Störche, Roboter und saugende Küsse - Hardy Tasso - E-Book

Störche, Roboter und saugende Küsse E-Book

Hardy Tasso

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Was bleibt nach 50 Jahren Arbeit als Autor? Vor allem Erinnerungen an Störche, Roboter und saugende Küsse. An Themen und Menschen, die wichtig waren und noch sind: für uns alle. Was haben Störche und der demographische Wandel in den Industriestaaten gemeinsam? Können wir die Überalterung unserer Gesellschaft durch intelligente Roboter verhindern? Werden Lems "saugende Küsse" uns die letzten eigenen Gedanken aus den Hirnen saugen? Hatte der Computer-Forscher Joseph Weizenbaum recht, wenn er statt einer Mission zum Mars zunächst - ganz analog - mehr Menschlichkeit, Frieden und Nahrung für alle Menschen auf der Erde forderte? Kann die "Grüne Revolution" des Nobelpreisträgers Norman Borlaug die Ernährung von bald zehn Milliarden Menschen sichern? Lässt Trump die Mexikaner an seiner "Mauer" verhungern? Lässt Westdeutschland die Ostdeutschen an der Mauer in den Köpfen "verhungern"? Und wer darf überleben, wenn die globale Erwärmung nicht mehr geleugnet werden kann und deutlich spürbar wird? All diese Probleme führen zu der einen Frage: Sind wir noch zu retten?

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Seitenzahl: 1131

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Für meine Ehefrau Ute, unsere Töchter Charlotte und Johanna und unsere süße Enkelin Coco Aiyana.

Einen großen Dank auch an all die Gesprächspartner, die mir ihre Geschichten erzählt und ihr Wissen vermittelt haben. Danke für Ihr Vertrauen.

Inhalt

Kurze Einführung zum Wichtigsten

1980 * Nordsee - Totes Meer?

1980 * Drei Drogenabhängige schaffen den Ausstieg

1983 * Synanon: Hoffnung für hoffnungslose Fälle

1983 * CO2: Die dritte Zukunft

1983 * Wettrüsten - Anmerkungen zur Nuklearstrategie der Supermächte

1984 * Greenpeace: Die Regenbogenkrieger

1985 * Amazonien - Wald, Weide oder Wüste?

1985 * Alte Armut - neue Armut

1986 * Célestin Freinet: Praxis einer praktischen Pädagogik

1987 * Störche, Babys und Statistik

1987 * Arbeitsplatz oder Gewissen?

1990 * Gehörlos

1990 * Kinder aus Tschernobyl

1991 * Kuba: Invasion in der Schweinebucht

1992 * Ein Zaun gegen Mexikaner

1992 * Norman Borlaugs 'Grüne Revolution

1992 * Wenn die Seele leidet, weint der Körper

1994 * Patente auf Leben

1994 * David Parnas: Software-Fehler

1994 * Gewalt in Familien

1995 * Suzuko Numata: Hibakusha

1995 * Seiuemon Inaba: Roboter wie ein alter Mann

1995 * Wissenschaft und Verantwortung: Technically Sweet

1995 * Wissenschaft und Verantwortung: Hochstimmung und Erregtheit

1995 * Kuba Libre

1995 * Von Kuba ins Paradies

1995 * "Hermanos al Rescate"

1995 * "Little Havanna"

1996 * Modell-Einrichtung für Alzheimer-Kranke

1996 * Versuchs-Menschen

1996 * Unfreiwillige Versuchs-Menschen

1996 * COG: Der humanoide Roboter

1996 * Anne Foerst: COGs Würde

1996 * Stanisław Lem: Katastrophen und saugende Küsse

1996 * Joseph Weizenbaum: Computer im KZ

1996 * Ekkehard Sauermann: 'Ihr armen DDR-Trottel'

1996 * Liedermacher Gerhard Gundermann und 'Seilschaft'

1997 * Michael Chrapa: Ostalgie soziologisch

1997 * Handover in Hongkong

1997 * Flucht aus China: Tieniu Wong

1997 * Das moderne China: Rochelle Ma

1997 * Hans Moravec: Die Evolution der Roboter

1997 * Die Öko-Region - Reise in ein Land der Möglichkeiten

1999 * Caroline: 'I am blessed'

1999 * DARPA: Autonome Kriegs-Roboter

1999 * Anne Foerst: Gott und Computer

1999 * Rosalind Picard: Glauben Maschinen an Gott?

1999 * Die Ohren-Bibliothek - Regenwald im Schnell-Durchlauf

1999 * Watching You

2001 * SDI: Raketenabwehr im Weltall

2002 * Rodney Brooks: Mensch-Maschinen

2003 * Kevin Warwick: Chip im Hirn

2007 * DGS: Die schönste Sprache der Welt

2008 * Area 51

2009 * Technik und ihre Folgen

2012 * Taub in Kenia

2013 * Tim Cannon: Cyborg

2017 * Alex Pentland: Social Physics

2017 * Rainer Mühlhoff: Big Data entmündigt das Individuum

2019 * Sabine Henze: 'Kapitalisten und Verbrecher'

2019 * Marcus Böick: Gestern Treuhand – heute AfD?

Nachwort

Kurze Einführung zum Wichtigsten

Was bleibt nach fast 50 Jahren Arbeit als Hörfunk-Autor? Viel. Viele Erinnerungen unter anderem an Störche, Roboter und saugende Küsse - an Begegnungen mit Themen und Menschen, die wichtig waren und immer noch wichtig sind: für uns alle. Wichtig sind mir Begegnungen, weil ich mich frage, ob ich mein Leben nicht genauso intensiv und gefahrvoll dem Umweltschutz hätte widmen sollen, wie Harald Zindler dies bei Greenpeace getan hat – der dabei mehr als einmal in Lebensgefahr geriet. Und natürlich hätte ich für unsere gehörlose Tochter Charlotte weitaus mehr Zeit aufbringen und die deutsche Gebärdensprache viel intensiver und früher erlernen müssen, damit sie sich in unserer Familie nicht so sehr oft isoliert gefühlt hätte. Einige Interviews sind mir heute wichtiger als damals, weil sie sich im Laufe der Jahrzehnte als äußerst bedeutsam erwiesen haben: So haben Wissenschaftler bereits Anfang der 1980er Jahre vor dem Treibhauseffekt gewarnt, heute Klimawandel genannt; diese Warnung haben damals viele, mich eingeschlossen, nicht ernst genug genommen. Ich hätte sicherlich auch meinen drogensüchtigen Bruder ernster nehmen müssen. Aber konnte ich ihm als Laie je wirklich helfen? Drogentherapeuten haben Anfang der 1980er Jahre immer wieder vor laienhaften, gutgemeinten, aber schlecht durchgeführten Hilfeversuchen für Drogenabhängige gewarnt.

Vor den Texten steht jeweils das Jahr, in dem ich sie geschrieben habe. So sind einige der Texte fast 40 Jahre alt und geben nicht mehr den aktuellen Stand der heutigen Technik oder der momentanen gesellschaftlichen Situation wieder. Sie erlauben aber einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung, die diese Themen genommen haben, wenn man sie den aktuellen Zuständen konfrontiert. Dabei können die Quellen-Hinweise am Ende der Texte helfen; sie stellen jedoch lediglich meine subjektive Auswahl dar. So kann man beispielsweise im Bereich Drogenmissbrauch feststellen, dass es heute in Deutschland weitaus weniger Drogentote als Anfang der 1980er Jahre gibt. Allerdings ist der Konsum von Kokain und „modernen“ synthetischen Substanzen wie Crystal Meth oder Ecstasy weltweit angestiegen und hat angesichts der damit verbundenen Kriminalität bedrohliche Bedeutung erlangt. Heute kontrollieren "Drogen-Barone" ganze Landstriche, etwa im Norden Mexikos. Man kann auch die ökologische Entwicklung der Nordsee und der ihr zufließenden Flüsse von 1980 bis heute verfolgen, indem man das Nordseegutachten von 1980, das als Grundlage für meine Sendung über die Nordsee diente, mit dem Bericht über die Nordsee von 2018 vergleicht. Nachverfolgen kann man auch das Aufkommen der Künstlichen Intelligenz (KI) in den 1960er Jahren sowie die langsam aufkommende Kritik daran in den 70ern, die vor allem von einem ihrer Gründerväter, Joseph Weizenbaum, vehement vorgetragen wurde. Weiter erfährt man, was Rodney Brooks in den 1990ern motiviert hat, COG, einen der ersten humanoiden Roboter, zu entwickeln, zu bauen und ihn wie ein menschliches Baby aufzuziehen - und ihn wenige Jahre später ins Museum des MIT zu stellen. Mit diesen und anderen Ereignissen begann der Aufstieg von KI und Robotik zu ihrer heutigen Bedeutung.

Dieses Buch ist ein Nachschlagewerk mit Hintergrundbeleuchtung: Mehr als ein kurzer Zeitungsartikel über einen Vorfall, aber doch kein Sachbuch zu nur einem speziellen Thema. Es enthält die wichtigsten Fakten zu Themen, die ich mich bemüht habe, so aufzubereiten, dass sie bleibende Eindrücke im Hörer - und jetzt im Leser - hinterlassen. Eindrücke, die Menschen vielleicht berühren oder - besser noch - zum Handeln veranlassen.

Die Texte gehören meiner Meinung nach auch deshalb in dieses Buch, weil sie wichtige Informationen für unser aller Zukunft liefern: Wohin wird sich die Künstliche Intelligenz entwickeln: zur Diktatur intelligenter Big-Data-Programme, die uns entmündigen, wie der Berliner Philosoph Rainer Mühlhoff fürchtet? Und hatte der Computer-Wissenschaftler Joseph Weizenbaum recht, wenn er statt einer KI-gesteuerten Mission zum Mars zunächst - ganz analog - mehr Menschlichkeit, Frieden und Nahrung für alle Menschen auf der Erde forderte? Natürlich hatte Weizenbaum recht. Nur folgten ihm nur wenige Menschen. Welche Chancen haben dann solche Warnungen unter den Bedingungen eines globalen Kapitalismus? Und welche Chancen haben heute neue Technologien, die Probleme der Menschheit zu lösen und die Welt zu verbessern - und nicht nur noch mehr Profit für wenige Menschen zu generieren?

