Strange Love - Conor Creighton - E-Book

Strange Love E-Book

Conor Creighton

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Beschreibung

Conor verschlägt es zufällig nach Berlin mit wenig mehr als der Kleidung, die er trägt, und einem einzigen deutschen Satz: "Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar". Unterwegs trifft er großartige Deutsche, aber auch viele verrückte. Vor allem eine, die unbezwingbare Steffi, bringt ihn um den Verstand. Strange Love ist eine romantische Komödie und die einzigartige Entdeckungsreise eines rothaarigen irischen Outsiders, der sich ein seltsames Land und seine Bewohner erschließt.

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Conor Creighton

Strange Love

oder: wie ich lernte, die Deutschen zu lieben

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1332-0

© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin Coverfoto: © Gerald von Foris, München

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Umschlag
Titelseite
Impressum
Jack und Steffi und Rocky
Der Moses von Sachsen
Pause auf der Arbeit
Auch Roadies verlieben sich
Jeder Veganer muss mal Hühner erwürgen
Reich durch Leergut
Nackt durch die Alpen
So billig wie möglich von Berlin nach Nürnberg
Ein Wochenende in der Freie-Liebe-Kommune
Eine Nacht im Altersheim
Englischunterricht im King-George-Puff
Wie Steffi die Liebe fand, ich Wikinger wurde und wir beide den Absprung aus Deutschland schafften
You can take the girl out of Deutschland, but you can’t take Deutschland out of the girl
Schneller als Hunde und Nazis
Swinger, Therapeuten, Trennungen und wovon Beduinen nachts im Zelt träumen
Ein Tod an der polnischen Grenze
Der Unterschied zwischen Neukölln und Afghanistan
Eine Stunde vor Sonnenuntergang am letzten Sommertag
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Jack und Steffi und Rocky

Was war das?

Was?

Das Geräusch? Jack, ich hab da was gehört.

Ich schlaf doch noch, Schatz.

Dann wach eben auf.

Okay.

Hörst du ’s?

Ich hör nur dich.

Hör hin.

Nichts, sagte ich.

Hör richtig hin, schrie sie.

Vielleicht so ein leises rustling.

Was heißt rustling?

Das Geräusch, wenn kleine Tiere irgendwo herumwühlen. Meinetwegen auch große Tiere.

Geh gucken.

Ich? Das geht nicht. Das ist doch ein deutsches Tier da draußen. Das versteht mich nicht. Da sage ich sit statt Platz. Da wird’s nur sauer. Dann beißt es mich, und ich bin nicht versichert.

Du bist ’ne Pussy, sagte sie.

Ich weiß, sagte ich.

Steffi pellte sich aus dem Schlafsack. Sie trug nur gestreifte Leggings und dicke Wollsocken. Die Leggings hingen ihr noch in den Kniekehlen, weil wir eigentlich gevögelt hatten, bevor sie mit den Gedanken woanders war, keine Lust mehr hatte und mich runterschubste. Die Socken waren meine und gehörten zu den vielen Sachen, die sie sich genommen, aber nie zurückgegeben hatte. Sie legte sich eine Decke über die Schultern und strich sich die Haare hinter die Ohren. Ihre Haare waren damals phosphorweiß, aber ich hatte sie auch schon in Pink, Grün und Gold gesehen. Steffi krabbelte zur Zelttür. Wie alle ostdeutschen Mädchen hatte sie von Natur aus muskulöse Arme. Gut zum Zuschlagen oder Schrebergarten-Umgraben. Sie waren voller Partystempel und blauer Flecken. Ein paar davon stammten von mir, aber die meisten von Spaßboxereien auf der Tanzfläche.

Eigentlich wär das dein Job, sagte sie.

Ich schwieg.

Sie zog den Reißverschluss auf, und die Sterne und Schatten der Skyline von Meck-Pomm schimmerten durch die Zelttür. Steffi krabbelte nach draußen. Das rustling verstummte. Absolute Stille. Selbst der Wind hielt eingeschüchtert die Klappe. Nirgends auf der Welt ist es so still wie nachts in Deutschland irgendwo auf einem Acker. Klar gibt es auf den Gipfeln des Himalaja und in den Weiten der Sahara Ecken, in denen man die lebenden Organismen an einer Hand abzählen kann, aber selbst da herrscht in der tiefen Nacht garantiert mehr Geplapper, mehr Small Talk, bei dem wertvolle Zeit verschwendet wird, als in Deutschland auf dem Land, wenn alle schlafen.

Minuten vergingen. Ich horchte. Steffi war weg. Das Irgendwas-da-draußen hatte sie gefressen. Mit Haut und Haaren verschlungen. Sie hatte endlich ihren Meister gefunden. Das arme Mädchen hatte nicht mal mehr Zeit zum Schreien, zum Brüllen gehabt, aber ehrlich gesagt hatte sie zeitlebens wohl auch schon genug gebrüllt. Meine Socken waren auch futsch.

Trotz allem würde ich Steffi vermissen. Aber so ist das wohl immer.

Ich krabbelte zur Zelttür und spürte die kühle Luft von draußen. Selbst im Sommer wurde es hier nie richtig warm. Auch am heißesten Tag des Jahres erwischte einen noch irgendwo ein kalter Wind an der Straßenecke, in der Gasse oder im heimischen Treppenhaus. Ich steckte den Kopf hinaus. Eine raue Zunge schlabberte mir die Nase rauf und runter. Ein warmer Spreewaldgurken-, Vollkornbrot- und Quark-Atem schlug mir entgegen. Ich lehnte mich ein Stück zurück und sah einen Hund. Ein schmutzig gelbes Tier mit dunklen Augen, langen Zähnen und Fell so zäh wie Teer. Aus der Ferne kam Steffi angerannt und hechtete ins Zelt – und der Hund gleich hinterher. Er lief winzige Kreise, stolperte gegen die Stoffbahnen und Stangen und beschmierte unsere Schlafsäcke mit frischem Matsch.

Wuff, wuff, wau, wau, sagte der Hund, denn so reden die Hunde in Deutschland.

Ruff, ruff, sagte ich, weil ich kein Deutsch konnte, bis auf ein paar zähe, unverzeihliche Brocken, die ich manchmal mit dem Stil und der Haltung eines Besoffenen auskotzte, der um fünf Uhr morgens im Nieselregen ohne Jacke mit offenem Gürtel und losen Schnürsenkeln in einer fremden Stadt nach Hause wankt.

Das ist Rocky, sagte Steffi.

Rocky?, fragte ich.

Ja, wie dein Freund Rocky. Guck dir doch mal die Augen an.

