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Was ist eigentlich Ableismus, und wie können wir ihm begegnen? Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist der Grund, warum auch heute noch nicht alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Noch immer verhindern Berührungsängste einen Dialog über Ableismus. So bleiben nahezu 15 Prozent der globalen Bevölkerung von der Gesellschaft ausgeschlossen. Ohne erhobenen Zeigefinger, mit einfachen Erklärungen und anhand anschaulicher Beispiele legt dieses praxisorientierte Handbuch Barrieren und Ausschlussmechanismen der Dominanzgesellschaft offen. Es bietet damit den idealen Ausgangspunkt, um die eigenen Privilegien als nicht behinderte Person zu erkennen, zu hinterfragen und Diskriminierung und Barrieren ein für alle Mal abzubauen. - Ableis… Was? Wofür steht das Wort Ableismus überhaupt? Finde heraus, was Ableismus ist, wie dieser entsteht und was die deutsche Behindertenrechtsbewegung damit zu tun hat. - Realität für Menschen mit Behinderungen: Verstehe, in welchen Bereichen Menschen mit Behinderungen Diskriminerung und Ausschluss erfahren. Welchen Herausforderungen begegnen behinderte Personen, beispielsweise in der Bildung oder am Arbeitsmarkt? Welche Barrieren müssen sie jeden Tag überwinden, und wie sieht ein selbstbestimmtes Leben für Personen mit Behinderung aus? - Privilegien und Abwehrmechanismen: «Wenn Inklusion doch bloß nicht so anstrengend und teuer wäre!» Du erfährst, warum solche Vorurteile ableistisch sind und welche anderen Abwehrmechanismen verhindern, dass Ableismus abgebaut wird. - Selbst anpacken: «Und was nun?» Um niemanden mit der Frage alleinzulassen, gibt es am Ende jedes Kapitels kurze und konkrete Handlungsempfehlungen, wie jede Person zu einem Ally für behinderte Menschen werden kann.Weitere Informationen auch unter: https://stopptableismus.de/
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Seitenzahl: 308
Anne Gersdorff • Karina Sturm
Diskriminierung erkennen und abbauen
Was ist eigentlich Ableismus, und wie können wir ihm begegnen?
Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist der Grund, warum auch heute noch nicht alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Noch immer verhindern Berührungsängste einen Dialog über Ableismus. So bleiben nahezu 15 Prozent der globalen Bevölkerung von der Gesellschaft ausgeschlossen. Ohne erhobenen Zeigefinger, mit einfachen Erklärungen und anhand anschaulicher Beispiele legt dieses praxisorientierte Handbuch Barrieren und Ausschlussmechanismen der Dominanzgesellschaft offen. Es bietet damit den idealen Ausgangspunkt, um die eigenen Privilegien als nicht behinderte Person zu erkennen, zu hinterfragen und Diskriminierung und Barrieren ein für alle Mal abzubauen.
Anne Gersdorff ist studierte Sozialarbeiterin und Referentin für die Sozialheld*innen. Darüber hinaus gibt sie freiberuflich diskriminierungssensible Workshops zum Thema Inklusion und Behinderung und engagiert sich in der Behindertenbewegung u.a. bei AbilityWatch. Sie selbst sitzt im Rollstuhl und erlebt in ihrem beruflichen und privaten Alltag immer wieder Diskriminierungen.
Karina Sturm ist Journalistin, die ihr Fachwissen mit ihren persönlichen Erfahrungen im Bereich chronische Krankheit und Behinderung kombiniert. Sie schreibt für nationale und internationale Publikationen, darunter z.B. «Die Neue Norm» und das «ABILITY Magazine», über alle Themen rund um chronische Krankheit und Behinderung.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung FinePic®, München
ISBN 978-3-644-01656-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Ableismus. Ein Wort, neun Buchstaben, keine Ahnung davon, wie man es ausspricht (Ey-be-lis-mus), und darüber, was sich dahinter verbirgt, noch weniger. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Ableismus bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, basierend auf weitverbreiteten Stereotypen und Vorurteilen rund um Behinderung.
Ableismus drückt sich für behinderte Menschen ganz unterschiedlich aus. Sie werden häufig entweder für ihr schlimmes Schicksal bemitleidet oder von der Dominanzgesellschaft dafür bewundert, dass sie «trotz» alledem alltägliche Dinge tun wie arbeiten, feiern oder einkaufen gehen.
Wir Autorinnen leben mit ganz unterschiedlichen Behinderungen – Anne nutzt einen Rollstuhl; Karina hat eine chronische Krankheit, die zu einer unsichtbaren Behinderung führt. Doch eins teilen wir: die täglichen Erfahrungen mit Ableismus.
Stell dir zum Beispiel vor, Anne und Karina wollen zusammen kochen. Anne geht mit ihrer Persönlichen Assistenz einkaufen und sucht das richtige Regal für Pasta. Sofort und ungefragt kommt ein*e Mitarbeiter*in auf die beiden zu. Anne fragt, wo der Gang für Pasta sei. Statt Anne direkt anzusprechen, wendet sich die*der Mitarbeiter*in über Anne hinweg an die Assistenz.
Währenddessen ist Karina auf der Suche nach den passenden Gewürzen. Die stehen in einem Regal ganz weit oben. Heute hat sie starke Schmerzen und kann ihre Arme nicht heben. Sie bittet eine Mitarbeiterin um Hilfe. «Heute ein bisschen faul, hm?», kommentiert diese grummelnd und reicht Karina die Gewürze.
Gleiche Situation, zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen mit Ableismus: Karina ist damit konfrontiert, weil sie nicht behindert aussieht, während Anne Ableismus erlebt, weil sie zu behindert aussieht.
Das Beispiel zeigt erstens: Viele Menschen verhalten sich im Alltag ableistisch, merken es aber gar nicht, und zweitens: Ableismus kann jeden Bereich des Lebens von Menschen mit Behinderung beeinflussen. Ableismus ist außerdem der Grund, warum 15 Prozent der Weltbevölkerung von Teilhabe ausgeschlossen bleiben und noch immer nicht gleichberechtigt am Leben teilhaben können.