Hat vielleicht die „Grüne Revolution“ des Nobelpreisträgers Norman Borlaug das Potential, die Ernährung von bald zehn Milliarden Menschen zu sichern? Oder hilft sie im Gegenteil, die armen Kleinbauern etwa in Indien vollends ins Elend zu stürzen, weil sie sich gen-veränderte, patentierte Pflanzensorten, elektronische Bewässerungsanlagen, industriell produzierte Pflanzenschutzmittel und digital gesteuerte Traktoren nicht leisten können? Geht es bei dieser Frage überhaupt um Technik? Oder ist all das nicht vielmehr ein politisch wirtschaftliches Gezerre um Machtkonstellationen, die eine sozial gerechte Lebenswelt eigentlich ausschließen?

Falls aber High-Tech die Menschheit tatsächlich „retten“ kann: Welchen Preis müssen wir dafür zahlen? Wer kann und will die Folgen neuer Technologien vorhersehen? Außer ein paar Wissenschaftlern, auf aber die gerade jene Menschen oft nicht hören, die über wirtschaftliche und politische Macht verfügen, Verhältnisse zum Positiven zu verändern - aber meist lediglich den Erhalt ihrer Macht betreiben. Bestes Beispiel ist vielleicht Donald Trump, der sich weigert, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zum Klimawandel anzuerkennen, und die sich andeutende Klima-Katastrophe zu natürlichen „Wetter-Extremen“ herabredet; und die seien keinesfalls von Menschen verursacht, weshalb Menschen auch nichts für das Klima tun können und müssen. Das wiederum veranlasst dann viele - auch kluge - Menschen, an Wissenschaft generell zu zweifeln.

Vielleicht aber wendet sich ja durch humanoide Roboter als Helfer der Menschheit alles zum Guten. Werden sie uns Menschen am Arbeitsplatz ablösen, uns ‘in Rente’ schicken und unsere Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Fürsorge, ja vielleicht sogar Liebe befriedigen? Und wäre das wirklich gut? Oder haben sie uns bereits in ihre entmaterialisierten Gehirne integriert, wie der Roboter-Entwickler Hans Moravec vermutet? Ein ernst gemeinter Vorschlag des britischen Forschers Kevin Warwick lautet, wir sollten uns alle in Cyborgs verwandeln, sollten elektronische Chips in unsere Körper implantieren, um im Konkurrenzkampf mit „upgegradeten Mensch-Maschine-Wesen“ nicht vollends unterzugehen. Derartige Technologien haben aber immer zwei Seiten, wie hunderttausende von Opfern der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki erfahren haben. Was also können wir tun gegen den Missbrauch neuer High-Technologien? Wie etwa stellen wir sicher, dass ein menschen-ähnlicher Roboter, der mit Kindern kreativ spielen kann, nicht als Flug-Roboter, als Drohne, andere Kinder in weit entfernten Ländern auf Befehl von Menschen zerfetzt?

Kurz gefragt: Sind wir noch zu retten?

Wegen solcher Fragen sind mir die Themen und Gespräche in diesem Buch wichtig - die Störche und Roboter und Stanisław Lems saugende Küsse. Sie behandeln vieles von dem, was mir wichtig war in 50 Jahren als Hörfunkautor und mir wichtig ist heute: ganz privat als Ehemann, Vater und Großvater. Insofern sind diese Texte vor allem meiner Ehefrau Ute, unseren Töchtern Johanna und Charlotte und unserer Enkelin Coco zugedacht.

Hardy Tasso, März 2020

1980 * Nordsee - Totes Meer?

Sendung für die NDR-Feature-Redaktion

Es war einmal ein Dorf an der Nordsee. Das Dorf hieß Grönbüll. Es lag am Rande üppiger Rapsfelder, die in unregelmäßigen Gevierten über sanft geschwungene Hügel flossen, an winddurchwogten Kornfeldern, kleinen Wäldern, Wiesen, manchmal schnelle, holprige Bäche darin. Schwarzbunte Kühe und Schafe und Schweine. Zahllose Vögel kamen an den Strand, ins Watt, um sich Fische und Krebse als Futter zu holen, dort zu nisten, zu rasten. Die Gegend war geradezu berühmt für ihre an Zahl und Arten so reiche Vogelwelt. Und wenn im Frühling und Herbst Schwärme von Zugvögeln auf der Durchreise einfielen, kamen Leute von weither, um sie zu beobachten.

Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame, schleichende Seuche auf, und alles begann, sich zu wandeln. Auf den Höfen brüteten die Hennen, aber keine Küken schlüpften aus. Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Jeder Wurf Schweine umfasste nur wenige Junge, und sie lebten höchstens ein paar Tage. In den Bächen und in den großen Netzen der Fischer trieben die Fische tot und waren übersät mit lilafarbenen Geschwüren und Pusteln. Die Bauern und Fischer erzählten von vielen Krankheitsfällen in ihren Familien. Im Dorf standen die Ärzte den neuartigen Krankheiten ratlos gegenüber. Einige Menschen starben plötzlich und unerklärlich, nicht nur Erwachsene, auch Kinder: Mitten im Spiel überfiel sie jäh Übelkeit, und binnen weniger Stunden waren sie tot.

Bald herrschte eine ungewöhnliche Stille im Dorf. Wohin waren die Vögel verschwunden? Die Landstraßen waren von welk gewordenen Feldern braun gesäumt, als wäre ein Feuer über sie hinweggegangen. Auch hier war alles totenstill, von Lebewesen verlassen. Und selbst im Meer regte sich kein Leben mehr. Schweigen lag über Feldern, Wald und Wasser. Es war aber Frühling in Grönbüll.

Suchen Sie im Atlas, in Ihrem Gedächtnis nicht nach Grönbüll. Ich habe dieses Dorf erfunden. Es gibt es nicht. Das heißt: Es gibt kein Dorf, dem all dieses Unglück widerfahren ist. Aber jedes einzelne dieser unheilvollen Geschehnisse hat sich tatsächlich irgendwo auf der Welt so zugetragen. In manchen Orten starben Rinder, Schafe und Fische, in anderen gingen Pflanzen zugrunde, in wieder anderen befielen rätselhafte Krankheiten die Menschen. Und viele wirklich bestehende Gemeinden haben bereits mehrere solcher Unglücksfälle erlitten - einen stummen Frühling jedoch noch nicht.

Die amerikanische Biologin Rachel Carson warnte in ihrem Buch "Der stumme Frühling" vor der Bedrohung unserer Umwelt durch synthetisch-chemische Pflanzenschutzmittel. Das war 1962. Ihre Zukunftsvision "einer Stadt im Herzen Amerikas", die sich unter dem "Pesthauch eines weißen, körnigen Pulvers" verwandelt - ihr "Zukunftsmärchen" habe ich der Nordsee angepasst, der Nordsee und ihren Giften. Gibt es Anfänge des Sterbens, erste Erscheinungen, Wirkungen schon bei uns?

Ich fahre nach Büsum. Mit dem Auto. Durch die leichten Hügel, Waldflecken grün in der Ferne, Felder, Wind in Wiesen. Büsum im Regen. Die überall gleiche, obligate Fußgängerzone, zwischen Restaurants mit Täfelchen: Hier Fisch satt essen! Treppen den Deich hinauf, oben Beton-Kurhaus-Gastlichkeit. Kein Meer in Sicht. Nur Zeitungsmeldungen an den Kiosken.

"Immer mehr Gammel! Kapitän Heinz Hamann, ältester Fischer in Büsum, kämpft gegen die zunehmende Verschmutzung der Nordsee. Jeden Tag muss er die Hälfte seines Fanges über Bord werfen, weil die Fische verseucht sind."

Endlich! Ich bin hindurch durchs Häuser-Meer. Grüne Wiesen deichab. Rotbunte Strandkörbe, nass und leer und in jetzt sinnlosen Richtungen zueinander gestellt. Dahinter die See. Ich sehe die See. Und mische sie mit den Nachrichten über sie in meinem Kopf:

"Nordsee als Müllkippe? Das Verwaltungsgericht Hamburg entschied: Dünnsäure darf weiterhin in Fischfanggebiete der Nordsee eingeleitet werden."

Welche Farbe hat die See? - Ich entscheide mich für braun.

"Alarm für die Nordsee! Die Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg schlägt Alarm: Erstmals haben die Fischforscher einen Zusammenhang zwischen dem Einleiten von flüssigem Chemie-Müll bei Helgoland und einer Hautkrankheit bei Plattfischen festgestellt."

Die Nordsee heute hier in Büsum im Regen bei Flut ist braun. Was ist sie noch?

"Rettet die Nordsee! Der Bonner Sachverständigenrat legte ein Sondergutachten über die Nordsee vor. Auf mehr als 1.000 Schreibmaschinenseiten bestätigen die Wissenschaftler bisherige Befürchtungen: Die Nordsee ist in höchster Gefahr."

Ich sehe die See. Ich komme ihr nicht näher beim Hinsehen. Ich habe kein Gefühl für die See. Nur Formeln und Zahlen. Die Flut der Meldungen, der Berichte, der Daten ertränkt mich. Durch Meldungen über die Natur bin ich abgestumpft gegen die Natur. Ich erlebe jetzt, dass ich die Natur nicht mehr erlebe.

Zwar singen die Vögel noch; der Frühling des nächsten Jahres wird noch nicht stumm sein. Aber es ist schon stiller geworden ringsherum. Das wissen alle, die noch ein Ohr haben für die Stimmen der Vögel und die den Lärm der Technik noch von den Geräuschen der Natur unterscheiden können.

Ich kann nicht mehr unterscheiden, die Fakten nicht ordnen. Ich habe sie nicht geordnet in mir. Wie weit stimmt die Zukunftsvision über die Nordsee schon? - Ich werde die Fakten über die Nordsee ordnen. - Ich beginne mit Grundlegendem:

Die Nordsee ist ein Randmeer des Atlantischen Ozeans. Sie hat eine mittlere Tiefe von 80 Metern. Der Meeresboden steigt von Norden nach Süden an. Ihre Fläche beträgt 525.000 Quadratkilometer. Sie ist also etwa doppelt so groß wie die Bundesrepublik. Nordsee-Anrainer sind sieben Staaten: Norwegen, Dänemark, die Bundesrepublik, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Großbritannien. Die Nordsee wird genutzt als Vorfluter für Abwässer; als Transportweg zwischen europäischen und überseeischen Häfen; als Quelle für Rohstoffe, Energieträger und Nahrungsmittel: zum Beispiel Erdöl, Erdgas und Fische.

Soweit einige Grundlagen.

"Die Nordsee lässt nach dem derzeitigen Stand des Wissens noch keine großräumigen Schäden erkennen; geschädigt sind aber bereits Teile des Küstenmeeres und die Flussmündungen. Damit ist aber auch die Nordsee als Ganzes erheblich gefährdet."