Rocky war mein bester Freund zu Hause. Wir hatten ihn Rocky genannt, weil er manchmal mit einem blauen Auge zur Schule gekommen war, als sein Vater noch lebte.

Steffi hielt dem Hund eine saure Gurke hin, und er lutschte sie ihr von der Hand.

Das ist unser Frühstück, sagte ich.

Rocky gehört jetzt zur Familie, sagte Steffi, er isst, was wir essen.

Rocky bellte nach noch mehr Gurken, und Steffi bellte zurück. Sie verstanden sich gut. Rocky trug ein Halsband. Er stand zwar keine Sekunde still, aber auf einer kleinen Blechscheibe konnte ich trotzdem den Namen erkennen.

KEVEN

Der ist gar kein Rocky, sagte ich.

Jetzt schon, sagte Steffi und hob Rocky-Keven hoch. Rocky zappelte sich aus ihren Armen und rollte gegen die Zeltwand. Steffi rollte hinterher. Sie hechteten unter den Schlafsäcken hindurch und jaulten sich an. Unsere Klamotten flogen durch die Luft. Rocky knurrte, Steffi knurrte zurück, und ich hörte, wie etwas wild zerrissen wurde, und kleine Fetzen meines Notizbuchs stoben durchs Zelt wie in einer Schneekugel. Eine Stange brach, und das Zelt fiel uns auf den Kopf. Rocky rannte erschreckt davon. Steffi stob hinterher in die Nacht – ohne Schuhe und Oberteil. Die Papierschnipsel segelten rund um mich zu Boden. Es waren hauptsächlich Notizen, einzelne Satzfetzen. Ein Drehbuch, das ich schreiben würde, falls sich das Leben jemals beruhigen sollte. Mit dem Titel:

Die mit dem Köter tanzt Die Steffi-Müller-Story

Ich schaute zu, wie die beiden durch das hohe Gras am Waldrand tobten, wo wir wild campten. Steffi und ich hatten noch nie für einen Zeltplatz bezahlt. Die Steffi, die ich kannte, bezahlte ja kaum jemals für Lebensmittel. Sektflaschen und Paprikachipstüten blieben an ihr hängen wie verwaiste Babyäffchen im Wildtier-Streichelzoo.

Rocky und Steffi heulten und knurrten und rangelten, und als sie müde waren, blieben sie auf dem kalten Boden liegen und schlabberten einander das Gesicht ab. Steffis Zunge war länger als die von Rocky.

Wir behalten ihn, rief sie mir zu, er will bei uns sein. Wir sind jetzt eine Familie. Er kann ja dein Jahrestagsgeschenk sein. Überraschung!

Es fing an zu nieseln, und das Zelt saugte alles auf. Am Morgen würden wir erkältet sein. Wenn Steffi krank war, war sie der schlimmste Mensch der Welt. Dann hatte sie eine düstere, fiese Laune, die alle Chilisaucen, Apfelschorlen und Tiefseedokus der Welt nicht vertreiben konnten. Wahrscheinlich würde ich Rocky zu seinen Besitzern zurückbringen müssen, während sie bei geschlossenen Gardinen unter mehreren Deckenschichten begraben lag, eine dreckiger und feuchter als die andere.

Aber immerhin hatte sie sich an meinen Jahrestag erinnert. Fünf Jahre. Kellnern, Konzertbühnen aufbauen, Ladendiebstahl, Kurzzeitmieten, Veröffentlichungen, kleinere Fernsehauftritte, Puffs, Würste, bescheidene Berühmtheit, eine Handvoll Nazis, eine Handvoll Hippies und ein guter Italiener. Ich war pleite, reich und dann wieder pleite gewesen. Ich hatte die seltene Schönheit in der Ordnung gefunden. Von einem, der nie seine eigene Scheiße angesehen hatte, war ich zu jemandem geworden, der sie pingelig untersuchte, während sie ihn von ihrem Flachspülerpodium aus anlachte.

Am Ende mochte ich Deutschland, und Deutschland mochte mich, aber keiner von uns beiden hätte wohl erwartet, dass das so lange dauern würde.

Der Moses von Sachsen

Um neun Uhr an einem Dienstagabend musste ich irgendwo nördlich von Dresden pinkeln. Ich saß seit vier Stunden am Steuer. Am Morgen wollte ich in Warschau sein und dann weiter nach Krakau fahren, wo ein alter Freund, den ich zuletzt als Teenager gesehen hatte, einen Job in einer Bar für mich hatte. Aber erst musste ich pinkeln, also fuhr ich von der Autobahn ab, um mir eine ruhige Nebenstraße zu suchen.

Der VW meines Großvaters lief wie geschmiert. Solche Geschwindigkeiten hatte er in Irland nicht mal ansatzweise erleben dürfen. Für dieses Leben war der Wagen geboren. Neue Länder, lange Straßen, Benzin in allen Geschmacksrichtungen, und bis auf das eine Mal in einem Kreisverkehr in Nantes und dann noch ein Mal beim Verlassen eines Drive-through in Basel hatte ich mir das Fahren auf der rechten Seite beigebracht und nicht vergessen.

Mit der Nase fast an der Windschutzscheibe zockelte ich durch dunkle Wälder und hielt Ausschau nach einem Platz zum Halten. Vom langen Fahren war ich ganz groggy. Außer dem Pochen meiner Blase spürte ich kaum noch etwas. Während ich in langen, düsteren Kurven tiefer in den Wald hineingondelte, sah ich draußen nichts mehr außer den schwachen Scheinwerferstrahlen, die vorne aus dem Auto schossen. Es gab keine Fahrbahnmarkierungen und keine Reflektoren, selbst der Mond hatte sich gelangweilt verzogen. Es kam mir vor, als würde ich durch eine Höhle fahren.

Dann starrte mich plötzlich ein wunderschönes hellbraunes Augenpaar an. Warm und trübe und voller Tränen. Mitten auf der Straße stand wie versteinert ein Reh. Ich trat auf die Bremse, riss das Lenkrad herum und rutschte von der Straße, wo das Unterholz und die herabgefallenen Äste die Räder packten und nicht mehr losließen. Ich stellte den Motor ab, stieg aus und trat einen Schritt vom Wagen zurück. Mir ging es gut, aber den VW hatte es voll erwischt. Die vordere Hälfte steckte in Matsch und Gras, die Windschutzscheibe hatte einen Sprung, und die Reifen waren zerfetzt worden wie Hundespielzeug.

Ich schaute zurück zur Straße. Das Reh stand immer noch da, als wäre nichts gewesen.

Danke, sagte ich.

