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Sommerferienflaute? Nicht in diesem Jahr. Der Juli beschert dem Polizeiermittler Andrea Bernardi gleich drei tote Männer in Zürich. Einer stürzte am Uetliberg in den Tod, einer kam unter den Zug und der Dritte wurde ermordet im Gebüsch gefunden. Was haben der angstfreie Börsenmakler, der zurückgezogene Schwede und der arrogante Aufreißer gemeinsam? Die Telefonnummer der attraktiven Angela Rieser. Hat sie ein düsteres Geheimnis? Oder ist sie wirklich nur die harmlose Fitnesstrainerin, die sie vorgibt zu sein?
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Seitenzahl: 310
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Irène Mürner
Stock, Stein, Tod
Andrea Bernardis fünfter Fall
Mörderischer Sommer Statt der erwarteten Sommerferienflaute beschert der Juli Andrea Bernardi, Polizeiermittler der Stadtpolizei Zürich, gleich drei Tote innerhalb eines Monats. Ein Spaziergang auf den Uetliberg endete tödlich für den Ex-Banker Gregor Stark. Ebenso abrupt wurde Manuel Lopez auf einem unbewachten Bahnübergang aus seinem Leben gerissen. Als schließlich auch noch ein Mann erdrosselt im Gebüsch aufgefunden wird, macht sich Andrea Bernardi auf die Suche nach einer Verbindung zwischen den Toten. Er findet sie in der attraktiven Angela Rieser. Hatte die Fitnesstrainerin ein Motiv, alle drei Männer zu ermorden? Ihr Geheimnis lüftet Andrea zwar rasch, doch wird das auch seine Mordermittlungen voranbringen? Als sich herausstellt, dass sein Bürokumpel mit der gleichen Personaltrainerin unterwegs ist, spitzt sich der Fall gefährlich zu …
Irène Mürner, geboren und aufgewachsen in St. Gallen, ist begeisterte Weltenbummlerin, ehemalige Lehrerin, Flugbegleiterin und Stadtzürcher Polizistin. Als Kolumnistin hat sie unter anderem die Freuden und Leiden der Polizistenseele durchleuchtet. Nach knapp eineinhalb Jahrzehnten Zürich lebt und arbeitet sie derzeit als Autorin und Bloggerin in Nairobi. Mürner ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Todessturz (2017)
Schussbereit (2016)
Altweiberfrühling (2014)
Herzversagen (2013)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Dieter / fotolia.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-5976-4
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Angst stürzte wie eine erstickende Decke vom Himmel. Sie musste hier weg. Und zwar sofort. Schnell. Schneller. Schneller! Ihre Beine brauchten keinen Befehl, wie von selbst flogen sie über den Waldboden. Durch eine Dunkelheit so undurchdringlich, dass sie kaum ihre eigene Hand vor Augen sah. Das war gefährlich. Sogar für sie, die sie die Strecke kannte. Wie hatte sie nur so bodenlos leichtsinnig sein können, mit ihm zu gehen, obwohl der Föhreneggweg doch nach dem Erdrutsch im Mai gesperrt worden war! Die Routen hier waren nicht einmal bei Tageslicht zu unterschätzen und jetzt, wo der Gemeinderat den Zusatzkredit für die Instandhaltung aus Spargründen verweigert hatte, sowieso!
Was war der Mensch ein seltsames Wesen, hier war sie, rannte Hals über Kopf quasi blindlings ins Verderben und machte sich gleichzeitig Gedanken über blödsinnige Entscheide unfähiger Politiker.
Wild hämmerte ihr Herz in der Brust. Auf welchem der verschlungenen Pfade befand sie sich überhaupt? Sie versuchte sich zu orientieren. In der ersten Panik war sie übereilt in die Richtung zurückgehastet, aus der sie gekommen waren und hatte die Gratstraße schließlich in der Senke zwischen Staffel und Annaburg verlassen. Der schmale Steg war an dieser Stelle eine einfache Holzkonstruktion und einzig eine Geländerstange rettete sie vor der Leere darunter. Sie hielt sich daran fest und rang nach Atem.
Keine gute Idee. Sofort sprang sie die unheimliche Finsternis wieder an. Diese verdichtete Nacht. Der schaurige Wald. Was mochte hier alles lauern? War ihr jemand gefolgt? Sah sie einen Schatten hinter dem Baum? Bewegte sich dort etwas? Sie wurde beobachtet. Plötzlich war sie sich sicher, dass ihr jemand folgte. Irgendjemand oder irgendetwas war ihr auf den Fersen.
Sei kein Dummkopf. Reiß dich zusammen. Um diese Zeit kann es hier höchstens Füchse, Rehe und vielleicht noch ein paar Hasen geben.
Es war vergebliche Liebesmüh, alle rationalen Gedanken halfen im Moment nicht. Sie zuckte zusammen, als ganz in der Nähe etwas knackte, wagte nicht, sich umzuschauen und verfiel stattdessen wieder in einen angsterfüllten Laufschritt. Gleichzeitig durchwühlte sie fieberhaft ihre Tasche auf der Suche nach der Stirnlampe. Sofort fiel ihr ein, dass sie die Batterie hatte auswechseln wollen und das Ding daher nutzlos daheim auf dem Küchentisch lag. Stattdessen stießen ihre Finger an die Schlüssel, ihr Portemonnaie, einen Stift und die Zahnstocher. Sie lachte hysterisch, die Zahnstocher. Wunderbar. Das hatte sie nun von ihrem obsessiven Zahnputzzwang. Wider besseres Wissen hoffte sie auf ein Wunder, aber ihre Hände kramten vergeblich. Warum hatte sie sich nie einen Schlüsselanhänger mit integrierter Taschenlampe zugelegt? Und wo war das verdammte Handy? Wieder durchzuckte sie die Erkenntnis. Er hatte ihr das Telefon nicht mehr zurückgegeben. Auch das noch. Mit dem Handy hätte sie sich den Weg zur Not erhellen können.