Dennoch sprechen wir selten über diese Form der Diskriminierung. Fast zwei Jahrzehnte nach der Einführung der UN-Behindertenrechtskonvention verstecken sich viele Menschen hinter Floskeln wie: «Die Barrieren in den Köpfen müssen erst abgebaut werden.» Dabei liegt es in unser aller Hände, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Menschen gleichberechtigt leben können. Wir können eine inklusive Welt für alle Menschen gestalten, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen, wenn wir Aufklärung betreiben, die bestehenden Missstände benennen, Lösungsansätze aufzeigen und diese dann auch umsetzen.
In diesem Buch wollen wir zeigen, wie man sich aktiv mit Barrieren auseinandersetzen kann, zu einer Reflexion über die eigenen Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung anregen und dabei unterstützen, die eigenen Privilegien zu erkennen und zu hinterfragen. Wir wollen aufzeigen, welchen Einfluss Ableismus auf das Leben behinderter Menschen hat. Durch dieses Buch sollen die allgegenwärtigen und in unserer Gesellschaft tief verankerten Stereotype und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung sowie die Berührungsängste zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen abgebaut werden, sodass Menschen mit Behinderung zukünftig nicht mehr aus allen Lebensbereichen ausgeschlossen sind und nicht behinderte Menschen verstehen, warum Inklusion uns alle angeht. Dieses Buch liefert einen Einblick in die aktuellen Baustellen und die Umbaumaßnahmen, die es braucht, um dieser großen gesamtgesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden. Es liefert einen Einblick in den vollgepackten Werkzeugkoffer, der längst bereitsteht, um das Thema Inklusion anzugehen, mitsamt der Bedienungsanleitung, wie die darin enthaltenen Werkzeuge effektiv eingesetzt werden können, um das Ziel Inklusion gemeinsam zu erreichen.
Dazu werden wir dich, unsere*n Leser*in, an die Hand nehmen und in die Welt des Ableismus einführen. Wir werden dir konkretes Wissen über Barrieren und Ausschlussmechanismen der Dominanzgesellschaft näherbringen. Jedes Kapitel von Stoppt Ableismus! soll dich über eine Beispielsituation hin zu einer Erkenntnis führen. Alle Beispiele beruhen auf dem, was uns Menschen mit Behinderung über viele Jahre mitgeteilt haben, sind aber zum Zwecke der Illustration abgeändert und verfremdet. Für das Kapitel «Intersektionale Diskriminierung» haben wir Menschen aus unterschiedlichen Communitys interviewt.
Um dich am Ende eines jeden Kapitels nicht mit der Frage «Und jetzt? Was mache ich mit diesem Wissen?» alleine zu lassen, schließt jedes Kapitel mit konkreten Handlungsempfehlungen und praktischen Tipps. Dadurch wirst du in die Lage versetzt, dein neu erlerntes Wissen anzuwenden und Inklusion im Alltag zu leben. Uns ist bewusst, dass auf politischer und gesellschaftlicher Ebene viele Weichen gestellt werden müssen. Ableismus kann nicht ausschließlich Aufgabe von Einzelnen sein. Dennoch glauben wir, dass die Schärfung des eigenen Bewusstseins eine gelungene Auseinandersetzung mit Ableismus unterstützt und den Wandel hin zur inklusiven Gesellschaft befördert, weil jede*r Einzelne dieses erworbene Wissen in die Gesellschaft hineinträgt.
Wir benennen in diesem Buch klar die bestehenden Missstände. Bisweilen fühlst du dich deshalb vielleicht ertappt oder empfindest Scham, vielleicht wirst du wütend ob der vielen Probleme, die es noch zu lösen gilt und die sich negativ auf unser Leben oder das Leben von Freund*innen, Bekannten oder Angehörigen auswirken. Das ist okay! Diese Gefühle sind Teil des Prozesses. Wenn man sich mit Diskriminierungen und der eigenen Rolle im gesellschaftlichen Kontext auseinandersetzt, kann oder muss das vielleicht auch mal wehtun. Solltest du diese Gefühle bei dir beobachten, dann lege das Buch kurz zur Seite und frage dich: Warum reagiere ich so? Was macht mich wütend? Wie kann ich mit diesen inneren Widerständen umgehen?
Als Autorinnen mit Behinderungen möchten wir dir auch einen Einblick in unsere Gefühlswelt geben. Die Erfahrungen, die wir in diesem Buch beschreiben, haben Menschen in unserer Community oder wir selbst so gemacht. Menschen mit Behinderung erleben, dass sie stets lieb und nett sein sollten, wenn sie etwas wollen; sie werden zu gesellschaftlichen Bittsteller*innen für ihre Barrierefreiheit. Wir wissen, dass es mehr braucht als eine nette Bitte, um in Gesellschaften einen Platz am Tisch einzunehmen. Wir – und viele andere Menschen mit Behinderung – rufen all die Missstände und Forderungen, denen du in diesem Buch begegnen wirst, seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten in die Welt hinaus. Trotzdem sind wir weiterhin jeden Tag Ableismus ausgesetzt. Das macht uns wütend. Wir sind dankbar dafür, dass du dich mit diesem Thema auseinandersetzen willst, unser Buch liest und nach der Lektüre vielleicht die Notwendigkeit siehst, dazu beizutragen, Ableismus abzubauen, zum Beispiel indem du anderen davon erzählst, sie auf die Missstände aufmerksam machst oder diese selbst aus dem Weg räumst.
Wir sind uns bewusst, dass auch wir Teil des Systems sind und Diskriminierung und Privilegien reproduzieren. Im Kapitel «Internalisierter Ableismus» setzen wir uns damit intensiv auseinander, genauso im Kapitel «Intersektionalität». Wir verstehen uns als weiße, in heteronormativen Beziehungen lebende Frauen mit Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen mit gutem sozioökonomischem Hintergrund. Dadurch nehmen wir im Vergleich zu vielen anderen behinderten Menschen – beispielsweise jenen, die multiplen marginalisierten Communitys angehören – eine privilegierte Position ein. Wir haben daher Menschen aus verschiedenen Bereichen interviewt, befragt und mehrere Versionen des Buches zur Überarbeitung an Sensitivity Reader und andere behinderte Medienmacher*innen geschickt, um vor allem die Communitys zu involvieren, zu denen wir nicht selbst gehören. Wir haben versucht, in den meisten Kapiteln auf die intersektionale Perspektive einzugehen und zusätzliche Herausforderungen aufzuzeigen, von denen wir selbst nicht betroffen sind. Um dieses Buch möglichst zugänglich zu gestalten, haben wir dir ab Seite 239 eine Liste mit Begriffserklärungen zusammengestellt.
