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Wenn jetzt nicht etwas Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Und nicht die Angriffe ihrer Gegner werden ihr den Garaus machen — die Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen, wird es tun. Pandemien, Weltkrieg, Klimanotstand: Die Freiheit schwebt in höchster Gefahr. „Freiheitsgesäusel“? „Mehr Diktatur wagen“? Was ist kaputt in den Herzen und Köpfen der vielen, dass sie sich selbst und ihre Freiheit so geringschätzen, ja, regelrecht verachten? Warum stimmen sie ihrer eigenen Entrechtung zu und scheinen in ihre Ketten geradezu verliebt? Roland Rottenfußer zeigt: Wie sind Gefangene unserer Illusionen, Gefangene der Lügen und Strategien der Macht. Doch der Kaiser ist längst nackt, der Zauberer von Oz nur ein größenwahnsinniger Zwerg, der an Hebeln zieht. Erkennen wir, dass unsere Angst grundlos ist, fällt der Bann von uns ab und wird der Weg in jene Auseinandersetzung um die Zukunft frei, die schon Schiller, Orwell und Fromm so plausibel und zugleich leidenschaftlich beschrieben: „Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin – was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.“
Rottenfußers Buch ist Liebeerklärung an die Freiheit und individuell-kollektive Revolutionsanleitung zugleich. Der Weg liegt vor uns, wir müssen ihn nur noch gehen. Frei nach der Devise von Bertolt Brecht: „Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.“
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Die Zukunft gehört den Mutigen.
»Was weiß ich schon von mir, wenn ich nicht weiß, dass das Bild, das ich von mir selbst habe, zum größten Teil ein künstliches Produkt ist und dass die meisten Menschen – ich schließe mich nicht aus – lügen, ohne es zu wissen? Was weiß ich, solange ich nicht weiß, dass ›Verteidigung‹ Krieg bedeutet, ›Pflicht‹ Unterwerfung, ›Tugend‹ Gehorsam und ›Sünde‹ Ungehorsam? Was weiß ich, solange ich nicht weiß, dass die Vorstellung, dass Eltern ihre Kinder instinktiv lieben, ein Mythos ist? Dass Ruhm nur selten auf bewundernswerte menschliche Qualitäten und häufig nicht auf echte Leistungen gründet? Dass die Geschichtsschreibung verzerrt ist, weil sie von den Siegern geschrieben wird? Dass betonte Bescheidenheit nicht unbedingt ein Beweis für fehlende Eitelkeit ist? Dass Liebe das Gegenteil von heftiger Sehnsucht und Gier ist? Was weiß ich schon von mir, wenn ich nicht weiß, dass jeder versucht, schlechte Absichten und Handlungen zu rationalisieren, um sie edel und wohltätig erscheinen zu lassen? Dass das Streben nach Macht bedeutet, Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe mit Füßen zu treten? Dass die heutige Industrie-Gesellschaft vom Prinzip der Selbstsucht, des Habens und des Konsumierens bestimmt ist und nicht von den Prinzipien der Liebe und Achtung vor dem Leben, die sie predigt? Wenn ich nicht fähig bin, die unbewussten Aspekte der Gesellschaft, in der ich lebe, zu analysieren, kann ich nicht wissen, wer ich bin, weil ich nicht weiß, in welcher Hinsicht ich nicht ich bin.«
Erich Fromm
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-96789-037-2
1. Auflage 2023 © Rubikon-Betriebsgesellschaft mbH, München 2023
Lektorat: Kirsten Skacel, Korrektorat: Susanne George
Konzept und Gestaltung: Buchgut, Berlin
PROLOG
VORWORT
DER WACHSENDE SCHATTEN
DAS WESEN DER MACHT
DIE LÜGEN DER MACHT
DIE PANDEMIE DES GEHORSAMS
DER WERT DER FREIHEIT
DIE GEGENSPIELER DER FREIHEIT
DIE WIEDEREROBERUNG DER FREIHEIT
NACHWORT
PROLOG
VON MARCUS KLÖCKNER UND JENS WERNICKE
Macht und Freiheit – das sind zwei sehr weitreichende Begriffe. Macht und Freiheit durchdringen unser Menschenleben – unabhängig davon, wie wir sie wahrnehmen oder wie wir uns zu ihnen positionieren. Wenn Freiheit auf Macht trifft oder Macht auf Freiheit, dann sind Konflikte meist vorprogrammiert. Der freiheitsliebende Mensch will seine Freiheit leben, während die Macht bestimmen will, wie viel Freiheit erlaubt ist. Macht will dem Freiheitsliebenden Grenzen setzen, oft mit dem Ziel, ihn zu kontrollieren.