Bevor sie in Tränen der Verzweiflung ausbrechen konnte, überraschte sie der Gedanke an die Legende vom Hirsch mit dem leuchtenden Geweih am Uetliberg. Den hätte sie jetzt wahrlich gebrauchen können. Aber der half ja nur Königstöchtern. Angeblich hatte er Hildegard und Bertha, die Kinder Ludwigs des Deutschen, ein Enkel Karls des Großen, von der Burg Baldern durchs dunkle Tann nach Zürich zum Gebet geführt. Aber sie war weder Königstochter noch zum Gebet unterwegs und schon gar nicht hatte sie einen Vater, der zum Dank einfach ein Großmünster hinklotzen konnte. Sie hatte überhaupt keinen Vater. Und auch sonst niemanden.
Ihre Schuhe rutschten. Sie hörte, wie Kiesel den Abhang hinunterkullerten. Verdammt. Wieder überfiel sie Panik. Diesmal nicht wegen der wilden Tiere oder etwaigen Verfolgern, sondern weil der Weg steil war und immer wieder neue Gabelungen auftauchten. Sie wusste nur zu gut vom unübersichtlichen Wirrwarr, in welchem sich die Menschen allzu oft hoffnungslos verloren. Wie hatte sie nur in eine so lebensbedrohliche Situation geraten können? Gregor. Dieser Vollidiot. Ihm, ihm allein verdankte sie es, wenn sie verunfallen sollte und hier nicht mehr heil herauskam.
Es konnte doch nicht sein, dass all die Jahre überhaupt nichts geändert hatten. Dass sein Auftauchen genügte, um aus ihr wieder ein dummes Häschen zu machen. Mit zwanzig hatte man ihr das noch mit nachsichtigem Wohlwollen durchgehen lassen können. Aber heute? Sie wurde wütend. Sehr gut. Das half. Was glaubte er eigentlich? Dass sie tatsächlich auf ihn gewartet hatte? Ging’s eigentlich noch? Es war zu spät, viel zu spät.
Endlich wurde es eine Spur heller. Rechts konnte sie jetzt die Lichter der Stadt erkennen. Und gerade eben waren da links noch diese Höhlen gewesen. Bemooste, halb verfallene Bänke, all die steilen Runsen, sie musste sich auf dem Linderweg befinden. Aber statt, dass sich Erleichterung breit gemacht hätte, wurde ihr noch mehr Angst. Ausgerechnet auf dem Linderweg. Dann hatte sie auch den Dürlerstein passiert. Die Erinnerung an Friedrich von Dürler, das Absturzopfer. Tot war er gewesen, der Bergsteiger, nachdem er eine Rinne hinuntergerutscht und sich beim Sturz böse den Kopf angeschlagen hatte. War das ein schlechtes Omen?
Um Himmels willen, was war nur geschehen?
Wenn er ihr wenigstens vorher gesagt hätte, wo’s hingehen sollte. Dann hätte sie doch nicht dieses unmögliche, enge Wickelkleid und die offenen Schuhe angezogen. Plötzlich hörte sie wieder seine Worte: »Ich möchte dir etwas zeigen.« Wenig begeistert hatte sie geantwortet: »Hm, weißt du, wie oft ich schon auf dem Uetliberg war? Ich glaube kaum, dass du mir hier noch etwas zeigen kannst.«
»Wart’s ab, es geht um die Kombination mit unseren Erinnerungen.«
Natürlich hatte er Recht gehabt. Über der Falletsche sah es tatsächlich ganz ähnlich aus wie damals in Norwegen auf dem Floien hoch über Bergen. Mit dieser Aussicht an diesem Platz hatte er mehr Vergangenheit heraufbeschworen, als ihr lieb war. Bergen war ihre letzte gemeinsame Station gewesen. Danach war der Bruch gekommen, dort hatte nach fast fünf Jahren fester Partnerschaft das Schicksal zugeschlagen und alles den falschen Lauf genommen. In jenem Alter waren fünf Jahre eine Ewigkeit, und er war ihr erster richtiger Freund gewesen.
Es gab ein klatschendes Geräusch als ihre Füße auf eine nasse Stelle trafen. Wieder wäre sie beinahe ausgerutscht. Heilige Scheiße. Im letzten Moment gelang es ihr, sich aufzufangen. Schweiß brach aus und diesmal schossen ihr die Tränen tatsächlich in die Augen. Blöde Kuh. Benimm dich nicht wie ein Baby. Es reicht. Hör auf. Du bist keine verdammte Heulsuse, sondern eine fast 40-Jährige Frau, die mitten im Leben steht, das dir weiß Gott schon Schlimmeres zugemutet hat. Und wie oft bist du schon diesen Berg hoch- und runtergerannt? Vielleicht nicht gerade 4.000-mal wie Felix Denzler, der Bäckermeister, der zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Beizen auf dem Uetliberg mit frischem Gebäck belieferte. Aber ein paar hundert Mal dürften es auch sein.
Eben.
Sehr gut.
Sie atmete tief ein und aus. Na also. Es ging doch. Sie begann wieder einigermaßen zu funktionieren. Auf ihren Verstand konnte sie sich verlassen. Der holte sie überall raus. Mit Ablenkung schaffte sie das.
Sie verlangsamte ihren Schritt, hier zu rennen, kam einem Selbstmord gleich. Ein unkontrolliertes, hysterisches Kichern kroch ihren Hals hoch. Selbstmord. Selbst. Mord.
Sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Wenn sie etwas beherrschte, dann ihre Einbildung zu kontrollieren, sie in eine von ihr gewünschte Richtung zu lenken und vor allem, ihren Kopf vom Rest zu isolieren.
Vor wenigen Wochen war Gregor überraschend wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Sie hatte nicht gewusst, ob sie sich über sein Erscheinen freute. Nach diesen Jahren der absoluten Funkstille hatte sie nicht mehr mit ihm gerechnet. Und schon gar nicht mit dem Vorschlag, den er ihr unterbreitet hatte. Natürlich war er immer schon verrückt und für eine Überraschung gut gewesen. Aber mit dieser Idee hatte er den Vogel abgeschossen. Und sie völlig überrumpelt. Einerseits hatte es ihr geschmeichelt, andererseits fand sie es äußerst seltsam. Eine Genugtuung aber war es auf jeden Fall gewesen. Dennoch war selbstverständlich absolut lächerlich, was er vorschlug und er hatte nicht im Ernst glauben können, dass sie darauf einging. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Zwei Jahrzehnte? Das mochte ungefähr zutreffen.