Ich öffnete den Reißverschluss und wollte wenigstens pinkeln. Nichts kam. Der Schock hatte mich ausgetrocknet. Was für eine Verschwendung! Ich zog meinen Rucksack vom Rücksitz, schloss alle Türen und ging zur Straße. Das Reh stand immer noch da.

Wo geht’s hier zum nächsten Dorf?, fragte ich. Das Tier regte sich nicht.

Du kannst wohl kein Englisch, was?

Keine Antwort. Ich marschierte los in die Dunkelheit Richtung Osten, die Nase im Wind auf der Suche nach dem Geruch von Leuten.

Nach einer guten Stunde sah ich Straßenlaternen leuchten und hörte Hunde kläffen. In der Luft lag eine klebrige Hitze, als würden die Bäume um mich herum schwitzen. Ich kam an den Rand eines Dorfes. Auf einer Verkehrsinsel stand ein Riesenmonster aus Strohballen. Es war so groß wie ein Haus. Am Kopf hatte jemand Eimerdeckel als Augen angebracht. Der eine Deckel war etwas abgesackt, und das Monster sah besoffen aus. Ich spazierte die Dorfstraße entlang. Es war ein dunkles kleines Kaff. Die meisten Fenster waren mit Brettern vernagelt oder eingeschlagen. Ein paar Firmenschilder waren noch zu lesen. Fleischerei, Holz-Kohl, Bäckerei, Apotheke, Damenmode, Fisch-Schmidt. Ich las mir die Wörter laut vor, verstand sie aber nicht. Verblasste Wahlplakate hingen an Mauern und Telefonmasten. Sie flatterten im Wind und erzeugten so ein langsames Klatschen.

Ich suchte einen Automechaniker oder wenigstens jemanden, der mir sagen konnte, wo ich einen finden würde, aber als ich die Hälfte des Dorfes hinter mir hatte, war mir noch kein bewohntes Haus oder sonst irgendein Lebenszeichen begegnet. Ich dachte an unser Dorf zu Hause. Wo waren die Kneipen? Wo waren die Jungs, die die Fahrräder der Trinker über die Verkehrsschilder hängten? Wo waren die Fischreiher, die sich um die Mülltüten im Fluss stritten? Wo waren die Geister? Ich war zwar ins tiefste Deutschland gefahren, aber wo waren die ganzen Deutschen?

Aus der Dunkelheit kamen Hunde angerannt. Sie umringten mich und schlabberten mir die Hände ab. Es waren wohl gut zehn. Nette Kerle. Hatte ich mich in ein Hundedorf verirrt? Die Deutschen waren abgehauen und hatten den Vierbeinern das Heft überlassen, die jetzt das Kommando bellten. Sie liefen einen kleinen Weg entlang, und ich folgte ihnen wie ein echtes Rudelmitglied.

Wir kamen an ein Bauernhaus, aus dessen Schornstein dichter Rauch quoll. Der Garten stand voller Verschläge, einige größer, andere kleiner. Manche waren leer, in anderen lagen weitere Hunde. Ihre Augen strahlten wie kleine grüne Laser. Es roch nach nassem Fell, frischem Urin und Trockenfutter. Ich marschierte weiter, und ein Scheinwerfer ging an. Die Hunde winselten und japsten. Die Haustür schlug auf, und ein alter Mann in weißem Unterhemd, aber ohne Unterhose kam nach draußen und fuchtelte mit einem langen Stock herum. Er hatte einen grauen Bart und wilde rote Augen, und als er den Mund aufmachte, kamen mit den Worten hellgelbe Spuckespritzer heraus.

Damals konnte ich auf Deutsch drei Sachen sagen: Weißbier,Vorsprung durch Technik und Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar. Ich hatte also keine Ahnung, was der alte Mann mit dem Unterhemd brüllte. Es hörte sich für mich an, als hätte er Bienen verschluckt. Also entgegnete ich etwas auf Englisch:

Ich bin Jack. Ich bin kein Einbrecher. Ich hab kein Messer dabei. Ich bin nicht mal stark. Ich habe einen Unfall gebaut und brauche einen Automechaniker.

Er rief ein Wort, das sich anhörte wie Wind, der durch einen Tunnel rauscht, und alle Hunde verstummten.

Er ging auf mich zu. Mit jedem Schritt rutschte ihm das Unterhemd weiter den Bauch hoch.

Wo kommst du her?, fragte er mich auf Englisch.

Irland, sagte ich.

Süd oder Nord?

Süd.

Sag das doch gleich, erwiderte er und schüttelte mir begeistert die Hand. Komm rein, dann zieh ich mir schnell was an.

Also folgte ich dem Mann mit dem weißen Unterhemd in sein Haus. Die Hunde kamen auch mit. Kurz kam über Sachsen der Mond heraus und ließ die gelben Flecken auf seinem Hemd und seine milchflaschenweißen Arschbacken aufschimmern, die auf die Tür des großen Steinhauses zuwackelten.

Pommi, rief er, als wir drinnen waren, wir haben Besuch. Wirf mir mal meine Hose runter.

Ein braunes Beinkleid segelte die Treppe hinunter, und er zog es über.

Jack?, sagte er.

Ja?

Ich bin Oli.

Oli packte mich am Arm und zog mich näher zu sich heran. Sein Körper roch nach warmen Decken und tiefem Schlaf.

In meinem Herzen, sagte er und schlug sich auf die Brust, bin ich einer von euch. Wirklich.

Einer von uns?, fragte ich.

Ire, sagte er, im Herzen bin ich Ire. Bist du zum ersten Mal in Deutschland?

Ja, sagte ich.

Tja, dann tausendundeinmal willkommen!

Oli führte mich ins Wohnzimmer und setzte mich auf einen Sessel. Die Hunde kamen hinterher und schlabberten mir wieder die Hände ab. Ein paar von ihnen sprangen mir auf den Schoß.

Platz, rief Oli, und wie perfekt gedrillte Soldaten warfen sie sich auf den Boden. Meine Frau und ich haben eine Schwäche für Tiere, erklärte er. Wir können zu keinem Streuner nein sagen. Die Augen, Mann, da schmelz ich dahin. Einen Drink? Klar, bist doch Ire.

Oli ging aus dem Zimmer. Ich sah mich um. An den Wänden prangten Bierdeckel, Pub-Handtücher, Postkarten und Straßenschilder – alle aus Irland. An einer Wand hing ein riesiges Tourismusbüro-Poster von den Cliffs of Moher. Es hatte Beulen und Falten und war mit weißem Klebeband befestigt. Die Kissen waren mit Kleeblättern verziert. Der Teppich vor dem Kamin war mit einer fein gearbeiteten Harfe bestickt, und an der Wand darüber prangte, von einer Lichterkette umschlungen, ein Goldrahmen mit einem Schwarzweißfoto von William Butler Yeats.