Das hat der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen im Auftrag des Bundesministeriums des Innern in seinem Sondergutachten über die Nordsee 1980 festgestellt, Biologen, Politologen, Ökologen, Mediziner, Juristen. - Ich brauche Zeit, Klarheit in kleinen Schritten. - Die Nordsee heute hier in Büsum im Regen bei Flut ist braun. - Ich beginne meine Nachforschungen beim Deutschen Hydrographischen Institut in Hamburg - das ist die Bundesbehörde, die Firmen die Genehmigungen erteilte, Dünnsäure von Schiffen aus in die Nordsee einzuleiten; die der Stadt Hamburg und der Gemeinde Cuxhaven erlaubte, Klärschlamm in bestimmten Seegebieten zu verklappen. "Verklappen" - so nennen Behörden das Versenken von Abfällen in der Nordsee. Verklappen klingt technisch sauber. Ein Beamter erklärt sachlich, gelangweilt: »Dünnsäure und Klärschlamm sind von der Menge her gar nicht so bedeutsam. Die machen, über den Daumen gepeilt, na, sagen wir höchstens ein Prozent des gesamten Schmutzeintrages in die Nordsee aus. Aber ob nun ein Prozent oder zehn: Tatsache ist, dass weitaus größere Mengen von Abfallstoffen auf ganz andere Art als durch Verklappen in die Nordsee gelangen. Zum Beispiel werden Abwässer an der Küste direkt eingeleitet, von Raffinerien und chemischen Werken hauptsächlich. Dann werden Stoffe aus der Atmosphäre ausgewaschen, Stoffe, die wir vorher in die Atmosphäre hineingeblasen haben. Dann Öle und Chemikalien, die durch die Schifffahrt ins Wasser gelangen. Am meisten Gifte aber, wenn ich das mal so lax formulieren darf, am meisten Gifte kommen mit den Flüssen ins Meer. Und da hat das deutsche hydrographische Institut als Genehmigungsbehörde überhaupt keinen Einfluss drauf. Das machen andere Behörden. Die Flüsse, ich glaube, die sollten Sie sich mal näher anschauen.«

In Ordnung: die Flüsse.

Die Nordseegutachter stellen fest: "Über die Flüsse gelangt ein wesentlicher Anteil von Schmutzstoffen in die Nordsee. Mengenmäßig bedeutsam sind der Rhein, die Ems, die Weser, die Elbe und die Lider. Nach der Gewässergütekarte der LAWA, der "Länderarbeitsgemeinschaft Wasser", von 1977 sind alle im deutschen Küstenbereich mündenden Flüsse "mäßig" bis "kritisch belastet". Streckenweise - so zeigt unter anderem die LAWA-Gütekarte darüber hinaus - sind die Flüsse Rhein, Ems, Weser und Elbe sogar "stark bis übermäßig verschmutzt".

Aber was heißt das? "Stark bis übermäßig"? Der Beamte hat einen seltsamen Humor:

»Der Rhein ist durch zahlreiche Industrien, Häfen, Gemeindeabwässer so stark belastet, dass große Fischsterben bald seltener werden dürften: weil bald kaum noch Fische im Rhein leben. Forellen, Lachse, Barben, Äschen und Hechte sind bereits verschwunden.«

Ich sehe mir die Elbe genauer an.

Landschaft im Zeitraffer: bei Lauenburg, 50 Kilometer flussauf, fließt die Elbe noch schmal durch Bäume und Wiesen, ein dünner Streifen Naturschutzgebiet ist hier an ihrem rechten Ufer bis etwa Geesthacht geplant. Die Elbe hinab festgestellte und geplante Erholungsgebiete, bestehende Landschaftsschutzgebiete, grün bis vor den Hamburger Hafen. Hier, verästelt, verbaut, kanal-zerschnitten, kommt sie hinter Hamburg nicht wieder recht in Form, wird fast unüberbrückbar breit, mit Sanden und Flusseinmündungen durchsetzt, von keiner benennbaren Farbe, nicht einmal braun. Vorbei noch einmal an gesetzlich geschütztem Grün der Haseldorfer Marsch, die mit kleinen Flussärmchen idyllisch ruhig Natur zeigt. Die verliert sich flussabwärts, lebt erst hinter Brunsbüttel in der Elbemündung noch einmal auf, als geplantes Schutzgebiet, als "Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung".

Dieselbe Flussstrecke noch einmal: diesmal die künstlichen Nebenflüsse der Elbe: bei Lauenburg: Stadtabwässer. Geesthacht: radioaktives Wasser aus Kernforschungsanlagen, Abwässer aus Kläranlagen. Harburg: ungeklärte Stadtabwässer. Hamburg: Abwässer aus Raffinerien der Esso, Shell, BP, Texaco, aus der metallgewinnenden Norddeutschen Affinerie, den Hamburger Stahlwerken, den Hamburger Aluminium Werken GmbH, Abwässer aus dem Klärwerk Köhlbrandhöft. Wedel: Abwässer der Mobil-Oil AG und des Kraftwerkes Wedel. Stade: Abwässer der Dow-Chemical GmbH, der Aluminiumwerke Elbe-Werk-GmbH, der Aluminiumoxid Stade GmbH, des Ölkraftwerkes Schilling, Stadtabwässer, Kühlwasser des Kernkraftwerkes Stade. Glückstadt: ungereinigte Abwässer der Papierfabrik Peter Temming AG, Abwässer der Zellstoffindustrie und Haushalte. Brunsbüttel: Abwässer der Chemischen Werke Hüls AG, der Elbe-Slop-Ex-GmbH, der Kali-Chemie AG, der Condea-Chemie AG, der Elf Bitumen Raffinerie, der Bayer AG, eines Kernkraftwerkes, Abwässer der Stadt.

Dieselbe Strecke Fluss. Dasselbe Stück Wasser. Was ist darin? Gelöst, unsichtbar? Was sich nur durch den Phenolgeschmack der Fische als anwesend verrät und durch ihr Sterben alljährlich.

Ein Hamburger Student wollte für seine Doktorarbeit über Erholungsmöglichkeiten im Unterelbegebiet erfahren, welche Firmen welche Stoffe in welchen Mengen in die Elbe leiten. Er erbat Einsichtnahme in wasserrechtliche Genehmigungsunterlagen der wichtigsten Industriebetriebe der Elbe. Er erhielt von der Behörde für Bezirksangelegenheiten, Naturschutz und Umweltgestaltung Hamburg folgende Antwort:

"Aufgrund der bestehenden Gesetzesvorschriften ist die Genehmigungsbehörde verpflichtet, die ihr im Rahmen von Genehmigungsverfahren offengelegten Geschäfts- und Betriebsverhältnisse geheim zu halten."

Die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft in Hamburg teilte ihm darüber hinaus mit:

"Die von Ihnen aufgezählten Betriebe tragen nach unseren Untersuchungen im Verhältnis zu den aus der DDR kommenden Schmutzfrachten und denen aus den Einleitungen der Stadtentwässerung Hamburg ohnehin so wenig zur Verunreinigung der Elbe bei, dass unseres Erachtens aus den Unterlagen keine für Ihr Thema relevanten Erkenntnisse gewonnen werden können."

An Genehmigungsunterlagen kommt kaum jemand heran: Betriebsgeheimnis. Es sei denn, er ist zum Beispiel mit einem Einspruch am noch laufenden Genehmigungsverfahren beteiligt. Nachher aber sind die Unterlagen geheim. Einige Daten beschaffte der Student sich dennoch, irgendwie.

"Aktenzeichen römisch acht 21 Schrägstrich römisch acht 23 Strich 5.06.06 Strich 03 Schrägstrich 291. Genehmigung des Ministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Schleswig-Holstein. 'Der Bayer AG Leverkusen wird aufgrund der Paragrafen 2, 3, 4 und 7 des Wasserhaushaltsgesetzes... die Erlaubnis erteilt, folgende Benutzung auszuüben:'"

Die Bayer AG in Brunsbüttel plant, ihr Werk in den nächsten 30 bis 50 Jahren auszubauen, weiß aber noch nicht, was im Einzelnen produziert und daher an Abfällen abgeleitet werden soll. Sie hat um eine Generalgenehmigung gebeten. Der Bayer AG in Brunsbüttel ist es damit unter anderem gestattet, 60.000 Kubikmeter Kühlwasser pro Stunde in die Elbe zu leiten, weiterhin 32.400 Kubikmeter Regenwasser und 15.000 Kubikmeter Betriebsabwässer - pro Stunde. Ein Vergleich: Aus der Hamburger Alster fließen stündlich 9.000 Kubikmeter in die Elbe, das ist etwas mehr als die Hälfte nur der Betriebsabwässer der Bayer AG.

In den Abwässern der Chemiefabrik werden neben chlorierten Kohlenwasserstoffen, Ölen, Phenolen insgesamt über 3.000 Tonnen Schwermetalle pro Jahr enthalten sein - das heißt: in die Elbe eingeleitet sein.

3.000 Tonnen Schwermetalle: Das sind 3.000 PKWs, fein zermahlen und dann über ein Jahr lang in die Elbe gestreut - nur dass die Schwermetalle aus dem Chemiewerk in chemischen Verbindungen vorliegen und meist wasserlöslich sind, also leichter von Fischen aufgenommen werden können.

Bayer in Brunsbüttel ist nur ein Werk an der Elbe. Die Elbe nur ein Fluss zur Nordsee. Was sonst noch an Stoffen in der Elbe enthalten ist, berichtet die "Arbeitsgemeinschaft für die Reinhaltung der Elbe", eine Behörde der Länder Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg, in ihren "Wassergütedaten der Elbe, Abflussjahr 1977":

"Das Elbwasser bei Hamburg enthält unter anderem: Kalium, Cadmium, Quecksilber, Blei, Kupfer, Arsen, Chrom, Ammonium, Nitrite, Nitrate, Ortho-Phosphate, Chloride, Carbonate, HCB, Lindan, Heptachlor, Aldrin, Dieldrin, DDT, DDE, DDD, Endrin 1 Methoxychlor, PCBs, Dichlorbenil, Endosulfan."

Wasser, natürliches Süßwasser, besteht aus einer Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff, H zwei 0, dazu Spuren einiger Salze...

Warum nicht? - Dichlorbenil und Methoxychlor, PCBs und DDT - ich meine, was tut sie mir? Ja: was tun diese Stoffe mir, uns allen? - Wirkungen, Krankheiten, Sterberaten. - Ich ordne: Was ist im Wasser der Flüsse enthalten? Welche Abfallstoffe gelangen über Flüsse ins Meer?

