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Federleicht und atemberaubend spannend: das fulminante Finale der Romantasy-Dilogie!
Thorn ist nicht länger ein normales Mädchen, sie ist ein mächtiges Halbwesen – zugleich Mensch und Silberschwinge. Ihre flammendroten Schwingen zeugen vom Verrat, den ihr Vater in den Augen des Clans einst begangen hatte. Deshalb wird Thorn nicht nur von deren Oberhaupt gejagt, sondern auch von dessen Sohn Lucien, dem sie ihr Herz geschenkt hat. Seines hat sie zugleich zerbrochen. Thorn flüchtet ins sagenumwobene Glastonbury, um ihre Kräfte zu bündeln. Und als ihre Familie bedroht wird, muss sie das Erbe des Lichts in ihr zum Leuchten bringen, um eine jahrtausendealte Rebellion ein für allemal zu gewinnen!
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»Wir sind mächtig, Thorn. Wenn die Welt gegen uns ist, wird es Zeit, dass wir sie verändern.«
Der Blick in Luciens silbergrauen Augen ließ mich erahnen, wie ernst es ihm war.
»Das klingt ja fast nach Rebellion«, scherzte ich und lauschte seinem Herzschlag.
»Ist es eine Rebellion, wenn man für die richtige Sache kämpft?«
»Ich weiß nicht«, gestand ich und sah ihn an. »Am Ende bleibt ein Kampf immer ein Kampf. Und da gibt es immer auch Verlierer.«
Im Herzen der Rebellion ist niemand sicher
© privat
Emily Bold, Jahrgang 1980, schreibt Romane für Jugendliche und Erwachsene. Ob historisch, zeitgenössisch oder fantastisch: In den Büchern der fränkischen Autorin ist Liebe das bestimmende Thema. Nach diversen englischen Übersetzungen sind Emilys Romane mittlerweile auch ins Türkische, Ungarische und Tschechische übersetzt worden, etliche ihrer Bücher gibt es außerdem als Hörbuch. Wenn sie mal nicht am Schreibtisch an neuen Buchideen feilt, reist Emily am liebsten mit ihrer Familie in der Welt umher, um neue Sehnsuchtsorte zu entdecken.
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Viel Spaß beim Lesen!
London
Ich stürzte in die Tiefe. Die Nacht umgab mich wie ein Leichentuch, das mir den Atem nahm. Der Wind fuhr mir unter die Schwingen, riss an mir, als triebe er ein grausames Spiel. Starr vor Angst öffnete ich die Augen, sah dem Tod ins Gesicht, denn der Boden kam unbarmherzig näher. Die Lichter Londons in der Ferne schienen mich locken zu wollen, versprachen eine Sicherheit, die ich nicht erreichen konnte. Das Haar peitschte mir ins Gesicht, und ein verzweifeltes Keuchen entfuhr meiner Kehle, als ich versuchte, die Kontrolle über meine rot glühenden Schwingen zu erlangen.
Versuch es!, tobte Luciens Stimme in meinem Kopf.
»Lucien!«, flüsterte ich und streckte die Hand in den Himmel, als könne er mich irgendwie doch noch retten. Doch das konnte er nicht. Ich hatte ihn von mir gestoßen. Ihn hintergangen und ihm tiefe Wunden zugefügt. Lucien York würde nicht noch einmal seine Schwingen schützend über mich breiten. Im Gegenteil. Er würde kommen und mich für alles, was ich getan hatte, zur Rechenschaft ziehen. Trotzdem kam es mir vor, als könne ich sein angstvolles Flehen hören. Ich weiß, dass du es kannst!
Es war, als würden seine Worte bis in mein Innerstes vordringen.
Getrieben von neu erweckter Kraft riss ich die Schwingen noch weiter auseinander, um mehr Wind zu fangen. So nah über dem Boden, dass es gar nicht so einfach war. Und meine Schwingen waren neu. Wund. Und verletzlich. Der ungewohnte Auftrieb zerrte an ihnen, bis ich glaubte zu zerbersten, zu zerschellen, obwohl ich noch gar nicht auf dem felsigen Untergrund aufschlug. Noch nicht …
Ich schrie meine Angst und meinen Schmerz hinaus, wie in der Nacht, als das Erbe des Lichts aus mir herausgebrochen war. Und wie damals spürte ich Luciens Hände auf meinem Rücken. Ich wusste, das war nicht real, dennoch linderte die Erinnerung mein Leid, und ich schaffte es in letzter Sekunde, den freien Fall zu bremsen. Ich schaffte es, den Aufwind zu lenken, zu nutzen und mit einem qualvollen Flügelschlag an Höhe zu gewinnen.
Erleichtert blies ich den Atem aus, wiederholte die ungewohnte und anstrengende Bewegung, und tatsächlich stieg ich langsam höher. Der Boden unter mir, der Park des Anwesens von Darlighten Hall wurde kleiner und am Ende von der Finsternis verschluckt. Nur der goldene Schein meiner Schwingen erhellte den Nachthimmel wie eine Sternschnuppe. Und so fühlte ich mich auch. Als würde ich verglühen. Meine Muskeln brannten, mein Blut kochte, und mein Herz lag in Schutt und Asche.
Auch ohne mich umzudrehen, war ich mir der Blicke der Silberschwingen hinter mir bewusst. Ich spürte ihren Hass, der mir folgte, selbst wenn ich nun mit jedem Flügelschlag an Abstand gewann. Auch Luciens Blick brannte sich in meinen Rücken. Er konnte mir nicht folgen, dafür hatte ich gesorgt. Doch warum schickte er mir nicht seine Männer nach?
Gab er mich etwa frei? Ließ er mich wirklich ziehen?
Ich war nicht so dumm anzunehmen, dass er mich verstand. Oder dass er mir vergeben würde.
Nein, ich kannte Lucien. Kannte ihn inzwischen so gut, dass ich noch immer seine Küsse auf meinen Lippen schmeckte. Ich kannte ihn – und ich wusste, ein Mann wie er gab niemals auf.
Meine Schwingen wurden schwer, der Schmerz war kaum mehr zu ertragen. Trotzdem blieb ich in der Luft stehen und wandte mich ein letztes Mal um. Die schwarzen Schemen von Darlighten Hall wirkten bedrohlich, und doch sehnte sich ein Teil von mir dorthin zurück. Zurück in die Arme des Mannes, den ich liebte. Und den ich dennoch hintergangen hatte. In die Arme des Mannes, der mich nun jagen und vernichten würde.
Meine Flucht war noch lange nicht das Ende. Ich war in größerer Gefahr als je zuvor. Und auch Riley Scott, für dessen Sicherheit ich alles riskiert hatte, würde uns mit seinen gebrannten Schwingen nicht schützen können.
Wir brauchten Hilfe. Und zwar dringend!
Ich schlich durch den Garten von Anhs Elternhaus. Die Schwingen an meinem Rücken schmerzten bei jedem Atemzug, und sie waren so schwer, dass sie mich beinahe niederdrückten. Die Dunkelheit um mich herum kam mir gespenstisch vor, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die wenigen Straßen nach Hause zu gehen und mich von meinen Eltern trösten zu lassen. Mein kleiner Bruder Jake würde einen Witz erzählen oder mir sein neuestes Detektivspielzeug vorführen. Alles in mir schrie nach dieser Normalität. Ich wollte sie wiederhaben!