»Ungehorsam ist die wahre Grundlage der Freiheit. Die Gehorsamen müssen Sklaven sein.« Das sagte einst der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau. Der Begriff »Ungehorsam« betritt die Bühne. Hier die Freiheit, da die Macht. Und dann der Ungehorsam, der sich der Macht entgegenstellt. Was für den Stier das rote Tuch, das ist für die Macht der Ungehorsam. Der ungehorsame Bürger, der Regeln nicht einfach befolgt, sie hinterfragt und im Sinne der Demokratie auch missachtet: Ihn will die Macht brechen.
Macht, gewiss, ist nicht per se schlecht. Macht kann zum Guten wie zum Schlechten gebraucht werden. Die Realität aber leider ist: Wenn sich die politische Macht von Eliten Raum verschafft, dann dient sie eher selten dem Erhalt und dem Schutz der Freiheit. Mit der Corona-Politik wurde der Gesellschaft, aber auch dem einzelnem Bürger unmissverständlich vor Augen geführt, wozu Macht imstande ist.
Seit März 2020 haben Politiker im Verbund mit Journalisten und sogenannten Experten demonstriert, wie es aussieht, wenn Freiheit schwach und Macht stark ist. Im Namen des Gesundheitsschutzes hat die »Macht« die schwersten Grundrechtseinschränkungen seit dem Bestehen der Republik durchgesetzt. Das gesamte Land wurde in Geiselhaft genommen und mit einem wahren Maßnahmenexzess drangsaliert. Jene, die auch nur Zweifel am offiziellen Corona-Narrativ äußerten, wurden ebenso wie bald darauf auch Ungeimpfte diskriminiert, ausgegrenzt, bedroht, schikaniert, diffamiert und in ihrem Sein als Menschen entwertet. Die Macht hat nicht einmal vor den Kindern haltgemacht, die doch besonderen Schutzes bedürfen. Und sie hat auch noch dafür gesorgt, dass sich die Unterdrückten und Geächteten nicht mit den Mitteln, die ihnen der demokratisch-liberale Rechtsstaat normalerweise zur Verfügung stellt, wehren konnten. Die zentralen gesellschaftlichen Schutzbereiche, wie etwa die Justiz, an die sich unter normalen Umständen eine derart diskriminierte Bevölkerungsgruppe wenden kann, boten ihnen diesen Schutz weitestgehend nicht mehr. Das hat der Jurist Alexander Christ in seinem Buch Corona-Staat. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht (2022) ausführlich dargelegt. Und in dem Buch »Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.« Das Corona-Unrecht und seine Täter (2022) haben wir konkret aufgezeigt, wie Menschen in diesem Land behandelt wurden, die zum Beispiel nicht bereit waren, Maßnahmen Folge zu leisten.
Roland Rottenfußer beleuchtet aus unterschiedlichen Blickwinkeln das komplexe Spannungsverhältnis von Macht und Freiheit, Gehorsam und Ungehorsam. Sein Wissen und seine Gedanken können dabei helfen, die »Strategien der Macht« zu erkennen und zu durchschauen – und sich jener Ketten, die die Macht uns gerne anlegt, zu entledigen. Möge dieses Buch von möglichst vielen gelesen werden, die die gewonnenen Erkenntnisse an andere weitergeben. Denn Wissen ist selbst eine Macht. Und die Macht des Wissens fürchten jene Eliten, die in ihrer Arroganz, Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit glauben, sie könnten der Bevölkerung ins Gesicht lügen und sie dauerhaft für dumm verkaufen. Dem ist nicht so.