Erstens: Sogenannte leicht abbaubare Stoffe. Sie gelangen aus Hausabwässern beim ganz normalen Abwaschen ins Abwasser: Aus der Bratpfanne das Fett von den Koteletts; aus der Saucenschüssel ein kleiner Rest Sauce; aus dem Topf das, was unten angebrannt war; von den Tellern die Reste; vielleicht Teeblätter aus der Kanne? Und größere Sachen wie Gemüsereste, Kartoffeln, Nudeln. Eigentlich alles nichts Großes.

Fette, Saucen, Gemüsereste, Zucker, Stärke und andere Essensreste aus Haushalten zählen zu den sogenannten "leicht abbaubaren Stoffen".

Ich ordne: die erste Gruppe von Abfällen in unseren Flüssen: die leicht abbaubaren Stoffe.

Leicht abbaubare Stoffe sind organische Schmutzstoffe. Leicht abbaubar - das bedeutet, dass Mikroben solche Stoffe als Nahrung verwerten und sie leicht und schnell in unschädliche Substanzen zerlegen können.

Mikroben, also Mikroorganismen, mikroskopisch kleine Tiere, gibt es zu Myriaden in allen Gewässern. Wo also ist die Gefahr bei Stoffen, die leicht abbaubar sind? Zu unschädlichen Substanzen abbaubar.

Leicht abbaubar - das Wort "leicht" täuscht. Denn beim Zerlegen der Stoffe verbrauchen die Mikroben erhebliche Mengen Sauerstoff. Leicht abbaubar - das bedeutet also auch einen hohen und schnellen Verbrauch von Sauerstoff im Wasser. Leicht abbaubar - das heißt zudem, dass aus diesen Stoffen leicht andere gebildet werden: so zum Beispiel Phosphor- und Stickstoffverbindungen, meist als Phosphate und Nitrate.

Phosphate und Nitrate bilden die zweite Gruppe von Stoffen in unseren Flüssen. Phosphate und Nitrate sind Pflanzennährstoffe.

Pflanzennährstoffe Nährstoffe für Pflanzen. Was Pflanzen ernährt, scheint mir ungefährlich. Im Gegenteil: Bauern nähren Getreide und Gemüse vielfach mit teurem Kunstdünger. Was sollte ich bedenklich finden an Pflanzennährstoffen?

Der tägliche Kampf gegen den Grauschleier, gegen Blutflecken, Eigelbränder, Ketchup- und Spinatringe, das Ringen um Weiß, das weißer nicht geht: Das macht unsere Flüsse dreckig. In fast allen unseren Waschmitteln sind auch Phosphate enthalten. Sie gelangen aus Millionen Handsteinen, Hunderttausenden von Waschmaschinen durch Abflussrohre in die Kanalisation in die Kläranlagen und dann in die Flüsse.

Um Phosphate aus Abwässern heraus zu klären, benötigt man eine chemische Reinigungsstufe im Klärwerk. Das Hamburger Großklärwerk Köhlbrandhöft hat keine solche chemische Reinigungsstufe. Köhlbrandhöft - eines der größten europäischen Klärwerke.

Phosphate gelangen also meist durch Abflussrohre, durch die Kanalisation, durch die Klärwerke in die Flüsse.

Wird bei uns so viel gewaschen?

In der Bundesrepublik Deutschland werden jedes Jahr für mehr als zwei Milliarden Mark Wasch- und Reinigungsmittel gekauft: davon rund 450.000 Tonnen Waschmittel, mehr als 60.000 Tonnen Spezialwaschmittel, fast 35.000 Tonnen Weichspülmittel, annähernd 200.000 Tonnen Geschirrspülmittel, etwa 80.000 Tonnen Haushaltsreiniger, nicht ganz 50.000 Tonnen Scheuermittel und ungefähr 20.000 Tonnen Handreinigungsmittel.

Ist die deutsche Hausfrau nicht nur eine der saubersten Hausfrauen der Welt, sondern sogar keimfrei?

Doch nicht nur aus den Waschtrögen der Nation rinnt schmutziges Weiß: Phosphor- und Stickstoffverbindungen laufen ein aus Ausläufen der Industrie, werden ausgespült aus land- und forstwirtschaftlichen Böden, sind enthalten in menschlichen Ausscheidungen.

Leicht abbaubare Stoffe und Pflanzennährstoffe. Zuläufe aus Haushalt, Industrie, Landschaft. - Wirkungen: ein kleiner Fluss kippt um.

Im Wasser des Flüsschens ist viel Sauerstoff gelöst. Kleine, oft unsichtbare Teilchen wirbeln im Wasser aus einem großen Rohr heran: Teilchen von Zuckern, Fetten, Stärken, Phosphat- und Nitratpartikel. Sie strömen in den Vorfluter, den Fluss, der amtlich nun nicht mehr Schwinge, Krückau oder Stör heißt, sondern technisch "Vorfluter": ein Gewässer, in das Abwässer eingeleitet werden. Pflanzen nehmen die Phosphate und Nitrate begierig auf und verwenden sie zum Wachsen. Mehr und immer mehr Pflanzen wachsen, doch mehr und immer mehr Pflanzennährstoffe strömen mit dem Abwasser nach. So wachsen Myriaden von Pflanzen. Von den Pflanzen ernähren sich mikroskopisch kleine Tierchen, das sogenannte Zooplankton, und kleine Bodentiere. Die werden dann ihrerseits von Fischlarven und Jungfischen gefressen. So können Phosphate und Nitrate aus unserem Abwasser zum Wachstum von Fischen beitragen.

Das ist die eine Seite. Pflanzen sterben auch. Die Pflanzenreste werden von Mikroben zersetzt. Dabei verbrauchen die Mikroben Sauerstoff. Wie beim Zersetzen der Stärke und Zucker und Fette. Wo aber Myriaden von Pflanzen erst wachsen, dann sterben, werden, Unmengen von Sauerstoff verbraucht. Im Sterben entsteht auch neues Leben: Aus den toten Pflanzen setzen die Mikroben erneut Phosphate und Nitrate frei. Wieder wachsen Pflanzen, Myriaden, und sterben wieder zu Myriaden. Wieder wird Sauerstoff verbraucht. Mehr und immer mehr. Bis aller Sauerstoff, der im Wasser des Flusses gelöst war, verbraucht ist. Das Flusswasser verändert sich. Der Fluss kippt um.

Ohne Sauerstoff sterben höhere und niedere Lebewesen, sterben die Tiere im Wasser.

Andere Gase entstehen langsam: Methan, Ammoniak, Schwefelwasserstoff. Giftige, stinkende Gase. Algen und höhere Pflanzen gehen in Fäulnis über, bilden Schlamm. Im Wasser leben jetzt vorwiegend Bakterien, Geißeltierchen und freilebende Wimpertierchen.

Dieser fiktive kleine Fluss wäre nach der Gewässergütekarte der "Länderarbeitsgemeinschaft Wasser" "stark bis übermäßig verschmutzt".

Streckenweise - so zeigt unter anderem die Gewässergütekarte der LAWA - sind die Flüsse Rhein, Ems, Weser und gilbe "stark bis übermäßig verschmutzt".

Bakterien, Geißeltierchen, freilebende Wimpertierchen...

Bei dieser Qualitätseinstufung unserer Flüsse ist die zusätzliche Verschmutzung durch Rohöl, Schwermetalle und schwer abbaubare Stoffe noch nicht berücksichtigt. Nur bakterielle Verunreinigungen, Sink- und Schwebstoffe, Pflanzennährstoffe und leicht abbaubare Stoffe sind erfasst.

"Für das Ökosystem Nordsee stellt die Zufuhr von Pflanzennährstoffen und leicht abbaubaren Stoffen aus unseren Flüssen gegenwärtig keine Gefährdung dar" - stellen die Nordseegutachter fest. Aber: "Bei anhaltender Steigerung der Stoffzufuhr kann mit überwiegend negativen ökologischen Veränderungen gerechnet werden."

Massenhafte Entfaltung von Algen, Sauerstoffmangel, Veränderungen in den Nahrungsketten...

"Es sollte also angestrebt werden", so heißt es weiter, "die Stoffzufuhr ins Wattenmeer durch geeignete Maßnahmen zu beschränken. Dazu gehören sowohl Sanierungsmaßnahmen an den großen Flüssen Rhein, Weser und Elbe, als auch die Unterbindung jeglicher Direkteinleitung von ungereinigten Abwässern ins Wattenmeer."

Pflanzennährstoffe - Pflanzenwachstum bis zum Umkippen?

Leicht abbaubare Stoffe - das Wort "leicht" täuscht leicht.'

Ein Arzt berichtet über Folgen dieser Stoffe:

"Eine meiner Patientinnen stützte sich im Bett auf ihren Arm - und der Knochen zerbrach. Ein junger Mann stieß unvorsichtig, aber leicht an eine Tür - ihm zerschlug es das Knie und das Schienbein. Knochenbrüche bei der geringsten Belastung. Ich habe Frauen in der Klinik gesehen, bei denen hat sich das Skelett über Jahre hinweg derartig stark verformt, dass sie im Laufe der Krankheit bis zu 30 Zentimeter kleiner geworden sind. Und dabei schrien sie oft wie wahnsinnig über Jahre hinweg."

Diese grausame Krankheit tauchte für mich in einem Buch auf; in den 40er Jahren durchlitten sie Menschen in Japan am eigenen Leibe. Kein Arzt konnte ihre Herkunft erklären, niemand hatte sie früher beobachtet. 1955 kam eine zweite Krankheit hinzu.

"Ich habe heute ein kleines Mädchen besucht. Es hielt die Arme vor die Brust gekrümmt, die Hände klappten verkrampft in unnatürlichem Winkel herunter. Ab und zu zuckte ein Muskel, ein Arm schnellte vor. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen. Es konnte nicht sehen, nicht sprechen, nicht meine Hand auf seinem Gesicht fühlen."

Jahre später, nachdem weitere Menschen erkrankt, verkrümmt, blind und stumpf geworden und etwa 150 gestorben waren, kam man den Krankheiten auf die Spur.

Der erste Fall: Reisfelder waren mit Flusswasser bewässert worden. In das Flusswasser waren vorher Abwässer eines Hüttenwerkes geleitet worden. So enthielt der Reis auf den Feldern schließlich zehnmal mehr Cadmium als üblicherweise. Die Ursache der Krankheit, die in den 40er Jahren in Japan ausgebrochen war, wurde erst Mitte der 60er Jahre gefunden - rund 20 Jahre später. Wegen der mit ihr verbundenen äußerst starken Schmerzen wurde sie "Itai-Itai-Krankheit" genannt, das heißt zu Deutsch: "Aua-Aua-Krankheit".