Ableismus ist ein strukturelles Problem und kann deshalb nur durch individuelles, kollektives und gesellschaftliches Lernen und Handeln überwunden werden. Unser interaktives Handbuch kann ein Schlüssel sein, um die Entstehung, die Strukturen und die Wirkungsweisen von Ableismus (nicht nur) in Deutschland zu verstehen. Aus dem Lernen ins Handeln kommen wir dann, wenn wir das neu erworbene Wissen im Alltag einsetzen, um Ableismus abzubauen – auch die tief verankerten ableistischen Überzeugungen in uns selbst.
Anne & Karina
Martin: Ich war schon immer ein Sportfan. Alles, was als «extrem» angesehen wurde, stand auf meiner Wunschliste, und seit meinem 18. Geburtstag habe ich Bungeejumping, Freeclimbing, Tiefseetauchen, Kitesurfen und Wingsuitfliegen ausprobiert. Meine Familie und Freund*innen waren nicht gerade begeistert, aber was soll ich machen? Alltägliche Sportarten wie Fußball haben mich schon immer gelangweilt. Klar bergen solche Aktivitäten auch immer ein Risiko, aber an so etwas denkt man doch nicht wirklich. In meinen 20ern habe ich mich absolut unverwundbar gefühlt. Krank sein? Das kannte ich nur aus Erzählungen. Mehr als eine jährliche Erkältung hatte ich nie. Und selbst wenn ich erkältet war, bin ich noch zur Arbeit und zum Sport gegangen. Keine große Sache, oder? Bis ich dann mit meinem Motorrad eine Kurve ein klein wenig zu eng genommen habe, dem entgegenkommenden Auto ausweichen musste, von der Fahrbahn abkam und einmal quer über die Leitplanke in einen Baum geschleudert wurde. Ich kam erst eine Woche später im Krankenhaus wieder zu mir und war querschnittsgelähmt. Plötzlich war alles anders. Ich musste lernen, einen Rollstuhl zu benutzen und wie ich meine Blase und meinen Darm entleere und kontrolliere. Dass mir so etwas passieren würde, das hätte ich mir nie vorstellen können. Es hat eine Weile gedauert, mein neues Leben zu akzeptieren, es war emotional wirklich hart, doch heute lebe ich glücklich mit meiner Frau und zwei Kindern in einem kleinen Vorort von München.
Was du gerade gelesen hast, entspricht der landläufigen Klischeevorstellung eines behinderten Menschen: ein vollständig querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer, der durch einen Unfall seine Behinderung erwarb. Doch Behinderung ist kein statischer Zustand, sondern ein Spektrum, eine Bandbreite an Erscheinungen, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden und sich sogar für ein und dieselbe Person ständig verändern kann.[1] Was «Behinderung» bedeutet und welche Behinderungen es gibt, das erfährst du in diesem Kapitel.
Denk mal drüber nach
Wie sieht ein Mensch mit Behinderung in deiner Vorstellung aus?
Behinderung ist ein Wort mit unterschiedlichen Bedeutungen und umfasst ein breites Spektrum, das viele Menschen – behindert oder nicht behindert – nur schwer voll umfassen können. Menschen mit Behinderung können jedes Alter und Geschlecht haben und aus ganz unterschiedlichen Umfeldern kommen. Behinderung kann sichtbar sein (zum Beispiel durch Hilfsmittel wie einen Rollstuhl oder Assistenzhund), sie kann aber auch unsichtbar sein, wie im Fall von chronischen Schmerzen oder psychischen Erkrankungen. Manche Menschen werden mit einer Behinderung geboren; die meisten erwerben diese erst im Laufe ihres Lebens. Sie kann die Folge einer chronischen Krankheit sein – sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen können zu einer Behinderung führen –, doch nicht alle chronischen Krankheiten müssen zwangsläufig eine Behinderung nach sich ziehen, und nicht jede Behinderung ist die Folge einer zugrunde liegenden chronischen Erkrankung. Überfordert? Na, das können wir aufklären. Schauen wir zuerst auf die verschiedenen Definitionen von Behinderung. Aber Vorsicht, je nach Studie und Forschungsfrage ändert sich die Definition von «Behinderung», was auch zu veränderten Zahlenverhältnissen führen kann. Studien können deshalb nur für sich selbst stehen und sind innerhalb des Buches nicht vergleichbar.
Denk mal drüber nach
Was bedeutet «gesund» oder «krank» beziehungsweise «behindert» oder «nicht behindert» für dich?
Viele Autor*innen und Organisationen haben sich schon daran versucht, «Behinderung» zu definieren. Unabhängig von der genauen Definition ist allen gemein: Ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung lebt mit einer Behinderung. Weltweit sind 15 Prozent aller Menschen behindert.[2][3] Eine Studie, die die «westliche Hemisphäre» in den Blick nimmt, kommt sogar auf 20 Prozent.[4] Menschen mit Behinderung bilden damit weltweit eine der größten marginalisierten Gruppen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit bzw. Behinderung mittels der «internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit», kurz: ICF.
Die ICF unterscheidet dabei verschiedene Komponenten:
Körperfunktion
Körperstruktur
Teilhabe
Umwelteinflüsse
Wechselwirkung zwischen den Komponenten[5]
Weiterhin leben Menschen laut der UN-Konvention der Rechte behinderter Menschen (UN-BRK) mit einer Behinderung, wenn sie «langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können».[6]
In Deutschland gilt laut Sozialgesetzbuch IX als behindert, wer eine «körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung hat, die denjenigen in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können».[7] «Beeinträchtigt» ist, dessen «Körper und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen».[8] Beispielsweise wäre ein amputierter Finger eine solche Beeinträchtigung.