Ich wollte nicht nachts durch fremde Gärten schleichen! Und doch hatte ich keine Wahl. Wie von selbst fand ich meinen Weg, denn ich kannte den Garten gut. Anh und ich hatten als Kinder hier, in dieser von ihren Eltern künstlich angelegten Zen-Oase, viel Zeit verbracht. Ein japanischer Garten – mitten in London. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Doch als ich noch klein gewesen war, hatte ich mich wie in einer fremden Welt gefühlt. Statt Rasen gab es ordentlich gerechte Kiesbeete, statt Rosen wuchs süß duftender Jasmin, und die blassrosa Blüten der japanischen Kirschbäume waren im Frühjahr wie Schnee auf uns herabgeregnet. Zwischen Bambusgräsern rekelten sich dunkelrote Drachen aus Holz, und über kreisrunde Trittsteine erreichte man das Baumhaus, das hoch oben in einem rotlaubigen Ahorn thronte und wie ein winziger japanischer Tempel gestaltet war.
Bedächtig setzte ich meine Füße auf die Trittsteine, um die sanften Wellen, die in den Kies gerecht waren, nicht zu zerstören. Schließlich wollte ich niemanden darauf aufmerksam machen, dass das Baumhaus nun nicht mehr so verlassen war wie in den letzten Jahren.
»Riley!«, rief ich mit gedeckter Stimme in die Dunkelheit. Ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt hier war. Seit er früher in dieser Nacht dank meiner Hilfe aus Darlighten Hall geflohen war, hatte ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich wusste nicht, ob er den Silberschwingen überhaupt entkommen war. Waren sie ihm gefolgt? Hatten sie ihn erwischt und zurück in seine Zelle gebracht? Hatten sie ihn erneut gefoltert und misshandelt? Wenn ja, dann waren all die Mühen dieser Nacht umsonst gewesen. Deshalb musste Riley hier sein! Er musste einfach!
Schon allein deshalb, weil ich diese Ungewissheit keine Sekunde länger aushielt.
»Riley!«, wiederholte ich meinen Ruf, diesmal etwas lauter. Ich sah nach oben zum Baumhaus – doch nichts regte sich. Als ich nach der Strickleiter griff, riss diese, und die Hölzer der Stufen kamen mir krachend entgegengeflogen.
»Na toll!«, murrte ich, feuerte die verwitterte Leiter neben den Stamm und sah hinauf in die Baumkrone. »Und jetzt?«
»Du hast Schwingen!«, erinnerte mich eine raue Stimme hinter mir. Erschrocken und erleichtert zugleich fuhr ich herum.
»Spinnst du?«, flüsterte ich und fasste mir ans Herz. »Was schleichst du dich so an mich heran? Ich wäre vor Schreck fast gestorben!« Ich schlug nach ihm, dann schlang ich zitternd meine Arme um Rileys Hals.
Mit einem Mal ließ die gesamte Anspannung der letzten Stunden nach. Ein Wechselbad der Gefühle ergoss sich über mich, und ich wusste nicht, ob ich vor Schmerz weinen, vor Erleichterung lachen oder vor Angst schreien wollte. Ich wusste nicht, ob ich froh war, Lucien entkommen zu sein, oder ob ich mich damit nicht nur selbst ins Unglück gestürzt hatte. All das prallte auf mich ein, sodass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich klammerte mich an Riley, als mich ein heftiges Schluchzen zu schütteln begann.
»Schht, Thorn«, flüsterte er mit seiner unverkennbar rauen Stimme in mein Ohr. »Es ist gut. Wir sind hier sicher.« Wie schon viele Male zuvor strich er mir beruhigend übers Haar. »Gleich kannst du schwach sein. Gleich ist es okay, aber zuerst müssen wir da hoch.« Er schob mich von sich, ohne mich wirklich loszulassen, und deutete auf das Baumhaus.
Ich lachte hysterisch. »Die Leiter ist kaputt! Wie sollen wir …«
Riley schüttelte den Kopf und zupfte an meinen Schwingen. »Nutz die hier, Thorn. Du brauchst keine Leiter.«
»Ich kann sie nicht mehr bewegen«, gestand ich gequält. »Sie tun so weh. Ich …«
Er lächelte verständnisvoll. »Kein Wunder. Ich hab echt gedacht, du gehst drauf, als ich gesehen habe, wie du dich von der Balkonbrüstung gestürzt hast. Das war total unvernünftig!« Er zwinkerte mir zu. »Sah aber verdammt geil aus!«
Ich hustete. »Was? Mein Beinahe-Tod sah also geil aus, ja?«
Riley grinste breit, was seinem markanten Gesicht die Härte nahm. »Jep. Das Glühen deiner Schwingen am Nachthimmel – das hatte schon was. Obwohl ich ja selbst um mein Leben gerannt bin, konnte ich nicht anders, als stehen zu bleiben und dir hinterherzustarren. Du … bist nicht gerade unauffällig, das steht fest.«
»Leuchtend rote Schwingen sind aber auch nicht besonders praktisch, wenn man sich verstecken will«, stimmte ich ihm zu.
»Deshalb musst du jetzt da hoch – dorthin, wo niemand deine Schwingen entdecken kann.« Er versetzte mir einen sanften Stoß und nickte in Richtung Baum. »Na los. Hoch mit dir!«
Ich spreizte die Schwingen, wohl wissend, dass ich damit jede Silberschwinge im Umkreis auf mich aufmerksam machen würde.
»Aber was ist mit dir?«, zögerte ich mit Blick auf die verbrannten Überreste seiner Schwingen. Er würde damit sicher niemals mehr fliegen.
Riley folgte meinem Blick und strich sich verächtlich über die vernarbten Schwingenreste. »Keine Sorge. Hoch komm ich«, erklärte er mir. »Meine Sprungkraft reicht aus, da hinaufzukommen. Runter tut’s halt etwas weh – ohne Schwingen, die den Aufprall abfangen.« Als wäre dies etwas, womit er sich zu gegebener Zeit auseinandersetzen würde, ging er leicht in die Knie und katapultierte sich dann mit einem kräftigen Satz bis hoch zum Baumhaus. Wie ein Kavalier hielt er mir die mit weißer Seide bespannte Tür auf. »Komm schon, hier ist es richtig gemütlich.«
Ich rollte mit den Augen. Richtig gemütlich … das glaubte ich kaum. Wenn ich mich recht erinnerte, war es selbst für uns Kinder dort oben ziemlich eng gewesen. Und Kinder waren Riley und ich ja nun wirklich nicht mehr. Noch dazu nahmen die Schwingen wirklich unpraktisch viel Platz ein. Trotzdem zwang mich der Silberstreifen des Sonnenaufgangs am Horizont, nicht länger zu warten. Mit einem schmerzhaften Flügelschlag stieg ich in die Luft und ließ mich wenig elegant neben Riley an die Tür plumpsen. Dann faltete ich die Schwingen eng auf meinen Rücken und duckte mich durch die viel zu kleine Öffnung.
»Home sweet Home«, murrte ich mit Blick auf die Spinnweben, die von der Decke hingen.
Riley bemerkte meine Skepsis und wischte sie achtlos beiseite. Dann setzte er sich an die Wand und zog einen Elektrostab unter seinem Mantel hervor.
»Wo hast du den her?«, fragte ich und deutete auf die Waffe.
»Lachte mich von der Rückbank eines Wagens in Darlighten Hall an. Ich dachte, der könnte noch nützlich werden«, erklärte er schlicht und streckte die Beine lässig von sich, wodurch er fast die gegenüberliegende Wand berührte. Gemächlich, als säßen wir in der Pause auf dem Schulhof und als stünden wir nicht auf der Abschussliste der Silberschwingen, die vermutlich alle längst hinter uns her waren, kramte er eine Packung Kaugummis aus der Hosentasche und bot mir einen an. »Setz dich, und dann erzählst du mir, was dich auf die verrückte Idee gebracht hat, mich aus Darlighten Hall zu befreien. Ist dir überhaupt klar, was du getan hast?«
Da ich den Kaugummi ignorierte, nahm er sich selbst einen und steckte die Packung wieder ein. Dann musterte er mich kauend. Ich fühlte mich unwohl unter seinem forschenden Blick. War mir klar, was ich getan hatte? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich das Gefühl gehabt hatte, keine andere Wahl zu haben. So wie auch jetzt, wo ich keine andere Möglichkeit sah, als mich ebenfalls auf den staubigen Boden zu setzen.
