Stolen 2: Verwoben in Verrat - Emily Bold - E-Book

Stolen 2: Verwoben in Verrat E-Book

Emily Bold

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Beschreibung

Die magische Fantasy-Liebesgeschichte rund um Abby, Tristan und Bastian geht rasant und spannend weiter.

Wenn der Junge, der deine Seele gestohlen hat, die Macht bekommt, auch dein Herz zu stehlen, dann kann das nur Ärger bedeuten. So wie bei Abby Woods. Seit Bastian Tremblay ihre Liebe für ihn verraten hat, indem er ihr einen Teil ihrer Seele stahl, erkennt sie sich selbst kaum wieder. Sie entdeckt eine neu erwachende Kraft in sich und kämpft mit ihren widerstreitenden Gefühlen. Und Bastians draufgängerischer Bruder Tristan ist ihr dabei keine Hilfe, denn seine tröstliche Nähe fühlt sich nicht so verkehrt an, wie sie es sollte. Als dann noch ein Ring ins Spiel kommt, der Liebe wecken und Hass schüren kann, muss Abby erkennen: Einem Tremblay traut man nicht.  

Band 2 der Stolen-Trilogie

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Das Buch

Mein Blick streifte die beiden Tremblay-Brüder. Sie waren wie Tag und Nacht. Verführer und Beschützer. Leichtsinn und Vernunft. Beide hatte ich geküsst. Beide trugen Teile meiner Seele in sich – und beide konnten mir gefährlich werden. Ich biss die Zähne zusammen und streckte jedem von ihnen eine Hand entgegen. Ich traute ihnen nicht. Traute meinen Gefühlen für sie nicht. Und doch waren sie alles, was mir noch geblieben war. Ich brauchte sie – und zwar beide, um mir mein Leben zurückzuholen!

Der zweite Band der magischen Fantasy-Liebesgeschichte von der Silberschwingen- und The-Curse-Autorin.

Die Autorin

© privat

Emily Bold, Jahrgang 1980, schreibt Romane für Jugendliche und Erwachsene. Ob historisch, zeitgenössisch oder fantastisch: In den Büchern der fränkischen Autorin ist Liebe das bestimmende Thema. Nach diversen englischen Übersetzungen sind Emily Bolds Romane mittlerweile auch ins Türkische, Ungarische und Tschechische übersetzt worden, etliche ihrer Bücher gibt es außerdem als Hörbuch. Wenn sie mal nicht am Schreibtisch an neuen Buchideen feilt, reist sie am liebsten mit ihrer Familie in der Welt umher, um neue Sehnsuchtsorte zu entdecken.

Mehr über Emily Bold: www.emilybold.de

Emily Bold auf Twitter: @emily_bold

Emily Bold auf Facebook: www.facebook.com/emilybold

Emily Bold auf Instagram: www.instagram.com/emily.bold/

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Prolog

Ich atmete ein. Die Nachtluft strömte in meine Lunge und obwohl ich von dunklen Mondschatten umgeben war, fürchtete ich sie nicht. Denn was ich fürchtete, war dicht hinter mir. Meine Sinne waren so geschärft, dass es mir vorkam, als spürte ich den Atem des ungleichen Brüderpaars in meinem Nacken. Jedes Härchen an meinem Körper war aufgerichtet, jeder Nerv gespannt. Ich war bereit. Mehr als bereit, wie ich mir eingestehen musste, als die Dunkelheit in mir mich regelrecht flutete. Ich atmete durch und trat aus meinem Versteck. Der Kies unter meinen Füßen knirschte so laut, dass ich dachte, man müsste mich in ganz England hören. Mein Herz pochte wie eine Buschtrommel, die jedem, der es hören wollte, kundtat, dass ich hier war. Hier, um etwas zu stehlen, das unmöglich zu stehlen sein sollte. Etwas, das gefährlich war.

Ich spähte über die Schulter und mein Blick kreuzte Bastians. Er sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen. Unverhohlene Gier lag in seinen Augen, die jede Menschlichkeit verloren hatten. Die Nacht war über mich gekommen und hatte meine beiden Begleiter mit mir in die Dunkelheit gerissen. Tristan keuchte und ich wusste, würde ich ihn ansehen, sähe ich den gleichen Hunger auch bei ihm. Etwas ging in meinem Inneren vor – und es verwandelte die Männer hinter mir in reißende Wölfe. Ich beschleunigte meine Schritte in Richtung Licht. Raus aus den Schatten, die um mich herum lauerten. Weg von dem, was mir Angst machte, und hin zu der Dunkelheit, die mir so vertraut war, wie mein eigener Herzschlag. Ich schwitzte, als ich die Stufen hinaufschlich und mich ungesehen in das Herrenhaus schob. Es fühlte sich berauschend an. Und wie im Rausch folgte ich meiner inneren Stimme, meinen eigenen Dämonen immer tiefer ins Haus. Mitten hinein in die Gefahr.

Schattenflucht

Zuvor auf einem Bahngleis bei Wymouth

Bastians Atem kam gepresst. Er blinzelte, um seinen Blick zu klären. Der Waggon rumpelte und er hielt sich an der Rückenlehne des Sitzes vor sich fest. Die Muskeln seiner Oberschenkel waren angespannt, bereit zum Sprung. Zum Sprung durch die Schatten. Doch davon gab es hier im Zug so viele, dass Bastian nicht wusste, welchen er wählen sollte, um Konstantin Cross zu folgen.

Stehen bleiben war keine Option. Er hatte Abigails Seelenweben in sich aufgenommen und nun kämpften sie mit einer unvorstellbaren Kraft gegen ihn an.

Keuchend drückte Bastian sich die von dunklen Schlieren überzogene Hand aufs Herz, um den Schmerz zu mindern. Er musste nicht sein Spiegelbild in den Zugfenstern sehen, um zu wissen, dass seine gesamte Haut von dunklen Ranken überzogen war und seine Augen nicht länger menschlich wirkten. Er hatte die Kontrolle über sein eigentliches Wesen verloren, als er sich an Abbys Seele bedient hatte. Ihre Weben wollten ihn aufsprengen, ihn zum Bersten bringen. Dabei hatte er doch keine andere Wahl gehabt. Er musste Cross aufhalten!

Als er die Hand nach dem Schatten der den ganzen Waggon durchlaufenden Gepäckablage ausstreckte, tropfte Blut auf den dunkelgrauen Zugteppich. Es lief aus dem Ärmel seiner Lederjacke und über seine eiskalten Finger. Die Weben suchten sich einen Weg aus seinem Körper heraus. Bastian taumelte. Er atmete mehrmals tief durch, zwang das Wüten und die Weben in sich mit aller Macht zur Ruhe. Der Schweiß brach ihm aus und das Gefühl zu ersticken, trieb ihn an. Er musste in Bewegung bleiben. Musste in den Schatten die Kraft von Abbys Weben schwächen. Und er musste die einzige Sache finden, die ihn retten konnte. Den Seelenring, den Abby ihm gestohlen hatte, und der sich nun im Besitz von Konstantin Cross befand.

Bastians Blick wanderte von seinem Blut auf dem Teppich ein Stück weiter. Noch mehr Blut färbte den Boden. Es war nicht sein eigenes, sondern stammte von dem einzigen anderen Schattenspringer, der sich mit ihm hier im Zug aufhielt. Ein Schattenspringer wie Bastian, der ebenfalls Abbys machtvolle Weben in sich trug, der aber im Gegensatz zu Bastian nie gelernt hatte, eine solche Kraft in sich zu kontrollieren. Auch in Cross suchten die Weben nach einem Ausweg. Er war verwundet, genau wie Bastian. Nur war Cross im Besitz von Bastians Ring. Und den musste er sich unbedingt zurückholen.

Er machte einen Schritt nach vorne, streckte die Hand in den Schatten, und die Kälte und Dunkelheit atmeten ihn ein.