Gregor war seit jeher verantwortungslos gewesen. Und sie hätte wissen müssen, dass er sie in Teufels Küche bringen würde. Sie hätte sich ohrfeigen können. So dumm, so blöd, so verdammt naiv.
Aufhören. Es hilft dir nicht, wenn du dich fertigmachst.
Der Wald. Bäume. Moos. Fast wie damals in Skandinavien. Nur sahen die Wälder im Norden ganz anders aus. Märchenhaft. Aber nicht wie in Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen. Sie hatten nichts Bedrohliches, Dunkles, sondern waren hell, licht und freundlich. Voller Farne, Birken, Seen und Flüsschen. Wälder, in die Trolle, Wichtelmännchen, Kobolde und Berggeister gehörten. Ganz genauso wie sie Ibsen in seinem Peer Gynt beschrieben hatte. Sie hatte die Geschichte in jenem Sommer verschlungen und es hatte so wunderbar gepasst. In diese Tage, die niemals endeten. In diesen Sommer mit Mitternachtssonne und Heidenröschen. Es war ihre erste große Reise gewesen. Was hatte sie sich gefreut. Interrail mit ihrem Freund. Vier Wochen unterwegs sein. Mit Zug, Bus und unzähligen anderen unternehmungslustigen Trampern. Ob sie die Stationen noch zusammenbrachte? Zürich – Kopenhagen – Kalmar – Stockholm – Helsinki – Vasa – Umeo – Narvik – Lofoten – Roros – Bergen – Oslo – Hamburg – Zürich. An einem milden Abend im Juli hatten sie den Intercity bestiegen. Eine ratternde und aufregende Fahrt durch die Nacht bis nach Hamburg, wo sie zum ersten Mal umsteigen und weiter nach Kopenhagen wollten. Mit dem Zug auf die Fähre, eine herrliche Überfahrt, das Meer, der Wind und die Möwen. In Dänemarks Hauptstadt hatten sie natürlich das Tivoli und Andersons Meerjungfrau besuchen müssen. Danach aber waren sie nach Schweden gekommen. So viel Platz! All das Grün. Die hübschen Holzhäuser und komfortablen Fortbewegungsmittel. Ja, es hatte viel geregnet und war oft kühl gewesen, aber mit ihrer Sportbekleidung, den festen Schuhen und dem wasserdichten Zelt waren sie gut ausgerüstet gewesen. Wenn der Himmel nicht gerade stundenlang weinte, hielt es dicht. Und war sogar romantisch. Die Tropfen trommelten in steter Folge auf den Stoff und ihr eintöniger Rhythmus wirkte einschläfernd und beschützend. Das Zelt isolierte sie gegen den Rest der Welt und sie hatte Gregor in der warmen Enge ganz für sich gehabt. Weniger toll war es, wenn im Nass zusammengeräumt werden musste. Wenigstens verfügten Schweden wie Norwegen über großzügige öffentliche Toilettenanlagen, wo alles wunderbar trocken konnte. Zudem boten beide Länder unzählige schöne Museen, die aufwärmten und gemütlich waren. Allerdings hatte vor allem sie sich für Geschichte und Kultur der Gegenden interessiert. Er hatte sich im Gegenzug um Rudermöglichkeiten, Kajaks und Kanus, Biketouren, Wanderrouten, Schwimmörtlichkeiten oder Joggingstrecken gekümmert. Skandinavien war für Sportstudenten ein Paradies. Leider auch in Bezug auf weibliche Reize.
Hier blockierte sie. Nicht dieses Thema. Zurück zur Natur. Die Schäreninseln vor Stockholm. Unendliche Wälder in Finnland. Der Polarkreis mit Regenbogen und Rentieren in Norwegen. Die wilde, karge Schönheit der Lofoten. Wollgräser, dunkelblaues Meer, Stockfisch, ausgewaschene Felsen, rote Häuser, hübsche Boote. Und immer wieder Jugendherbergen, Züge, Wasser, Sauermelk, Mücken und Italiener. Unbewusst stahl sich sogar ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. Wie hatte er geheißen? Cesare? Ein ganz besonders aufdringliches Exemplar. Sie war im Verlaufe der Reise unzählige Male von heißblütigen Südländern angemacht worden, aber die meisten hatten sofort Reißaus genommen, sobald sie erkannt hatten, mit welchem »Hengst« sie unterwegs war. Was ihr ganz recht war, sie liebte nur Gregor. Das hatte sie allerdings nicht davon abgehalten, im Interpoint in Bergen, diesem wimmeligen internationalen Treffpunkt, Cesares Avancen nachzugeben. In diesem Schlafsaal mit fünfzig Matratzen am Boden hatte ohnehin jeder mit jeder rumgemacht. Womöglich hatte sie sich auch von diesen Mädchengruppen anstecken lassen, die scheinbar so viel Spaß hatten. In Parfümerien ihren undefinierbar ungewaschenen Trampermief großzügig mit Parfüm übersprühten, sich in Konditoreien mit Unmengen an Süßem eindeckten, mit Autostopp überall hinkamen und mit jedem flirteten, der noch einigermaßen menschlich aussah. Wie das französische Trio Claudette, Estelle und Aline. Aber sie hatte an Cesare denken wollen und nicht an die drei Studentinnen. Ja, er hatte sie küssen dürfen. Nur ein einziges Mal. Aber es hatte gut geschmeckt. Jedenfalls besser als alles andere, was ihr in Bergen widerfahren war. Schon wieder steckten ihre Gedanken in dieser unerfreulichen Sackgasse.
Ihre Knie schmerzten und zitterten vom Abwärtslaufen.
Bald bist du daheim. Allein. Ungefährdet. In deiner Wohnung. Deinem Zufluchtsort. Deiner Burg. Wo niemand Zutritt hat. Nur du.