Meine Schwingen schmerzten, als ich mich gegenüber von Riley an die Wand lehnte.
»Ich glaube, ich habe sie kaputt gemacht!«, flüsterte ich und strich mir zaghaft über die rissigen Federschuppen.
Riley beugte sich etwas in meine Richtung, ich wusste, dass die Dunkelheit seine Sicht nicht einschränkte. »Du hast sie wirklich ganz schön strapaziert. Sie sehen noch ganz weich aus. Wundert mich, dass du damit überhaupt schon fliegen konntest.« Er sah mich ernst an. »Du hättest sterben können, Thorn.«
»Ich hatte doch keine Wahl!«, rechtfertigte ich mich, denn er klang vorwurfsvoll. »Die Oberen sind da, und Kane steckt richtig in der Klemme, weil nicht nur ihr Rebellen ihm Ärger macht, sondern auch noch einige Halbwesen in London aufgetaucht sind. Ich hatte Panik, dass er dich dafür benutzt, um vor den Oberen seine Macht und Kontrolle zu demonstrieren.«
Riley ploppte eine Kaugummiblase. »Warte, warte … was für Halbwesen? Wovon sprichst du?« Er schien trotz der späten Stunde hellwach zu sein. Ich konnte sehen, wie seine Gedanken rasten.
Ich winkte ab. »Keine Ahnung, Riley. Ich weiß nicht, wer die Halbwesen sind, aber sie behaupten, meine Brüder zu sein. Und dass sie Kinder von Aric Chrome sind. Das macht Kane wohl Angst. Zumindest sagt Nyx das.«
Rileys markante Züge verhärteten sich. »Nyx sollte man nicht vertrauen. Sie … spielt zu gerne ein falsches Spiel, um zu bekommen, was sie will. So war sie schon als Kind.«
»Eigentlich klang sie recht überzeugend. Sie hat sogar zugegeben, dass sie Lucien zurückhaben will.« Ich schluckte. Den Gedanken, dass sie dieses Ziel nach meiner Flucht nun erreicht haben dürfte, verdrängte ich. Doch der Schmerz in meiner Brust blieb.
Wieder ploppte Riley eine Kaugummiblase, ehe er antwortete. »Ich habe Lucien gesehen. Mit dir.« Er zögerte und rutschte etwas auf dem Boden des Baumhauses herum, als suche er nach einer bequemeren Position. »Ich kenne ihn, seit wir Kinder waren, und kann seine Blicke deuten, Thorn. Lucien will dich.« Er sah mich an, als erwartete er eine Reaktion von mir.
»Wie meinst du das? Willst du sagen … er ist in mich verliebt?«
Riley grinste. »Nein. Das meine ich nicht. Ich denke, Lucien … beansprucht dich für sich. Du … gehörst ihm. Das meine ich. Er will dich – weil du ihm nach den Gesetzen der Silberschwingen gehörst.«
Riley davon reden zu hören, dass ich Lucien wichtig war, weckte die Erinnerung an seine Küsse. Und daran, wie gut es sich angefühlt hatte, ihm nahe zu sein. Doch das war nun Geschichte …
Ich lachte bitter. »Er will mich vielleicht zurück, da magst du recht haben, Riley, aber sicher nur, um sich an mir zu rächen. Immerhin habe ich ihm bei unserer Flucht mit so einem Elektrostab ordentlich zugesetzt.« Ich deutete auf die Waffe neben ihm.
»Gut möglich.« Riley strich sich das lange Haar aus der Stirn und sah mich nachdenklich an. Er fuhr sich unter die verkrüppelten Schwingen und tastete unter seinem Shirt die Haut ab. »Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, wenn so ein Stromschlag durch deinen Körper jagt.« Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, seine Stimme klang rau vor Schmerz. »Du bist gelähmt, hilflos, und es fühlt sich an, als schlägt dir eine Giftschlange ihre Zähne ins Fleisch.« Er machte eine Handbewegung, um das zu verdeutlichen. Dabei verstand ich ihn wirklich ganz genau.
Mir wurde schlecht. Wie hatte ich Lucien das nur antun können?
»Wie ein Blitz zuckt der Strom durch dich hindurch. Deine Muskeln krampfen, du glaubst zu verbrennen …« Er hob sein Shirt, und trotz der Dunkelheit in unserem Versteck zeichneten sich die hellen Narben unter seiner Schwinge deutlich ab. Sie sahen aus wie sich verzweigende Flüsse, die knapp oberhalb seines Gürtels versickerten. »Dass Lucien nach deinem Angriff so schnell wieder stand … zeigt, wie entschlossen er dich aufhalten wollte, Thorn.«
»Uns«, verbesserte ich ihn. »Er wollte uns aufhalten. Nicht mich. Du warst schließlich der Gefangene.«
Riley nahm einen neuen Kaugummi aus dem Päckchen, wickelte ihn aus und tauschte ihn mit dem in seinem Mund. Erst dann sah er mich wieder an. »Er war nicht hinter mir her, Thorn. Er hat mich heute Nacht nicht aufgehalten, als ich am Tor gewesen bin. Stattdessen ist er dir nach.«
»Er konnte es vielleicht nicht mit dir aufnehmen. Er war … verletzt«, versuchte ich, Luciens Verhalten zu ergründen, aber Riley schüttelte den Kopf.
»Für Lucien York wäre es ein Kinderspiel, es mit einem Krüppel wie mir aufzunehmen. Ich sage dir, Thorn: Er hat mich gehen lassen – weil ich ihm nicht so wichtig war wie du.«
Ich wollte widersprechen, da beugte Riley sich vor und hielt mir den Mund zu. Mit dem Kinn nickte er in Richtung von Anhs Elternhaus. Hinter einem Fenster war ein Licht angegangen.
Ich wusste genau, dass sich Anhs Zimmer hinter diesem Fenster befand. Spürte meine beste Freundin, dass ich ganz in der Nähe war? Spürte sie, wie sehnlichst ich mir wünschte, statt hier in der schmutzigen Hütte bei ihr auf dem Schlafsofa zu liegen? Mit ihr über Jungs zu tuscheln, und zwar nicht über Jungs, die mich vermutlich umbringen wollten, sondern über Jungs, die wir küssen wollten – was in meinem Fall dummerweise auf das Gleiche hinauslief, wie ich mir trotz allem eingestehen musste.
Rileys Finger auf meinen Lippen waren sanft, und sie erinnerten mich an den Beginn dieser ganzen verrückten Sache. Damals hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, mich in dunkle Ecken des Schulhauses zu verschleppen und meine Proteste zu ersticken, indem er mir den Mund zuhielt.
Offenbar erinnerte auch er sich daran, denn etwas verlegen nahm er die Hand schließlich beiseite.
»Es wird langsam hell«, flüsterte er. Seine raue Stimme klang müde. »Wissen wir schon, wie es nun weitergeht?«
Ich zuckte mit den Schultern. Einfach wie Anh aufstehen, frühstücken und die Ferien genießen, war wohl nicht drin.
»Wir müssen hier weg. Ewig können wir uns nicht in diesem Baumhaus verstecken«, gab ich zu bedenken.