Der Moment im Nichts verging viel zu schnell. Kaum einen Wimpernschlag lang gönnte die Dunkelheit ihm Erholung. Bändigte nur eine Millisekunde lang den Schmerz. Dann kehrte Bastian zurück ins Licht, ans andere Ende des Waggons. Dort schützte ein neuerlicher Sprung ihn davor, von den Reisenden entdeckt zu werden. Er bewegte sich schnell von Schatten zu Schatten, suchte Cross, suchte seinen Ring, doch die vielen Menschen mit all den Seelenweben, den Herzweben und Erinnerungsweben, die das Wüten in ihm anlockten, machten es unmöglich, der Spur von Konstantin Cross zu folgen.

Es waren zu viele Schatten. Zu viele Möglichkeiten.

Angst stieg in Bastian auf. Er sprang immer schneller, verzweifelter durch die Dunkelheit, denn er wusste, wenn Cross den Zug irgendwo unbemerkt verließ, wäre der Ring verloren.

»Wo steckst du?«, murmelte er, während der Zug mit hohem Tempo in Richtung London fuhr. Er hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, da blitzte vor ihm im Schatten etwas auf.

Bastian schnappte nach Luft. Onyx! Diese schillernde schwarze Farbe war ihm nur zu vertraut. Abbys Weben waren Onyx. Er wusste es so genau, weil auch er in diesem Moment ihre Weben in sich trug. Knurrend warf Bastian sich in den nächsten Schatten.

»Cross!«, brüllte er ins bodenlose Nichts und jede Faser seines Körpers schrie auf, als er seinen Gegner in der Dunkelheit ausmachte. Er musste ihn erreichen!

Als hätte Cross ihn gehört, wirbelten die dunklen Weben jetzt regelrecht um seinen Körper und er japste erschrocken, ehe er ein weiteres Mal verschwand.

Bastian stieß die Tür zum nächsten Waggon auf, und folgte Cross dort in die Schatten.

Sein Herz hämmerte schmerzhaft und immer mehr Blut sickerte aus der Wunde an seinem Arm. Er drohte zu bersten, und nicht einmal die Schattensprünge dämpften das Wüten in ihm. Cross war beinahe so schnell wie Bastian, dem es kaum gelang, den Abstand zu verringern.

Als Bastian in den nächsten Schatten sprang, war von den schwarzen Weben nichts mehr zu sehen.

»Was?!«, keuchte er und sah sich um. »Wo steckst du?«

Schnell kehrte er in den vorherigen Schatten zurück. Hier hatte er …

Er wandte sich zum Fenster und erkannte, dass Cross den Schatten der Bäume genommen haben könnte.

»Verdammt!« Mit einem Knurren glitt er ebenfalls aus dem Zug. Bäume säumten das Gleisbett und streckten sich lang nach Osten hin aus. Sie wuchsen ineinander, wie Flüsse, die sich zum Meer hin vereinten. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel weckte seine Aufmerksamkeit. Cross sprang aus einem Schatten heraus aufs Zugdach.

»Verdammt!« Bastian stieß sich ab und tauchte in die Dunkelheit. Zwei Sprünge später stand er seinem Feind gegenüber. Der Wind riss an ihm und er konnte sich kaum halten, aber Cross war wieder in Reichweite. Die Baumgruppe blieb hinter ihnen zurück. Und mit ihr die Schatten. In Cross’ Gesicht zeichnete sich ab, dass er seinen Fehler erkannte.

Sein Gegner spreizte die Beine für einen besseren Stand und lehnte sich gegen den Wind. Wie Bastian selbst schien auch Cross atemlos, doch jetzt war der falsche Zeitpunkt für eine Pause. Mit großen Schritten ging Bastian auf den Lehrer zu, der nur zu dem Zweck nach Darkenhall, der Schule, die Bastians Familie leitete, gekommen war, um an Bastians Ring zu gelangen. Cross hatte eine Schülerin dazu gebracht, sich Bastian zu nähern, um ihm den Ring zu stehlen, den zu hüten Bastians Lebensaufgabe war. Und Bastian … er hatte sich ablenken lassen von dem Mädchen mit den lila Haaren und den onyxfarbenen Weben. Er hatte seine Vorsicht aufgegeben und sich von Abigail Woods bestehlen lassen.

Cross hatte sie alle getäuscht, doch nun würde Bastian sich zurückholen, was ihm gehörte, und damit endlich das Wüten in sich unter Kontrolle bringen.

Das Blut wich Cross aus dem Gesicht, als Bastian auf ihn zuging. Er musste spüren, dass sein Gegner zu allem bereit war, um den Ring in Sicherheit zu bringen, denn er drehte sich um und rannte über das Dach. Bastian folgte ihm wie ein Raubtier, das seine Beute im Blick hat. Die Weben überzogen seine Haut, seine Augäpfel waren geflutet mit dunklen Weben und seine Pupillen waren ein beinahe senkrechter Strich in der unheilvoll dunklen Iris. Er spürte Cross’ Angst und beschleunigte seine Schritte. Es gab kaum noch etwas, das ihn jetzt aufhalten konnte. Nichts, außer …

»Nein!«, entfuhr es ihm, als der Zug um eine Biegung fuhr und sich dahinter ein dichter Wald auftat, dessen hohe Baumwipfel das gesamte Gleisbett beschatteten. »Nein!«, brüllte er noch einmal und rannte los. Er musste zu Cross, ehe der Zug den Wald erreichte. Denn in diesem Schattenmeer würde er Cross nie wiederfinden.

Das triumphale Lachen, das Bastian entgegenschlug, zeigte, dass Cross den Ausweg erkannte. Der floh hastig in Richtung der rettenden Schatten.

Den Wind, der Bastian fast vom Zug wehte, spürte er kaum, so fokussiert war er. Und doch erkannte er mit jedem Schritt, dass er zu spät kommen würde. Dass er es nicht schaffen würde, ihn aufzuhalten.

»Nein!«, keuchte er und streckte vergeblich die Hand nach Cross aus, der mit einem für Menschen lebensgefährlichen Satz vom Zug sprang, aber den Boden nicht erreichte, denn der Schatten verschluckte ihn, ehe er aufschlug.

Bastian sank verzweifelt auf die Knie. Die Weben in seiner Brust hämmerten gegen seine Rippen, wie Gefangene gegen Gefängnisgitter. Sie nahmen ihm den Atem, denn sie wussten, Bastian würde die Kontrolle nicht wiedererlangen. Die Haut unter seinem Herzen wölbte sich und er presste schreiend die Faust auf die Stelle. Die alte Narbe zitterte, und Schmerz so heiß wie Magma spülte jeden klaren Gedanken fort. Unter seinem Rippenbogen platzte die Haut und Blut färbte sein graues Shirt. Er wollte sich die Jacke und das Shirt vom Körper reißen, wollte sehen, wie das Wüten ihn in Stücke riss, doch selbst dazu fehlte ihm die Kraft. Er presste die Hände aufs Zugdach, als könnte er die Finger wie in Butter hineingraben.

Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag: Cross war entkommen. Der Ring vorerst verloren. Und Abby …

Er blinzelte gegen den Fahrtwind, verbot es sich, über die Schulter zu blicken. Denn das, was er dort weit hinter sich zurückgelassen hatte …

Er wollte es nicht sehen. Nicht einmal vor seinem geistigen Auge. Er hatte einen Fehler gemacht. Einen unausweichlichen Fehler, der ihn jetzt vielleicht das Leben kosten würde.

Die Weben in ihm begehrten auf, als sie seine Schwäche spürten. Haut riss, Blut sickerte und Bastian schloss kraftlos die Augen.

