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Eine brillante Auseinandersetzung mit dem facettenreichen Begriff "Störung". Esther Kinsky widmet sich in "Störungen" menschlichen oder natürlichen Einwirkungen auf unsere Umgebung, die fundamentale Veränderungen bewirken. Aber was genau kennzeichnet eine Störung und wie können wir uns dem negativ belegten Wort so nähern, dass sich unerwartete Denkräume öffnen? Esther Kinsky stellt den Begriff des "gestörten Geländes" in das Zentrum ihres Essays. Es handelt sich dabei um ein Gelände, das nach einer Phase oft sehr intensiver Nutzung und Überprägung durch den Menschen allmählich wieder an die "Natur" fällt. Anhand von Beispielen analysiert Esther Kinsky sprachgewaltig das Spannungsfeld von Natur und Kultur zwischen Ausbeutung und Rückeroberung sowie historische Belastungen als Störfelder. Ihr Blick auf die Welt bietet überraschende und poetische Einsichten.
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Seitenzahl: 54
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Esther Kinsky
Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«
Residenz Verlag
Unruhe bewahren – Frühlingsvorlesung & Herbstvorlesung
Eine Veranstaltung der Akademie Graz in Kooperation mit dem Literaturhaus Graz und DIE PRESSE
Die Frühlingsvorlesung zum Thema »Störungen« fand am 1. und 2. Juni 2023 im Literaturhaus Graz statt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
www.residenzverlag.com
© 2023 Residenz Verlag GmbH
Wien – Salzburg
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Herausgegeben von Astrid Kury, Thomas Macho, Peter Strasser
Umschlaggestaltung: Kurt Dornig
Lektorat: Jessica Beer
ISBN eBook: 978 3 7017 4693 4
ISBN Print: 978 3 7017 3573 0
Kapitel I
Kapitel II
Abbildungen
Als ich vielleicht neun Jahre alt war, bekam ich ein Buch geschenkt, das den deutschen Titel trug »Wer die Nachtigall stört«. Der Titel hatte für mich etwas Unheilverkündendes, Düsteres, doch seine Bedeutung wurde für mich eigentlich erst zum Rätsel, als ich entdeckte, dass der Originaltitel lautete »To Kill a Mockingbird«. Dass eine Spottdrossel zur Nachtigall wird, ließ sich vor allem des Rhythmus wegen noch hinnehmen, doch vom Töten zum Stören ist es ein befremdender Schritt. Wie tief kann Störung eingreifen, was kann sie anrichten? Der Sinn des Titels enthüllt sich erst am Ende des Buches, und die deutsche Version, in ihrem Sechziger-Jahre-Pathos zwar weniger endgültig, doch so viel dunkler als das sachliche englische Original, ist nicht ganz fehl am Platz, als der Bezug klar wird. Das Stören als Aufstören, mit dem ins Dunkel des dichten Laubwerks geworfenen Stein zur möglichen Tötung des Vogels, der die Verborgenheit braucht, um zu singen. Doch mit dem Titel war die Frage nach Schichten der Bedeutung des Wortes geweckt und blieb aktiv, was heißt: Sie störte weitere Fragen auf.
Fragen nach Worten sind heikel. Unter der Oberfläche des Alltagsgebrauchs fächern sich etliche Wege auf. Zum Glück gibt es das Grimm’sche Wörterbuch, das gelegentlich überraschende Zusammenhänge aufdeckt. Das Wort stören, germanischen Ursprungs, ist verwandt mit dem englischen stir, einem Aufmischen, Aufstören, Eingreifen in einen Zustand, das mehr dem lateinischen perturbare entspricht, aber auch mit dem Wort stochern, zu dem ursprünglich immer ein Werkzeug gehörte, eine Stange oder ein Stock, der in eine Ordnung eingreift, etwas aus der Ordnung bringt, ein Wort, das man vielleicht näher ans lateinische disturbare rücken würde. Man stochert in der Glut, in einem Wespennest, in alten Wunden, doch ist das Wort nicht von Anfang an negativ festgelegt, auch wenn es uns mit dem Einbezug eines Werkzeugs schon näher ans Töten bringt. Mit der Zeit kamen die differenzierenden Präfixe zum Verb, das Aufstören und Verstören, das Zerstören. Das Wort gebar Begriffe, die sich im alltäglichen Gebrauch von ihrer Wortwurzel entfernten, obwohl der Klang der gleiche blieb. Ein österreichisches