Behinderung und Beeinträchtigung werden häufig synonym verwendet. Streng genommen sind sie das aber nicht. Wird eine Person als beeinträchtigt beschrieben, dann liegt der Fokus rein auf dem körperlichen bzw. psychischen Faktor.[9] Behinderung geht darüber hinaus. Sie hat eine soziale Komponente, wie zum Beispiel die Erfahrung mangelnder Barrierefreiheit. Das heißt, man gilt erst als behinderter Mensch, wenn es zu einer Interaktion zwischen der Beeinträchtigung und den Barrieren in der Umwelt kommt.[10] Das bedeutet auch, dass die Gesellschaft eine Mitverantwortung, wenn nicht den Großteil der Verantwortung an einer Behinderung trägt.
Um die Erfahrungen von Menschen mit Behinderung zu erklären und zum besseren Verständnis von Behinderung beizutragen, wurden in der Vergangenheit verschiedene «Modelle» entwickelt. Diese haben sich vor allem seit der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich verändert. Dabei wurde der Versuch unternommen, Behinderung(en) zu kategorisieren. Dies sollte die Möglichkeit eröffnen, das Nachdenken und Diskutieren über Behinderungen zu erleichtern, und natürlich haben diese Kategorien Einfluss darauf genommen, wie Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt werden.
Eines der verbreitetsten dieser Modelle ist das schon erwähnte medizinische Modell, in dem Menschen hauptsächlich im Hinblick auf ihre Erkrankungen oder Diagnosen und Beeinträchtigung kategorisiert werden.[11] Das medizinische Modell schaut ausschließlich auf angebliche Defizite und auf Abweichungen von der Dominanzgesellschaft und beurteilt danach Behinderungen. Ziel aller sich daraus ergebenden Bemühungen ist die Angleichung der betroffenen Menschen an die Dominanzgesellschaft, zum Beispiel durch Therapien und Behandlungen, außerdem der Schutz bestehender gesellschaftlicher Normen. Die soziale Komponente – die gesellschaftlichen Gründe, warum eine Person durch ihre Behinderung nicht am Leben teilhaben kann – wird im medizinischen Modell nicht berücksichtigt.
Verständlicherweise wurde dieses Modell deshalb von Behindertenrechtsaktivist*innen kritisiert und ihm das soziale Modell von Behinderung entgegengesetzt.[12] Dieses lenkt den Fokus von der behinderten Person zurück auf die Gesellschaft und verdeutlicht, dass der alleinige Fokus auf medizinische Beeinträchtigungen zu kurz greift. Wir sind alle Teil dieser Gesellschaft, aber Menschen mit Behinderung werden durch die auf die Dominanzgesellschaft zugeschnittene Umwelt behindert! Denn nicht ein Rollstuhl behindert die nutzende Person. Auch nicht die Tatsache, dass sie*er vielleicht nicht aufstehen und/oder gehen kann. Was die Person behindert, sind die Stufen vor einem Lokal, der defekte Fahrstuhl bei der U-Bahn oder die Tatsache, dass man sich für eine Bahn- oder Taxifahrt einen Tag vorher ankündigen muss.
Ein weiteres, eher neues Modell von Behinderung entstand mit dem menschenrechtlichen Modell, das den Staat und die Zivilgesellschaft in die Pflicht nimmt.[13] Es sieht Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt und verpflichtet den Staat, Gesetze zu entwerfen, um Barrieren für Menschen mit Behinderung abzuschaffen und ihnen so die Teilhabe am Leben zu ermöglichen. In eine ähnliche Richtung weist das in Deutschland wichtige kulturelle Modell, das die Kategorien «gesund», «behindert» und «chronisch krank» in Frage stellt. Vertreter*innen dieses Modells gehen davon aus, dass die genannten Kategorien gesellschaftliche Konstrukte sind, wie beispielsweise Geschlecht oder Rassifizierung.[14]
Es gibt noch einige andere Modelle von Behinderung, und diese werden fortwährend weiterentwickelt. Für uns, die Autorinnen dieses Buches, ist Behinderung ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich durch Barrieren manifestiert. Diese können wahlweise physischer Natur sein, etwa wenn Gebäude weiterhin nicht rollstuhlgerecht gebaut werden und für Menschen mit Behinderung nicht zugänglich sind, oder kommunikativer und kognitiver Natur, beispielsweise wenn nur neurotypische Menschen ohne Lernschwierigkeiten in Gespräche und Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Gleichzeitig sieht die Gesellschaft Menschen mit Behinderung oft als reinen Kostenfaktor und nimmt ihre Bedürfnisse nur selten ernst. Es ist wichtig, Behinderungen medizinisch anzuerkennen, aber eine zutreffende Definition geht über die medizinische Perspektive hinaus und nimmt auch Faktoren wie die Lebensqualität und den gesellschaftlichen Umgang mit der Behinderung in den Blick.
Wir hoffen, es ist deutlich geworden, dass das völlig überzogene Beispiel am Anfang dieses Kapitels nicht der Standard in Bezug auf Behinderung ist. Natürlich gibt es Menschen, die durch einen Unfall einen vollständigen Querschnitt erworben haben und einen Rollstuhl nutzen, weil sie ihre Beine nicht bewegen oder spüren können. Doch die Community behinderter Menschen ist genauso divers wie die Dominanzgesellschaft, und keine zwei Behinderungen sind genau gleich. In den folgenden Abschnitten geben wir dir einen kurzen Überblick über verschiedene Formen von chronischen Krankheiten und Behinderungen und zeigen dir, wie sich diese auf den Alltag der betroffenen Menschen auswirken und dass das oft enge Verständnis von Behinderung nicht der Realität entspricht.
Denk mal drüber nach
Wo begegnest du Menschen mit Behinderung?