Bitterer Trost

Ich klammerte mich an Tristan, denn meine Welt brach in Stücke. Mein Herz blutete und Bastians Verrat fühlte sich an wie ein Messer, das mir in die Brust gestoßen worden war. Dazu diese absolute Leere in meiner Seele, die mir deutlich machte, was Bastian mir gestohlen hatte. Ich spürte keine Schuld mehr, kein Gewissen. Da war nichts. Und das machte mir Angst.

Ein hartes Schluchzen entstieg meiner Kehle und ich war froh um Tristans Nähe. Er hielt mich fest, als ich das Gefühl hatte, in tausend Teile zu zerbrechen. Er küsste meinen Scheitel, während der Zug mit Bastian darin in immer weitere Ferne rückte. Er fing meine Tränen auf und hielt mich in seinen Armen.

»Komm her«, flüsterte er und zog mich fester an sich. »Denk nicht mehr an ihn. Ich bin ja da.«

Es tat so gut, wie er meinen Rücken streichelte, wie er zarte Küsse auf meine Halsbeuge hauchte, um mich zu trösten. Wie er mir ins Ohr flüsterte, dass alles gut werden würde.

Hilflos vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter, schlang ihm die Arme um den Hals und weinte. Meine Brust bebte unter meinen gequälten Atemzügen. Ich fühlte mich verloren. Und noch viel schlimmer: verlassen.

»Abby.« Tristans Haar strich über meine Wange. »Alles wird gut.« Er küsste meinen Hals, küsste mein Ohr und meine Schläfe. »Ich verspreche es«, murmelte er, und zart wie eine Feder glitten seine Lippen über meine. »Alles wird gut.« Ein leichter Schwindel erfasste mich und Tristan keuchte. »Keine Angst«, raunte er gegen meine Lippen und der Schwindel ließ nach. Tristans Zunge glitt über meine Unterlippe, zärtlich und tröstend. »Ich bin nicht mein Bruder, Abby. Bei mir bist du sicher.« Damit senkte er seine Lippen auf meine und zitterte dabei ebenso sehr wie ich.

Ich wusste irgendwo tief in meinem Innersten, dass das gerade verkehrt war. Doch Schuld … Es gab keine Schuld mehr in meiner Seele. Kein Falsch und Richtig. Mein Herz lag in Trümmern, und wenn ich je so etwas wie eine Herzwebe besessen hatte, dann war sie niedergetrampelt, ausgerissen oder zerquetscht. Ich fühlte nichts als Leere. Und Tristans Kuss füllte sie. Ich hob die Arme in seinen Nacken und als seine Zunge meine Lippen berührte, öffnete ich mich ihrem zaghaften Necken. Ich verdrängte jeden Gedanken an Bastian und seinen Verrat. Die Leere, in die er mich gestoßen hatte, war wie ein Vakuum, das danach schrie, gefüllt zu werden. Ich wollte nur fühlen, dass da noch etwas in mir war. Dass ich nicht allein war. Nicht allein zurückgelassen an einem elenden Bahnhof in Wymouth.

Ich drängte mich an Tristan, und seine Wärme spendete mir Trost. Seine Hände in meinem Rücken waren wie ein Rettungsboot, und ich erinnerte mich daran, dass es irgendwann mal eine Stimme in meinem Kopf gegeben hatte, die mich vor ihm gewarnt hätte. Ich vertiefte unseren Kuss. Die Stimme schwieg. Sie war fort. Aus mir herausgesaugt von einem der beiden Schattenspringer, die meine Seele geplündert hatten. Nun war Raum für Erinnerungen. Für Gefühle, die über Schmerz hinausgingen. Und ich empfand keinerlei Gewissensbisse.

»Tristan zu küssen fühlt sich an, als würde man sterben und im Himmel wieder aufwachen«, hörte ich Esmes Worte in meinem Kopf, und vielleicht lag es an der ungewohnten Leichtigkeit in mir, aber ich wollte wissen, ob Esme recht hatte.

Dunkle Schlieren überzogen Tristans Hände, als er meinen Nacken umfasste und meinen Kopf nach hinten bog, um mich noch leidenschaftlicher zu küssen. Ich sah, dass er gegen das Wüten in sich ankämpfte. Spürte den Schwindel wie Wellen kommen und gehen, im selben Takt, in dem seine Zunge sich an meine schmiegte, sich unser Atem vermischte und sein Herzschlag unter meinen Fingerspitzen pochte. Ein Schwindel, der mir Angst machte. Und zugleich gab es in meiner Seele kaum noch etwas, das er sich würde holen können. Der Schaden war bereits angerichtet.

Ich schluchzte und schloss die Augen. Tristan Tremblay küsste wie ein Gott. Und für einen Moment schaffte es seine Zärtlichkeit, mir wirklichen Trost zu spenden. Dennoch spürte ich, dass er mehr von mir wollte. Er klopfte an das Tor zu meiner Seele. Meine Weben, er wollte sie, doch er rührte sie nicht an.

»Einfahrt eines Zuges auf Gleis zwei«, hallte es aus dem Lautsprecher. Tristan löste sich sanft von mir und sah mir in die Augen. Das strahlende Blau seiner Iris war von dunklen Mustern überlagert, aber es leuchtete dennoch durch.

»Na komm«, flüsterte er und küsste meine Stirn. »Bringen wir dich und deine …« Er ließ den Blick um mich herumschweifen. Ich wusste, er betrachtete meine Weben. Liebevoll hob er die Hand an etwas, das ich nicht sehen konnte. »… dich und deine winzige Herzwebe mal nach Hause.« Sein Blick war so intensiv und gleichzeitig von leichtem Unglauben durchzogen, dass ich gerne gewusst hätte, was er dachte. Er zog mich auf die Beine, ohne mich loszulassen. Behutsam strich er mir das Haar aus der Stirn, aber sein Blick hing an den Weben, die mich umgaben. Dann küsste er mich wieder. Nur ganz kurz auf die Lippen. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln und er schien zufrieden. »Bastian hat dir viel genommen, Abby«, sagte er ernst und fasste nach meiner Hand. »Aber jetzt ist da Platz für Neues.« Er sah mir direkt in die Augen. »Vielleicht ist etwas Neues gar nicht mal so schlecht«, sagte er und führte mich, ohne eine Antwort zu erwarten, in Richtung Ticketschalter.

»Bastian?!« Tristans Ruf scholl durch die Villa der Tremblays, als wir endlich ankamen. »Bist du hier?«

Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper, denn die Kühle im Haus ließ mich frösteln. Der Tag war lang und ereignisreich gewesen und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Nicht mal, was ich fühlte. Ich hatte Tristan geküsst und es war schön gewesen. Ich hätte gedacht, dass ich mich schuldig fühlen würde, aber dem war nicht so. War Schuld etwas, das in meiner Seele stattfand? War mir jedes Gefühl für Schuld genommen? Für Reue? Ich war erschöpft, kraftlos, wütend und enttäuscht, doch ich fühlte nur diese elende Leere. Als wären all meine Gefühle von Watte gedämpft.

Eine Leere, die ich nicht fühlen wollte. Die ich nicht ertrug, denn sie bewies, dass Bastian mir einen riesigen Teil meiner Seele gestohlen hatte. Er hatte immer behauptet, dass ich mich besser fühlen würde, wenn er meine mich erdrückenden Seelenweben in sich aufnehmen würde, um den unmenschlichen Hunger in sich zu stillen.

Während der gesamten Zugfahrt zurück nach London hatten mich seine Worte verfolgt. Denn er hatte recht gehabt. Es berührte mich kaum, dass der Mann, der mein Lehrer hier auf Darkenhall war, meine Mutter umgebracht hatte. Ich fühlte kaum Schmerz, obwohl mein Vater, den ich ebenfalls für tot gehalten hatte, wohl noch lebte, es aber nie für nötig gehalten hatte, zu mir zurückzukommen, als ich jahrelang von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben worden war. Ich fühlte nichts! Und das war so was von verkehrt! Ich wollte schreien, so falsch fühlte sich das an! Mit jeder Zugmeile, die wir zurückgelegt hatten, war dieses fehlende Gefühl belastender geworden und inzwischen wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Es war merkwürdig, wie gedämpft ich alles wahrnahm. Und das machte mir Angst.