Zuletzt wurde der Weg besser. Sie trat auf Nadeln, es war weich und nicht mehr so steil. Endlich konnte sie das Tempo wieder erhöhen. Gleich hatte sie es geschafft.
Die Stadt. Licht. Menschen. Sicherheit. Sollte sie das Tram nehmen? Nein, sie hielt nicht an, um zu warten. Die Beine bewegten sich einfach weiter. Über eine Straße. Ein Auto hupte. Verdammt, sie hatte es nicht gesehen. Zusammenreißen. Aufpassen. Laufen. Noch war sie nicht zu Hause. Da, die Bahnhofstraße. Gott sei Dank. Die harten Sohlen ihrer Schuhe schlugen laut auf den Asphalt und hallten als Echo von den Hausmauern zurück. Die Menschen schauten ihr nach. Kein Wunder. Sie musste ein ungewöhnliches Bild abgeben. Die nicht mehr ganz junge Frau, die gehetzt allein in der Nacht durch die Stadt rannte. Sie ließ sie glotzen. Sie konnten wohl erkennen, dass sie weder verfolgt wurde, noch sonst in Not steckte, sondern alles in Ordnung war. Sie brauchte keine Hilfe. Und schon gar nicht wollte sie jemandem etwas schuldig sein. Das hatte mit Stolz zu tun.
Noch eine Querstraße. Jetzt rein in den Rennweg. Nur ein paar Meter. Tief atmete sie ein und aus. Es ging ihr gut. Es war alles bestens. Ihre Finger suchten nach den Schlüsseln in der Tasche. Fanden sie. Aber ihre Atmung ging so heftig, dass sie das Schloss erst beim zweiten Anlauf traf und die Tür aufschließen konnte. Dankbar schlüpfte sie in den Korridor, wo automatisch das Licht anging.
Alles war gut. Sie war geborgen. Hatte sich gerettet.
Montagnachmittag. Postendienst. Hm, eigentlich war er ganz froh darüber, an diesem drückenden Nachmittag nicht ins Revier zu müssen und stattdessen hier drinnen bleiben zu können. Am Mittag war er im Schrebergarten der Eltern gewesen, hatte die Pflanzen gewässert und die reifen Himbeeren gepflückt, die Hitze war unerträglich gewesen.
Noch bevor er einen Espresso rauslassen und sich überlegen konnte, was auf seiner Prioritätenliste zuoberst zu stehen hatte, kam der Anruf der Einsatzzentrale. Es war exakt 14.01 Uhr, er schaute zufällig auf die Uhr und gemeldet wurde ein Toter am Uetliberg. Da alle Leute des Detektivpostens Wiedikon bereits im Einsatz waren, brauchten sie im Kreis 3 ausnahmsweise Unterstützung aus der Enge. Ein Berggänger hatte den Fund gemeldet und eine ziemlich genaue Beschreibung geliefert. In der Falletsche, zwischen Rütschlibach und Teehäuschen in einer offenen, steilen Fläche sei er auf einen toten Mann mit völlig zerschlagenem Kopf gestoßen. Der Verstorbene trage keine Ausweise auf sich und könne deshalb nicht identifiziert werden. Der Mann erklärte exakt, wo er sich aufhielt und hatte sogar geistesgegenwärtig nach den Papieren des Verstorbenen gesucht. Kein kopfloser Hysteriker.
Seit dem Fund waren 20 Minuten vergangen, die Einsatzzentrale hatte als Erstes einen Streifenwagen losgeschickt und informierte nun ihn, den Detektiv, der den ganzen Fall zu dokumentieren hatte.
Das roch nach einer längeren Geschichte, was bedeutete, dass er sich auf einen späten Feierabend einzustellen hatte. Andrea seufzte innerlich, während alles seinen gewohnten Gang nahm. Jörg, der Postenchef, informierte den Brandtourkripo. Bereits unterwegs waren die IRM-Ärztin und der Brandtourstaatsanwalt. Sie wollten sich am Friedhof Leimbach an der Stotzestraße treffen. Um 15.00 Uhr. Tja, so weit also alles klar. Andrea machte sich mit dem benötigten Material auf den Weg. Immerhin war der Verkehr in der Stadt dank der deutlich spürbaren Sommerferien nur mäßig. Allerdings wurde es schon nach wenigen Metern aufsässig heiß im Wagen. Er kurbelte die Scheibe runter und stellte sich auf einen schweißtreibenden Nachmittag ein.
Noch während der Fahrt erhielt er die Information, dass ein neuer Treffpunkt vereinbart worden war. Via Stallikon sollte er auf den Uetliberg fahren und die anderen Ausgerückten auf der Gratstraße beim Abzweiger Teehäuschen treffen. Auch gut.
Es verging keine halbe Stunde, bis er oben eintraf und mit dem ganzen »Rösslispiel« Tumult in den sommerlichen Waldfrieden brachte. Es roch verheißungsvoll nach gebratenen Würsten und im Schatten war die Temperatur erträglich. Nun entdeckte er auch die Familie, die ein verspätetes Mittagessen grillierte. Die Kinder spähten vorwitzig zu ihnen herüber. Andrea hörte, wie die Knaben aufgeregt über die Einsatzfahrzeuge fachsimpelten. Die vorbeispazierenden Wanderer warfen neugierige Blicke und rätselten über die Anwesenheit all der Offiziellen. Dass hier etwas Schlimmes vorgefallen war, stand zweifelsfrei fest, ein solches Großaufgebot musste ja gerechtfertigt sein. Allerdings fragten sie sich nur im Stillen, keiner traute sich, die Frage laut zu formulieren. Manchmal hatte die schweizerische Zurückhaltung durchaus ihre Vorteile.