Oli kam zurück. Er hatte eine Flasche irischen Whiskey unter dem Arm und drei Gläser in der Hand. Hinter seiner Schulter tauchte Pommi auf. Sie war rund und hatte braune Haare und rosige Backen. Sie war ein lieber Mensch. Das konnte man riechen. Oli auch. Er räusperte sich und deutete mit dem Whiskey auf Yeats.

Now that my ladder is gone,

I must lie down where all ladders start,

in the foul rag and bone shop of the heart,1 leierte er.

Nicht schlecht, sagte ich.

Bist du Dichter, Jack?, fragte er.

Nein, sagte ich. Hauptsächlich Barkeeper.

Pommi lächelte mich an. Die besten Dichter, die wir in Irland kennengelernt haben, waren alle Barkeeper.

Wir setzten uns, und Oli schenkte den Whiskey ein. Ein bisschen Whiskey, ein bisschen Wasser. Es dauerte eine Weile, denn die Hunde wollten nebenbei alle am Kopf gestreichelt, am Kinn gekrault oder hinter den Ohren gekratzt werden.

Wie viele habt ihr?, fragte ich.

Dreißig Hunde und zwanzig Katzen, sagte Pommi. Die Katzen wohnen oben.

Bei uns im Bett, sagte Oli.

Eigentlich gehört denen das Bett, sagte Pommi, und die beiden lachten.

Die Stube war warm. Es war Sommer, aber sie hatten ein kleines Feuer brennen, und es war gemütlich wie in einem Insel-Cottage. Und es war dreckig. Herrlich dreckig. Die Sessel und Teppiche waren zerfetzt und zerkaut und mit einer dicken Lage Staub, Erde, Hunde- und Katzenhaare überzogen.

Wir stießen an, und Oli erzählte.

Als die Mauer gefallen war, sind wir nach Irland gefahren, Jack, sagte er. Quer durchs Land per Anhalter. Wir haben bei Bauern im Garten gezeltet, in Wartehallen von Busbahnhöfen geschlafen und wurden manchmal von wildfremden Leuten nach Hause eingeladen.

Pommi saß an der Kante ihres Sessels. Sie lächelte und wandte den Blick nicht von ihm ab, während er erzählte.

Einmal haben wir eine Frau kennengelernt, die hat ihre Tochter auf dem Sofa schlafen lassen, damit wir ein Bett hatten.

Wir hatten kein Geld, sagte Pommi. Wir hatten überhaupt nichts geplant.

Ich hatte nicht mal Unterhosen dabei, sagte Oli.

Das stimmt, sagte Pommi.

Die beiden lachten, und ich lachte mit, auch wenn ich Oli bisher noch nicht mit Unterhose erlebt hatte.

Pommi füllte die Gläser wieder auf. Ich fühlte mich wie zu Hause.

Irland hat euch wohl gefallen?, sagte ich.

Und wie!, sagte Pommi. Wir wollten nie wieder weg.

Ihr seid aber doch wieder gefahren?

Nach zwei Wochen kamen wir wieder nach Deutschland. Wir wollten hier eigentlich alles verkaufen und zurück nach Irland, aber dann kam Bruno.

Bruno?

Unser erster Hund, erklärte Pommi.

Ein schwarzer Terrier mit nur einem Ohr, sagte Oli. Er war fast tot, als er bei uns vor der Tür stand, also haben wir das Ganze ein bisschen aufgeschoben. Wir wollten ihm die Zeit geben, in Ruhe zu sterben, weißt du? Aber ein halbes Jahr später hatten wir noch fünf andere Hunde, und Bruno lebte immer noch.

Und eine Katze, ergänzte Pommi.

Also seid ihr hiergeblieben?

Genau, und jetzt sind wir alt, sagte Oli, und werden irgendwann hier sterben. Dafür gibt’s schlimmere Länder.

Er schenkte sich noch einen Whiskey ein und trank. Eine der Katzen hatte sich die Treppe heruntergewagt und kam ins Wohnzimmer. Ohne jede Angst strich sie zwischen den Beinen der Hunde hindurch. Sie legte sich bei mir auf den Schoß und sah mich verächtlich an, wie Katzen das eben tun. Ich streckte ihr die Zunge heraus. Pommi und Oli sprachen liebevoll auf Deutsch miteinander. Ich kannte die Sprache sonst nur aus Filmen, in denen sie entweder scharf und hart klang wie eine Industriemaschine oder tief und langsam wie ein gefrorener Fluss, der im Frühling auftaut. Die Deutschen im Fernsehen waren immer wütend. Ich hatte nicht geahnt, dass sie auch so herzlich sein konnten. Pommi und Oli hörten sich an wie kleine Waldtiere, die es sich unter schweren Federdecken gemütlich gemacht hatten. Oli legte Pommi die grobe, dicke Hand um den Oberschenkel und drückte das rosafarbene Fleisch. Sie zappelte wie ein Fisch, der gerade aus dem Wasser gezogen worden war.

Morgen finden wir einen Automechaniker für dich, sagte Oli und stand auf, aber heute Abend bist du unser Gast und hast dir ein Konzert verdient.

Er ging aus der Stube, und Pommi, ich, zwei Dutzend Hunde und die eine mutige Katze warteten geduldig. Als er wiederkam, trug er ein Pianoakkordeon vor dem Bauch. Es war groß wie ein Koffer. Ich habe keine Ahnung, wie er es so lange halten konnte. Es war voller Aufkleber aus aller Welt: Mannheim, Galway, Rotterdam, Danzig, Dresden. Dazu Kratzer und Kerben wie von einem Schwertkampf. Oli marschierte mit dem ramponierten Instrument in die Mitte der Stube, wo er es langsam drückte. Es machte ein Geräusch wie Babys, die in einer Pfütze ertränkt werden. Pommi glühte vor Begeisterung und klatschte den Rhythmus. Dann legte Oli richtig los. Er wippte von einem Fuß auf den anderen und spielte immer schneller und lauter. Er beherrschte das Instrument überhaupt nicht, aber, Mann, was hatte er für einen Spaß dabei! Er hüpfte auf dem Teppich umher und lehnte sich vor und zurück, so dass der gerissene Balg kaum mithalten konnte.