»Er ist nicht hier«, stellte Tristan etwas ratlos fest und zückte sein Handy, um zu prüfen, ob Bastian eine Nachricht geschickt hatte. »Und er meldet sich nicht.«

»Ist mir egal«, murmelte ich matt und rieb mir die Arme, um irgendwas zu fühlen. Aus demselben Grund klebte ich regelrecht an Tristan, denn in seiner Nähe spürte ich wenigstens Wärme. Wärme, die mir aus seinem Blick entgegenschlug. Ich wusste, er dachte an unseren Kuss. Genau wie ich.

Mit den Händen fuhr er sich durch sein blondes Haar und befühlte prüfend die blutverklebte Wunde an seiner Schläfe.

»Du solltest das verarzten«, schlug ich vor und teilte zaghaft das Haarbüschel, um mir die Kopfhaut anzusehen. »Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung.«

Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen und zum ersten Mal, seit wir zurück in London waren, blitzte das helle Blau seiner Augen auf. »Sorgst du dich um mich?«, fragte er und zwinkerte mir mit schmerzverzerrtem Gesicht zu.

»Das ist nicht witzig!« Ich knuffte ihn in die Seite und deutete in Richtung der gläsernen Treppe. »Du weißt ganz genau, dass ich Todesangst um dich hatte, als Cross dich mit diesem Hammer niedergeschlagen hat.«

Tristan ließ mir den Vortritt und wie immer, wenn ich meinen Fuß auf die durchsichtigen Glasstufen setzte, fühlte ich mich, als würde ich fallen.

»Es hätte dir also leidgetan, wenn ich gestorben wäre, jetzt, wo du weißt, wie gut wir harmonieren … kusstechnisch?«, raunte Tristan dicht hinter mir und sein Atem strich dabei über meinen Hals. Ein unerwartet wohliges Gefühl füllte die Leere in mir aus und mein Herzschlag beschleunigte sich.

»Idiot«, versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Nähe aus dem Konzept brachte.

Tristan lachte leise. »Es hat dir gefallen, gib’s zu.«

Im nächsten Moment verschluckte ihn der Schatten des Treppengeländers und ich blieb mit dem merkwürdigen Kribbeln auf meiner Haut allein zurück. Hatte es mir gefallen? Natürlich. Seufzend folgte ich Tristan in den dritten Stock.

Die kahle Betonoptik der Wände, die nur von kostbaren, abstrakten Gemälden durchbrochen wurde, lenkte den Blick auf die großzügigen Fenster und die atemberaubende Aussicht. Ich wusste, dass man von der Dachterrasse aus die Tower Bridge und das Shard am anderen Ufer der Themse sehen konnte. Doch in Tristans Räumen war ich noch nie gewesen und die Aussicht auf die Stadt, die sich einem hier bot, musste bei gutem Wetter unfassbar sein. Im Moment verdunkelten jedoch Wolken den Abendhimmel und es sah nach Regen aus.

Etwas scheu trat ich ein, denn Tristan war gerade dabei, sein Shirt auszuziehen. Achtlos warf er das mit Blut besudelte Kleidungsstück über einen Stuhl und verschwand im angrenzenden Badezimmer. Wasser wurde aufgedreht.

Ich schloss die Tür hinter mir und sah mich um. Sein Zimmer glich dem seines Bruders, nur hatte Tristan offenbar einen Hang zur Unordnung. Bücher, Zeitschriften, Kleidungsstücke und anderer Kram lagen überall herum und sein Bett sah aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. Die Schranktür stand einen Spalt offen und ein Sneaker lag vor der großzügigen Couch. Controller einer Konsole lagen vor dem Fernseher auf dem Fußboden, als hätte Tristan kürzlich dort gelegen und gezockt.

Draußen wurde es langsam dunkel und Nebel stieg über der Themse auf. Wie bei meiner allerersten Ankunft im Internat verursachte mir das graue Wasser eine Gänsehaut. Ich rieb meine Arme und wandte mich ab.

Tristan kam zurück. Sein Haar war nass und er hatte ein Handtuch um die nackten Schultern hängen. Sein Bauch war straff, die Brust definiert und einzelne Wassertropfen rannen in den tief sitzenden Bund seiner Hose. Sein Mundwinkel zuckte, als würde er merken, dass ich ihn musterte. Es war kein Wunder, dass Tristan bei den Mädels so leichtes Spiel hatte.

Er sah verboten gut aus.

»Was meinst du? Muss das genäht werden?«, fragte er und teilte mit den Fingern sein Haar.

Ich ging zu ihm, zog seinen Kopf zu mir herunter und untersuchte die Wunde. Der Duft seines Duschgels war mir vertraut – von seinem Bruder.

»Sieht gar nicht so schlimm aus.«

»Ach nein?« Tristan grinste mich schräg an. »Dann gefällt dir, was du siehst?«

»Sehr witzig!« Ich versetzte ihm einen Klaps auf die Brust. Tristan kam noch näher. »Deine Weben sind in Aufruhr, sie erwachen zu neuem Leben … kämpfen regelrecht um den Raum, den Bastian ihnen geschenkt hat, indem er –«

»Indem er mir meine Weben gestohlen hat!«, erinnerte ich ihn energisch und strich mir die lila Haare aus der Stirn. »Er hat ihnen keinen Raum geschenkt.« Der Ärger über Bastians Verhalten übermannte mich. Es war seine Schuld, dass ich mich wegen dem Kuss mit Tristan nicht schlecht fühlte. »Dein doofer Bruder hat einen Teil meiner Seelenweben gestohlen, obwohl er mir hoch und heilig versprochen hat, das nie wieder zu tun!«

»Komm schon, Abby!« Tristan raufte sich die Haare, wobei er zusammenzuckte, als er sein Ohr berührte. Ich konnte sehen, dass es ihm nicht leichtfiel, Bastian zu verteidigen. »Hatte er denn eine Wahl? Er musste doch hinter Cross her.«

Vielleicht hatte Tristan recht, doch das wollte ich definitiv nicht wahrhaben. »Man hat immer eine Wahl!«, widersprach ich deshalb vehement und machte einen Schritt zurück. »Es hätte sicher einen anderen Weg gegeben.«

»Welchen?« Tristan sah mich herausfordernd an. »Welchen anderen Weg hätte es gegeben, Abby? Sag es mir.« Seine Stimme wurde sanfter: »Ich sehe doch, dass du verletzt bist. Ich will Bastian auch gar nicht in Schutz nehmen. Ich weiß nur, wie wichtig der Ring für ihn ist, und dass er die Verpflichtung, den Ring zu schützen einfach schon sehr viel länger in sich trägt als seine …« Er rieb sich etwas verlegen den Nacken. »… als seine Gefühle für dich. Und wenn er klug wäre, würde er versuchen, dagegen anzukämpfen«, fügte er nachdenklich an und sah mir dabei in die Augen. »Gefühle schwächen einen Ringhüter.« Er zuckte mit den Schultern. »Und man sieht ja jetzt, was daraus wurde. Bastian kann nicht gegen den Hunger ankommen, der ihn überfällt, wenn er deinen Seelenweben zu nahe kommt.«

»Du schon.«

Meine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

Tristan kam zu mir und hob seine Hand an meine Wange. Nur Millimeter trennten ihn von mir. Seine Brust war so nah, dass ich die einzelnen Wassertropfen in der Kuhle unter seiner Kehle zählen konnte, die bei jedem Herzschlag auf seiner Haut zitterten.