Riley nickte, und eine Kaugummiblase platzte leise. »Wir könnten es in der alten Buchhandlung probieren.«
»Können wir nicht. Lucien wird dort sicher zuerst nach uns suchen.«
»Er kennt das Versteck der Shades doch nicht. Niemand kennt es. Nicht einmal Magnus.«
Ich war dankbar um die Dunkelheit, die – so hoffte ich wenigstens – meine verlegene Röte verbarg. »Ich … fürchte, ihr müsst euch ein neues Versteck suchen«, gestand ich. »Lucien ist mir gefolgt, als ich … Conrad und die anderen warnen wollte.«
»Du hast ihn zu ihnen geführt?« Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Nein!«, wehrte ich mich. »Also … ja, wenn du es so sagst, dann habe ich Lucien wohl dorthin geführt … aber er hat ihnen nichts getan. Es geht ihnen gut … zumindest, soweit ich weiß.«
»Herrgott, Thorn!« Riley fuhr sich aufgebracht durchs zu lange Haar. »Du hättest besser aufpassen müssen!«
»Ach ja?« Sein Vorwurf ärgerte mich – vermutlich, weil ich selbst wusste, dass er recht hatte. »Ist ja schon lustig, dass gerade du das sagst!« Ich funkelte ihn böse an. »Du warst es doch, der mir mitten am Tag, mitten in London vorführen musste, was Silberschwingen so alles können. Dein Leichtsinn hat Lucien und seine Männer doch erst auf uns aufmerksam gemacht.«
Rileys Züge verhärteten sich. Er hob ein Stöckchen vom Boden auf und drehte es zwischen den Fingern. »Du kannst mir glauben, Thorn, für diesen … Leichtsinn habe ich bitter bezahlt.«
Mein Herz blutete, so leid tat er mir. Ich hatte ihm nicht wehtun wollen. Deshalb rutschte ich zu ihm hinüber und setzte mich an seine Seite. Tröstend griff ich nach seiner Hand und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. »Es tut mir alles so leid, Riley«, flüsterte ich. »Ich fühle mich schuldig, aber ich verstehe bis heute nicht, warum du das getan hast. Ich frage mich die ganze Zeit, ob es meine Schuld war oder …«
»Es war nicht deine Schuld, Thorn«, versicherte er mir und drehte sich, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. »Ich würde dir nie die Schuld an dem geben, was passiert ist. Ich hätte es wissen müssen. In London ist man nie unbeobachtet. Und das Erbe des Lichts lässt uns unseresgleichen erspüren. Darum waren die Shades und ich immer auf der Hut. Immer vorsichtig.«
Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die seidenbespannten Baumhauswände und tauchten alles in ein warmes Licht. Nur Rileys verbrannte Schwingen schien der Glanz des neuen Tages nicht zu erreichen. Dunkel und tot ragten sie über seine Schultern.
»Warum hast du diese Vorsicht an jenem Tag aufgegeben?«, fragte ich und berührte seine Schwingen sanft. Er wich nicht zurück. Ich wusste nicht, ob es ihm unangenehm war. Ob er überhaupt Schmerz dabei empfand. Oder fühlte er nichts mehr in ihnen?
»Ich wollte dich beeindrucken«, gestand er leise und schüttelte über sich selbst den Kopf. Dann schloss er seine Hand um meine, als wollte er meine sanfte Berührung aufhalten. »Ich wollte ...«, er grinste schief, »… wohl etwas angeben.«
»Warum?«
Rileys raues Lachen war so warm wie die ersten Sonnenstrahlen. Er schaute mich an, als wunderte er sich über mich. »Warum?«, wiederholte er meine Frage. »Ist das nicht offensichtlich, Thorn?« Langsam verwob er seine Finger mit meinen. »Weißt du noch, als ich dich gefragt habe, wen von den Shades du am liebsten magst?«
Ich rollte mit den Augen, denn daran erinnerte ich mich wirklich noch sehr gut. »Du hättest mich das damals gar nicht fragen brauchen, denn kurz darauf hast du der ganzen Klasse, inklusive Miss Shepherd, deutlich gemacht, dass du mein neuer Freund bist!« Die Erinnerung ließ mich schmunzeln, und ich verpasste seinem Bein einen zaghaften Hieb mit der Fußspitze.
Riley lachte und legte seinen Arm um mich, wie damals, als er mich so in die Klasse geführt hatte. »Ich konnte doch nicht riskieren, dass du Sam oder Conrad oder noch schlimmer – Garret – auswählst. Es hätte mir das Herz gebrochen, dich mit einem anderen zu sehen.«
»Idiot!«, kicherte ich. »Überhaupt weiß ich nicht, was das alles mit dem Tag am Buckingham Palace zu tun hat?«
Riley grinste immer noch. Er streichelte meine Schulter und sah mir in die Augen. Seine Iris war unnatürlich dunkel. Sie zeugte deutlich von seiner Silberschwingen-Abstammung, auch wenn sie keinen so geheimnissvollen Glanz wie Luciens hatte. »Es hat alles damit zu tun, Thorn«, flüsterte er und beugte sich näher zu mir. »Ich war leichtsinnig, wollte dich beeindrucken, weil ich … weil ich dich mag.« Kurz schloss er die Augen, dann sah er mich wieder an. »Ich weiß, ich bin ein verkrüppelter Silberschwingen-Rebell ohne Zukunft. Und du bist Luciens Versprochene. Aber ich wollte trotzdem, dass du das weißt.«
Der sanfte Kuss, den er mir auf die Lippen hauchte, war vorbei, noch ehe ich reagieren konnte. Riley zog sich zurück, nahm seinen Arm von meiner Schulter und rückte etwas von mir ab. Er schien keine Antwort zu erwarten, trotzdem fühlte es sich so an, als müsste ich etwas darauf sagen.
Aber was? Wie sollte ich ihm gestehen, dass ich seine Gefühle nicht erwiderte? Und dass mein Herz ausgerechnet für denjenigen schlug, der ihn so grausam bestraft und ihm dadurch seine Schwingen genommen hatte? Wie sollte er verstehen, dass ich mich entgegen aller Vernunft in den Mann verliebt hatte, der uns nun jagte?
»Riley, ich …«
Er hielt mir erneut den Mund zu. »Sag jetzt nichts. Nimm das, was ich gesagt habe, einfach als Wahrheit hin. Oder als Dank für meine Rettung.« Langsam löste er seine Finger von meinen Lippen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dir wichtig genug bin, so viel für mich zu riskieren.«
»Du bist mein Freund!«, erinnerte ich ihn. »Für seine Freunde riskiert man so einiges, aber wenn uns nicht bald einfällt, wohin wir gehen könnten, dann haben wir mit diesem Fluchtversuch einen Riesenfehler gemacht.«
Er nickte. »Ja, ich nehme nicht an, dass Lucien sich noch einmal für meine Bequemlichkeit in der Zelle einsetzt.«
Ich horchte auf. »Von was redest du? Welche Bequemlichkeit?« Ich erinnerte mich an meine Verwunderung über die Möbel in Rileys Kellerverlies, aber nach unserer aufregenden Flucht hatte ich das schon wieder total vergessen.