Die Hunde hielten sich die Ohren zu. Die Katze sprang auf einen Lampenschirm. Ich griff nach meinem Whiskey. Die Musik schepperte von den Wänden zurück. Pommi schlug sich auf die fleischigen Schenkel. Oli ermutigte mich zum Singen. Ich wollte, konnte aber nicht. Da hätte ich auch versuchen können, gegen den Lärm einer Baustelle anzusingen.

Einer nach dem anderen liefen die Hunde aus der Stube oder verkrochen sich unter den Sofas, bis nur noch die alten, tauben da waren. Die großen Schnallen des Akkordeons gaben fast nach. Olis Arme waren von dem Gewicht knallrot geworden. Auf der Stirn stand ihm der Schweiß. Er sank auf die Knie und drückte das Instrument noch einmal kräftig zusammen. Der Krach hätte Tote erwecken können. Draußen winselten die Hunde. Mit breitem Grinsen fiel Oli auf den Rücken. Das Akkordeon sackte neben ihm zusammen, Pommi ließ sich von ihrem Sessel rutschen und krabbelte auf ihren Mann zu. Sie beugte sich über ihn und biss ihn in die Nase, und er leckte ihr das Gesicht ab.

Zum Glück wohnen wir hier im Dorf ganz alleine, sagte sie.

Sie brachten mich ins Bett, in einer kleinen Kammer im ersten Stock. Direkt neben dem Zimmer der beiden. Mein Bett gehörte eigentlich den Katzen. Pommi schüttelte sie von der Decke, und die Tiere starrten mich mordlüstern an. Wir kriegen dich, wenn du es am wenigsten erwartest, wollten sie mir wohl sagen. Ich kroch unter die Decke. Pommi und Oli standen im Türrahmen.

Gute Nacht, Jack, sagte Oli sanft. Er schnaufte immer noch. Bist du ein spiritueller Junge?

Weiß nicht, sagte ich.

Tja, vielleicht hat dich das Universum heute zu uns geschickt. Und morgen machen wir deinen Wagen wieder flott.

Sie schalteten das Flurlicht aus, und ich hörte, wie die beiden in ihr Bett stiegen. Dann füllten die Federn und Balken das Haus wieder mit Musik, während Pommi und Oli sich liebten.

Am Morgen weckten mich die Katzen. Sie leckten mir mit rauen Zungen den Whiskey von den Lippen. Ich ging hinunter zu Oli. Er kochte Eier. Auf dem Tisch standen eine Kanne Kaffee, rosafarbener Aufschnitt, grellgelber Käse und kalte Sardinen. Oli legte sich einen Finger auf die Lippen und zeigte nach oben.

Ich hab sie heute Nacht nicht viel schlafen lassen, sagte er und zwinkerte.

Wir frühstückten schnell, Oli zog sich Stiefel an, und wir gingen nach draußen. Oli hielt einen langen Hirtenstab in der Hand. Die jüngeren Hunde liefen ihm hinterher. Er sah aus wie Moses. Moses von Sachsen.

Wir gingen mitten auf der Straße, und die Hunde wuselten um uns herum und beschnüffelten die Wände der leeren Betonhäuser. Das Dorf wirkte tagsüber nicht mehr so furchteinflößend, aber genau so heruntergekommen. Nachts hatte man sich wenigstens vorstellen können, dass die Bewohner schliefen. In manchen Gebäuden wuchs Unkraut aus dem Boden, kleine Bäume durchstießen die Ziegeldächer, und Ranken wanden sich um die Schornsteine. Jetzt wohnten dort die Pflanzen.

Wo sind denn alle?, fragte ich.

Oli zeigte mit dem Stab und sagte nur ein Wort: Westen.

Die Straße, auf der ich gekommen war, war leicht zu finden. Es gab nämlich nur eine. Wir gingen durch den Wald, bis die Hunde bellten, weil wir die Stelle gefunden hatten. Nur ein paar Schritte von der Straße entfernt entdeckten wir zwischen den Bäumen die Überreste meines Autos. Es war ausgeschlachtet und angezündet worden. Ich ging darauf zu. Sie hatten die Türen abgebaut. Den Motor mitgenommen. Sogar Spiegel und Scheibenwischer abgerissen. Ich legte die Hand aufs Metall. Es war noch warm.

Oli ging um das Auto herum zur Motorhaube. Er kniete sich hin und buddelte sich durch die Äste, bis er den Kühlergrill freigelegt hatte. Er machte sich mit seinem Hirtenstab daran zu schaffen, hebelte das VW-Zeichen ab und gab es mir.

Tut mir leid, sagte er.

Mir auch.

Leute von hinter der Grenze wahrscheinlich, sagte er. Die sind schnell.

Was mach ich denn jetzt?, fragte ich.

Was hattest du denn vor?

Ich hab einen Freund in Krakau. Bei dem kann ich in der Bar arbeiten.

Ha, sagte Oli und legte mir einen starken Arm um die Schultern. Was wissen Polen schon von Bier? Für verrückte Jungs wie dich gibt es nur einen Ort, und der heißt Berlin.

Pause auf der Arbeit

Ich bekam einen Job in einem Club auf Pontons, der jeden Tag nur ein paar Stunden lang zumachte. In der Zeit wurden die Kühlschränke aufgefüllt, die Böden geschrubbt und die Leute rausgeworfen, die auf dem Klo oder den Holzplattformen eingeschlafen waren, die den Fluss bedeckten wie Seerosenblätter.

Weil ich kein Deutsch konnte, musste ich die leeren Gläser einsammeln. Eingewiesen wurde ich von Babet. Babet war ein kleines Gewusel aus Dreadlocks und Tattoos von Totenschädeln, Schlangen und Wörtern, die ihr wichtig waren. Auf dem Arm stand Freedom. Am Fußknöchel Love. In verschlungener Schrift und mit bunten Blumen verziert war von knapp über bis knapp unter ihrem Bauchnabel ACAB zu lesen.

Wofür steht das?, fragte ich.

All Cops Are Bastards, sagte sie. Sind die nämlich.

Babet brachte mir bei, wie man die Gläser ineinandersteckte, bis man einen Turm bis zur Decke hatte, und sich dann durch die Tanzmeute zurück zur Bar schlängelte. Sie selbst kam problemlos mit so einem Glasschornstein in jeder Hand durch die tobende Menge, ohne jemals ein Glas fallen zu lassen. Ich bekam sechs Euro die Stunde und durfte trinken, soviel ich wollte. Wenn viel los war und wir alle in den Seilen hingen oder wenn nichts los war und wir uns langweilten, kippten die Chefs uns Speed in den Sekt. Dann arbeiteten wir zwar nicht unbedingt härter, wurden aber hektischer und den Gästen ähnlicher. Das war ganz anders als meine Barkeeper-Jobs in Irland, bei denen man nicht nur Getränke zapfen, sondern immer auch zuhören, Rat und Trost geben, zwischen den Trinkern und ihren Familien vermitteln und jedes Fußball- und Pferderennen-Ergebnis kennen musste.