Albrecht, der Anzeigeerstatter, erwartete sie mit einer gewissen Ungeduld. Ein Mann in praktischer Wanderbekleidung, topfit, seine gebräunte Gesichtsfarbe deutete auf viel im Freien verbrachte Zeit. Etwas verunsichert, an wen er sich bei der vorhandenen Auswahl zu wenden hatte, schaute er von einem zum anderen. Mit einer kleinen Handbewegung gab ihm Andrea zu verstehen, dass er der zuständige Schreiberling war und stellte sich gleichzeitig vor. Sofort begann der gut 60-Jährige zu erzählen. Wie er sich heute Morgen zu einer Kletterpartie entschlossen und nicht schlecht gestaunt habe, als er mitten in der Route einen Haufen bunter Kleidung entdeckte. Pragmatisch nahm er jede Dramatik aus der Situation und es klang, als fände er alle paar Monate eine Leiche. »Ich habe ihn angesprochen, aber natürlich kam keine Antwort. Dann habe ich ihn vorsichtig mit meinem Pickel angestupft und als wieder keine Reaktion kam, wollte ich seinen Puls fühlen, da war sofort klar, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Sein Kopf sieht furchtbar aus. Ich habe seine Kleidung durchsucht, aber er trägt kein Portemonnaie bei sich. Gut möglich, dass er es beim Sturz verloren hat. Er hatte ein Handy in der Hosentasche, aber das habe ich wieder zurück gesteckt.«
»Sehr gut.« Sollte er ihm sagen, dass er alles richtig gemacht hatte? Albrecht sah aus, als wüsste er das selbst.
»Wären Sie bereit, uns den genauen Fundort zu zeigen?«
»Ja, natürlich. Ich habe meine Frau bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass es heute später wird. Ich habe damit gerechnet, dass ich noch einmal hinuntersteigen muss. Es ist nicht ganz einfach zu finden.« Würden es einem doch alle Anzeigeerstatter so einfach machen.
Nach einer kurzen Besprechung entschieden sie, dass es reichte, wenn sich Andrea zusammen mit der Patrouille des Spezials sowie dem Forensiker an den Tatort aufmachte.
Albrecht begann flott mit dem Abstieg. Neidvoll betrachtete Andrea die Stiefel der Uniformierten und die Turnschuhe des Spurensicherers. Seine teuren Ledertreter eigneten sich nicht für eine Kletterpartie. Aber immerhin war es so weit trocken. Es hatte lange nicht mehr geregnet und die meisten Bächlein würden hoffentlich ausgetrocknet sein. Ergeben kraxelte er schweigend hinter Claudio und Albrecht her. Ja, es war zwar trocken, aber verdammt steil. Alle paar Meter rutschte Andrea mit seinen profillosen Sohlen auf dem Gras aus. Porca miseria. Eine Leiche am Uetli, das wäre ein Fall für Gian, sein Bürokumpan war doch der Bergsteiger im Team. Innerlich fluchte er heftig vor sich hin. Hatte er sich vor einer Stunde noch auf einen ruhigen Nachmittag im Büro gefreut? So rasch konnte es gehen. Das lehrte ihn wieder einmal. Und eine Hitze war das. Er spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann. Offenbar war er nicht der einzige, dem es zu warm war, Claudio wischte sich über die Stirn. Und Albrecht sagte im gleichen Moment: »Im Erosionstrichter der Falletsche kann es bei dieser Morgenbestrahlung schnell mal tropenhaft warm werden.« Ja, allerdings.
Äste knackten. Ein aufgescheuchter Vogel flatterte davon. Uff, Andrea konnte sich gerade noch am Zweig eines jungen Baumes festhalten. Hinter sich hörte er ein Kichern. Patrick, der Forensiker. Jaja, sollte er sich nur lustig machen über den Italo mit seinen schönen Schuhen und dem schreckhaften Temperament. Immerhin hatte er Stil.
»Wir sind gleich da.« Albrecht verströmte Zuversicht.
In diesem Moment lichtete sich der Wald und eifrig ging Albrecht die letzten Meter voraus bis zum leblosen Körper. Ganz so, als hätte er einen Schatz gefunden, den es nun zu präsentieren galt.
Na ja, wer wollte es ihm verübeln. Natürlich war das ein spektakulärer Fund.
Aha. Da lag er. Auf der linken Körperseite, halb um einen Baum geschlungen. Der eine Arm war unter dem Körper festgeklemmt, der andere ragte in Richtung Hang. Die Beine waren leicht angewinkelt und das Gesicht zum Baum gerichtet. Ein muskulöser Mann, Shorts, buntes T-Shirt und Sportschuhe. Die Textilien wiesen nur kleine Verschmutzungen und Beschädigungen auf. Teure Outdoorkleidung musste wohl selbst solche Härtetests bestehen. Schätzungsweise um die vierzig. Dunkle, kurze Haare und Bart. Trendy. Ja, nun wusste er auch, was der Alte mit seinen Worten gemeint hatte. Der Kopf war übel zugerichtet, blutverkrustet, er musste mehrmals auf Steine getroffen sein. Die nackten Arme und Beine wiesen Kratzer und Schürfungen auf. Immerhin war er wohl zwischen hundert und hundertfünfzig Meter weit hinuntergestürzt, was die massiven Schädelverletzungen erklären konnte. Unwillkürlich dachte Andrea daran, dass es eine perfekte Art wäre, jemanden loszuwerden oder einen Mord zu vertuschen, sofern man eine Leiche unbemerkt auf den Uetliberg transportieren konnte. Als hätte Patrick seine Gedanken erraten, begann er sogleich mit seiner Arbeit. Schoss Übersichtsfotos, sowie Detailaufnahmen und machte sich an die übrige Spurensicherung. Die Todesursache musste im Institut für Rechtsmedizin festgestellt werden, eine Leichenschau konnten sie hier vergessen. Es würde allerdings nicht einfach werden, den Verstorbenen ins IRM zu transportieren. Das Gelände wies einen Steilheitsgrad von 50° auf und Andrea war froh, heil hier angekommen zu sein, ohne dass er eine zentnerschwere leblose Person zu schleppen gehabt hatte.