Der zweite Fall: in der Bucht von Minamata - wiederum in Japan - fingen die Anwohner Fische. In die Bucht leitete eine Chemiefabrik ungeklärte Abwässer ein. Sie enthielten Quecksilber. Das Quecksilber gelangte zuerst in das Plankton im Wasser. Das fraßen die Fische. Die wurden von den Menschen gefangen und gegessen. Etwa vier Jahre später - wenn man das überhaupt so genau sagen kann - traten die ersten Krankheitsfälle auf. Zwischen 1955 und 1959 wurde jedes dritte Kind in der Umgebung der Bucht von Minamata mit schweren körperlichen und geistigen Schäden geboren. Ähnlich wie das kleine Mädchen. Die Krankheit ist heute unter dem Namen "Minamata-Krankheit" bekannt.

Wirkungen, Krankheiten, Sterberaten.

Die dritte Gruppe von Stoffen, die in unsere Flüsse geleitet werden: die Schwermetalle. Einige Grundlagen:

Als Schwermetalle werden Elemente mit metallischen Eigenschaften bezeichnet, deren Dichte größer als 4,6 Gramm pro Kubikzentimeter ist. Besonders bekannte Beispiele sind Eisen, Kupfer, Zink, Chrom, Mangan, Arsen, Blei, Quecksilber und Cadmium. Einige Schwermetalle gelten als physiologische Metalle, da sie für den Stoffwechsel aller Organismen lebensnotwendig sind. Allerdings reichen hier äußerst geringe Konzentrationen, in geringfügig größeren Mengen wirken dieselben Metalle lebensgefährlich. Neben den lebenswichtigen Schwermetallen gibt es die giftigen: als besonders gefährlich gelten Arsen, Blei, Cadmium und Quecksilber. Die Giftwirkung der Schwermetalle ist unter anderem abhängig von ihrer chemischen und physikalischen Form: Dämpfe, Gase, Stäube, Aerosole oder Lösungen von Metallverbindungen gelangen eher in den Körper und werden über Darm und Lunge leichter in den Stoffwechsel eingeschleust als etwa ein gleich schwerer massiver Metallklumpen.

Im Umkreis der Bleihütte in Stolberg fanden Ärzte bei Kindern stark überhöhte Blutbleispiegel. Die Kinder wurden zur Erholung an die Nordsee geschickt. Dort jedoch lösten sich, wahrscheinlich durch das ungewohnte Reizklima, die Bleiansammlungen in den Knochen der Kinder auf. Das Schwermetall wurde so ins Blut ausgeschüttet. Dies führte zu einem weiteren beängstigenden Anstieg der Blutbleiwerte. Ihre Genesungskur mussten die Kinder vorzeitig abbrechen.

Schwermetalle können vom menschlichen Organismus nur zu einem Teil ausgeschieden werden. Sie lagern sich im Körper ab, bevorzugt in inneren Organen wie Leber und Nieren oder auch in den Knochen. Von dort aus können sie auch nach Jahren wieder aktiviert werden - und unser Wachstum stören, unseren Stoffwechsel stören, unsere Organe schädigen, untere Knochen schädigen, unser Gehirn schädigen, unser Nervensystem zerstören unsere Sehfähigkeit, Hörfähigkeit, Sprechfähigkeit zerstören, unsere Lebenszeit herabsetzen, uns töten. So tickt in jedem von uns eine chemische Zeitbombe.

Wie in den Kindern, die zur Genesung an die Nordsee fuhren. Wie in den Anwohnern der Minamata-Bucht, in denen das Quecksilber erst vier Jahre nach Einnahme wirksam wurde. Wieviel Metall tickt in jedem von uns?

Jeder Deutsche nimmt nach Berechnungen des Bundesgesundheitsamtes heute bis zu 476 Mikrogramm Cadmium in der Woche auf, Die Weltgesundheitsorganisation hält eine Menge von 400 bis 500 Mikrogramm Cadmium in der Woche für gerade noch verträglich. Der Bleigehalt des menschlichen Blutes bei Amerikanern stieg in den vergangenen etwa 150 Jahren von 2,5 auf 110 bis 190 Mikrogramm pro Kilogramm Mensch an. Ab etwa 250 Mikrogramm Blei im Blut pro Kilogramm Lebendgewicht wird die Gehirntätigkeit des Menschen beeinträchtigt. Die Grenzen zur Vergiftung sind sehr nahe oder bereits erreicht. Schon heute schneiden bleibelastete amerikanische Kinder in Intelligenztests schlechter ab als Kinder in bleifreien Gebieten.

Hängt unser Leben heute nur noch an Mikrogrammen? An Millionstel Teilen eines Grammes irgendeines Stoffes in unserer Nahrung vielleicht? Eine falsche Mahlzeit zur unrechten Zeit...

Gemüse...

Gemüse, das zum Beispiel auf trockengelegten Böden des Rheins gezogen wird, enthält Cadmium.

Leber, Nieren ...

... enthalten Cadmium und sollten nur alle zwei. bis drei Wochen gegessen werden, empfahl das Bundesgesundheitsamt 1980.

Miesmuscheln, Krebse, Austern ...

... enthalten Arsen; in fast allen Muschelbänken längs der Nordseeküsten findet sich zudem Quecksilber.

Fische ...

.... enthalten vielfach Quecksilber, Cadmium, Blei, Kupfer, Zink. 1981 wurde die Anlandung und damit der Verkauf von Elb-Aalen verboten - wegen zu hohen Quecksilbergehaltes. Die Nordseegutachter stellen aber für andere Speisefische fest: „Um die wöchentliche Höchstmenge an Quecksilber aufzunehmen, müsste ein Mensch mindestens ein halbes Kilogramm Fisch pro Woche verzehren.“

Und wenn sie sich verrechnet haben? Fisch hatte ich vor vier Tagen, Gemüse esse ich jeden Tag. Ich habe kein Sinnesorgan, das mich warnt, bevor mein Bleispiegel oder Cadmiumspiegel gefährlich ansteigt. Ich kann nur vertrauen.

Batterien von Sofortbildkameras ...

Quirle, Staubsauger, Kaffeemaschinen, Nähmaschinen...

Autos, Eisenbahnen, Schiffe ...

Gegenstände, Produkte, Maschinen, die ganz oder teilweise aus Metallen hergestellt werden. Bei dieser Herstellung fallen Schwermetallverbindungen als Abfall an. Aber auch bei der Fertigung ganz anderer Waren: bei Holzschutzmitteln, Getreidebeizmitteln, Glas, Farben, Leuchtstofflampen, Thermometern, elektrischen Leitungen, Zahnplomben, Rohrleitungen und anderem mehr. Die Abfälle der Industrie landen meist in den Flüssen: Die eine Hälfte gelangt dorthin über die öffentliche Kanalisation und Kläranlagen, die andere Hälfte leitet die Industrie direkt in die Flüsse ein.

Die Nordseegutachter stellen fest: "Keine der bisher ermittelten Konzentrationen von Schwermetallen im Nordseewasser erweist sich im einzelnen Experiment als akut giftig. Die Summe aller Stoffkonzentrationen aber lässt befürchten, dass aufgrund von Wechselwirkungen die Grenze für Giftwirkungen in bestimmten Küstenregionen sehr nahe ist oder, wie etwa im Bereich der Weser-Mündung, bereits erreicht ist."

Die vierte Gruppe von Stoffen in unseren Flüssen: Chlorkohlenwasserstoffe. Hexachlorcyclohexan, Pentachlorphenol, DDT, Methylenchlorid, Dichlorpropan, Dichloräthan, Lindan, DDD, Äthylenchlorhydrin, Dieldrin, Aldrin, Perchloräthylen, Chloropren, polychlorierte Biphenyle, Dichlordimethyläther, Hexachlorbenzol, DDE, Trichloräthylen, Endrin, Chlordan, Heptachlor, Dichlorbenil.

Chlorkohlenwasserstoffe bestehen aus: Chlor. Kohlenstoff. Wasserstoff: Chlorkohlenwasserstoffe. Sie bilden die letzte Gruppe von Schadstoffen in unseren Flüssen.

Ich werde der Fakten müde. Es sind zu viele. Leicht abbaubare Stoffe, Pflanzennährstoffe, Schwermetalle. Die Unzahl der Daten, Stoffe, Schäden arbeitet für die Verschmutzer.

Chlorkohlenwasserstoffe: Zum Beispiel PCBs, polychlorierte Biphenyle. Sie werden unter anderem als Weichmacher für Kunststoffe verwendet. Aus dem Abwasser der Chemiefabrik wandert PCB über den Fluss ins Meerwasser. Konzentration: null Komma null null null null null drei eins Milligramm PCB auf ein Kilogramm Meerwasser. Plankton nimmt das FOB auf, lagert es in sich an, reichert es an. Konzentration: bis 10 Milligramm PCB auf ein Kilogramm Plankton. Das ist eine drei Millionenmal höhere Konzentration als im umgebenden Meerwasser. Das Plankton wird von Fischen gefressen. Anlagern, anreichern, Konzentration: bis 37 Milligramm PCB auf ein Kilogramm Fisch. Die Fische werden von größeren Fischen und Seevögeln gefressen. Anlagern, anreichern, Konzentration: 110 Milligramm auf ein Kilogramm. Fische werden auch von Menschen gegessen. Anlagern, anreichern, Konzentration...

Chlorierte Kohlenwasserstoffe sind fast ausschließlich synthetisch hergestellte Stoffe mit einem großen Anteil Chlor. Chlor gehört zu den mengenmäßig bedeutendsten großtechnischen Zwischenprodukten. Chlorkohlenwasserstoffe bedeuten unter anderem: Lacke, Farben, Lösungsmittel; bedeuten Pflanzenschutzmittel, Reinigungsmittel; bedeuten Kunststoffe in Autos, Joghurtbechern, Unterhosen, Feuerwehrschläuchen. Chlorkohlenwasserstoffe sind chemisch und biologisch äußerst schwer abbaubar. Das heißt: sie bleiben oft jahrelang unzersetzt im Wasser, unzersetzt in einem Lebewesen.

In Japan - wieder in Japan - rannen aus einer Kühlanlage unbemerkt flüssige PCBs, polychlorierte Biphenyle. Sie flossen in einen großen Tank mit Reisöl. Wenig später zeigten sich bei vielen Menschen Hautveränderungen, Ausschläge, Leber-, Milz-, Nierenschäden oder bösartige Tumore. Das war die erste Generation. PCB-vergiftete Frauen brachten dann zu 90 Prozent Kinder mit starken Hautveränderungen zur Welt: sogenannte "schwarze Babys".