Ich arbeitete nicht gern nachts. Da wurden die Leute zu Affen. Sie kletterten die Wände hoch und sprangen in den Fluss. Sie konnten nicht mehr richtig reden und blubberten nur noch Blödsinn über den Tresen. Sie verloren ihre Klamotten. Sie hängten sich die Schuhe an die Ohren. Mit heruntergelassenen Hosen hechteten sie über die Tische und bissen einander. Sie kamen aus ganz Berlin angereist, wenn sie in keinen anderen Club mehr reingekommen waren, weil sie wussten, dass wir auch den Vollsten noch reinließen. Wir hielten dir die Hand, setzten dir den nächsten Drink an die Lippen, zählten dir das Kleingeld aus der Hosentasche ab und packten dich in die stabile Seitenlage, damit du nicht an deiner Kotze ersticktest. Ich hasste die Nächte. Es waren Schlachten, die bis zum Morgengrauen wüteten. Wenn die Sonne aufging, sahen wir einander an, die Tresenleute, die Abräumer, die Türsteher, und nickten, wir hatten wieder eine Nacht überlebt. Tagsüber war alles besser. Dann waren nur Babet und ich da. Babet hatte schon in jedem Club von Berlin gearbeitet. Zuletzt im Berghain. Da war sie rausgeflogen, als sie ihren Freund über den Tresen geschmissen hatte. Ihr Freund war auch ihr Chef gewesen.

Wie hast du ihn denn mit den Armen über die Theke geworfen?, fragte ich sie.

Das hat nichts damit zu tun, wie stark, sondern wie irre sauer man ist.

Und irre war Babet auf jeden Fall. Statt mit normalen Klamotten wickelte sie ihre Knochen mit Baumwoll- und Jeansfetzen ein. Und was für Knochen! Die Haut hing ihr über dem Skelett wie ein nasser Lappen auf der Heizung, und wenn nach einer langen Arbeitsnacht der Morgen kam, sanken ihre Augen zurück in die Höhlen wie in einsame graue Krater auf der dunklen Seite des Mondes. Wenn wir anderen am Schichtende schweißgetränkt waren und nichts mehr außer Wasser trinken konnten, lehnte Babet immer ab: Das letzte Mal, als ich Wasser getrunken hab, hab ich davon die Scheißerei gekriegt.

Und Babet war laut. Wenn die Party in vollem Gange war und auf den Holzplattformen zweihundert Leute zu Techno tanzten, konnte man Babet immer noch nach neuen Eiswürfeln brüllen hören. Sie konnte sich prügeln oder ins Gebälk klettern und eine Glühbirne austauschen. Sie konnte einem zum Thema russische Schriftsteller fachkundig ein Ohr abkauen, wusste aber nicht unbedingt, wer Steve McQueen war. Aus all diesen Gründen mochte ich Babet. Sie war anders als alle anderen Menschen, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Anders als alles, was Irland jemals hätte hervorbringen können. Sie hatte eine Wildheit, die nichts mit der Natur zu tun hatte, sondern rein industriell war.

Sie hatte einen Sohn namens Karli. Mit vollem Namen Karli Marx. Karli Marx hatte lange, schmutzig braune Haare und trug alles von Latzhosen bis weißen Kleidern voller Farbspritzer und Eigelbreste.

Warum das Kleid?, fragte ich.

Ich will ihm kein Geschlecht aufzwingen, sagte Babet.

Manchmal brachte Babet Karli mit zur Arbeit und ließ ihn mit Wachsmalern und Papier oben im Büro warten. Wenn er mal ein bisschen gestresst war, ließ Babet ihn bei uns hinter den Zapfhähnen sitzen. Dann war er immer extrem still und ruhig und starrte nur über den Tresen die ganzen Leute an, die tanzten, hinfielen, kreischten, sich aneinanderrieben, in den Hals bissen und nackte Oberkörper ableckten.

Wenn er groß ist, wird er auch Raver, sagte Babet oft, aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Mir kam er wie versteinert vor. Aus seinem Gesicht las ich: Wo sind bloß die ganzen Erwachsenen hin, und was ist wohl von der Welt noch übrig, wenn ich mal groß bin?

Die Jungs trugen Unterhemden und weite Jeans. Die Mädchen Bikinioberteile und Jogginghosen, und ich habe niemals auch nur eine Einzige mit behaarten Beinen gesehen. Sie waren alle so glücklich, dass sie dort sein durften. Strahlende kleine Wesen. Gesegnete Geschöpfe. Haut und Knochen und graue Zähne. Zerbrechliche Blätter im Wind von Mate, Red Bull, verschiedenen Drogen und einer Musik, die sich mit minimaler Variation immer wiederholte, tagelang, wochenlang.

Einmal hatte ich mit Babet eine Doppelschicht. Wir hatten die Nacht bereits durchgearbeitet und würden bis sechs Uhr abends weitermachen müssen. Babet hatte gute Laune. Sie spielte mir Streiche. Wenn sie mich mit meinen Gläsertürmen auf die Bar zukommen sah, sprang sie auf, rannte auf mich zu und steckte mir einen Eiswürfel ins T-Shirt, und mir blieb nichts anderes übrig, als von einem Bein aufs andere zu hampeln, um ihn abzuschütteln. Andersherum hätte ich mich das nie getraut. Wegen dieser Wildheit. Wer weiß, wie Babet reagiert hätte. Babet zu ärgern war wie einen Skorpion zu kitzeln.

Es war gegen Mittag im deutschen Hochsommer. Die Tage waren heiß und klebrig. Man konnte gar nicht genug gegen den Durst antrinken. Unser Chef kam aus dem Büro herunter und gab uns eine halbe Stunde Mittagspause, während der Laden ruhig war. Babet griff sich eine rosafarbene Sonnenbrille aus dem Barregal, zog unsere Trinkgelddose vom Tresen, schüttelte sie wie ein Tamburin und ging voran.

Was willst du essen?, fragte sie.

Egal, sagte ich.

Pizza, beschloss sie.

Babet ging die Treppe hoch zur Straße, und ich dackelte hinterher. Sie trug Jeans-Shorts und ausgelatschte, zu große Espadrilles. Sie musste schlurfen, damit sie sie nicht verlor.

Rauchst du?, fragte sie.