Einige chronische Krankheiten/Behinderungen sind bereits im Fötus angelegt. Darunter fallen zum Beispiel Chromosomenveränderungen, wie das Down-Syndrom, angeborene Normabweichungen des Gehirns, die zu Bewegungsstörung führen, wie zum Beispiel die Zerebralparese, nicht autoimmune Bindegewebserkrankungen, wie das Marfan-Syndrom, neurologische Varianzen wie Autismus oder Veränderungen der Sinneswahrnehmung wie zum Beispiel Blindheit oder Taubheit.
Dabei sind angeborene chronische Krankheiten/Behinderungen im Vergleich eher selten: Auf nur drei Prozent aller Behinderungen trifft das zu.[15] In ihrem World Report on Disability schreibt die WHO: «Behinderung ist Teil des Menschseins. Fast jede Person wird irgendwann im Leben vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigt sein.»[16]
Viele Menschen denken jetzt vielleicht: «Quatsch! Mich betrifft das sicher nicht.» Das ist auch okay. Niemand will sich gerne mit einem Thema beschäftigen, das aufgrund der typischen Darstellung in der Öffentlichkeit so negativ behaftet ist und uns die eigene Verwundbarkeit aufzeigt. Die meisten Menschen beschäftigen sich erst dann mit bestimmten Themen, wenn sie selbst oder ein ihnen nahestehender Mensch betroffen sind. Doch die WHO hat recht. Fast jede Person wird irgendwann einmal, zumindest kurzfristig, mit Behinderung in Berührung kommen. Warum? Weil wir alle älter werden und keine Person älter wird, ohne dabei auch kränker oder eingeschränkter zu sein. Ab einem Alter von 55 Jahren nimmt die Zahl der schwerbehinderten Menschen massiv zu: 78 Prozent aller in 2020 verzeichneten schwerbehinderten Menschen waren 55 Jahre und älter.[17]
Andere erworbene Behinderungen können Hirnschäden durch Unfälle sein oder die am Anfang des Kapitels beschriebene Rückenmarksverletzung. Was die WHO als «vorübergehende Beeinträchtigung» beschreibt, kann ein gebrochenes Bein oder Ähnliches sein, was dazu führt, dass die Person zumindest für wenige Wochen nicht ihrem üblichen Alltag nachgehen kann. Außerdem können Behinderungen als Folge von chronischen Erkrankungen auftreten, wie Langzeitschäden durch Diabetes, etwa Nervenschädigungen oder Blindheit, oder auch als Folge von medizinischen Behandlungen, etwa nach einer Chemotherapie.
Von einer chronischen Krankheit spricht man, wenn die Erkrankung lang anhaltend und nicht heilbar ist. Oft wird eine Erkrankung von Mediziner*innen als «chronisch» bezeichnet, wenn sie länger als drei oder sechs Monate besteht. Aber eine einheitliche Definition gibt es nicht.[18] Den Unterschied zwischen chronischen Krankheiten und Behinderungen zu verstehen ist wichtig, denn nicht alle chronischen Erkrankungen führen zu Behinderungen, und nicht jede Behinderung wird durch eine chronische Erkrankung ausgelöst. Oft kann man Behinderung und chronische Krankheit dennoch nicht vollständig voneinander abgrenzen, weil sie ineinander übergehen. Tatsächlich sind chronische Erkrankungen aber mit fast 90 Prozent die häufigste Ursache von Behinderung. Unser Beispiel vom tragischen Unfall mit Querschnittslähmung ist mit nur einem Prozent eher die Ausnahme.[19] Während das Down-Syndrom, bei dem das Chromosom 21 dreimal vorkommt statt zweimal, und die Zerebralparese nicht zu den chronischen Krankheiten zählen, sondern eher als komplexe Behinderungen verstanden werden, ist zum Beispiel das Marfan-Syndrom eine chronische Erkrankung, die meist, aber nicht immer, zu einer Behinderung führt. Manche chronischen Krankheiten sind demnach als Spektrum zu verstehen, weil Menschen mit ein und derselben Krankheit mal kaum Einschränkungen haben und andere wiederum behindert werden.
Man kann chronische Krankheit/Behinderung außerdem einteilen in körperliche und psychische/«geistige» Behinderungen. Körperliche Behinderungen sind alle Behinderungen, die ihre Ursache in einer Funktionseinschränkung des Körpers haben. Zum Beispiel ist die Ursache des Marfan-Syndroms ein Gendefekt, der dafür sorgt, dass das Bindegewebe der Betroffenen zu elastisch ist. Das führt zu großen Problemen überall im Körper. Die Blutgefäße können sich erweitern oder reißen, Gelenke sind überbeweglich oder instabil und vieles mehr.
Im Vergleich zu körperlichen Erkrankungen ist bei psychischen Erkrankungen die seelische Gesundheit der Menschen betroffen. Unter psychische Erkrankungen fallen zum Beispiel eine Depression oder Angststörung. Natürlich kann man körperliche und seelische Gesundheit nicht trennen – sie beeinflussen sich gegenseitig –, und so haben manche Menschen eben auch eine Mischung aus beiden Bereichen oder entwickeln aufgrund einer körperlichen Erkrankung eine psychische Erkrankung oder andersrum.
Wird von «geistiger» Behinderung gesprochen, ist damit meist gemeint, dass die Betroffenen eine Einschränkung der kognitiven Entwicklung und deshalb Probleme mit dem Lernen haben. Daher sprechen Menschen, die zu dieser Gruppe gehören, nicht von «geistigen Behinderungen», sondern davon, dass sie Lernschwierigkeiten haben.[20] Der Begriff «geistig behindert» oder «kognitiv behindert» wird hauptsächlich in medizinischen Kontexten verwendet.
Für die Dominanzgesellschaft ist es eine große Herausforderung, zu verstehen, dass es sehr viele chronische Krankheiten/Behinderungen gibt, die nicht sichtbar sind. Oft kommt es dadurch zu Missverständnissen, wenn die betroffene Person besonders jung ist und «gesund» aussieht. Ein typisches Beispiel: Eine junge Frau parkt auf einem Behindertenparkplatz, sie steigt aus und geht zum Eingang. Eine nicht behinderte Person beobachtet die Frau und schlussfolgert, dass diese unberechtigterweise auf dem Parkplatz parkt. Doch was die nicht behinderte Person nicht weiß: Die Frau hat das Marfan-Syndrom und lebt mit chronischen Schmerzen. An manchen Tagen sind ihre Rückenschmerzen so massiv, dass sie das Haus nicht verlassen kann. An anderen Tagen nutzt sie einen Rollstuhl, um vom Auto in den Supermarkt zu kommen. Heute fühlt sie sich gut genug, um ein paar Schritte zu gehen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht jeden dieser Schritte spürt. Doch von außen sieht man ihr die Schmerzen nicht an.
