lang«, erklärte Frings. »Mein Auto ist in der Werkstatt. Es hätte wirklich keinen ungünstigeren Zeitpunkt geben können.« Er stutzte aufgrund seiner eigenen Wortwahl. »Der Zeitpunkt ist natürlich nie günstig. Es ist nur im Moment alles sehr … verwirrend. Die Geschäfte, dann das hier. Es war gar nicht so leicht für mich, mich loszueisen.«

»Paris. Ja, ja. Wir waren vor sechs Jahren mit dem Kegelclub da. Tolle Stadt, wirklich. Aber da leben? Nee, nee. Mann, als ich Sie gestern endlich am Telefon hatte, da ist mir vielleicht ein Stein vom Herzen gefallen.« Er wandte sich zum Grab um. »Kaum auszudenken, wenn wir Sie nicht rechtzeitig erreicht hätten.«

»Nun, also ich denke, ich werde mal zum Haus hoch … fahren.« Er betrachtete nachdenklich den Schlüsselbund in seiner Hand, den Arkadi ihm gegeben hatte.

»Ähm, Momentchen noch, Jo.« Nelles betonte den Namen mit plumper Vertraulichkeit und schob ihn sanft in den Schatten eines alten Walnussbaums. Er zog einen silbernen Flachmann aus seiner Jackentasche. »Einen auf Ihren verstorbenen Bruder?«

Jo Frings nickte und lockerte den Schlips. Die Sonne hatte sich durch die Wolken gekämpft, und es wurde wärmer. »Einen kleinen.«

Sie tranken nacheinander. Der Birnenschnaps brannte in Jos Kehle. Dann blickten sie wieder zu dem Grab hinüber, an dem nur noch Arkadi stand und den Totengräber beobachtete, der sich mit seinem kleinen Bagger bereits daran gemacht hatte, die Erde zurück in die Grube zu schaufeln. Auf einem schlichten Holzkreuz standen der Name von Jos Bruder und zwei Daten. Gleich daneben lag das unscheinbare Grab seiner Eltern. Ein kleiner Thujastrauch, ein paar Erikapflänzchen, eine Grablampe aus Messing. Er hatte irgendwann während der Zeremonie gemerkt, dass er öfter zu ihrem Grabstein hinübersah als zu dem Kreuz seines Bruders. Eigentlich hatte er an ihrem Grab gestanden und nicht an dem von Michel Frings.

Nelles hatte noch etwas auf dem Herzen, das spürte Jo an den nervösen Gesten des Ortsbürgermeisters, an den Blicken, die er zwischen den halb zusammengekniffenen Lidern auf das Grab richtete, an den Lippen, auf denen er herumbiss. Er suchte nach Worten.

»Es war nicht ganz leicht mit Ihrem Bruder«, sagte er schließlich. »Ich nehme an, das wissen Sie.«

Jo nickte und ließ ein leises Schnauben hören. »Nein, leicht war es mit ihm ganz bestimmt nicht.«

»Sonst hätten Sie sich ja auch öfter hier blicken lassen. Hätten mal nach dem Rechten gesehen.« Nelles trank erneut.

»Mein Bruder hat den Hof geerbt. Er war der Ältere. Ich bin ausbezahlt worden. Michel hat meinen Rat nie gebraucht.«

»Hat alles runtergewirtschaftet mit seinen verrückten Ideen.« Nelles schnaubte verächtlich. »Und jetzt liegt er da. Sie haben es wenigstens zu was gebracht, Herr Doktor. Warum war er nicht ein bisschen wie Sie? Ein bisschen … verständiger.«

Statt einer Antwort trank auch Frings noch einen Schluck und griff dann nach der Aktentasche zu seinen Füßen. »Wir sehen uns sicher später«, sagte er und verließ mit verkniffenem Mund den Friedhof.

Der Blick des Polen folgte ihm, als er sich respektvoll dem ungewöhnlichen, fahrbaren Untersatz näherte.

»He, Arkadi!«, hörte er Nelles rufen. »Komm da jetzt weg. Lass den Mann arbeiten!«

Wie zur Bekräftigung heulte der Motor des Baggers auf, und Arkadi entfernte sich zögerlich von der Grube, in der sein Arbeitgeber für immer verschwunden war.

Jo Frings drehte den Schlüssel im Zündschloss und gab Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, als sei er ein störrischer Gaul, der keinen Fremden auf dem Sattel duldet.

»Komm schon«, knurrte Frings. »Du bist mich ja bald schon wieder los.«

Arkadi beugte sich in diesem Moment zum Fahrerfenster hinunter.

»Brauchen mich noch?«

»Was?«

»Meine Hilfe?«

»Nein, danke. Geht schon. Ich komme schon klar. Ich möchte jetzt einfach allein sein. Einfach nur allein.«

»Dann werde ich nicht länger belästigen. Viel Glück.« Er ging erhobenen Hauptes die Straße hinunter.

Beim zweiten Anlauf gelang Jo der Start. Er wendete den Wagen und wunderte sich dabei, wie viel Kraft man dazu aufbringen musste. »Garagenwagen«, ächzte er. »Scheckheftgepflegt … wendig und Sprit sparend … Parkplatzwunder.« Als er glaubte, den Munga ausreichend beleidigt zu haben, hatte er ihn endlich in der Spur. Er rollte bergab, um ihn quer durch das Dorf hindurch zur anderen Seite des Talkessels zu lenken. Rauf zum Fringshof.