Ja.

Dann los.

Ich zog meinen Tabak aus der Tasche und gab ihn ihr. Sie griff sich einen großen Batzen und ließ die Hälfte auf den Boden fallen.

Sorry, sagte sie.

Ist okay.

Vielleicht ist das ein Zeichen, dass ich nicht rauchen sollte.

Sollten wir eigentlich alle nicht, sagte ich.

Nee, ich echt nicht.

Wieso?

Scheiße, Mann, ich bin wahrscheinlich schwanger.

Echt?

Ja. Können wir eben mal zur Apotheke, bevor wir uns Pizza holen?

Klar, sagte ich.

Wir gingen die Schlesische Straße entlang Richtung Mini Pizza. Da gab es Pizza für einen Euro, und seit meiner Ankunft in Berlin hatte der Laden mich durchgefüttert. Giovanni, der Sarde, der im Zimmer neben mir wohnte, schüttelte immer den Kopf, wenn ich mit einer Serviette von dort nach Hause kam. Das ist kein Essen, sagte er dann und hatte recht. Giovanni war gut zu mir gewesen. Er hatte mir eine dünne Matratze und eine kaputte Plastiklampe geschenkt, was mir an Möbeln absolut reichte. Nach meiner ersten Woche im Haus nahm er sich mich zur Brust.

Bist du immer so?, fragte er.

Wie?

Eh, wie du überall rumrennst und putzt, dauernd helfen willst und den Müll rausbringst. Bist du immer so?

Nein, sagte ich. Ich will nur einen guten Eindruck machen.

Du weißt aber schon, dass es denen scheißegal ist?

Ja?

Ja. Die merken das nicht mal. Und sie werden sich dafür weder bedanken noch es dir irgendwie anrechnen. Du lebst hier in einem Haus voller deutscher Hippies. Die haben den Egoismus erfunden.

Was soll ich machen?

Auch egoistisch sein. Kannst du das?

Ja, sagte ich.

Gut, du lernst ja schon. Und eins muss ich dir noch über die Deutschen sagen: Die merken es nie, wenn du gut bist, aber immer, wenn du schlecht bist.

Gegenüber von Mini Pizza hinter dem U-Bahnhof gab es eine Apotheke.

Ich warte hier, sagte ich zu Babet.

Ist doch keine große Sache, erwiderte sie. Jetzt tu doch nicht so.

Wie?

So. Wie du grade tust. Wie ein Vater oder so.

So hab ich getan?

Ja. Wir sind hier nicht in Irland. Hier kommt man nicht in die Hölle, bloß weil man sich ’nen Schwangerschaftstest kauft.

Ich glaub nicht an die Hölle, sagte ich.

Würdest du, wenn du schwanger werden könntest, sagte sie.

Ich dachte nur, vielleicht willst du lieber alleine reingehen.

Komm, dann gehen wir eben Pizza essen. Jetzt hab ich keine Lust mehr.

Wir gingen zu Mini Pizza. Aus den Ecken pusteten kühle Ventilatoren, nicht aber hinter dem Tresen. Die armen Kerle, die die Pizza in den Ofen schaufelten, waren schweißgetränkt. Sie sahen uns mit trägen Augen an. Ich senkte den Blick, falls sie mich erkannten. Babet war wahrscheinlich genauso arm wie ich und aß bestimmt auch genauso schlecht, aber sie sollte nicht wissen, dass ich mich ausschließlich von Pizza ernährte.

Ich bestellte mir eine Margherita. Babet nahm auch eine und zusätzlich saure Gurken und je eine Schale gebackene Pilze und Chili-Zuckermais.

Ich esse ja für zwei, sagte sie, und als sie lachte, tanzten ihre graugelben Zähne.

Die Pizzen kamen schnell. Das musste man dem Laden lassen. Dort wurde nicht getrödelt. Sie wussten, dass ihre Kunden eigentlich gar nicht dort sein wollten, also fertigten sie jeden in Rekordzeit ab.

Babet aß wie ein gejagtes Tier. Sie ging mit dem Kopf tief runter ans Essen und stopfte alles mit schnellen Bissen in sich rein. Die Zunge schoss aus dem Mund und schnellte wieder zurück. Sie war so lang wie Babets Bein. Ich bin mir todsicher, dass sie einmal einen Pilz auf den Boden fallen ließ und ihn zurück in den Mund beförderte, ohne sich auch nur zu bücken. Zwischendurch trank sie große Schlucke Cola und wischte sich die Finger an den nackten Beinen ab.

Was ist, wenn du schwanger bist?, fragte ich.

Sie setzte sich eine Fingerpistole an die Schläfe und drückte mit dem Daumen ab. Abtreibung ist keine große Sache, sagte sie. Hab ich schon gemacht. Seit Karli fünfmal. Bei dem hab ich’s erst nach drei Monaten gemerkt. Dann ist es zu spät, sagte sie.

Machst du dir keine Sorgen?

Sollte ich das denn?

Weiß nicht.

Ich mach mir über gar nichts Sorgen, sagte sie. Ist doch sowieso alles im Arsch. Du, ich, Deutschland. Warum soll man sich da ’nen Kopf machen?

Wir aßen die Pizzen auf und drehten uns Zigaretten. Wir saßen im Luftzug der Ventilatoren. Die Blättchen flatterten hoch, und wir schlugen sie schnell wieder herunter. Die Männer hinter dem Tresen schauten neidisch zu uns hinüber. Ich hatte auch mal am Ofen gearbeitet. Zu Hause, bevor die Haferflockenfabrik zumachte. Der Schweiß lief einem den Hals hinunter und sammelte sich in Pfützen in der Unterhose. Nach ein paar Tagen bekam man Angst, einem könnte der Arsch wegrotten. Jeder von uns hatte da mal während der Sommerferien gearbeitet. Wir bekamen weniger als den Mindestlohn, weil wir noch Jugendliche waren. Aber es war unser erstes richtiges Geld, das wir für Cider ausgaben und für teure Turnschuhe aus der Stadt, die sofort voller Schlamm waren, wenn wir auch nur einen Fuß wieder ins Dorf gesetzt hatten.

Draußen beschloss Babet, dass sie jetzt doch zur Apotheke wollte. Sie bat mich mitzukommen. Ich konnte ja so tun, als wäre ich der Vater, sagte sie. So hart sie sich immer gab, merkte ich doch, dass sie nervös war.

Ich ging mit rein und blieb an der Tür bei den Zahnbürsten stehen. Sie kosteten € 2,50 bis € 3,65. Meine Zahnbürste hatte einen Euro gekostet. Sie war weich wie eine Feder. Wenn ich es in Deutschland packe, kaufe ich mir als Erstes eine 3-Euro-65-Zahnbürste, schwor ich mir.