»Ich denke, wir müssen die Rega bestellen.« Es war Claudio, der ihm diesmal die Worte aus dem Mund nahm. Andrea nickte. »Das halte ich ebenfalls für die beste Idee. Wir können ihn kaum bergen.«
Der Grenadier wählte bereits eine Nummer im Handy. Mit seiner Rega-App musste er nicht einmal die Koordinaten angeben, die bekam der Pilot automatisch. Inzwischen waren drei Stunden seit dem Leichenfund vergangen. Andrea beschloss, Herrn Albrecht zu entlassen und zurück zu schicken. Es machte keinen Sinn, wenn er mit ihnen hier wartete. Der Mann schien beinahe enttäuscht zu sein, dass man auf ihn verzichten konnte und die Sache hiermit für ihn erledigt war. Am liebsten hätte er den Heli wohl eigenhändig eingewiesen und den Toten am Seil befestigt. Als er einsah, dass das unwahrscheinlich war, stapfte er davon. Andrea durchsuchte derweil die Taschen des Toten, fand allerdings nur ein arg beschädigtes Handy und eine angebrochene Packung Kaugummis. Genau wie Albrecht gesagt hatte. Das Telefon nahm er an sich. Er wollte es der Ermittlungstechnik weitergeben, vielleicht konnten sie mit der SIM-Karte noch etwas anfangen.
»Alles okay, die Rega kommt in zirka 20 Minuten.«
»Danke.« Andrea rief den Brandtourkripo an und gemeinsam entschieden sie, dass die Leiche ins Diensthundewesen gebracht werden sollte. Die große vorgelagerte Wiese eignete sich als Landeplatz und von dort konnte der Weitertransport ins Institut für Rechtsmedizin organisiert werden. Er musste dem Leichenbestatter Bescheid geben, Gerber Lindau sollten mit einem normalgroßen Sarg kommen.
Claudio und Roman hatten es sich gemütlich gemacht, der eine hielt sein Gesicht in die Sonne, der andere hatte sich einen Platz im Schatten gesucht. Auch Patrick war inzwischen fertig mit seiner Arbeit. Waren die 20 Minuten für die Rega noch nicht um? Auf seine Frage warf Claudio einen Blick auf die Armbanduhr und meinte träge: »Doch, seit fünf Minuten.«
»Und?«
»Tja, ich höre nichts. Offensichtlich brauchen sie etwas länger.«
Immer diese Warterei. Musste er noch etwas in die Wege leiten? Es fiel ihm nichts mehr ein. Also konnte er sich ebenso gut auch irgendwo niederlassen. Claudios mit Moos überzogener umgestürzter Baum sah einladender aus als Romans Stein. Von Nahem sah er allerdings, wie Claudios Gesicht vor Schweiß glänzte und auf seiner Stirn die Tropfen aus jeder Pore perlten. Hm, vielleicht war ein Platz im Schatten doch angebrachter. Mit dieser Einsicht näherte er sich Roman, der bereitwillig ein paar Zentimeter Platz machte. Mit einem Blick auf Andreas Füße meinte er: »Schade um die schönen Schuhe.«
Scheiße, ein Riesenkratzer über dem weichen braunen Leder.
»Bist wohl nicht so der Outdoorler, was?«
»Nein, nicht unbedingt.« Er wechselte das Thema. »Und, wie läuft’s so im Spezial? Viel zu tun?«
»Sehen wir so aus?« Die Gegenfrage kam nüchtern von Claudio. Und Roman schob nach: »Wir haben kaum Einsätze. Langweilig. Nichts los.« Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich frage mich manchmal ernsthaft, wofür wir überhaupt ein Spezial haben. Uns braucht’s doch gar nicht. Den Überfall könnte man wieder in der City angliedern und all die Fehlalarme von da aus anfahren. Und sonst fällt für uns ja eh nichts ab. Wir trainieren wie blöd, bereiten uns vor und wofür?«
»Na immerhin können wir in diesem Jahr unser 40-jähriges Bestehungsjubiläum feiern.« Claudio grinste. »Ist doch schon mal was. Und zudem wird mit dem neuen Kommandanten sowieso wieder alles umstrukturiert. Wer weiß, wie’s weitergeht.« Er schien das alles gelassen zu nehmen und hatte Recht damit. Man hatte sich längst daran gewöhnt, dass alle paar Jahre neue Abteilungen entstanden, wieder geschlossen wurden, frische Namen auftauchten und wieder verschwanden. Auf ihre Arbeit hatte das kaum Einfluss, man musste sich höchstens ein neues Organigramm einprägen. Das Thema wirkte einschläfernd und Andrea schloss für einen Moment die Augen. Die nachmittägliche Stille und Hitze taten ihr Übriges. Urplötzlich allerdings erklang das Motorengeräusch des Hubschraubers und sein Flappen näherte sich rasch. Bevor er hektisch aufspringen konnte, waren sie schon überflogen worden. »Und jetzt? Haben sie uns nicht gesehen?«
»Die machen erst mal ein paar Luftaufnahmen.« Claudio erhob sich und winkte. Nach einem weiteren Überflug kam der Notarzt wie eine Puppe an einer Seilwinde herabgeschwebt. Sobald er sich gelöst hatte, entschwand der Helikopter wieder.
Dem Arzt blieb auch nicht mehr, als den Tod des Mannes zu bestätigen. Sie packten die Leiche in den eigens dafür vorgesehenen Leichensack und riefen gleich darauf den Helikopter zurück. Nur wenige Minuten später wurden Toter und Arzt heraufgezogen und ins Diensthundewesen geflogen. Andrea würde ihn nicht mehr sehen, nur noch den Bericht des Rechtsmediziners bekommen. Patrick wollte im IRM die Kleider sowie den Fingernagelschmutz sicherstellen.
»Tja, dann machen wir uns wohl auch mal auf den Rückweg.« Claudio übernahm erneut die Führung. Aufwärts war bedeutend angenehmer als abwärts und diesmal gelang selbst Andrea eine einigermaßen elegante Darbietung.
Oben angekommen, trafen sie niemanden der ursprünglich Ausgerückten mehr an. Andrea beschloss, sich einen Augenschein vom höchsten Punkt zu verschaffen und verabschiedete sich von Patrick und der Limmat 53 Patrouille, die ihren redlich verdienten Feierabend antreten durfte.