Viele der chlorierten Kohlenwasserstoffe verursachen Krebstumore, schädigen Haut und Organe, stören den Stoffwechsel, bewirken Knochenmarksschwund, greifen das Nervensystem an, verändern das Erbgut.

Das weiß ich. Ich weiß, dass Muttermilch PCBs enthält; dass Robben und Pinguine am Südpol DDT enthalten, obwohl dort keine Pflanzen sind, die durch DDT geschützt werden müssten; ich weiß, dass Maus und Katze, Star und Buntspecht in der Bundesrepublik DDT in größeren Mengen enthalten, als es die deutsche Höchstmengenverordnung bei Lebensmitteln tierischer Herkunft erlaubt, obwohl DDT bei uns seit Jahren verboten ist.

Über die Wirkungen einzelner Chlorkohlenwasserstoffe weiß man noch sehr wenig. Schon geringste Konzentrationen sind wirksam. Wie mehrere dieser Stoffe aber wirken, wenn sie gemeinsam im Wasser vorkommen, das kann heute nicht einmal vermutet werden. In der Nordsee kommen immer viele gemeinsam vor.

Die Nordseegutachter stellen fest: "Möglicherweise sind hier die Grenzen der Belastbarkeit für die Flussmündungen fast oder vielleicht sogar schon tatsächlich erreicht."

"Schon fast vielleicht tatsächlich möglicherweise sogar. Die Nordseegutachter stellen fest. Maus und Katze, Star und Buntspecht... DDT in größeren Mengen..." - Mein Kopf weiß das. Mein Kopf.

"Rettet die Nordsee!" Der Bonner Sachverständigenrat legte ein Sondergutachten vor.

Schön. Was ist mit meinem Bauch? Wo ist meine Betroffenheit?

"Rettet die Nordsee!"

Ich besuche das Elbfischerfest - ein Fest gegen die Verschmutzung der Elbe. An der Elbe, mit Kuttern der letzten noch verbliebenen Elbfischer, mit Lagerfeuern, Diavorträgen und Festzeltmusik. An der Promenade unzählige Ständchen unzähliger Grüppchen, Parteien, Plakate daran, Bücher, Broschüren. An einem Stand in Einmachgläsern tote Fische mit den berühmten Tumoren, Pusteln, Verwachsungen, zur Schau gestellt, um betroffen zu machen. Ein kleiner Aal, drahtig verkrümmt, 20 Zentimeter lang, am Maul eine weißliche Wucherung, kopfgroß. - Bin ich betroffen? Betroffen auch von dem, was ich hier über die Nordsee erzähle? Es sind Fakten, und ich bin ihrer müde.

"Alarm für die Nordsee!"

Ich habe kein Gefühl für den Fluss, der umkippt, und wäre es auch die Elbe, und wäre es jetzt, da ich in der Dämmerung Feuer und Lichter der Werften darauf sehe. Ich habe kein Gefühl für das quecksilberversuchte Mädchen, das nirgends noch etwas fühlt. Das ist Japan. Ich habe kein Gefühl für die Giftstoffe, die sich in meinem Körper ansammeln, die in mir ticken einer Zeitbombe gleich. Das sind Worte.

"Die Nordsee ist in höchster Gefahr!"

Ich bin in Gefahr. Ich bin taub und stumpf und blind. Wie das quecksilberverseuchte Mädchen. Was mache ich mit mir, dass mich solche Fakten nicht schrecken? Ich kann sie nicht fühlen. Ich will sie nicht fühlen. Ich will nicht, weil dann mein Leben bedroht ist durch die Gifte in der Natur. Ich habe Angst davor, dass mein schönes, sauberes Leben zerbricht.

Ein Sondergutachten.

Mein Leben ist bedroht durch die Gifte. Ich will das nicht! Was ist hier verschmutzt? Die Umwelt oder meine Innenwelt?

Ein Diavortrag führt mich in die grüne Idylle der Haseldorfer Marsch, mit Bäumen an stillen Wassern, Schilfrohrdickicht, vielleicht Vögel darin. Ich fühle mich schmutzig innen. Meine Gefühlsarmut ist ein Grund für die Verschmutzung der Umwelt, meiner Umwelt. Ich will fühlen. Mich und Umwelt. Und Verantwortung. Für Haseldorf und Elbe und Meer. - Aber es sind viele, komplizierte Fakten. Gefühl braucht Einfachheit, Klarheit. Ich will die Wirklichkeit fühlbar machen. Wenige, klare Gefühle aus vielen, komplizierten Fakten. Damit entstelle ich die Wirklichkeit. Aber nicht so stark, wie Schwermetalle und Chlorkohlenwasserstoffe die Natur entstellen. In Ordnung: Gefühle! Ich setze mich in den feuchten Sand, schließe die Augen und schaue auf die Elbe. Sie fließt ins Meer.

Noch ist Ebbe. Aus Augenhöhe erscheint die Fläche der Nordsee in weiten Bogenschwüngen hart geriffelt. Wie erstarrte Wellen liegt der Watt-Boden, grau mit jodigen Farbtupfern. Hier und da ein Priel, aus dem langsam das Wasser fließt. Aus Fußtiefe betrachtet, wird der Untergrund weich, durchlässig, geöffnet: winzige Löcher, Behausungen der Wattringelwürmer; kleine Krebse, eingeschlammt in den Schlick; Muscheln und Schnecken. Leben krebst und krabbelt.

Später die Flut. Dem 200.000 Tonnen Tanker fehlen drei Minuten. Er hat die Flutwelle der Hochflut verpasst. Nur zu exakt diesem Zeitpunkt hätte er die erforderlichen 40 Zentimeter Wasser zwischen seinem Kiel und dem Meeresgrund. Die Fahrrinne vor Wilhelmshaven, einem der größten Ölhäfen Europas, ist nicht tiefer. Der Tanker wird auflaufen, trotz sofort eingeleiteter Vollbremsung: Der Bremsweg eines Supertankers beträgt mehrere Kilometer.

Riesige Schwärme von Fischen kommen mit der Flut ins Watt. Scholle, Seezunge, Hering und Sprotte laichen hier, ihre Jungen schlüpfen hier aus, wachsen im Watt auf, ernähren sich von dem immensen Angebot an Zooplankton und Kleingetier. Für sie ist die Landschaft zwischen Ebbe und Flut unersetzbar.

Der Tanker sitzt fest. Die Mitte des Schiffes senkt sich unmerklich. Erste Risse bilden sich im Stahl. Ölflecken schillern im Wasser. Werden größer. Bald ist das Wasser weithin schwarz. Leichte Bestandteil des Öls verdampfen. Wasserlösliche Anteile verteilen sich, wandern auch in die Meerestiefe. Dort vergiften sie Muscheln und Seesterne, Krebse und Plattfische.

Riesige Schwärme von Vögeln picken das Kleingetier aus dem Boden, stürzen nach Fischen. Sie kommen aus ganz Nord-Europa, von Grönland und Nordsibirien herunter, um hier zu fressen, zu rasten, zu brüten oder zu überwintern. Hier im Watt, das weltweit einmalig ist, unwiederholbar.

Der Ölteppich dehnt sich jetzt kilometerweit aus. Ein pfenniggroßer Ölfleck im Gefieder kann für viele Seevögel tödlich sein: unter diesem Fleck wird ihnen kalt, sie tauchen nicht mehr nach Nahrung im kalten Wasser, sie verhungern langsam. Der Ölteppich wird durch Bakterien im Wasser zersetzt. Dabei wird Sauerstoff verbraucht: eine zusammenhängende Öl-Decke von einem Millimeter Stärke entzieht dem Wasser Sauerstoff bis zu einer Tiefe von 400 Metern. Die Tiere, die nicht bereits an den giftigen Ölbestandteilen gestorben sind, gehen an Sauerstoffmangel zugrunde. Der Ölteppich treibt nach Osten. Richtung Küste, Watt.

Das Wattenmeer wirkt wie ein riesiger Filter für Sink- und Schwebstoffe; es ist für die Reinigung der Nordsee unentbehrlich.

Das Öl erreicht das Wattenmeer.

Ein feiner Ölfilm überzieht Pflanzen, Fische und den Wattboden, schneidet allem die Zufuhr von Sauerstoff ab: die Organismen ersticken. Das Watt ist tot.

Noch ist das Watt nicht tot. Noch hat sich ein derartig schwerer Tankerunfall in der deutschen Nordsee nicht zugetragen. Aber die Nordseegutachter stellen klar und deutlich fest:

"Trotz aller bisher getroffenen Sicherungsmaßnahmen kann sich täglich ein Unfall eines Öltankers oder Chemikalientransporters ereignen. Dass ein der Wahrscheinlichkeit nach überfälliger größerer Ölunfall im deutschen Nordseegebiet bisher ausblieb, kann nur als außerordentliches Glück bezeichnet werden."

Solch "außerordentliches Glück" hatte Frankreichs Bretagne am 16. März 1978 nicht, als der liberianische Tanker "Amoco Cadiz" strandete.

230.000 Tonnen Rohöl liefen ins Meer, ein Drittel davon verteilte sich über 393 Kilometer Küstenlinie. Nach dem Unfall fand man Millionen toter Seeigel, hunderttausend tote Messermuscheln, Tausende von toten Strandkrabben und 4.500 verölte Seevögel. Zu einem Fischsterben hat möglicherweise der Einsatz von chemischen Ölverteilungsmitteln beigetragen. Je nach örtlichen Gegebenheiten können sich ölverseuchte Gebiete innerhalb von 2 bis 10 Jahren regenerieren, indem neue Pflanzen und Tiere anschwemmen bzw. zuwandern - vorausgesetzt, die Wiederbelebung wird nicht durch einen weiteren Unfall verhindert.

...was für die Nordsee "außerordentliches Glück" voraussetzt.

»Sie sehen die Unfälle vielleicht ein wenig zu dramatisch. Keine Frage: so ein Ölunfall hat verheerende Folgen. Aber in der Nordsee passiert tagtäglich weitaus Schlimmeres.« Der Beamte des Deutschen Hydrographischen Institutes hat eine merkwürdige Art, meine Befürchtungen zu besänftigen.