Es wäre so leicht gewesen, mich noch einmal an diese starke Brust zu schmiegen und mir etwas zu holen, das meine innere Leere füllen würde. Tristan würde mich nur zu gerne über den Verrat seines Bruders hinwegtrösten, das wusste ich.

»Besser als er«, bestätigte er und ich fühlte sein Verlangen. »Du kannst ihm nicht vorwerfen, dass er nicht stark genug war, dir und deinen wunderschönen Weben zu widerstehen, Abby«, raunte Tristan. Sein Finger strich sacht über meine Wange, meinen Hals hinunter und mein Körper reagierte. Eine wohlige Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und rann mir die Wirbelsäule hinab. Mein Herz schlug ungewohnt leicht. »In deiner Nähe, wird er immer wieder die Kontrolle verlieren, solange er keinen Ring hat.« Sein Atem strich über meine Haut und dunkle Weben drängten sich auf Tristans Handrücken.

Er schluckte und ich sah, wie er innehielt, während die Weben unter seiner Haut immer deutlicher an die Oberfläche traten. Ich hob den Blick und sah ihm in die Augen, denn ich wusste, dort würde ich den Moment erkennen, in dem er die Kontrolle verlieren würde.

»Tristan, bitte«, mahnte ich und machte einen Schritt nach hinten, aber das Fenster in meinem Rücken verhinderte einen Rückzug. »Nicht!«

Ich legte die Hände gegen seine Brust. Die Wärme seiner Haut ließ mich fast vergessen, was geschehen konnte.

Er neigte den Kopf und seine Lippen berührten beinahe meine. »Und selbst wenn er ihn zurückhat …« Tristan keuchte und dunkle Schlieren zogen seinen Hals hinauf. »… wird er dir kaum widerstehen können. Vertrau mir, denn mir geht es genauso.« Tristan atmete aus und ließ die Hand sinken. Er ging auf Distanz, sodass wir uns nicht mehr berührten. »Ich wette, wer einmal von dir gekostet hat, Abby, wird dir für immer verfallen sein.« Er wandte sich ab und zog das Handtuch von seiner Schulter. Dann rieb er damit über seine Arme, als könnte er die Weben, die seinen Körper zeichneten, einfach abwischen.

Der knappe Blick, den er mir über die Schulter zuwarf, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Seine Augen waren dunkel überlaufen und er sah aus wie ein Raubtier, das seine Beute schon in den Fängen hatte.

»Etwas an dir ist besonders, Abby. Besonders und unwiderstehlich.« Damit warf er das Handtuch über die Sofalehne und grinste. »Geh jetzt rüber in dein Zimmer. Wir sehen uns morgen, okay?«

»Morgen?« Ich traute meinen Ohren nicht, aber Tristans Grinsen wurde nur breiter.

»Du kannst auch bei mir oder mit mir schlafen, wenn du willst, aber –«

»Sehr witzig!« Ich verfluchte das Blut, das mir in die Wangen schoss, und funkelte ihn drohend an. »Wir können doch jetzt nicht einfach nichts tun.«

Tristan zuckte mit den Schultern. »Wir tun nicht nichts. Wir glätten die Wogen. In all dem Chaos dürfen wir nicht vergessen, dass Darkenhall vor allem eines tut: Normalität verkaufen.«

Ich rümpfte die Nase. »Ich hätte ja gesagt, Darkenhall verkauft vor allem Lügen!«

Tristan lachte. »Gut. Also geh jetzt in dein Zimmer und verkauf deinen BFFs ein paar glaubwürdige Lügen«, scherzte er und zwinkerte mir zu. »Denn wenn du bleibst, Abby, dann kann ich für nichts garantieren.«

Sein Blick war reinste Verführung.

Zitternd atmete ich aus und presste die Hand auf mein wild schlagendes Herz, denn ich spürte, da lag mehr in der Luft als ein kleiner Flirt. Tristan hatte oft genug gesagt, wie sehr ihn meine Weben reizten, wie sehr er sich danach sehnte, sie in sich aufzunehmen. Ich wusste, das Verlangen in ihm glich Hunger. Einem starken, schmerzhaften Hunger. Bastian hatte mir das erklärt. Er hatte mir gesagt, wie es für ihn war – in meiner Nähe.

Ich fragte mich, ob es das war, was er meinte, oder … ob es mehr als das war.

»Wir sehen uns morgen«, raunte er und strich sich lässig durchs Haar. Das Wasser auf seiner Brust war getrocknet und ich konnte seinen Herzschlag erkennen. »Geh jetzt, sonst kann ich für nichts garantieren.« Dunkle Weben traten auf seine Arme.

Ich schluckte. »Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen«, gab ich mich cool und trat an die Zimmertür. »Du bist verwirrt. Sonst würdest du so was nicht sagen.« Damit wandte ich mich ab und lief mit etwas zu schnellen Schritten zur Treppe.

Ich verließ die Villa und ging zur Schule hinüber. Auf dem Weg durch den Park wurden meine Schritte ruhiger. Der Kies unter meinen Schuhsohlen knirschte beim Gehen und ich roch den Regen, der in der Luft lag. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in das dichte Blätterdach. Dabei fühlte ich in mich hinein. Dachte an den Moment im Riesenrad zurück, als Bastian und ich von oben auf diese Baumkronen geblickt hatten. Auch damals hatten mich meine Gefühle verwirrt. Aber es waren wenigstens meine gewesen. Meine echten Gefühle. Unmanipuliert. Und nun? Was war jetzt noch echt?

Die grauen Drachen an den Stufen zur Schule hinauf sahen mich verwundert an, als ich diesmal, ohne ihr schuppiges Steinkleid zu streicheln, einfach hineinging. Ich durchquerte die Halle und bog in den Wohnbereich ab. Der blaue Teppich auf den Stufen verschluckte meine Schritte.

Bastian hatte mich belogen, bestohlen, und verlassen. Und ich konnte nicht einmal sagen, was davon der schlimmste Verrat war. Ich wusste, das müsste mir wehtun. Das hatte es, im ersten Moment – doch nun empfand ich nichts. Keinen Schmerz. Kein Bedauern. Ich wollte weinen, um all das, was ich verloren hatte – und konnte es nicht.

Mein Blick heftete sich auf meine Zimmertür und ich hoffte, Esme und Jasmin wären nicht da. Ich brauchte Ruhe. Musste raus aus meinen blutigen Klamotten, war nicht bereit, Fragen zu beantworten oder mir Lügen für das ganze Chaos auszudenken.

Ich hatte gehofft, dass niemand hier wäre – und doch durchfuhr mich das Gefühl der Einsamkeit wie ein Stromschlag, als ich das leere Zimmer betrat. Ich hatte genug davon, mit jedem Scheiß, der in meinem verkorksten Leben passierte, immer alleingelassen zu werden. Immer allein klarzukommen.

Angewidert und mit spitzen Fingern versuchte ich so wenig wie möglich von Cross’ Blut zu berühren, während ich aus meinen Klamotten schlüpfte. Ich hatte ihm meinen Bleistift in die Seite gerammt.

Mir wurde schlecht, als ich daran dachte.

Als ich eine Weile später frisch geduscht in meinem Pyjama-Shorty auf dem Fenstersims saß und in die Nacht starrte, fühlte sich alles vollkommen unwirklich an nach dem, was geschehen war. Ich schlang die Arme um den Oberkörper und behielt die Tür im Auge. Es war bald neun und spätestens dann würden Esme und Jasmin zurückkommen.

Und obwohl ich auf sie wartete, zuckte ich zusammen, als die Tür aufging und die beiden gackernd hereinkamen.

»OMG!« Jasmin erstarrte mitten in der Bewegung, als sie mich sah. »Abby ist wieder da!«, freute sie sich und riss mich von meinem Platz am Fenster weg, um mich zu umarmen, während Esme sich gründlich im Raum umsah, als vermutete sie, ich hätte jemanden im Schrank versteckt.