Es dauerte nicht lange, bis er am Aussichtspunkt angekommen war und einen Blick über die Felswand in die Tiefe werfen konnte. Hm, dieser Albrecht. Wie konnte man sich nur freiwillig an einem so heißen Tag diese Wand hochquälen? Es gab Dinge, die würde er nie verstehen. Aber eigentlich mussten sie dem Bergsteiger natürlich dankbar sein. Hätte er sich nicht für diese anspruchsvolle Route entschieden, wäre der Tote womöglich Tage, wenn nicht Wochen unbemerkt liegen geblieben. Von Tieren angefressen worden und immer schlechter identifizierbar geworden.
Abgesehen vom beeindruckenden Tiefgang stellte er nichts Außergewöhnliches fest, womit er sich auf den Weg zurück ins Büro machen konnte.
Hier erfuhr er, dass der Staatsanwalt eine Obduktion angefordert hatte, welche durch die Forensiker zu dokumentieren und für Mittwoch angesetzt worden war. Zudem sollten sie auch die Übersichtsaufnahmen der Rega so bald wie möglich auf der Basis in Dübendorf abholen.
Nun hatte er noch die Vermisstenanzeigen zu checken und den Zeugenaufruf in der Zeitung zu lancieren.
Wenige Minuten später war er schlauer und wusste, dass noch niemand den Mann als vermisst gemeldet hatte. Warum nicht? War er hier in den Ferien gewesen? Arbeitslos? Hatte er keine Partnerin?
Tja, er würde es bald erfahren. Für heute war alles getan, was getan werden konnte. Zeit für den Feierabend.
Beim Hinausgehen winkte sie Anita und Ingrid zu. Sie waren zu beschäftigt, um zurück zu grüßen. Kein Wunder, Feierabend war Hochbetriebszeit. Aber heute? Bei dem Wetter? Sie konnte es nicht nachvollziehen. Wusste man denn nicht, wie viel angenehmer es sich jetzt irgendwo draußen trainieren ließ? Na ja, erstens ging es sie nichts an, wie die Menschen sich fit halten wollten und zweitens sollte sie froh sein, dass sich viele gern in einem Keller quälten, immerhin verdiente sie damit Geld. Als sie vor die Tür trat, schüttelte sie unwillkürlich den Kopf. So ein herrlicher Abend, sahen sie das wirklich nicht?
Wie schön, dass sie heute keinen Kunden mehr hatte. Sie öffnete ihr Fahrradschloss und schwang sich auf den Sattel. Fantastisch wäre es jetzt natürlich, wenn sie freie Fahrt hätte und sich Wind und frische Luft über Gesicht und durch die Haare wehen lassen könnte. Stattdessen standen die Autos in Kolonnen, machten ihr ein Durchkommen fast unmöglich und verschmutzten auch noch die einzige Luft, die sie hier zur Verfügung hatte. Nun, in gut fünf Minuten war sie daheim. Und hätte sie erst die Stockerstraße überquert, würde es auch mit dem Verkehr besser werden.
Mit einem Blick nach rechts vergewisserte sie sich, dass im Moment kein Auto kam und fuhr bei Rot über den Fußgängerstreifen. Genau dem Uniformierten in die Arme. Scheiße, warum hatte sie den nicht gesehen? Es wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Hatte er womöglich auf sie gewartet? Kamen sie bereits, um sie zu holen?
»Guten Abend. Tja, Rot gilt auch für Velofahrer.«
»Ja, ich weiß. Es tut mir leid.« Ging es nur um das Rotlicht? Ach, bitte lieber Gott, lass das alles sein!
»Und dann auch noch über den Zebrastreifen. Tststs.« Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Sie versuchte, so schuldbewusst wie möglich zu blicken und antwortete zerknirscht: »Ja, das war natürlich nicht richtig.« Sie hörte sich an, wie der größte Schleimbeutel. Unterwürfig und devot. Konnte darauf jemand hereinfallen? Offenbar. Es schien zu wirken. Der Polizist machte keine Anstalten, seinen Bußenblock auszupacken und sie zu bestrafen. Stattdessen schien es ihm zu gefallen, ihr eine Moralpredigt zu halten. »Das ist gefährlich. Ist Ihnen das bewusst?« Innerlich verdrehte sie die Augen, glaubte er, er habe ein dreijähriges Kind vor sich?
»Jaja, es gibt immer wieder Unfälle mit Velofahrern.« Klugscheißerisch fügte er an: »Sogar tödliche.«
So ein Kotzbrocken. Seine belehrende Ermahnung konnte er für sich behalten oder sich sonst wohin stecken.
»Tja, was machen wir denn jetzt mit Ihnen?« Puh, wollte er jetzt noch witzig werden? Sie hatte alle Mühe sich ihren Unmut nicht anmerken zu lassen. Noch lächelte sie reumütig. Aber lange würde ihr das nicht mehr gelingen. Nun mach vorwärts. Ich hab’s kapiert. In diesem Moment überfiel sie das schlechte Gewissen und plötzlich war sie wieder einfach nur dankbar, dass er offenbar nichts wusste und es tatsächlich nur um diese kleine Übertretung hier ging. Und allmählich hatte er wohl genug geschwafelt: »Also, in Zukunft absteigen, wenn Sie an einen Fußgängerstreifen kommen und dann warten, bis das kleine grüne Männchen geht.« Er lächelte gönnerhaft. »Versprochen?« Jetzt fehlte nur noch, dass er seinen Meimei-Zeigefinger ausfuhr und sie damit in die Brust pikste. Nein, er verkniff es sich, setzte stattdessen noch einmal seine schulmeisterliche Miene auf, um sie mit den Worten: »Sonst haben Sie dann nicht mehr so viel Glück und bekommen Ihre gerechte Strafe«, gnädig zu entlassen. Sie nickte, stieg brav ganz vom Fahrrad und schob es auf dem Trottoir neben sich her. Am liebsten hätte sie ihm hinter seinem Rücken die Zunge herausgestreckt. Und ihm damit auch noch Recht gegeben mit seiner Kleinkindbehandlung. Nein, diesen Triumph gönnte sie ihm nicht. Aber wunderten sich die Polizisten wirklich darüber, dass man sie nicht leiden konnte?