»Öl sickert nicht nur aus leckgeschlagenen Riesentankern. Tagtäglich wird es zu Tausenden von Tonnen aus völlig intakten Schiffen in die See gepumpt: beim Reinigen der Öltanks zum Beispiel und als sogenanntes Bilgenöl, das sammelt sich als Abfall im untersten Teil jedes Schiffes, nicht nur bei Tankern. Insgesamt ist das eine weitaus größere Menge, als durch Unfälle ins Meer gerät.«

Daher also die rund 180.000 Vögel, die jedes Jahr im Gebiet der Deutschen Bucht am Öl krepieren - ohne größeren Tankerunfall.

»Natürlich gibt es Ölkatastrophenpläne und Meeresschutz-Gesetze. Aber im Ernstfall sind nicht einmal genügend Gummistiefel und Spaten vorhanden, um unsere Küsten sauber zu schaufeln. Und: ob ein Kapitän sein Abfall-Öl nun in die offene See pumpt und das öltagebuch frisiert das erfahren wir höchstens mal, wenn ein betrunkener Seemann auspackt.«

Ein einfaches Gefühl in mir: Eine schwarze Woge wälzt sich auf mich zu, aber ich sehe sie nicht. Ich weiß nur, sie kommt und erstickt mich.

Das Großklärwerk Hamburg Köhlbrandhöft reinigt Abwässer aus Haushalten und der Industrie. Dabei bleiben feste Stoffe zurück: Klärschlamm. Klärschlamm aus Haushalten enthält vor allem leicht abbaubare Stoffe...

Sie erinnern sich an den Fluss: Das Wort "leicht" täuscht leicht.

...und Pflanzennährstoffe.

Sie erinnern sich: Pflanzenwachstum bis zum Umkippen.

Klärschlamm aus Abwässern der Industrie enthält zusätzlich erhebliche Mengen Schwermetalle, wie Cadmium, Quecksilber, Blei...

Sie erinnern sich an das Mädchen, das nichts fühlen konnte.

...und chlorierte Kohlenwasserstoffe.

Sie erinnern sich: anlagern, anreichern, Konzentration.

Das Großklärwerk Köhlbrandhöft filtert aus Abwässern Klärschlamm heraus, damit der die Elbe bei Hamburg nicht verschmutzt. Spezialschlammschiffe brachten den Schlamm vor die Mündung der Elbe und versenkten ihn dort. So verschmutzte der Klärschlamm die Elbemündung. Wissenschaftler und Fischer aber protestierten.

»Gucken Sie sich das doch an.«

Der Fischer zeigt mir einen Aal: An dessen Kopf quillt daumennagelgroß ein lilaschimmerndes Geschwür. Dann einen Butt: Dessen Kiemen sind überzogen mit kleinen, fleischigen Pusteln.

»Blumenkohl- und Himbeerkrankheit nennen die Forscher das. Und da gibt es noch viel ekligere Sachen. Manchmal kann ich von einem Fang glatt 30 Prozent wegschmeißen. Ich sag Ihnen, wenn das so weiter geht, dann sehen bald auch die Menschen so aus.«

Die Nordseegutachter stellen fest: "Es besteht der Eindruck, dass im küstennahen Bereich die Erkrankungsrate für Skelettverformungen beim Kabeljau höher ist als im küstenfernen Bereich, und dass im Zentrum der Klärschlammverklappung eine deutliche Erhöhung gegenüber unbelasteten Vergleichsgebieten vorliegt. Aus den bisher bekannt gewordenen Befunden lassen sich noch keine endgültigen Schlüsse ziehen."

Erwiesen ist bis heute, dass Klärschlamm einen natürlichen Sauerstoffmangel in bestimmten Seegebieten verstärkt, so dass bestimmte Muschelarten absterben.

Seit Januar 1981 muss Hamburg seinen Schlamm etwa 1.200 Seemeilen weit in den Atlantik schippern. Die Proteste der Fischer und Wissenschaftler hatten also Erfolg - für Hamburg. Großbritannien vertraut weiterhin auf die "unbegrenzte Selbstreinigungskraft" der Nordsee und kippt rund 90 Prozent des Klärschlammes ganz Europas irgendwo in der Nordsee über Bord.

Am 13. Oktober 1980, nachts gegen vier Uhr, gleiten auf der Unterweser bei Nordenham zwei orangerote Gummi-Rettungsinseln zu Bug und Ruder des Tankschiffes "Kronos" und werden dort vertäut. An Bord der Rettungsinseln Mitglieder der Naturschutzorganisation Greenpeace - "Grüner Frieden". Die "Kronos" kann nicht auslaufen. Ihre Ladung: 1.200 Tonnen Dünnsäure für die Nordsee.

Dünnsäure ist chemisch ein Gemisch aus. Schwefelsäure und verschiedenen Metallsulfaten, vor allem Eisensulfat. Sie fällt zum einen als Abfall bei der Produktion von Titandioxid an, einem weißen Farbstoff, mit dem hauptsächlich Lacke und Farben hergestellt werden. Weiterhin ist sie Abfall bei der Fertigung anderer organischer Farbstoffe, dort enthält sie aber zusätzlich organische Säuren und giftige Chlorverbindungen. Dünnsäure aus deutschen Firmen wird vor der niederländischen Küste und in einem Seegebiet nordwestlich von Helgoland verklappt.

Am selben Tag werden Verhandlungen mit der "Kronos-Titan GmbH" aufgenommen. Die Greenpeaceler wollen verhindern, dass die Firma weiterhin Dünnsäure in der Nordsee versenkt. Argument der Firmenleitung: Dünnsäure sei nicht gefährlicher als Zitronensaft. Gegenargument der Naturschützer: In Zitronensaft könnten Fische auch nicht leben. Die Blockade geht weiter.

Die Nordseegutachter stellen fest: "Am Beispiel der Kliesche, einer Plattfischart, kann wahrscheinlich gemacht werden, dass die Verklappung der Dünnsäure zu erhöhtem Auftreten von Fischkrankheiten führt oder zumindest dazu beiträgt."

Am Donnerstag, dem 16. Oktober 1980, kappt die Wasserschutzpolizei den Greenpeacelern in der Unterweser die Leinen. Einigen von ihnen wird der Prozess gemacht. Dünnsäure wird weiterhin verklappt. Aber ein Ziel hat Greenpeace erreicht: Öffentlichkeit.

Wir kippen Tausende von Stoffen ins Meer. Warum verlangt niemand vorher einen eindeutigen Beweis, dass sie unschädlich sind! Warum überlassen wir den Nachweis der Schädlichkeit den Fischen?

Ich mache Schluss mit den Fakten. In einem kürzlich erschienenen Interview sagte Konrad Lorenz:

"Das Menschheitswissen ist so groß geworden, dass das Gehirn eines Einzelnen nur einen minimalen Bruchteil davon beherrschen kann. Heute muss sich der Einzelne zu einem bestimmten Gebiet des Fachwissens entschließen, und was er da zu lernen hat, füllt seine Zeit so aus, dass er keine Zeit und auch keine Kraft mehr hat, sich mit anderen Wissensgebieten zu beschäftigen. Am wenigsten aber hat er Zeit zum Nachdenken. Nachdenken aber stellt auch ein Menschheitsrecht dar."

Ein Beamter dachte nach. Er erzählte mir von einem Gespräch mit einem Freund. Es ging um das, was man heute tun müsste gegen die Verschmutzung. Das Gespräch verlief etwa so:

»Klar, es gibt einige Möglichkeiten, Abfälle schadlos zu beseitigen. Um die Flüsse einigermaßen sauber zu kriegen, wäre es wohl das Wichtigste, dass endlich alle Abwässer von Industrie und Haushalten in Kläranlagen geleitet werden.

Das heißt, wir müssen mehr Kläranlagen und Kanalisation bauen. Gut. Aber man kann Abfälle auch weiterverwenden, nicht bloß wegkippen.

Recycling, das wird teilweise schon gemacht.

Aber zu wenig. Da ist technisch noch viel mehr drin.

Du setzt sehr auf neue Technik.

Wo sie uns helfen kann? Da gibt es heute zum Beispiel schon zahlreiche industrielle Herstellungsverfahren, bei denen weniger Abfälle entstehen als üblicherweise.

Das wird von einigen Fabriken schon gemacht. Manche Chemieunternehmen leiten sogar weniger Giftstoffe in die Flüsse, als ihnen gesetzlich zugestanden ist.

Ein paar Gesetze müssten sicherlich auch geändert werden. Und außerdem müsste man besser kontrollieren, ob sie auch eingehalten werden.

Nehmen wir mal an, alle diese Methoden würden wir, so gut es geht, anwenden.

Genügend Kläranlagen bauen, Abfälle weiterverwenden, Produktionsverfahren mit wenig Abfall einführen. Das würde zum Beispiel die Elbe mit der Zeit sauberer machen.

Vorausgesetzt, es kommen keine neuen Industrieanlagen hinzu, die sie wieder dreckig machen.

Das heißt: keine neuen Industrieansiedlungen an der Elbe?

Nein. Keine neuen Industrien. Nirgends. Sonst bleibt der Dreck. - Das wäre aber nur der erste Schritt. Zweitens: Ich frage mich, ob es uns technisch in Zukunft tatsächlich möglich sein wird, alle unsere Abfälle ohne ernste Schäden für die Umwelt zu beseitigen.

Warum nicht? Mit der nötigen Technik?

Es sind vielleicht zu viele. Neue Technik schafft neue Abfälle.

Was willst du dann machen?

Dann? Dann müssten wir einen Teil der Produktion einstellen. Aufhören, bestimmte Waren herzustellen. Zum Beispiel Fernseher, Küchengeräte, Pflanzenschutzmittel, Kunststoffe, Autos, Farben, Lacke, Waschmittel...

Glaubst du im Ernst, da macht auch nur ein einziger mit?

Wenn man den Käufern klarmacht, dass sie auf bestimmte Waren verzichten müssen, damit wir unsere Umwelt erhalten. Damit wir darin zumindest überleben können...«

Zwar singen die Vögel noch; der Frühling des nächsten Jahres wird noch nicht stumm sein. Aber es ist schon stiller geworden ringsherum. Das wissen alle, die noch ein Ohr haben für die Stimmen der Vögel und die den Lärm der Technik noch von den Geräuschen der Natur unterscheiden können.