Jo begegnete einigen der Trauergäste, die sich unverhohlen die Hälse verrenkten, um ihn noch einmal zu sehen. Was war es, was er in ihren Gesichtern lesen konnte? War es Neid? Achtung? Vielleicht eine Spur Mitleid mit dem Selfmademan, der die Welt erobert, der es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte, während sein beschränkter Bruder in der Heimat geblieben war und sich und seinen Mitmenschen das Leben schwer gemacht hatte? Versuchten sie, Ähnlichkeiten zu entdecken, jetzt, wo er in diesem klapprigen Militärjeep durch das Dorf rollte? Erinnerten sie sich an seine Eltern, an seine Kinderzeit, in der er mit seinem Bruder die Dorfschule besucht, die Messe geschwänzt, das Feuerchen hinter der Schreinerwerkstatt angezündet hatte? Dachten sie daran, wie er das Dorf verlassen hatte? Mit einer knatternden Triumph T160, einem riesigen Rucksack und mit dem, was seine Eltern ihm als Erbteil zugestanden hatten.

Er warf sich unwillkürlich in die Brust und versuchte, die Grüße und das Kopfnicken nach rechts und links angemessen huldvoll erscheinen zu lassen.

Als er hinter der Kirche rechts abbog, um die Anhöhe hinaufzufahren, erkannte er, dass im Ladenlokal des ehemaligen Lebensmittel-Geschäfts ein Versicherungsmakler sein Büro eingerichtet hatte, und dass im Schaufenster der Bäckerei Hellmund ein blumenumkränztes Schild mit der Aufschrift Resi’s Ferienwohnungen prangte. Schlehborn hatte sich sehr verändert.

Zuletzt war er vor vierzehn Jahren hier gewesen, als seine Mutter beerdigt wurde. Als sein Vater zwei Jahre später starb, hatte sein Bruder ihn nicht einmal benachrichtigt. Seither hatte Funkstille geherrscht. Schlehborn und alles, was damit zusammenhing, war mit der Zeit immer blasser geworden. Irgendwann war es nur noch ein Schemen in seiner Vergangenheit gewesen.

Der Munga kämpfte sich tapfer den Berg hinauf. Sicher kannte er den Weg alleine.

Der Fringshof hatte sich versteckt.

Weißdornhecken und Rosensträucher, Forsythien und Fliederbüsche hatten ihn eingehüllt, abgeschirmt und verborgen vor der feindlichen Welt, die nicht die Welt von Michel Frings gewesen war. Nussbäume und Birken waren in die Höhe geschossen und neigten ihr Blätterdach über die Schuppen und den Stall. Das Gras am Straßenrand stand kniehoch, die kleine Mauer, die das Grundstück zum Gehweg hin abgrenzte, war vor lauter Quecken und Löwenzahn kaum noch auszumachen.

Die Sonne schüttete Gold über die verwitterte Fassade aus und fuhr mit glitzernden Fingern über die bemoosten Eternitplatten auf dem Dach. Sie wollte es ihm nett machen, wollte die unangenehmen Erinnerungen vertreiben, wollte sie erst gar nicht hochkommen lassen.

Frings ließ den Munga auf dem Pflaster des Hofes ausrollen und kletterte ins Freie.

Sein Blick streifte die Fassade nur beiläufig. Er fingerte am Schlüsselbund herum und näherte sich entschlossen der Haustür. Zwei Stufen aus fleckigem Granit. Eine hässliche Aluminiumtür mit Milchglas, eingefasst mit messingfarbenen Leisten. Der erste Schlüssel … der zweite … passte.

Jo spürte, wie seine Nervosität wuchs. Er durchquerte den dunklen Flur, als sei er nie von hier fort gewesen. Er stieß die honigfarbene Holztür zum Wohnzimmer auf. Die Möbel waren offenbar noch immer dieselben, die Tapete, die Gardinen, alles verbrachte seinen Lebensabend an dem Platz, an dem es immer schon gewesen war, alles war konserviert im stockigen Mief des Junggesellenhaushalts.

Hatte nicht eben auf großem Fuß gelebt, sein Bruder. Gut so.

Jo riss die Tür des Wohnzimmerschranks auf. Die Papiere, so wie sie schon zu seines Vaters Zeiten da gelegen hatten. Nur hatten sie sich vermehrt. Sie füllten Aktenordner und Klarsichthüllen, quollen aus Mappen und Schuhkartons. Sie waren in jedes Fach gestapelt, in jede zur Verfügung stehende Ritze gestopft worden.

Jo Frings atmete tief durch. Wo sollte er anfangen?

Er durfte keine Zeit vergeuden. Wenn er sich diese eine Chance durch die Lappen gehen ließ, würde es eng werden. Er hatte einen winzigen Vorsprung herausgeholt, aber das würde nicht ewig währen. Als er begann, die ersten Schubladen zu durchsuchen, dachte er daran, dass sie vielleicht schon wussten, wo er sich jetzt aufhielt.

4. Kapitel

In Prüm sind sie in die Basilika eingebrochen. Altarfiguren geklaut«, sagte Matthes.

Hansdieter schüttelte den Kopf. »Vorige Woche in Neroth, und davor irgendwo in der Nähe von Bitburg. Kommt noch so weit, dass die Wachen vor der Kirche aufstellen müssen.«