Endlich war sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden und konnte wieder auf den Drahtesel steigen. Weg vom Autoverkehr. Die kurze Strecke den Schanzengraben entlang war schön. Wie gut, dass sie der Herr Polizist nicht sehen konnte. Natürlich war es auch hier verboten, zwischen den Fußgängern herumzukurven. Leider musste sie noch tiefer ins Getümmel. Immer noch diese Horror-Baustelle an der Bahnhofstraße. Der Fußgängerverkehr wurde in enge Kanäle gezwungen und sie versuchte Gittern, Zweibeinern und Löchern gleichermaßen auszuweichen. Zum Glück konnte sie bald rechts in Richtung Augustinerkirche abbiegen.
Diese Kopfsteinpflaster mochten ja schön sein fürs Auge, aber mit dem Fahrrad oder Schuhabsätzen ein Graus.
Auch hier standen die Touristen herdenweise herum. Eine Traube Chinesen drängte sich mit leerem Blick vor der Ikonengalerie in der Widdergasse. Instinktiv fragte sie sich, wie viel von dieser Reise daheim übrig bleiben würde, außer ein paar Bildern, bei denen sich die Menschen kaum erinnern konnten, wo sie geschossen worden waren.
Am Rennweg hingen bunte Stoffbänder vom Himmel. Vor Wochen waren sie über die Straße gespannt worden und gaben ihr ein freundliches Aussehen. Kurzentschlossen entschied sie, sich beim »Honold« eine Brezel mit Butter zu holen. Ihr Nachtessen. Ausnahmsweise. Am Mittag hatte sie nur einen Salat mit Joghurtsauce zu sich genommen, da durfte sie jetzt ein bisschen sündigen. Als sie allerdings den Andrang im Laden sah, änderte sie ihre Meinung. Sie hatte keine Lust, so lange zu warten. Dann hatte halt ein Müesli zu reichen.
Endlich daheim. Erleichtert schloss sie die Tür auf. Von hier aus ahnte man nicht, dass auf der anderen Seite des unscheinbaren Wohnhauses ein wunderbar ruhiger Innenhof eine kaum vorstellbare Abgeschiedenheit zauberte. Ihre eigene Terrasse war eine Oase in einer fast vergessenen Umgebung.
Sie schob ihr Fahrrad durch die mit einbruchsicherem Glas renovierte Haustür. Die mittelalterlichen Gebäude im Augustinerquartier reichten bis ins 13. Jahrhundert zurück. Die ersten Spuren einer Besiedelung datierten allerdings sogar aus der Römerzeit, wie sie einmal gelesen hatte. Vorher war das ganze Gebiet zu unwirtlich und sumpfig gewesen.
Unter der Treppe befand sich der perfekte Platz für ihren Drahtesel, den außer ihr sonst niemand im Haus beanspruchte. Die anderen Mieter arbeiteten tagsüber und teilweise handelte es sich um Zweitwohnungen von reichen Ausländern. Jedenfalls sah man sich kaum und kannte sich nicht. Begegnete sie überhaupt jemandem, so waren es oft fremde Gesichter und abgesehen von einer Begrüßung sprach man nicht miteinander. Alles völlig anonym. Genau was sie wollte.
Die Tür fiel zurück ins Schloss und ließ den ganzen Straßenlärm draußen.
Ja, vorne raus war’s laut. Aber auch nur, solange die Läden geöffnet waren. Nach Ladenschluss um 20.00 Uhr wurde es schlagartig besser. Dann kehrte Ruhe ein.
Sie aß ihr Müesli mit frischen Früchten auf der Terrasse. Von hier aus konnte sie bis zum Uetliberg sehen. Die Sonne stand noch ein paar Zentimeter über der bewaldeten Krete mit der Antenne, die sie immer an ein Minarett erinnerte, und dem Aussichtsturm in der Form des Eiffelturms. Heute konnte sie sich nicht daran freuen und es linderte auch nichts. Heute brauchte sie etwas anderes.
Sie hatte kaum ihren Joghurt ausgelöffelt, als es sie wieder ins Freie zog. Zwar waren die Ladenlokale jetzt geschlossen, aber die flanierenden Menschen trotzdem noch allgegenwärtig.
Während sie die Treppe zum Lindenhof hochstieg, zählte sie automatisch die Sandsteinstufen. Die 22 letzten würden sich hervorragend zum Intervalllaufen eignen. Das Geländer ließe sich ebenfalls nutzen und oben die Sitzbänke. Warum war ihr das noch nie vorher aufgefallen? Sie kam doch so oft hierher.
Trotz der allmählich einsetzenden Dämmerung waren Schachspieler mitten in einer komplizierten Partie, zappelten Kinder auf den Schaukeln und schossen Touristen Fotos in Richtung Niederdorf. Typische Sommerferienzeit.
Das Wasser des Brunnens plätscherte und der Kies knirschte unter ihren Sohlen.
Manchmal kam sie ganz einfach hier herauf, um das Leben wieder schön zu finden. Und in die Relationen zu setzen. Diesen Platz gab es schon ewig. In der letzten Eiszeit, etwa um 8.000 v. Chr. hatte sich der Linthgletscher bereits weit zurückgebildet. Der See hatte noch bis zum heutigen Paradeplatz gereicht, wo auch die Sihl eingemündet war. Und der Lindenhof, genauso eine Moräne wie die Hohe Promenade auf der anderen Flussseite, ragte seit damals aus der Sumpflandschaft wie eine Insel.
Ein Weidling schaukelte auf der Limmat, Trams quietschten vorbei, Ameisenmenschen schlenderten über das Limmatquai. Und auch sie war nur ein ganz kleines, unwichtiges Rädchen, das sich drehte und funktionierte. Niemand wusste, wer sie war und was sie tat. Und nur eine kleine Weile noch tun musste, bevor sie sich ihre Ruhe gönnen konnte.
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