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) hat 2018 den Bericht zum „Zustand der deutschen Nordseegewässer 2018“ veröffentlicht. Kurzes Fazit:

„Die marine biologische Vielfalt und die Meeresökosysteme waren auch 2011–2016 zu hohen Belastungen ausgesetzt. Die von Deutschland zu bewirtschaftenden Nordseegewässer erreichen den guten Zustand bislang nicht. Die 2012 festgelegten Bewirtschaftungsziele haben weiterhin Gültigkeit. Um den guten Zustand der Nordsee zu erreichen, bedarf es fortgesetzter Anstrengungen.“

Zum Zustand der Flüsse, die in die Nordsee münden, hat der Umweltverband BUND 2018 den „BUND-Gewässerreport 2018 - Fallbeispiele von BUND-Gruppen vor Ort“ veröffentlicht. Kurzes Fazit: „92 Prozent aller Flüsse und Seen in Deutschland sind in einem beklagenswerten Zustand. Das zeigt der BUND-Gewässerreport. Er nennt die Ursachen - von der Agrarindustrie über Begradigung und Vertiefung oder der Schifffahrt bis zum Bergbau - und erklärt, wie unsere Gewässer noch gerettet werden können. Dafür muss sich vor allem die Politik endlich bewegen!“

Trotz der noch immer bestehenden Missstände, die diese und andere Berichte benennen, gab es in den vergangenen 40 Jahren auch positive Meldungen - es hat sich etwas getan im Gewässerschutz. Was genau, erklärte 2013 Stephan Köster der Deutschen Welle Akademie; Köster lehrt am Institut für Abwasserwirtschaft und Gewässerschutz an der Technischen Universität Hamburg-Harburg: „Man hat immer mehr in die Abwasserreinigung investiert, und diese Abwässer dann nicht nur mechanisch gereinigt, sondern auch biologisch-chemisch. Die Verfahren zur Gewässerreinigung wurden immer weiter verfeinert. Es gibt mittlerweile den Standard, Nährstoffe zu eliminieren, Stickstoffe herauszuholen und Phosphor noch gezielt auszuschließen."

Das Ergebnis dieser Maßnahmen beschreibt der Biologe Veit Hennig von der Universität Hamburg: „Angler und Badende sind mittlerweile an der Elbe und anderen deutschen Flüsse wieder ein gewohnter Anblick. Und auch die Tiere kehren zurück, sogar die Schweinswale.“ Ursache dafür seien u.a. die Schließung vieler DDR-Fabriken, die bis Ende der 1980er Jahre tausende von Tonnen Giftmüll in die Elbe entsorgt hätten; außerdem habe die durchgehende Klärung der Abwässer und der Erlass strenger Umweltrichtlinien für die Elbe und andere deutsche Flüsse deren Qualität entscheidend verbessert. Hennig weist aber auch darauf hin, dass für die deutschen Flüsse noch viel getan werden müsse, damit darin wirklich natürliche Verhältnisse einkehren: "Nur die Wasserqualität in ihrem eigentlichen chemischen Sinn ist besser geworden, aber die Struktur des Flusses als natürlicher Lebensraum, hat sich sogar verschlechtert."

Quellen:

https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/deutsche-nord-ostsee-sindnicht-in-gutem-zustand

https://www.bund.net/themen/fluesse-gewaesser/gewaesserreport/

https://www.meeresschutz.info/berichte-art-8-10.html

https://www.dw.com/de/wie-deutsche-flüsse-wieder-sauber-wurden/a-17004305

1980 * Drei Drogenabhängige schaffen den Ausstieg

Interviews für eine Sendung der NDR-Jugend-Redaktion „Abend für junge Hörer“

Klauswar drogenabhängig. Er hat mit 15 Jahren angefangen, Heroin zu spritzen, etwa vier Jahre lang. Heute ist er 24 und "sauber" - er nimmt keine Drogen mehr. Außer ihm habe ich noch zwei andere ehemalige Drogenabhängige befragt, wie sie es geschafft haben, sich von der Sucht zu befreien. Klaus hat sich, wie die meisten Süchtigen, das Geld für Drogen durch Kaufhaus- und Gelddiebstähle, durch Dealen mit Heroin, Rezeptfälschungen und ähnliches beschafft. Bis er schließlich vor Gericht gestellt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, mit Bewährung. Sie nutzte er für eine Drogentherapie in einer staatlichen Therapieeinrichtung.

In der Drogenzeit hatte ich eine ziemliche Ablehnung gegen die Gesellschaft, gegen Arbeit, gegen Autoritäten und meine Eltern und war auch ziemlich unselbständig, weil ich es nicht geschafft hatte, mich ein bisschen so durchzuringen oder durchzusetzen, anderen Leuten gegenüber, sondern eigentlich immer in die Defensive gegangen bin, in jeder Situation, sei es bei den Behörden, oder sei es anderen Leuten gegenüber, sei es meinen Eltern gegenüber...

Der Grund für meine Therapie war eigentlich der, dass ich... ich hatte schon mal eine Therapie angefangen, die habe ich neun Monate gemacht, aber schon in der Therapie wurde ich rückfällig und bin dann rausgegangen, weil ich permanent rückfällig wurde. Ich habe in Bremen gewohnt, und nach der ersten Therapie ging wieder alles von vorne los, dass ich sehr viel geschossen habe und eigentlich ziemlich durchhing und auch Tabletten noch dazu genommen habe, Schlaftabletten, Beruhigungstabletten, und dann bin ich irgendwann im Krankenhaus gelandet. Ich verlor die Wohnung, und das war eigentlich denn auch der Grund, dass ich mir überlegt hatte, jetzt musste mal was passieren, Du musst mal was machen. Es war eigentlich so mehr so ein Druck von außen. Nicht so, dass ich mir das schon vorher so konkret überlegt hatte, sondern eben auch ziemlich durch diesen ganzen Druck, der durch den Wohnungsverlust und Geldverlust und so weiter bestand.

Die zweite Therapie lief eineinhalb Jahre. Und in der Therapie selbst wurde eben sehr großer Wert gelegt auf Bewältigung von Konflikten, die in der Therapie an den einzelnen Personen auffielen. Und auch auf Vergangenheitsbewältigung wurde sehr viel Wert gelegt. Und natürlich darauf, was nach der Therapie passieren würde. Also Beruf oder Schule, das nahm auch einen ziemlich großen Raum ein, weil zum Teil auch ich daran gescheitert bin, so Arbeit und Lehre.

Das war praktisch eine Gruppentherapie, wo wir sehr viel Gruppensitzungen hatten und wo die ganzen Probleme, die man so hatte, ziemlich ausführlich besprochen wurden und auch angegangen wurden. Und in der Therapie habe ich das erste Mal gelernt so Selbständigkeit und auch, mich auseinanderzusetzen mit anderen Leuten und vor allen Dingen auch so mit dem ganzen Umfeld, mit der Gesellschaft. Weil ich gesehen habe, dass das Drogenproblem nicht von ungefähr kommt, sondern dass das auch irgendwo ein gesellschaftliches Problem ist. Und in der Therapie hab' ich gelernt, mich damit auseinanderzusetzen, wie man eben am Arbeitsplatz klarkommt, wie man mit anderen Leuten klarkommt und wie man überhaupt so in der Gesellschaft leben kann, ohne auszuflippen.

Das wichtigste, was ich für mich persönlich in dieser Therapie gelernt habe, war, dass ich über meine Vergangenheit ziemlich viel gelernt habe. Ich hatte keine Lust mehr, sowas noch mal zu erleben. Und vor allen Dingen habe ich gemerkt, dass es sehr dufte sein kann, wenn man Menschen kennt, mit denen man offen reden kann, mit denen man sich unterhalten kann, das hatte ich in der Drogenzeit überhaupt noch nicht gekannt.

Und dann habe ich auch angefangen, eben in der Gesellschaft Fuß zu fassen, indem ich arbeiten ging. Ich fing schon in der Therapie eine Lehre an, und ich bin hinterher auch mit den Leuten zusammengezogen, mit denen ich Therapie gemacht hatte, und hatte dadurch auch noch so die Möglichkeit, weiterhin mich über die Sachen auseinanderzusetzen, die in der Lehre abliefen und die ich täglich erlebt habe. Und ich konnte durch diese Leute für Sachen, mit denen ich nicht klarkam, Unterstützung bekommen. Und ich habe auch versucht, meine Freizeit zu gestalten, indem ich zum Beispiel in Bürgerinitiativen ging oder indem ich Gewerkschaftsarbeit gemacht habe, wo ich eigentlich immer ziemlich ausgelastet mit war.

Diese politische Arbeit hat dann einen wichtigen Platz in meinem Leben nach der Therapie eingenommen. So ist das auch im Moment noch, dass ich eben versuche, gesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse für mich irgendwie einzuschätzen. Und dadurch sehe ich, dass das nicht irgendwas ist, was vom Himmel fällt, man lebt irgendwo, und man muss das als gegeben hinnehmen, sondern dass man auch gegen das, was man meint, was Unrecht ist, was macht und nicht einfach wieder in die Defensive geht und sagt, 'man kann sowieso nichts machen'. Sondern ich habe gesehen, dass man doch irgendwo was machen kann und vor allen Dingen was machen sollte.

Aber am meisten geholfen, hinterher nicht wieder mit Drogen zu beginnen, hat mir die Gruppe; die war für mich auch nach der Therapie ein ziemlicher Rückhalt. Wir hatten auch noch einmal in der Woche mit einem ehemaligen Therapeuten Gruppengespräche gemacht, und das war schon viel Wert. Und vor allen Dingen half auch, dass ich auch andere Leute kennengelernt hatte. Ich hatte vorher immer nur Menschen gekannt, die auch Drogen nahmen, die ziemlich ausgeflippt waren, die nichts gemacht haben, nicht gearbeitet haben, sich so treiben ließen. Und da hatte ich so Kontakte angeknüpft mit Leuten, die eben schon so ein bisschen so im Leben standen, wo ich gesehen habe, mit denen komm ich ganz gut klar, ich liege mit denen oft auf der gleichen Ebene.

Heute sieht mein Leben so aus, dass ich mit meiner Freundin zusammenwohne, wir kommen auch ganz gut zusammen klar, und ich mache eine Umschulung von der LVA aus, weil ich ein Rückenleiden habe. Ja, und mit der Arbeit das habe ich eben nach der Therapie ziemlich gut gepackt. Ich habe kontinuierlich seitdem eigentlich auch gearbeitet und habe auch so keine Schwierigkeiten mehr, dass ich denke, schmeißt alles hin wieder. Ich habe doch irgendwie so viel Selbstbewusstsein, dass ich denke, ich schaffe das. Ist genauso wie jetzt mit der Umschulung, da habe ich gesehen, da kommt ziemlich viel auf mich zu, das ist ziemlich hart, aber irgendwo habe ich so den Willen, das ist ziemlich wichtig, ich habe im Moment einen ziemlich starken Willen, das alles so zu schaffen. Genauso mich eben in der Gesellschaft zu behaupten.