»Bist du allein?«, bestätigte sie meinen Verdacht.

»Wer sollte denn hier sein?«, hakte ich nach und befreite mich aus Jasmins stürmischer Begrüßung.

»Tristan«, meinte Esme und zwinkerte mir zu. »Ihr beide habt doch was am Laufen.«

»Warst du die ganze Zeit bei ihm?«, drängelte Jasmin mit unverhohlener Neugier und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett. »Sag schon! Wie ist er? Küsst er wirklich so unfassbar gut, wie alle behaupten?«

Ich verschluckte mich fast und das Blut schoss mir in die Wangen, was natürlich nicht unbemerkt blieb.

Jasmin quiekte und klatschte in die Hände. »OMG! Es stimmt! Trist küsst also wirklich so gut!«

Unwillkürlich musste ich lachen. Mein Leben stand gerade kopf, aber Jasmins Euphorie war wirklich ansteckend. Ich presste mir mein Kopfkissen vor den Bauch und grinste. »Ich war nicht die ganze Zeit bei ihm!«, log ich, denn Bastian hatte ja schon im Vorfeld erklärt, dass ich wegen einer familiären Angelegenheit einige Tage dem Unterricht fernbleiben würde. »Es gab was mit meiner Pflegemutter zu klären.«

Esme hob einen Finger und sah mich breit grinsend an. »Ha! Du hast gesagt, nicht die ganze Zeit – also warst du trotzdem bei ihm!«

Jasmin quiekte erneut. »Du musst uns alles erzählen!«

»Muss ich gar nicht.«

Esme lachte. »Machen wir es so: Du sagst uns, ob das stimmt, was man über Tristans Küsse sagt – und wir erzählen dir, was hier in den letzten Tagen los war.«

Jasmin nickte. »Ja, hier war echt was los! Mister Cross ist spurlos verschwunden und Margaret-Maud sah gestern aus wie ein Zombie. Man tuschelt, zwischen den beiden wäre was gelaufen und er hätte sie Hals über Kopf verlassen. Anders ist das doch echt nicht zu erklären. Jedenfalls hatten wir keinen Matheunterricht und das Antiaggressionstraining bei Bastian ist ebenfalls abgesagt. Ich schätz mal wegen dem Rudern? Vielleicht nimmt er an einem Wettkampf teil oder so, und –«

»Du bist ja doof!«, ging Esme dazwischen und hieb Jasmin ein Kissen gegen den Kopf. »Wie soll die Erpressung funktionieren, wenn du gleich alles ausplapperst?«, schimpfte sie und schlug noch einmal mit dem Kissen zu.

Ich hielt mir die Hand vor den Mund und lachte. »Danke für die Infos, dann schlaf ich jetzt«, witzelte ich und ließ mich auf mein Bett fallen. Mit einem gespielten Gähnen zog ich mir die Decke über den Kopf und tat so, als würde ich schnarchen.

Trotz der Decke, unter der ich mich versteckte, spürte ich die Schläge mit den Kissen, die auf mich niederprasselten, und ich streckte ergeben die Hände wieder hervor, als mir die Luft knapp wurde. Es war verrückt, dass ich wirklich lachen konnte. Nach all dem. Aber so war es.

»Okay, okay! Ich geb mich geschlagen!«, japste ich gut gelaunt und setzte mich auf. Verkauf ihnen eine glaubhafte Lüge, hallten Tristans Worte mir im Ohr, und was war schon glaubhafter als die Wahrheit? Ich räusperte mich, als würde ich eine Rede halten. Dann grinste ich die beiden an. Es war echt zu süß, wie sie mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen darauf warteten, was ich erzählte.

»Er küsst … ganz gut«, sagte ich und mein Herz hämmerte mir dabei wie wild in der Brust. Raum für Neues, hallten mir Tristans Worte im Ohr und das Blut schoss mir erneut in die Wangen, als ich an unseren Kuss dachte. »Echt ganz … passabel.«

Das auf diese Offenbarung folgende Quietschen der beiden war vermutlich bis hinüber in die tremblaysche Villa zu hören, und ich hielt mir theatralisch die Ohren zu.

Ich fühlte mich geborgen zwischen dem euphorischen Gekicher der beiden und wusste doch, dass was immer ich fühlte, nicht echt war.

Dieses unechte Gefühl ließ auch am nächsten Morgen nicht nach, als ich trotz allem, was geschehen war, meinen Rucksack für den Englischunterricht packte und hinter Esme und Jasmin ins Klassenzimmer von Mrs Kelly schlurfte. Dabei sah ich mich die ganze Zeit möglichst unauffällig um. War Bastian womöglich irgendwo? Oder Tristan? Würde er zum Unterricht erscheinen und einfach so tun, als wäre zwischen uns nichts gewesen?

»Gut geschlafen?« Ich fuhr herum und Tristan stand hinter mir. Ein dunkler Bluterguss färbte die eine Hälfte seines Gesichts, dort, wo ihn der Schmiedehammer getroffen hatte. Sein markanter Wangenknochen war geschwollen. Er wirkte entspannt, als er mich mit leicht geneigtem Kopf musterte. »Du siehst aus, als hättest du heute Nacht von mir geträumt.«

Er kam näher und ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Würde er mir meine Schuldgefühle anmerken? Schuld, die zuvor nicht da gewesen war, jetzt aber langsam zurückkam. Ich fühlte mich wie eine Heuchlerin.

Tristan sah sich um. Dann griff er nach meiner Hand und zog mich mit sich. »Also?«, flüsterte er neckend. »Hast du von mir geträumt, Abbylein?«

»Ich glaube, du träumst. Und by the way: Du siehst furchtbar aus!« Im Vorbeigehen strich ich ihm kurz über den Bluterguss. »Sag mir lieber, was wir hier machen! Wir hocken uns doch jetzt nicht ernsthaft in den Unterricht? Wir müssen doch irgendwas tun.« Ich bemerkte seinen verführerisch neckenden Blick und fragte mich, ob das für ihn nur ein Spiel war. Ein Scherz. Vielleicht um mich aufzuheitern.

Er seufzte theatralisch. »Aktuell können wir nichts ausrichten. Wir können nur hoffen, dass Bastian Cross erwischt hat.«

»Ist Bastian noch nicht zurück?«

»Uff!« Tristan tat so, als hätte ich ihn in den Magen geboxt. »Ich flirte mit dir und du denkst nur an meinen Bruder«, stöhnte er. »Ein Tiefschlag.«

»Dein Ego wird es verkraften!«, gab ich zurück und fischte mein Englischbuch aus dem Rucksack. »Also? Ist er hier?«

»Nein. Er ist nicht zurückgekommen. Und ich hätte nicht gedacht, dass du ihn so vermisst.«

»Ich vermisse ihn kein bisschen! Ich muss nur dringend herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist, und da er Cross gefolgt ist, weiß er vielleicht mehr als ich. Das ist alles!« Ich fasste mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und strich mir das Shirt glatt. »Ich bin nicht gerade scharf drauf, ihm zu begegnen! Ich habe Angst, dass er mir noch mal zu nahe kommt.«

Ich spürte Tristans Blick, der das zu lesen schien, was mich umgab. Suchte er mein Webengeflecht nach einer Lüge ab? Selbst wenn, ich log nicht. Ich hatte Angst. Jedoch nicht vor Bastian. Sondern davor, er könne das mit dem Kuss zwischen mir und Tristan herausfinden. Ich hatte keine Zweifel, dass Tristan damit nicht hinter dem Berg halten würde. Und mir graute vor Bastians Reaktion.

»Du musst keine Angst haben, Abby«, versprach Tristan und nahm meine Hand in seine. »Ich bin hier. Und ich habe nicht vor, dich mit ihm allein zu lassen. Wenn er dich will – muss er erst an mir vorbei.«

Ich schluckte. Ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Nacken ließ mich meine Hand zurückziehen. Waren seine Worte ein Versprechen? Oder … eine Drohung?