»Nachdem ihr beide bei mir in der Zelle wart – und Lucien und ich uns geprügelt …«
»Ich erinnere mich an euren dämlichen Kampf! Erzähl mir lieber, was es mit den Möbeln auf sich hat!«
Riley hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut. Du hast ja recht. Der Kampf war dumm. Ich hab mir den spärlichen Überrest meiner Schwingen dabei übel zugerichtet.« Er zwinkerte mir zu und ließ eine riesige Kaugummiblase platzen. »Aber es hat gutgetan, das kannst du mir glauben. Ich hab ihm doch ordentlich eine mitgegeben, oder nicht?«
Der Anblick von Luciens dunklem Bluterguss stand mir noch deutlich vor Augen. Die Erinnerung daran, wie er mich gezwungen hatte, seine eingerissene Silberschuppe zu verarzten … der Duft seiner Haut, sein Blick, als ich dabei unnötig grob vorgegangen war …
»Du hast ihn verletzt«, gab ich zu und versuchte, die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. »Bist du nun zufrieden?«
»Ein wenig.« Er streckte sich und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Aber ich glaube, Lucien hat sich nach dem Kampf so richtig schlecht gefühlt, denn warum hätte er mir sonst plötzlich Bett, Tisch und Stuhl bringen lassen sollen? Ich habe sogar einige Bücher und Kaugummis bekommen. Damit hatte ich echt nicht gerechnet.«
Ich atmete tief ein. Mit einem Mal kam mir das Baumhaus zu eng vor. Ich brauchte Luft, musste kurz allein sein. Musste nachdenken. Konnte es sein, dass Lucien mir zuliebe für Riley gesorgt hatte? War es ihm ernst gewesen, als er mir versichert hatte, für dessen Sicherheit zu sorgen?
Ich kämpfte mich vom Boden hoch und knetete meine Hände. Ich musste hier raus!
»Thorn? Was …?«
Als Riley die Hand nach mir ausstreckte, wich ich zurück.
»Wir hatten einen Deal«, murmelte ich und stolperte zur Tür. »Lucien und ich, meine ich. Mein Gehorsam – für deine Sicherheit.«
Ich riss die Tür auf und spreizte die Schwingen.
»Thorn!«, warnte mich Riley und versuchte, mich zu fassen zu bekommen. »Komm wieder rein!«
In meinem Kopf wirbelten tausend Gedanken. Und alle galten Lucien. Erinnerungen an ihn vermischten sich mit der Vorstellung, was er mir für meinen Verrat antun würde. Ich legte den Kopf in den Nacken, atmete erleichtert durch, als der Wind angenehm meine im Nacken verschwitzten Haare kühlte.
Hatte Lucien Wort gehalten? Hatte er wirklich für Rileys Schutz sorgen wollen? Und selbst wenn, hätte er sich in dieser Sache gegen seinen Vater durchsetzen können?
Ich rieb mir die müden Augen. Das alles war so sinnlos! Es war zu spät, sich diese Fragen zu stellen. Ich hatte meine Wahl getroffen. Hatte Lucien verraten, hintergangen und seinem Clan den Rebellen entwendet. Das würde er mir nie verzeihen. Denn mein Gehorsam war der Preis, den er gefordert hatte. Für meine und Rileys Sicherheit. Ein Preis, den zu zahlen ich nicht bereit gewesen war.
Ich spürte die Träne, die mir heiß wie Feuer über die Wange rann. Schmeckte ihr Salz auf meiner Lippe. Mir war kalt, und ich hob meine Schwingen der aufgehenden Sonne entgegen. Ihr rotes Glühen würde für jeden, der kein Mensch war, weit zu sehen sein, doch das war mir egal. Ich brauchte die Wärme, denn eine dicke Eisschicht hatte sich um mein Herz gebildet.
»Sind die Schwingen deiner Brüder genauso auffällig wie deine?«, kam Rileys Stimme aus der Hütte. Ich spürte, dass er näher kam. Spürte, dass er die Arme nach mir ausstreckte, noch ehe er mich wirklich berührte. Trotzdem zuckte ich zusammen, als seine Körperwärme mich durchströmte. Wärme, die ich zu gerne genossen hätte, die mich aber schmerzlich an die tröstliche Umarmung einer ganz anderen Silberschwinge erinnerte.
»Ich habe nur einen von ihnen gesehen«, flüsterte ich, denn unter uns trat gerade Anhs Vater vor die Haustür, um die Zeitung zu holen. Wie von selbst schlossen sich meine Schwingen schützend um uns, damit wir vor menschlichen Blicken verborgen waren. »Er hat ebenfalls rötliche Schwingen. Er hat gesagt, sein Name wäre Niklas Chrome.«
Ohne zu uns hochzusehen, verschwand Anhs Vater mit seiner Zeitung im Haus. Ich öffnete die Schwingen und trat zurück. Rileys Nähe schmerzte mich, denn sie machte mir deutlich, was ich aufgegeben hatte.
»Niklas Chrome …«, murmelte Riley und strich sich die Haare aus der Stirn. Er spuckte seinen Kaugummi achtlos in das sauber gerechte Kiesbeet unter uns und nahm sich einen neuen. »Denkst du, Niklas Chrome würde uns helfen?«, schlug er vor und steckte sich den nach Pfefferminz duftenden Kaugummi in den Mund.
»Vielleicht. Aber wie sollen wir ihn finden?«
Riley runzelte die Stirn und ploppte eine Kaugummiblase.
»Wir könnten uns von ihm finden lassen«, schlug er nachdenklich vor.
»Uns finden lassen? Wir sollen uns also zeigen?« Die Idee war doch dämlich! »Und wie kommst du darauf, dass uns die Silberschwingen nicht zuerst finden?«
Riley grinste und zwinkerte mir zu. »Manchmal … braucht man einfach etwas Glück!«
Mit nacktem Oberkörper stand Lucien vor dem Spiegel. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln zuckten.
»Du solltest sie hinrichten lassen, dafür, dass sie dir das angetan hat«, zeterte Nyx und strich Lucien zaghaft mit einem feuchten Tuch über die Wunden. Ihr silbernes Haar schillerte regenbogenfarben im Licht der aufgehenden Sonne, und ihre helle Haut wirkte vor Sorge noch blasser.
Lucien hob den Arm, um ihr den Zugang zur nächsten Verbrennung zu erleichtern. Etliche blutrote Male verunstalteten seine Haut und breiteten sich wie Wurzeln über seinen Oberkörper aus. Es würde lange dauern, bis diese Narben verblassen würden, das wusste er.
Er zuckte leicht, als Nyx die heilende Tinktur auftrug. Der Geruch von Aloe und Alkohol stieg ihm in die Nase, als die wässrige Flüssigkeit sein Fleisch berührte.
Nyx hielt in der Bewegung inne. »Ich weiß, es brennt, aber …«
»Ich halte es aus!«, brummte Lucien und bedeutete ihr mit einem Nicken weiterzumachen. Und tatsächlich war es nichts gegen den Schmerz, der tief in seinem Innersten wütete. Nie hätte er gedacht, dass seine Gefühle für Thorn so stark waren, dass ihr Verrat ihn derart in die Knie zwang. Wut und Zorn loderten in ihm. Er sann auf Rache. Er wollte sie sich unterwerfen, bis ihre Lippen vor Angst zittern würden. Und zugleich sehnte er sich danach, diese Lippen zu küssen. Mit seiner Zunge ihren Mund zu erobern, bis er ihre Hingabe schmecken konnte.
Wieder zuckte er zusammen, als Nyx die Tinktur direkt unter seiner kraftlosen Schwinge auftrug.
»Entschuldige«, flüsterte sie und sah ihn mitleidig an.
Lucien riss ihr das Tuch aus der Hand und griff selbst zur Flasche mit der Tinktur. »Hör auf, dich zu entschuldigen. Ich will hier fertig werden!« Achtlos rieb er sich die Medizin über die Wunden und sog dabei zischend die Luft ein, als das Brennen bis in die Haarwurzeln zu spüren war.
»Lass deine Wut nicht an mir aus!«, fuhr Nyx ihn schmollend an und setzte sich mit verschränkten Armen auf sein Bett. Sie strich sich das feine Silberhaar auf den Rücken und musterte ihn.
Lucien wusste, dass er gerade nicht fair war. Aber niemand zwang Nyx, hier bei ihm zu sein. Genau genommen wäre er gerne allein gewesen, doch Nyx machte keinerlei Anstalten zu gehen. Sie betrachtete ihn wie immer ohne Scheu, als wäre sie nach wie vor seine Versprochene.