Was wir damit sagen möchten: Chronische Krankheit und/oder Behinderung ist oft nicht so offensichtlich, wie man sich das gemeinhin vorstellen mag, und daher kann man nie allein durch das Ansehen wissen, ob jemand gesund oder krank und behindert ist.
Die Klischeevorstellung des querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrers mit sichtbarer Behinderung trifft nur selten zu. Tatsächlich gibt es sehr viel mehr «Teilzeitrollstuhlfahrer*innen», also Menschen, die nur an bestimmten Tagen oder in bestimmten Situationen einen Rollstuhl nutzen. Denk mal an ältere Menschen, die aufgrund von Balanceproblemen oder Schwäche einen Rollstuhl nutzen. Und auch junge Menschen sind aus verschiedenen Gründen zuweilen auf einen Rollstuhl angewiesen, etwa Menschen mit multipler Sklerose, Long-COVID, ME/CFS oder chronischen Schmerzkrankheiten.
Zu guter Letzt wollen wir dir noch das Konzept von dynamischen Behinderungen nahebringen. Manche Behinderungen sind mehr oder weniger statisch. Angeborene fehlende Gliedmaßen verändern sich im Laufe des Lebens nicht und sind damit eine statische Behinderung.
Dynamische Behinderungen hingegen verändern sich ständig. Sie können sich verschlechtern, aber auch verbessern. Das Marfan-Syndrom kann so eine dynamische Behinderung sein. Das heißt, dass die Betroffenen je nach Bedarf verschiedene Hilfsmittel nutzen. Haben sie schwere Schmerzen in den Beinen oder im Rücken, nutzen sie einen Rollstuhl; ist die Hüfte auf einer Seite betroffen, kommt eine Krücke oder ein Rollator zum Einsatz, und vielleicht gibt es sogar Tage, da geht es den Betroffenen gut genug, dass sie nur mit einer Rückenbandage gehen können. Dynamische Behinderungen sind demnach häufig chronische Erkrankungen, die mit «Schüben» einhergehen, wie zum Beispiel Rheuma.
Und dann gibt es natürlich auch progressive Behinderungen, die sich fortschreitend verschlechtern. Manche Formen der Multiplen Sklerose sind progressiv, andere treten in Schüben auf. Grundsätzlich gilt, dass du eine Kategorie wie Behinderung nie auf eine Person anwenden solltest, solange sie sich nicht selbst als Person mit Behinderung bezeichnet. Frag eine Person deshalb am besten, wie sie bezeichnet werden möchte.
Wir verstehen, dass es einfacher wäre, wenn «Behinderung» eine einzig gültige Definition hätte. Auch für uns Aktivist*innen würde es vieles erleichtern. Aber Behinderung hat verschiedene Facetten, und die meisten chronischen Krankheiten und/oder Behinderungen fallen in mehrere der oben aufgeführten Kategorien. Keines der genannten Beispiele steht repräsentativ für ein ganzes chronisches Krankheitsbild/Behinderung.
Wenn du etwas aus diesem Kapitel mitnimmst, dann hoffentlich dies: Behinderung umfasst ein viel breiteres Spektrum, als die meisten Menschen annehmen. Es gibt außerdem keine zwei Menschen mit Behinderung, die gleich sind, selbst wenn sie von der gleichen chronischen Krankheit/Behinderung betroffen sind. Jede chronische Krankheit/Behinderung geht mit eigenen Herausforderungen einher. Keine ist «besser» als die andere oder weniger herausfordernd. Tatsächlich kann und sollte man verschiedene Behinderungen ohnehin nicht vergleichen, und es ist auch kein Wettbewerb, wer mehr diskriminiert wird.
Das kannst du tun:
Informiere dich über verschiedene chronische Erkrankungen/Behinderungen. Dazu kannst du Blogs oder die sozialen Netzwerke nutzen. Beliebte Hashtags sind zum Beispiel: #Behinderung #ChronischeKrankheit oder im Englischen: #Disability #Disabled #ChronicIllness #ChronicallyIll
Schaue dich in deinem Umfeld um. Kennst du Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen? Frage sie, ob sie dir einen Einblick in ihre Definition von Behinderung und Krankheit geben würden, und höre aufmerksam zu.
Marlene: Ich bin 20 Jahre alt, recht groß, und weil ich früher mal viel Sport gemacht habe, bin ich athletisch gebaut und erfülle generell all das, was sich die Dominanzgesellschaft unter einer «gesunden jungen Frau» vorstellt. Was kaum jemand weiß, ist, dass ich schon seit fünf Jahren mit einer chronischen Schmerzerkrankung, der Fibromyalgie, lebe. An manchen Tagen bin ich nur leicht beeinträchtigt, während ich an anderen vor Schmerzen nicht aus dem Bett komme. Je nach Tagesform nutze ich verschiedene Hilfsmittel, manchmal aber auch gar keine. Dass sich meine Behinderung jeden Tag verändert, ist für mein Umfeld und für andere Menschen schwer zu verstehen und führt nahezu täglich dazu, dass ich Diskriminierung erlebe. Wenn ich beispielsweise mit dem Rollstuhl unterwegs bin und dann mal kurz aufstehe, weil ich im Supermarkt in ein höheres Regal greife, höre ich manchmal einen Satz wie: «Die spielt das alles nur vor! Die ist gar nicht behindert.» Manchmal wenden die Menschen sich auch direkt an mich und sagen etwas wie: «Sie sollten sich schämen.» Deshalb quäle ich mich inzwischen oft ohne Hilfsmittel durch die schlechten Tage, damit ich nicht mit den verurteilenden Kommentaren umgehen muss. Zwar geht es mir dann am nächsten Tag körperlich schlechter, aber zumindest muss ich die seelischen Verletzungen so nicht ertragen.