Kein Zurück

Die Nacht war wie Balsam für seine aufgewühlten Nerven. Die Verzweiflung, dass er Cross nicht mehr hatte finden können, brannte wie Feuer in seinen Adern und er brauchte dringend Ruhe. Ruhe, die er nur hier am Wasser fand. Zwei Tage lang hatte er ihn erfolglos gesucht. Und schließlich aufgegeben. Bastian wuchtete sich das Gig auf die Schulter und ging zum Wasser hinunter. Sein Atem war gleichmäßig, als er es am Steg ins Wasser ließ und einstieg. Seine Hände umfassten die Ruder und sein Herzschlag beruhigte sich. Er atmete tief die kühle Nachtluft ein und der Wind fuhr ihm durch sein dunkles Haar. Obwohl der Morgen nahte, war es noch so dunkel, dass er nicht fürchten musste, gesehen zu werden, und so konnte er dem Wüten in sich die Kontrolle über sein Äußeres überlassen. Mit wenigen Ruderzügen erreichte er die Flussmitte. Dunkle Schlieren überzogen seinen Körper, und auch wenn es den Weben in ihm nicht weiter gelungen war, aus ihm herauszubrechen, so hatten sie doch einigen Schaden angerichtet.

Bastians Blick wanderte zu seinem Arm. Getrocknetes Blut klebte ihm an den Fingern, ebenso am Handgelenk, und die Flecken auf seinem Shirt unterhalb seiner Rippen waren selbst im Dunkeln deutlich zu erkennen. Ohne den Ring, der ihn schützte, waren Abigails Weben zu machtvoll. Wenn er nicht auf dieselbe grausame Weise sterben wollte wie sein Vater, dann musste er sich von Abby fernhalten. Er zog die Ruder kraftvoll durchs Wasser und blickte über die vom Nebel gedämpften Lichter der Stadt in der grauen Oberfläche der Themse. Es war noch früh, aber London schlief nie. Selbst durch den Nebel, der sich wie eine Decke über die Straßen nahe der Themse gelegt hatte, waren die Lichter der Autos und die matten Halbkreise um die Straßenlaternen zu sehen. Weiter vorne im Wasser, unterhalb der Tower Bridge, zog ein heller Schiffsrumpf eine Schneise in den Nebel und wie von selbst folgte Bastians Blick dem Flusslauf. Er legte mehr Kraft in seine Ruderzüge. Das Gig nahm Fahrt auf und die gelegentlichen Wassertropfen, die ihn trafen, waren wie Medizin. Er nahm einen Schatten und kam ein ganzes Stück weiter vorne wieder heraus. Er war müde und es zog ihn mit aller Macht nach Hause, aber dafür war er noch nicht bereit. Nicht ohne den Ring. Er würde nach Hause gehen. Später. Wenn das Rudern seine Muskeln ermüdet und seinen Geist befreit hatte. Wenn das Wüten in ihm, besänftigt von den Schattensprüngen, ihm für einen kurzen Moment Frieden schenken würde.

Bastian seufzte. Es war verrückt, dass ein Ringhüter wie er den Mächten, die er so viele Jahre beherrscht hatte, ohne den Ring, ohne dieses kleine Stück Metall namens Vitalinaurum, so vollkommen hilflos ausgeliefert war. Er wusste, dass seine Gefühle für Abby ihm dies erschwerten, denn Emotionen schwächten einen Ringhüter. Diese Lektion hatte er schon früh gelernt und doch hatte er den Fehler, sich zu verlieben, ein zweites Mal gemacht.

»Verdammt, Abby!«, knurrte er und lenkte das Gig in den nächsten Mondschatten. »Warum müssen deine Weben auch so stark sein?«

Er hatte vom ersten Moment an gespürt, dass Abby kein normales Mädchen war. Anders als bei allen anderen Menschen, deren Weben ein Farbspektrum von Rot über Blau bis Schwarz aufwiesen, bestanden Abbys Weben nur aus onyxfarbenen Seelenweben. Bis er sie geküsst hatte, hatte sie kaum eine rote Herzwebe besessen, geschweige denn die normalerweise vorhandenen bläulichen Erinnerungsweben. Ihr ganzes Sein bestand nur aus dem dunklen, alles überdeckenden Schmerz der Seelenweben und es hatte ihm eine Heidenangst gemacht zu sehen, dass sie unter dieser Seelenlast nicht zusammengebrochen war.

Sie war stark. Er bewunderte ihre Stärke, und seit er in seiner Verzweiflung und aus Rache die Seele seiner Stiefmutter Margaret-Maud geplündert hatte, wusste er auch, woher Abbys ungewöhnliche Stärke kam. Ihr Vater Jack war Schmied. Und nicht irgendein Schmied. Er war ein Nachfahre des Mannes, der vor vielen Generationen aus dem Amulett des Lebens drei Ringe geschmiedet hatte. Auch den Ring, den Bastian heute hütete.

Er stieß ein wütendes Knurren aus. Gehütet hatte!, verbesserte er sich.

Abbys Vorfahr hatte das geheimnisvolle Metall Vitalinaurum, das in entsprechender Menge die Macht besaß, das Tor zur Totenwelt zu öffnen, in drei Stücke zerteilt und daraus je einen Ring geschmiedet. Den Seelenring, den er bisher getragen hatte, den Herzring und den Erinnerungsring. Und mit der Spaltung des Metalls war der Hunger erwacht. Als würde sich die Macht des Metalls von menschlichen Weben ernähren, zwang es die Ringhüter, Weben aufzunehmen und in den Schatten zu neutralisieren.

Bastian wusste um die Verantwortung, die er damit trug. Er hatte immer nur Seelenweben genommen, um zugleich Gutes zu tun. Nur die Weben von Kindern, deren Seelen mit Schmerz belastet waren oder in deren Seelen er erkennen konnte, dass sie später Böses anrichten würden. Er schützte sie, schon im Vorfeld.

Er hatte dem Ring gegeben, was er verlangte, und hatte dabei Gutes getan. Bis er Abigail Woods begegnet war.

Bastian hob die Ruder an und ließ das Gig ausgleiten. Er atmete schwer vor Anstrengung und der Schweiß lief ihm den Rücken hinab. Seine Wunden schmerzten, aber der Druck in seinem Inneren ließ etwas nach.

Er hätte Abby nie küssen dürfen. Doch als er es getan hatte, da hatte er nicht gewusst, dass sie eine Nachfahrin des Schmieds war. Er hatte nicht gewusst, dass der Kontakt zu dem Vitalinaurum die Gene des Schmieds verändert hatte, so, wie der Ring auch in Bastians Familie seine Kraft weitergegeben hatte. Darum war Tristan ebenfalls gezwungen, Seelenweben aufzunehmen und war in der Lage, durch Schatten zu springen. Doch im Gegensatz zum Ringhüter fehlte ihm die Macht, durch das Seelentor einer Person zu treten, um tiefer in die Seele der Menschen einzudringen. So, wie er es bei Abby getan hatte.

»Ich werde dir nie vergeben!«, hörte er noch immer ihre Stimme in seinem Kopf. Ihre Stimme. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben, als er ihre Weben genommen hatte, denn er hatte ihre Lippen dabei mit einem Kuss versiegelt. Trotzdem hatte er sie gehört, denn sie war in seinem Kopf gewesen. Ihre Wut auf ihn, ihre Verachtung für das, was er ihr antat, waren direkt in seinem Innersten explodiert. Wie eine Bombe. Und so fühlte er sich nun auch. Zerrissen, denn er bereute. Und bereute doch zugleich nicht. Er hatte keine Wahl gehabt.