Literaturfestival schickt seine Teilnehmer einen Nachmittag lang auf die »Stör«, zu einer privat ausgerichteten Veranstaltung in Höfen der Umgegend, wo die Autor*innen vor Publikum lesen, das sich wahrscheinlich nie auf die Lesungen im Tal begeben würde. So saß ich einmal in einer Stube, in der es des frühen Verschwindens der Sonne hinter sehr hohen Bergen wegen seltsam früh und unvermittelt dunkel wurde, und sollte vor einem Publikum, das sich meine Texte wahrscheinlich nie zum Zuhören ausgesucht hätte, ja, das sich vielleicht sogar durch befremdende Betrachtungen und Beschreibungen in seinem Nachmittag gestört fühlen mochte, mich selbst fühlen wie ein wandernder Geselle, auf dessen Arbeitssuche vor hunderten von Jahren dieses Wort gemünzt wurde. Der wandernde und aller Wahrscheinlichkeit nach sehr arme Geselle auf einer solchen Stör griff ein in die Hierarchien und Regeln des Ortes, an den er als Fremder kam, er störte die Ordnung eingesessener Handwerker, indem er seine Dienste anbot und dabei wahrscheinlich notgedrungen die Ansässigen unterbot, um sein sogenanntes »Störbrot« essen zu können, die Speise, die er sich erst nach dem Unterlaufen der Ordnung leisten konnte. Ohne Störung wäre er verhungert. Und manchmal mag ein solcher Störenfried auch geblieben sein, weil sein unverhofftes Geschick doch so willkommen war, dass es die Ordnung bleibend unterlief und Angestammtem die Wurzeln benagte. Auch Schuberts Winterreisender, der fremd ankam und fremd fortging, mag auf der Stör gewesen sein, ein Geselle ohne Meister. Ihm bescherte der Vorstoß in die Ordnung einer Fremde nur eine Verwirrung des Herzens, die ihn nie wieder ungestörte Ruhe finden ließ. In der Tat müssen die störenden Fremden meistens doch wieder davonziehen, der Fremde wird fast immer als Störenfried wahrgenommen, die Fremdheit allein schon als ein Störfaktor. Doch ziehen diese fremden Störer nie davon, ohne etwas verrichtet zu haben: ob der ungerufene Handwerker früherer Zeiten, frierende Flüchtlinge, Hilfsbedürftige von irgendwo außerhalb der vertrauten Ordnung – so ungebeten sie den meisten sind, sie alle hinterlassen Spuren, die sich aus der Oberfläche des Alltagslebens nicht so einfach wegwischen lassen, die im Gedächtnis bleiben und in Erinnerung eingreifen, die die eigene Bequemlichkeit und Zufriedenheit augenblickslang borstig, kratzig und eng erscheinen lassen.
So unabwendbar die Störung als Phänomen ist, das Wort, das sie bezeichnet, weckt heute in der Regel negative Assoziationen. Niemand will sich stören lassen. Es ist zu nah an der Zerstörung, führt zu schnell zur Verstörung, um zum Verweilen einzuladen. Dennoch leben wir zwischen Rissen und Frakturen, im konkreten und im übertragenen Sinne, Geschichte wie Geschichten sind Aufzeichnungen von Eingriffen und Störungen, und kaum jemand wird ernsthaft bezweifeln, dass die sogenannte heile, also ungebrochene, unzerbrochene, ungestörte Welt ein naiver Wunschtraum ist. Die Linien unserer Hände, die Falten im Gesicht, die mit den Jahren immer tiefer werdenden Furchen, die sich durch die Oberfläche des Gehirns ziehen, sind Verzeichnisse dessen, was im Leben widerfahren ist, was irgendwie in den Verlauf eingegriffen, was Spuren hinterlassen, was geprägt hat. Die Störung ist eine unerlässliche Erscheinung unseres Lebens, der weder Körper noch Geist oder Seele aus dem Weg gehen können. Für mich ist die Störung aus mehreren Anlässen vom Motiv zum bleibenden Thema meiner Arbeit geworden, und ich möchte unter dieser Überschrift einen ganz bestimmten Begriff beleuchten, der dazu angetan ist, in der Betrachtung der Welt und dem Nachdenken über die Oberfläche, auf der wir leben, einiges in Frage zu stellen. Es geht um den Begriff des gestörten Geländes.
Ich stieß auf diesen Begriff in einem unerwarteten Zusammenhang, nämlich bei meinen ersten Beschäftigungen mit Prozessen der Namensgebung im Umgang mit der Natur. Da gibt es die Benennungen im regional