Als Babet den Schwangerschaftstest in der Hand hielt, musste sie ihn irgendwo benutzen, also bot ich ihr an, dass wir zu mir gehen könnten. Es war nur ein paar Meter weiter die Treppe rauf. Jetzt ist es wirklich so, als wärst du der Vater, sagte sie.

Niemand war zu Hause, weil alle auf einer Anti-Atom-Demo waren. Zum Glück. In der letzten Zeit war die Stimmung nicht mehr so gut. Ich wohnte jetzt einen guten Monat dort. In dem Haus lebten zwanzig Leute zusammen. Als Bewohner musste man links und Veganer sein. Es war nicht leicht gewesen, ein Zimmer zu ergattern. Ich hatte zu einem Auswahlgespräch kommen müssen. Birgit, eine der älteren Bewohnerinnen, hatte gesagt, sie wolle nicht mit einem zusammenwohnen, der kein Deutsch könne. Basti, einer der Jüngeren, meinte:

Aber Birgit, das ist doch rassistisch.

Birgit sagte: Tatsächlich?

Und Basti: Ja, doch, ich find schon.

Tja, ich bin aber keine Rassistin, sagte Birgit, ganz und gar

nicht, und um das zu beweisen, müssen wir ihm das Zimmer geben.

Sie berieten sich und beschlossen, mich für eine einjährige Probezeit aufzunehmen. Meine Miete betrug zweihundert Euro pro Monat. Vorher hatte ich in sechs Monaten sechs Zimmer durchgemacht. Mal gab es statt Wänden weiße Laken, die von der Decke hingen, mal waren Bodenbretter weggebrochen, unter denen gefährliche Abgründe klafften, mal führten Türen ins Nichts, wo mal ein Balkon gewesen war. Oft wollten die Leute aber keinen, der gerade mal drei deutsche Sätze herausbrachte, und warfen mich nach ein paar Wochen wieder hinaus. In Berlin war es leicht, ein Zimmer zu finden, aber schwer, es zu behalten. Am ersten Abend rollte ich meinen Schlafsack auf dem nackten Boden aus, pinnte ein Bild von Samuel Beckett an die Wand und war glücklich, dass ich endlich ein echtes Zuhause gefunden hatte.

Aber bis auf dieses erste Gefühl und die günstige Miete lief es im Haus nicht so toll. Es gab dauernd Versammlungen. Jede Menge Beschwerden. Entweder spülte ich das Geschirr nicht sauber genug, oder ich pisste nicht im Sitzen. Und noch andere Sachen. Essen verschwand. Basti wollte wissen, was mit seiner Dose Ravioli passiert war. Wie sollte ich ihm sagen, nachdem er sich vor Birgit für mich starkgemacht hatte, dass ich sie mir kalt und mit dreckigen Fingern reingestopft hatte, als am Dienstagmorgen die Sonne gerade aufging?

Babet verlangte nach einer Tour, bevor sie aufs Klo ging. Ich zeigte ihr alles. Das riesige Haus verfiel langsam. Man musste jeden Stuhl überprüfen, bevor man sich darauf setzte, an jedem Tisch wackeln, bevor man etwas Schweres darauf stellte, und die Fenster ganz sachte schließen, damit die Scheibe nicht heraussprang. Nachts zitterten die Wände im Wind.

Als ich Babet in mein Zimmer brachte, blätterte sie die Zettel und Schnipsel neben meinem Bett durch. Ich hielt sie auf.

Hattest du nicht was vor?, fragte ich.

Wir schauten beide das kleine weiße Päckchen in der Plastiktüte an. Den Schwangerschaftstest. Sie hob den Blick zum Himmel und atmete laut aus. Dann ging sie aus dem Zimmer.

Links oder rechts?, rief sie.

Links, sagte ich.

Komm mit, rief sie.

Aufs Klo?

Ja. Du spielst den Papa.

Ich ging mit Babet den Flur hinunter und ins Bad. Es war ein großer Raum. So groß wie ganze Wohnungen in Dublin. Ich hockte mich im Schneidersitz auf die Waschmaschine und wartete ab. Babet riss den Schwangerschaftstest auf und warf die Packung auf den Boden. Die Anleitung gab sie mir.

Lies vor, sagte sie.

Ich dachte, du hast das schon mal gemacht.

Ja, tausendmal. Aber die Anweisungen ändern sich. Sag einfach Bescheid, wenn da irgendetwas steht, was ich wissen muss.

Ich las die englischen Anweisungen. Stäbchen auspacken. Aufs Klo setzen. Auf den Streifen pinkeln. Zwei Minuten warten. Ein blaues Plus heißt, man ist schwanger, ein rotes Minus, nicht.

Okay, sagte sie. Und jetzt mach die Augen zu, das ist mir peinlich, merkst du das denn nicht?

Ich schloss die Augen. Ich hörte, wie sie an ihren Klamotten herumzerrte, den Klodeckel hochklappte und dann, wie ein kraftvoller Strahl in die Schüssel rauschte. Und als Letztes die Spülung. Sie drückte mir das Teststäbchen in die Hand, und ich öffnete die Augen.

Du darfst die frohe Nachricht verkünden, sagte sie. Ich sah mir das Plastikorakel auf meinem Schoß an. Winzige gelbe Pissperlen grinsten zurück. Babet schlug den Klodeckel zu und setzte sich drauf. Sie hatte immer noch meinen Tabak. Sie drehte sich eine Zigarette und zündete sie an.

Wer ist der Vater?, fragte ich.

Haha, fing sie an, das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Wahrscheinlich Karlis Vater. Als er ihn letzte Woche bei mir abgeliefert hat, hatte er einen Nostalgischen. Hat er eigentlich immer.

Warum habt ihr euch getrennt?

Ich Ketamin, er Hasch, weißte? Wir waren einfach zu verschieden. Auf jeden Fall wollte er mich küssen, und ich bin spitz, also sag ich ja, und dann zieht er mir im Flur die Shorts runter.

Wo war Karli denn?

Ach, der hat wahrscheinlich zugeguckt. Das tut denen gut, weißte? Mir hat’s auch nicht geschadet, dass ich meinen Eltern beim Bumsen zugeguckt hab. Auf jeden Fall hab ich ihm gesagt, dass ich gerade Eisprung hab wie sonst was und dass ich garantiert schwanger werde, wenn er in mir kommt. Also hat er gesagt, macht er nicht.

Hat er dann aber doch?

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