»Sag doch mal was, Lucien!«, forderte sie nun und schob ihre Unterlippe nach vorne. »Seit dieses verfluchte Halbwesen vom Balkon geflogen ist, schweigst du mich an. Was hast du jetzt vor? Warum hast du nicht längst Kanes Männer hinter ihr hergeschickt?«
»Ich schicke niemanden hinter ihr her«, erklärte er kühl und streifte sich ein dunkles Hemd über, obwohl schon diese leichte Berührung auf seinen Wunden scheuerte.
»Du lässt sie einfach davonkommen?« Nyx stand auf, strich sich die hellsilbrigen Schwingen glatt und trat hinter ihn. Sie begutachtete ihr gemeinsames Bild im Spiegel und legte ihm die Arme um die Hüfte.
Entschieden schob Lucien sie von sich. Sein Blick war eisig und seine Züge verhärtet. »Ich lasse sie nicht entkommen, Nyx. Aber wenn jemand hinter Thorn herjagt, dann werde ich das sein!«
»Du nimmst das alles zu persönlich …«
»Zu persönlich?«, unterbrach er sie und funkelte sie warnend an. »Du vergisst, dass Thorn meine Versprochene ist!«
Nyx lachte hell auf. »Deine Versprochene? Du meinst: Sie war deine Versprochene, richtig? Du kannst unmöglich vorhaben, dieses Bündnis nach dieser Nacht noch einzugehen. Du kannst sie nicht zu deiner Gefährtin machen!«
»Was ich tue, geht niemanden etwas an!«
Nyx stampfte mit dem Fuß auf. »Lucien! Du kannst kein Mädchen, das unsere Feinde aus der Gefangenschaft befreit, an deine Seite nehmen! Du wirst irgendwann den Clan führen. Meinst du, die Silberschwingen folgen einem Mann, der sich von einem Halbwesen den Kopf verdrehen lässt?«
Mit zwei schnellen Schritten war Lucien bei Nyx und packte ihre Kehle. Ihr Stöhnen ging in seinem zornigen Knurren unter.
»Niemand verdreht mir den Kopf!«
»Du lügst! Ich habe euch gesehen! Du hast sie geküsst!« Nyx umklammerte seine Finger, um seinen Griff zu lockern. »Im Pavillon! Du warst bei ihr – und ich habe euch gesehen, also lüg mich nicht an!«
Lucien sah den Zorn und die Enttäuschung in Nyx’ blaugrau schimmernden Augen. Und obwohl er bisher immer darauf Wert gelegt hatte, dass es ihr gut ging, überwog diesmal seine Wut.
»Du schleichst mir nach? Beobachtest mich? Was geht es dich an, wen ich küsse? Was geht es dich an, wen ich liebe?«
»Du liebst sie nicht!«, kreischte Nyx und schlug nach ihm. »Du kannst dieses Halbwesen nicht lieben, Lucien! Du warst mir versprochen! Schon immer! Der Platz an der Spitze des Clans gehört mir! Und ich habe dich nie hintergangen! Ich hätte dich nie verlassen!«
Das Flehen in ihrer Stimme drang langsam in Luciens zornumnebelten Verstand. Er löste seinen Griff, ohne sie freizugeben. »Es tut mir leid, Nyx«, flüsterte er und fuhr zärtlich über die Stelle an ihrem Hals, an der er gerade noch zugepackt hatte. Er ließ seinen Blick über ihre zierliche Gestalt wandern, ehe er ihr in die schönen Augen sah. »Ich wünschte, die Dinge zwischen uns wären nie aus dem Ruder gelaufen. Ich wünschte wirklich, Riley wäre nie mit Thorn hier aufgetaucht. Dann hätte ich mir mein Leben lang einreden können, an deiner Seite glücklich zu sein. Und ja, das wäre ich wohl auch gewesen.«
Nyx hob ihre Hand an seine Wange, dabei rannen Tränen über ihr Gesicht. »So kann es immer noch sein«, wisperte sie.
Lucien schüttelte den Kopf. »Nein. So kann es nie wieder sein.« Er griff nach ihrer Hand, um ihre Berührung zu unterbinden. »Thorn ist meine Versprochene. Jetzt und für immer. Ich weiß, dass dir das wehtun muss, aber ich kann es nicht ändern. Und ich will es nicht ändern. Thorn ist immer noch wichtig für uns Silberschwingen. Ein Bündnis mit ihr kann Frieden bringen. Du weißt, wie sehr ich mir Frieden für unser Volk wünsche. Die Fehde zwischen Kane und Aric, zwischen Halbwesen und Silberschwingen, zwischen Rebellen und Gesetzestreuen – zwischen den Clanoberhäuptern und den Oberen … das alles muss aufhören.«
Nyx zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und ihre Tränen versiegten. »Du willst mir also erzählen, du hättest sie nur um des lieben Friedens willen geküsst?«
Lucien stellte sich ihrem Blick. Er drückte den Rücken durch, und obwohl seine Schwingen noch immer kraftlos herabhingen, wusste er, dass er imposant wirken musste. Er hatte nicht vor, über seine Gefühle zu sprechen.
»Ich schulde dir keine Rechenschaft, Nyx«, erklärte er knapp, wandte sich ab und begann, sein Hemd zuzuknöpfen, als wäre das Gespräch vorüber. Er hörte ihr Schnauben, spürte ihr Zögern und lauschte ihren zornigen Schritten, als sie schließlich wortlos seine Gemächer verließ. »Ich schulde niemandem Rechenschaft«, murmelte er, trat auf den Balkon und ließ seine verletzten Schwingen kreisen. Die Sonne ging auf und malte einen rotgoldenen Teppich aus Licht auf den Stein. Rotgolden wie Thorns Schwingen. Er blickte hinunter auf das von Efeu umrankte Dach des Pavillons, bis eine der steinernen Figuren sich nach ihm umwandte. »Ich küsse, wen immer ich will«, flüsterte Lucien, als spräche er zu der Skulptur. »Und ich liebe, wen immer ich will!«
~
»Du hast versagt!« Die Worte hallten durch den großen Saal wie ein Donnerschlag, der alle Anwesenden zusammenzucken ließ. Die verschlossenen Gesichter der Ratsmitglieder bildeten eine Mauer des Schweigens, die dennoch angenehmer zu ertragen war als die vorwurfsvollen Blicke der Oberen. In ihren schwarzen Roben mit den schweren Goldketten um den Hälsen standen die sieben mächtigen Silberschwingen da, als hielten sie Gericht. Gericht über ihn. Lucien York stand hocherhobenen Hauptes seinem Vater gegenüber und ließ die Schimpftirade klaglos über sich ergehen. Er wusste, jedes Widerwort würde Kanes Zorn nur noch weiter anheizen.
»Der Rebell ist weg, das Halbwesen geflohen und Magnus Moore vom Erdboden verschluckt! Und London ist umringt von einer unbestimmten Anzahl von Aric Chromes Bastarden, die es allesamt auf uns abgesehen haben könnten!« Kleine Speicheltröpfchen flogen Kane aus dem Mund. »Wir stehen da wie Idioten!«
Die Oberen nickten mit unverhohlener Geringschätzung, was Kanes ohnehin zornrotes Gesicht noch dunkler färbte.
»Du lässt uns dastehen wie Idioten!«, brachte Kane seine Anklage auf den Punkt und rammte Lucien seine Schwingenkante gegen die Brust.
Lucien steckte den Hieb mit einem Zähneknirschen ein, ohne auch nur einen Millimeter zurückzuweichen.