Sein Blick glitt zurück in Richtung Darkenhall. Sie war dort. Wartete sie auf ihn? Was würde sie sagen, wenn sie sich trafen? Würde sie auf ihn losgehen? Ihn anschreien? Würde sie ihm irgendwann wieder so weit vertrauen, um ihn noch einmal zu küssen?

Bastian seufzte. Jetzt an Abbys Küsse zu denken, war wirklich unangebracht.

Er war ein Ringhüter und musste tun, was nötig war. Besonders seit er in der Seele seiner verlogenen Stiefmutter gesehen hatte, was Konstantin Cross und seine Gruppe von Spinnern mit dem Seelenring vorhatten. Er durfte sich nicht von Gefühlen und Sehnsüchten leiten lassen, sondern musste Cross aufhalten.

Den Weg zurück zum Bootshaus legte er ohne die Schatten zurück und seine Muskeln brannten, als er schließlich aus dem Gig stieg, es mit Schwung aus dem Wasser hob und es zurück ins Bootshaus trug. Die Kühle der Nacht kroch ihm unter das nass geschwitzte Shirt und mit einem sehnsüchtigen Blick in Richtung des Wohntrakts von Darkenhall – in Abbys Richtung – nahm er einen Schatten in sein Zimmer. Er schlüpfte aus dem blutigen und verschwitzen Oberteil und strich über die Narbe unter seinem Herzen. Sie war wieder aufgebrochen und er fühlte eine frische Kruste Blut, als er darüberstrich.

Es gab kein Zurück. Was geschehen war, war geschehen. Aus gutem Grund. Er drehte das Wasser der Dusche auf und sah in den Spiegel. Die Weben auf seiner Haut verblassten und wer ihn jetzt sehen würde, würde nicht ahnen, was er war. Oder dass er auf einer Mission war, die Welt vor Konstantin Cross zu retten.

Und er wusste auch, wo er am besten beginnen würde.

Der Lichtbringer

Die marmornen Engelsstatuen am Eingang des Mausoleums kamen Cross in der Dunkelheit wie Dämonen vor. Ein Fieber wütete in seinem Innersten und der Ring an seinem Finger brannte heiß auf der Haut. Der Friedhof lag in absoluter Finsternis und der Nebel waberte zwischen den Gräberreihen. Es war kalt und zugig und trotzdem stand ihm der Schweiß auf der Stirn.

Konstantins Keuchen klang unnatürlich laut, als er sich schmerzgebeugt dem Mausoleum näherte. Die letzten Tage hatten ihn an den Rand seiner Kräfte getrieben. Er war erschöpft und müde. Jeder Knochen tat weh. Seine schleppenden Schritte knirschten auf dem Kies und er blieb stehen, um sich umzusehen. Die Baumkronen wogten im Wind und die Blätter säuselten ein unheimliches Lied.

»Ich hab ihn abgeschüttelt!«, jubilierte er stöhnend. Dennoch beeilte er sich, im eleganten Gewölbe des Mausoleums Schutz zu suchen. Er sah auf die Uhr und nahm dann trotz seiner Schmerzen den Hornkamm aus der Hemdtasche, um den schütteren Haarkranz zu bändigen, der ihm bei seiner Flucht vor Bastian Tremblay in Unordnung geraten war. Zuletzt hatte ihn sein Haar kaum noch interessiert, aber in Anbetracht dessen, wen er gleich treffen würde, wollte er sich keine Schwäche anmerken lassen. Er spuckte sich in die Handfläche und glättete dann die letzten Haarspitzen, ehe er den Kamm wieder einsteckte. Mit zusammengebissenen Zähnen betastete er die aufgeplatzte Stelle unter seinem Auge. Hier half Spucke nicht. Das würde eine Narbe geben. Er verzog das Gesicht und stöhnte, als er mit seiner Bestandsaufnahme fortfuhr. Nicht nur im Gesicht war seine Haut aufgerissen. Auch unter seiner Achsel, am Bauchnabel und an seinen Oberschenkeln hatten Abigail Woods’ Weben versucht, aus ihm herauszubrechen. Außerdem hatte ihm diese Furie ihren Bleistift in die Seite gerammt. Eine kleine Wunde neben all den anderen. Der Stoff seiner Hose klebte im inzwischen geronnenen Blut an seinen Beinen und es tat weh, wenn er den Arm hob. Überhaupt schien sein Körper nur aus Schmerz zu bestehen. Fast so, als würden die Weben in ihm versuchen, ihm jeden einzelnen Knochen im Leib zu brechen. Er strich sich über die Kehle, fuhr mit dem Ring an der Hand weiter über seine Brust, und wo immer der Ring seine Haut berührte, verschaffte er ihm zumindest vorübergehend Linderung.

Erschöpft lehnte Cross sich gegen die Marmorsäule vor dem Kindergrab. Sein Schatten verschmolz mit dem der Engelstatue und er brauchte nur die Hand auszustrecken, um etwas von den Weben, die in ihm tobten, durch einen Schattensprung abzubauen, doch das wollte er nicht. Denn obwohl die Weben ihn quälten – ihn sogar vernichten würden, würde er den Ring nicht tragen –, fühlte er sich so mächtig wie nie.

Er hatte den Seelenring in seinen Besitz gebracht. Er trug mehr Weben in sich als je zuvor und die Schatten offenbarten sich ihm wie ein Buch, das er zwar schon Hunderte Male im Regal hatte stehen sehen, dessen Schrift er aber erst jetzt wirklich lesen konnte. Dieser Tag, seine Flucht durch die Schatten, war das Aufregendste gewesen, was er je erlebt hatte. Es war, als wäre er neu geboren.

Cross lachte euphorisch und hielt sich dabei die Rippen. Er litt Schmerzen, aber er fühlte sich dennoch wie ein Gott.

Er war der Lichtbringer!

Keuchend reckte er die Arme gen Himmel und feierte seine neu gewonnene Macht. Er würde zurückbekommen, was er schon so lange begehrte. Nichts und niemand würde ihn aufhalten!

Das Knirschen von Reifen auf Schotter riss ihn aus seinen Gedanken und er ließ die Arme sinken. Mit gestrafften Schultern wartete er, immer in Reichweite der rettenden Schatten.

Ein Wagen kam näher. Dann noch einer. Scheinwerfer durchbrachen das neblige Zwielicht und die umstehenden Grabsteine gewannen an Kontur. Die schwarze Limousine hielt direkt vor dem Mausoleum. Aus dem anderen Wagen stiegen zwei bullige Sicherheitsleute aus. Ein Funkgerät knackte und obwohl die Scheinwerfer blendeten, erkannte Cross, dass die Kerle bewaffnet waren. Sie inspizierten die nähere Umgebung. Erst dann stieg der Mann aus der Limousine, den Konstantin hier treffen wollte.

Instinktiv ballte er die Hände zu Fäusten. Er atmete tief durch, um entspannter zu wirken, als er war. Er trat Zac Moran entgegen, doch noch ehe er ein Wort sagen konnte, blaffte der ihn an: »Zum Teufel, Cross! Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«

Cross fühlte sich überrumpelt. Seine gestrafften Schultern sackten leicht nach vorne und er musste sich räuspern, um seiner Stimme die nötige Entschlossenheit zu verleihen. »Sagen Sie nicht, Sie hätten noch nie für eine wichtige Sache die Nacht zum Tag gemacht.«

Moran schnaubte. »Wie wichtig ist denn diese Sache?«

Konstantin schluckte. Die verächtliche Geringschätzung in Morans Stimme ging ihm gegen den Strich. Mit kaum unterdrückter Wut schlug er auf den marmornen Sarkophag.

»Kommt darauf an, wie wichtig Ihnen Ihr Kind ist«, gab er zornig zurück und tätschelte den Marmordeckel wie den Hintern einer Kuh. »Wollen Sie sie zurück – oder nicht?«

Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung zu sehen, dass Moran blass wurde.