Vermutlich hat jede*r von uns schon mal einen ableistischen Gedanken gehabt oder ableistische Sprache verwendet, hat sich ableistisch geäußert, wie das in diesem kurzen Beispiel geschehen ist. Doch was ist Ableismus eigentlich, und wie wird er in ableistischen Äußerungen und Handlungen manifest? Vor allem, was können wir tun, um uns weniger ableistisch zu verhalten? Diese Fragen beantworten wir im folgenden Kapitel, denn wir glauben, viele Menschen wollen nicht ableistisch sein. Oftmals fehlt es an Wissen und Alternativen.
Ableismus ist die Diskriminierung von behinderten Menschen, basierend auf negativen Vorurteilen zugunsten nicht behinderter Menschen. Er fußt auf der Annahme, dass die Fähigkeiten der Dominanzgesellschaft jenen behinderter Menschen überlegen seien, ja, dass nicht behinderte Menschen mehr wert seien und mehr zur Gesellschaft beitrügen.[21] Der englische Begriff «ableism» (able bedeutet so viel wie «fähig») wurde in den 1980er Jahren von amerikanischen Feminist*innen geprägt[22]; das Konzept entstand aber bereits in den 1960er/70er Jahren durch die amerikanische Behindertenbewegung.[23] Zum ersten Mal verwendet wurde ableism in einer PR-Nachricht vom Council of the London Borough of Haringey im Jahr 1986.[24] In Deutschland wird Ableismus häufig so definiert: «Ableismus bezeichnet eine Form der Beurteilung Einzelner hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten und Funktionen […].»[25]
Ableismus begegnet Menschen mit Behinderung überall und ist tief verankert in der gesamtgesellschaftlichen Vorstellung eines vollständig gesunden, weder körperlich noch psychisch oder kognitiv jemals beeinträchtigten Menschen. Dieser bildet die Norm, an der sich alle Menschen messen lassen müssen. Dadurch, dass die Dominanzgesellschaft Menschen in Schubladen steckt und sie als «gesund» und «krank» kategorisiert, wird Ableismus aufrechterhalten, werden Ungleichheiten sowie Barrieren in allen Bereichen des Lebens verstärkt.[26] In Deutschland wird Ableismus oft auch einfach übersetzt mit «Behindertenfeindlichkeit». Laut Rebecca Maskos, Wissenschaftlerin und Journalistin, «ist Ableismus breiter als Behindertenfeindlichkeit. Wie Rassismus und Sexismus bildet der Begriff nicht nur die Praxis im Umgang mit einer Gruppe ab, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen, die diese Praxis hervorbringen.»[27] Ableismus ist also sehr viel mehr als Behindertenfeindlichkeit, denn man kann ihn nicht allein durch eine Veränderung der eigenen Haltung bekämpfen. Er wirkt auf individueller, struktureller und institutioneller Ebene.
Ableismus kann sich deshalb in ganz unterschiedlichen Formen ausdrücken – zum Beispiel als Vorurteile und Stereotype, durch physische Barrieren im Alltag oder durch eine erschwerte Teilhabe an der Gesellschaft. Im direkten Vergleich zu anderen Arten der Diskriminierung ist Ableismus wenig bekannt. Er wird oftmals auch gar nicht als solcher verstanden oder als Diskriminierung ernst genommen, obwohl Ableismus ähnliche Auswirkungen hat wie andere Formen der Diskriminierung.
Ableismus spricht Personen einer marginalisierten Gruppe ihre Würde ab, untergräbt ihre Rechte und nimmt ihnen diverse Möglichkeiten, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Dabei tragen verschiedene Mechanismen zur Entstehung von Ableismus bei, wie etwa mangelndes Verständnis, Stigmatisierung und Pathologisierung. Im Folgenden geben wir dir einen kurzen Überblick über diese Mechanismen, denn nur, wer versteht, wie Ableismus entsteht, kann ihn auch wirksam bekämpfen.
Astrid ist 25 Jahre alt. Sie liebt Eislaufen, Theaterbesuche und schaut gerne tränenreiche Romcoms mit ihren Freund*innen. Astrid ist in allen Bereichen ihres Lebens eine «durchschnittliche» Frau, außer, wenn es um die Größe geht. Denn Astrid entspricht mit 1,20 Meter nicht dem Durchschnitt. Deshalb ist sie in ihrem Alltag häufig diskriminierenden Erlebnissen ausgesetzt. Vor Kurzem war Astrid shoppen. Einkaufen gehen stresst sie immer sehr, denn sie muss Kindergrößen tragen und hat so nie die Auswahl, mit der andere Personen rechnen können. Als Astrid zwischen einem Shirt mit Eiskönigin-Elsa-Aufdruck und Schneemannfreund-Olaf steht und sich nach einem Mitarbeiter umsieht, der ihr die Kleidung vom Ständer nehmen könnte, weil dieser nicht auf kleinere Personen zugeschnitten ist, tritt eine andere Person an sie heran, tätschelt ihr den Kopf und sagt: «Na, Mäuschen, was suchst du denn?»
Was Astrid in diesem Beispiel erlebt, basiert auf einer Stereotypisierung – ein kognitiver Prozess, bei dem Menschen andere anhand von wahrgenommenen Merkmalen oder Attributen in Gruppen einteilen. Weil Astrid eine kleinwüchsige Person ist, nimmt ihr Umfeld sie oft nicht als erwachsene Frau wahr. Fremde Menschen tätscheln ihr ungefragt mitten im Gespräch den Kopf oder verniedlichen sie mittels Sprache. Ähnlich geht es auch Menschen mit Lernschwierigkeiten, die von anderen zuweilen als infantil und unfähig wahrgenommen und deshalb wie kleine Kinder behandelt werden, die über nichts selbstbestimmt entscheiden können. Von körperlich behinderten Menschen hingegen denken viele, sie seien hilflos. Das Stereotyp, das wohl allen behinderten Menschen schon begegnet ist, lautet: «Behinderte Menschen sind eine Last für ihr Umfeld.»