»Der Rat – und die Oberen – haben entschieden, dich für deine Pflichtverletzung zu strafen«, erklärte Kane etwas ruhiger und strich sich über den Bart, als könne er dadurch seinen inneren Aufruhr besänftigen. Er sah seinem Sohn ins Gesicht, ohne jedes Anzeichen väterlicher Zuneigung. »Nimmst du diese Entscheidung an – oder müssen wir …« Er neigte leicht den Kopf, um auf die Ratsmitglieder zu deuten, die bereit schienen, Lucien auch mit Gewalt seiner Strafe zuzuführen.
»Ich beuge mich dem Urteil.« Lucien nickte erst dem Rat zu, dann den Oberen. Das falsche Lächeln kostete ihn alle Überwindung, doch er wusste, dass Kane genau dies von ihm erwartete.
»So sei es!«, mischte sich Sir Percy Raglan, einer der goldbehängten Oberen, ein und machte eine einladende Geste in Richtung des Pfahls. Als bat er Lucien, sich an einen reich gedeckten Tisch zu setzen. Doch ihn erwartete nichts Gutes. Nur Schmerzen und Schmach.
Trotzdem trat er, ohne zu zögern, an den Pfahl. Mit wild klopfendem Herzen betrachtete er den mit feinster Schnitzerei verzierten Schandpfahl. Er roch die Angst all jener, deren Urteile hier vollstreckt worden waren. Das glänzende Holz mit der dunklen Maserung schien die Essenz dieser Qualen regelrecht inhaliert zu haben. Eine Gänsehaut überzog Luciens Körper, obwohl ihm der Schweiß den Rücken hinablief. Mit aller Kraft unterdrückte er das Zittern, das in seiner Brust brannte.
Dies war kein Moment der Schwäche!
Er hörte die schweren Stiefelschritte der beiden Ratsmitglieder näher kommen, die ihn an den Pfahl ketten wollten. Er spürte den Luftzug ihrer Bewegung, hörte das Raunen der übrigen Räte, als die schweren Ketten rasselten.
Lucien wandte sich um und blickte in die Gesichter der beiden Männer. Einer von Ihnen war Nyx’ Vater. Torr von Orlys schütteres Haar war so hell wie das seiner Tochter. Und sein Zorn auf Lucien wohl ebenso groß wie der ihre. Luciens Kiefermuskel zuckte vor Anspannung. Welchem Urteil auch immer er sich zu beugen hatte, Torr von Orly würde es mit aller Härte vollstrecken, davon war er überzeugt.
Gerade wollte Torr nach seiner Hand greifen, um ihm die Ketten anzulegen, doch Lucien entwand sich ihm. Sofort rückten die anderen Räte dichter zusammen. Ein Zeichen für ihn, keine Dummheiten zu machen. Auch Kanes Blick verfinsterte sich.
All das bemerkte Lucien am Rande. Er atmete tief ein und griff dann entschlossen nach den Ketten. Er durfte nicht zögern, weil ihn sonst der Mut verlassen würde. Darum beeilte er sich, die schweren Eisen selbst an seinen Handgelenken zu befestigen. Als sich der zweite Ring um seine Haut schloss, kam es ihm vor, als würde sich der Boden unter seinen Füßen auftun und ihn verschlingen. Er riss an den Ketten, um allen Anwesenden ihre Festigkeit zu demonstrieren, und auch ihm selbst wurde nun klar, wie hilflos er sich dadurch gemacht hatte. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen und den Kopf zu heben. Die Spannung in der Luft war beinahe greifbar, und Kanes Räuspern klang in Luciens Ohren unnatürlich laut.
»Lucien York, die Oberen und der versammelte Rat haben dich wegen deiner Pflichtverletzung verurteilt«, richtete Kane noch einmal das Wort an ihn. Das Oberhaupt der Silberschwingen trat unbeeindruckt näher, ohne sich in irgendeiner Form anmerken zu lassen, wie er darüber dachte, seinen Sohn an den Schandpfahl gekettet zu sehen. Er trat ihm gegenüber wie einem Fremden.
»Ich nehme mein Urteil an, Vater.« Lucien lehnte fügsam die Stirn gegen den Pfahl, als wäre er bereit für seine Strafe, wie immer sie auch ausfallen mochte. Doch in Wirklichkeit brauchte er den Pfahl, um seine Angst zu verbergen. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinunter und hinterließ feuchte Flecken auf seinem Hemd. Es war nicht so sehr der Schmerz, den er fürchtete, vielmehr die Ungewissheit. Was für eine Strafe erwartete ihn dafür, Thorn nicht aufgehalten zu haben? Und würde es mehr schmerzen als der Moment, in dem er dachte, sie für immer verloren zu haben? Der Moment, in dem sie sich mit ihren noch viel zu schwachen Schwingen in die Tiefe gestürzt hatte, nur um ihm zu entkommen? Der Moment, als er glaubte, sie würde seinetwegen sterben …
»Der Rat hat über dein Strafmaß entschieden«, klärte Kane ihn auf und stellte sich neben ihn. Er winkte seinen treuen Gefolgsmann Torr näher, und nachdem sich beide noch einmal von der Festigkeit der Ketten überzeugt hatten, fuhr Kane fort: »Du bist bereits verwundet. Und du hast Pflichten, von denen ich dich nicht entbinden werde. Deshalb wirst du deine Schwingen behalten.« Kane wandte sich an Percy Raglan, der zustimmend nickte. »Ich brauche einen würdigen Nachfolger. Mein Sohn ist würdig. Auch wenn er diesmal versagt hat. Das künftige Oberhaupt dieses Clans braucht Schwingen. Mächtige Schwingen.« Kane breitete seine eigenen Schwingen zur Demonstration aus. Dann stellte er sich wie ein dunkler, unheilvoller Schatten hinter Lucien und riss ihm mit einem kräftigen Ruck das Hemd vom Leib. »Was ein Oberhaupt aber nicht braucht, ist makellose Haut.«
Lucien presste seine Stirn fester gegen den Pfahl. Ohne Hemd fühlte er sich verletzlich. Schwach wie eine Silberschwinge in dem Moment, wenn das Erbe des Lichts aus ihr herausbrach. Obwohl seine Schwingen noch taub von den Stromstößen waren, die Thorn ihm zugefügt hatte, spürte er, wie die beiden Ratsmitglieder sie auseinanderfalteten. Sie spannten sie auf und legten damit Luciens Rücken frei. Mit Lederriemen banden sie sie nach oben. Die schon bestehenden Wunden an seinem Körper protestierten schmerzhaft bei dieser Prozedur, dennoch versuchte Lucien, sich nichts anmerken zu lassen. Er würde seine Schwingen behalten. Das war alles, was zählte. Er biss die Zähne zusammen, als sie seine Schwingen mit den Riemen fixierten, damit er sich nicht wehren konnte. Dabei hatte er das ohnehin nicht vor. Sein Vater erwartete, dass ein York stets nur Stärke zeigte. Schwäche verachtete Kane. Und vielleicht hatte Lucien dies ja von seinem Vater geerbt. Er selbst wollte vor all den Gaffern hier in der Halle ebenfalls keine Schwäche zeigen.
Kane nickte und trat zurück zu seinem Platz. Er setzte sich und legte die Arme auf die Lehnen, wie immer, wenn er entspannt war.