John ist 40 Jahre alt und Pilot. Schon seit vielen Jahren lebt er mit einer wiederkehrenden Depression, die er mit Medikamenten und vielen Stunden Therapie meist gut im Griff hat. Auf der Arbeit ist seine Krankheit bekannt. Er wurde als flugfähig eingestuft und erhält Unterstützung.[28] Trotzdem hat John Tage, an denen die ständig wechselnden Arbeitszeiten und die Mischung aus körperlicher Belastung und großer Verantwortung für ihn schwer zu händeln sind. Die letzten Monate waren besonders hart: Zwischen Erkältungswelle, Streiks und Kündigungen musste John mehrere Doppelschichten übernehmen, die für seine mentale Gesundheit nicht förderlich waren. Er weiß um das Stigma rund um psychische Erkrankungen, fürchtet um die Reaktionen und behält seine Sorgen deshalb lieber für sich. Dennoch hat eine Kollegin mitbekommen, dass er niedergeschlagen wirkt, und ihn gefragt, was los sei und ob sie irgendetwas tun könne, um John zu unterstützen. Johns Kollegin fühlt sich während des Gesprächs sichtlich unwohl und sagt: «Es tut mir sehr leid, dass es dir schlechtgeht. Aber John, so kannst du nicht zur Arbeit erscheinen. Nicht dass du auch noch ein Flugzeug gegen einen Berg fliegst.[29]»
Wie du an diesem Beispiel erkennen kannst, ist Stigmatisierung ein Prozess, bei dem Menschen aufgrund von bestimmten Merkmalen – Geschlecht, Religion, Behinderung/chronische Erkrankung usw. – negativ bewertet oder diskreditiert werden.[30] Insbesondere psychische Erkrankungen sind nach wie vor hoch stigmatisiert in der Dominanzgesellschaft. Das wissen auch die Betroffenen, weshalb sie wie John nur selten um Unterstützung bitten. Sie schämen sich für ihre Erkrankung und verstecken sie. In unserer Leistungsgesellschaft werden gerade psychische Beeinträchtigungen oft als Schwäche angesehen: «Stell dich nicht so an», «Augen zu und durch», «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker» und «Da musst du dich halt durchbeißen!» Von der Art Sprüche gibt es noch viele mehr. Gleichzeitig lehnen viele Menschen psychisch Kranke ab, weil deren Verhalten (manchmal) nicht der «Norm» entspricht. Die Person, die in der U-Bahn mit sich selbst redet und dabei mit den Armen auf und ab fuchtelt, oder die Person, die heute himmelhochjauchzend und morgen zu Tode betrübt ist, entspricht nicht der Vorstellung der Dominanzgesellschaft. Zu einer solchen Stigmatisierung kommt es aber oft nicht nur im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen, sondern auch mit anderen Behinderungen. Zum Beispiel glauben viele Menschen, körperlich behinderte Menschen seien generell weniger talentiert als andere, oder dass etwa taube Menschen ungebildet seien. Stigmatisierung führt in den meisten Fällen zu einer Diskriminierung.
Andre ist 10 Jahre alt. Schon nach der Eingewöhnung im Kindergarten ist aufgefallen, dass er sich schwertut mit sozialen Interaktionen und Kommunikation. Außerdem scheint für ihn alles zu laut, zu hell und zu überladen mit sensorischen Reizen zu sein. Auch Andres Eltern merken, dass ihr Sohn nicht dem entspricht, was die Dominanzgesellschaft als Norm definiert, und gehen auf Anraten der Erzieher*innen mit ihm zu einer Medizinerin, die Autismus diagnostiziert. Im Befund stehen nur die Dinge, die Andre anstrengen; der Fokus liegt darauf, was alles «falsch» an ihm sei, und natürlich gibt es für alles einen passenden Fachbegriff.
Wie in diesem Beispiel nehmen Menschen aus verschiedenen Kontexten die Behinderung einer Person häufig als einen krankhaften oder fehlerhaften Gesundheitszustand wahr, der behoben werden muss. Die Defizite und Schwierigkeiten stehen im Vordergrund.[31] Du hast diese Pathologisierung von Behinderung schon als das «medizinische Modell» von Behinderung kennengelernt. Vielleicht erinnerst du dich auch noch an das kulturelle Modell von Krankheit oder Behinderung: Manche Autist*innen identifizieren sich zum Beispiel nicht als behindert, weil sie Neurodivergenz als Teil menschlicher Vielfalt ansehen und nicht als krankhaft oder fehlerhaft.
Denk mal drüber nach
Warum ist es dir wichtig zu wissen, welche Behinderung eine Person hat?
Maya ist 25 Jahre alt und hat gerade ihren Master of Arts im Bereich Kommunikation abgeschlossen. Maya hat außerdem eine körperliche Behinderung. Seit ihrem vierten Lebensjahr nutzt sie deshalb einen Rollstuhl. Schon während des Studiums bewirbt sich Maya bei zwanzig PR-Agenturen. Sie wird nur zu zwei Vorstellungsgesprächen eingeladen. Bei beiden ist sie die qualifizierteste Bewerberin. Trotzdem bekommt sie zwei Absagen. Eine*r der beiden Arbeitgeber*innen sagt ihr ganz direkt: «Wir glauben, dass der Job mit ihren speziellen Bedürfnissen einfach zu viel für Sie wäre.»
Wie Maya ergeht es vielen Menschen mit Behinderung. Obwohl sie mehr als die nötigen Qualifikationen und Fähigkeiten mitbringen, werden sie nicht eingestellt. Manchmal, weil die Arbeitgeber*innen denken, sie seien den Aufgaben nicht gewachsen, nur weil sie eine Behinderung haben oder aber weil die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz fehlt und Arbeitgeber*innen es für zu teuer oder kompliziert halten, diese zu schaffen. Im Ergebnis wird Maya durch den Ausschluss von der Arbeitswelt unsichtbar gemacht. Außerdem wird sie von wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen ferngehalten. Ihr Potenzial wird dabei nicht berücksichtigt.