»Zwei Dutzend Hiebe mit der Silberkatze«, rief Percy Raglan und verschränkte abwartend die Hände über den goldenen Ketten vor seiner Brust, als freue er sich auf das Spektakel. »Zwei Dutzend, gegeben ohne Unterbrechung!«
Lucien wurde blass. Die Silberkatze war eine Abwandlung der Elektrostäbe. In Anlehnung an die Peitsche, die man neunschwänzige Katze nannte, schnitt einem die Silberkatze mit jedem Hieb nicht nur ins Fleisch, sondern sandte zudem bei jeder Berührung Stromschläge aus. Üblicherweise wurden damit zur Strafe die Schwingen der Silberschwingen verletzt, denn der Strom lähmte die Schwingen, hinterließ an den Silberschuppen dauerhafte Schäden, wobei er zugleich Schmerzen zufügte. Welche Wirkung die Silberkatze jedoch auf sein Fleisch haben mochte, wollte sich Lucien besser nicht vorstellen.
Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Die Ketten schnürten ihm das Blut ab, so fest stemmte er sich in sie hinein, als Torr von Orly mit der blau-blitzenden Waffe in der Hand hinter ihn trat. Torr ließ die losen Enden der Silberkatze über den Boden schleifen. Lichtbögen entluden sich dabei, und das leise Knistern des Stroms war das einzige Geräusch in der ansonsten atemlos stillen Halle.
Die Ketten über Luciens Kopf rasselten gegen das Holz des Schandpfahls, als er versuchte, eine Position einzunehmen, in der er Torrs Hieben standhalten konnte. Er spreizte die Beine, kniff die Augen zusammen und spannte die Muskeln an.
Dann sauste die Silberkatze auf ihn herab.
Der erste Hieb kam überraschend, obwohl Lucien ihn erwartet hatte. Der Schmerz war heftiger als gedacht, und der Strom fraß sich wie glühendes Eisen in sein Fleisch. Ihm sackten die Beine weg, weshalb er kraftlos in die Ketten krachte. Sein raues Stöhnen vermischte sich in seinem Ohr mit dem Keuchen seines Peinigers, der schon zum nächsten Schlag ausholte. Diesmal hörte Lucien das Surren der Silberkatze in der Luft. Ihr Schlag kam schnell, noch ehe Lucien den ersten verarbeitet hatte. Er schnappte nach Luft als einzige Reaktion auf den erneuten Schmerz, der ihn zugleich lähmte und zu zerstören drohte. Sein Fleisch riss auf und bahnte der glühenden Hitze des Stroms noch tiefer in seinen Körper den Weg. Lucien riss an den Ketten. Wie von selbst wollten sich seine Schwingen schützend um ihn legen, doch sie waren zu fest gebunden. Vor dem nächsten Hieb kam Lucien wenigstens wieder auf die Beine. Er presste seine Stirn so fest gegen den Pfahl, dass er glaubte, das Holz müsse darunter nachgeben. Keuchend stemmte er sich in die Fesseln und hielt mit aller Kraft dem Schlag stand. Es fühlte sich an, als stünde sein Rücken in Flammen. Er sah das blaue Blitzen der Silberkatze, wann immer sie ihn berührte. Roch seine verbrannte Haut, wenn der Strom sich in ihn hineinfraß und ihm nie gekannte Schmerzen verursachte. Seine Haut war feucht von seinem Schweiß und rot von seinem Blut.
Immer wieder ließ Torr die Silberkatze auf ihn los. Er wurde der Schläge nicht müde, die er Lucien zufügte. Wenn überhaupt möglich, hatte Lucien das Gefühl, dass Torr sich mit jedem Hieb nur noch mehr ins Zeug legte. Vielleicht war aber auch sein Rücken einfach schon so wund, dass es ihm nur so vorkam, als wäre jeder neue Schlag noch schlimmer als der vorhergehende. Sein Keuchen wurde jedes Mal lauter. Längst hatte er aufgegeben, sich seine Qual nicht anmerken lassen zu wollen. Jeder hier im Raum sah ihn leiden. Sah ihn bluten.
Das Haar klebte ihm nass am Kopf, in den Armen hatte er jedes Gefühl verloren, und sein restlicher Körper krampfte unter den Stromstößen, die ihm in die Muskeln fuhren. Sämtliche Nerven vibrierten und sandten qualvolle Schauer durch seinen Leib.
Ohne den Pfahl wäre er zusammengebrochen. Beinahe war er dankbar um die Ketten, die ihn wenigstens aufrecht hielten, obwohl ihm die Beine den Dienst versagten.
Die Spannung auf seinen Rücken, auf seine Arme und Schwingen wuchs, als er kraftlos mit seinem ganzen Gewicht in den Ketten hing. Der Zug an den Schwingen nahm ihm den Atem, und in seinen Ohren rauschte es.
»Zwanzig!«, hörte er die Ratsmitglieder laut mitzählen.
Zwanzig! Er hatte es fast überstanden. Doch vier weiteren Schlägen standzuhalten, wo ihm der Rücken schon in Fetzen hing, ihm das Blut an den Beinen hinablief und er kaum mehr atmen konnte, schien ihm unmöglich. Er öffnete die Augen einen Spalt. Sah Torr an, der, Luciens Blut an seinen Händen, breitbeinig und stolz neben ihm stand und schon ein weiteres Mal zum Schlag ausholte. Er las die Wut in Torrs Blick und wusste, dass er ihn auch dafür bezahlen ließ, das Bündnis mit Nyx aufgehoben zu haben. Torr selbst wäre im Ansehen der Silberschwingen noch weiter gestiegen, hätte der Sohn des Clanoberthauptes seine Tochter zu seiner Gefährtin gemacht.
Torr bemerkte seinen Blick und bleckte die Zähne. Er hob den Arm und ließ die Silberkatze mit aller Kraft auf Lucien los. Die losen Enden blitzten, als sie sich tief in seinen Rücken fraßen. Wie der giftige Biss einer Viper drang der Schmerz über Luciens Schwingenansätze direkt in seine Wirbelsäule.
Torr platzierte seine Hiebe nun gezielt auf diese empfindlichen Teile seines Rückens. Dort, wo die Schwingen aus dem Rücken ragten, zentrierten sich die Nerven und Muskeln. Hier fand der Zauber statt, wann immer die Silberschwingen sich in die Lüfte erhoben. All ihre Kraft stammte aus dieser verwundbaren Stelle. Und Torr war darauf aus, Lucien hier größtmöglichen Schaden zuzufügen.
Lucien biss die Zähne so fest aufeinander, dass er sie knacken hörte. Er spannte alle Muskeln an, als könne er so den nächsten Hieb abwehren. Doch wieder bohrten sich die losen Enden der Silberkatze blitzend in sein Fleisch. Wieder entstieg seiner Kehle ein bitteres Keuchen, das dem Schmerz entstammte, den er kaum ertragen konnte. Lucien schloss die Augen und erwartete hilflos zitternd den nächsten Schlag.
Ich versteckte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben versteckte ich mich vor meinen Mitmenschen. Vor den Menschen, von denen ich immer dachte, zu ihnen zu gehören. Doch die roten Schwingen auf meinem Rücken machten mir meinen Irrtum in dieser Sache recht eindrucksvoll deutlich.
Der Blick durch Anhs Zimmerfenster kam mir vor wie ein Blick in die Vergangenheit. Die Normalität hinter der Scheibe würde in mein Leben nie wieder einkehren. Ich beneidete Anh um die Einfachheit ihres Ferienalltags. Sie lag auf ihrem Bett, blätterte durch ein Modemagazin und hörte Musik. Ich konnte es bis hinauf zu mir ins Baumhaus hören. Am liebsten würde ich einfach zu ihr gehen. Ihr alles erzählen und dann mit ihr gemeinsam darüber lachen, dass ich mir das alles nur ausgedacht hatte.
»Ohne die Federschuppen an meinen Schwingen sehen mich die Menschen als das, was ich bin«, riss mich Riley aus meinen Träumen. »Ich kann die Schwingen nicht verbergen. Und das bedeutet, dass ich tagsüber unmöglich das Versteck verlassen kann. Selbst nachts …«