AUF DIE HARTE TOUR – WIE ICH DIE FREIHEIT LIEBEN LERNTE
1984 – durch Zufall wurde das berühmte Jahr auch für mich das Jahr einer ganz persönlichen Totalitarismus-Erfahrung. Dabei war Deutschland seinerzeit noch ein relativ freies Land. Aber egal, wie freiheitlich ein Gemeinwesen auch verfasst ist – wer dem Militär in die Hände gefallen ist, befindet sich in einer Diktatur. Ich stand also in besagtem Jahr an einem Sonntag im Winter in einer Münchner Kaserne Wache – das Gewehr über der Schulter. Ja, Sie haben richtig gelesen, ich habe meinen Wehrdienst abgeleistet. Wer jetzt dazwischenrufen möchte: »Selber schuld!«, wer anmerkt, das sei ein befremdliches Verhalten für einen Menschen, der sonst eher als halbwegs intelligenter, freiheitsliebender Autor bekannt ist, dem kann ich nicht widersprechen. Es war ein Fehler gewesen, zur Bundeswehr zu gehen – ein Fehler, zu dem mich Lauheit und mangelnde weltanschauliche Klarheit getrieben hatten, aber auch die damals relativ hohen Hürden, die »Verweigerern« in den Weg gelegt wurden.
Doch es gibt Fehler, die sich im Nachhinein als prägend und in gewisser Weise fruchtbar erweisen. Gemessen an den Erfahrungen, die andere Wehrdienstleistende mit dem »Bund« gemacht hatten, waren meine nicht sonderlich »hart« oder traumatisierend gewesen. Gerade dies betrachte ich aber im Rückblick als das Schlimme: Die Art, wie ich behandelt wurde und wie ich mich behandeln ließ, war »normal« – die Normalität fortdauernder Entwürdigung und Unterdrückung. Ich wusste damals noch nicht viel vom Leben und von Politik. Aber ich wusste fortan, wogegen ich war – was ich auf keinen Fall jemals wieder mit mir geschehen lassen wollte. Es war die Erfahrung, einem überlegenen »Regime« und seinem in kränkender Weise absurden Reglement absolut machtlos ausgeliefert zu sein und von nirgendwoher Hilfe erwarten zu können. Schon gar nicht von »meinem« Staat, denn der war es ja gewesen, der sich all das ausgedacht hatte, mit seinen Machtmitteln aufrechterhielt und schützte. Ich habe meinem Staat seither nie wieder wirklich vertraut, obwohl die Jahrzehnte, die auf meinen Wehrdienst folgten, gemessen an heutigen Verhältnissen eine gute und milde Zeit waren.
Ich stand auf Wache, mir war elend, mir war kalt und ich war müde. Denn in den kurzen Ruhestunden, die einem der Wachplan einräumte, konnte ich keinen Schlaf finden. Wer Wochenend-Wachdienst hatte, befand sich quasi im Herzen der Finsternis. Er hatte eine »Arbeitswoche« hinter und eine vor sich, in der er nicht nach Hause durfte. Wenn man überdies eine schlechte »Lage« – also eine noch unübersehbare Zahl von Diensttagen bis zur Entlassung – vor sich hatte, war die psychische Gesamtsituation des Rekruten nur als schwärzeste Verzweiflung zu beschreiben.
Ich lernte damals einiges über Macht: etwa, dass sie mit einer Arroganz und Unduldsamkeit auftritt, die umso größer ist, je läppischer und schäbiger die Forderungen sind, die sie an ihr Unterworfene stellt. Ich lernte, dass kein Durchkommen war für Vernunft und Menschlichkeit und dass es keinen Ausweg gab, da die »andere Seite« immer Recht und Gesetz im Rücken hatte. Ich lernte auch, was damals allen Wehrpflichtigen bewusst war, wogegen sie aber machtlos waren: Sinnlose und erniedrigende Befehle wurden nicht »zufällig« oder nur ausnahmsweise erteilt – sie hatten Methode in einem System, dessen vordringliche Aufgabe es war, die ihm Ausgelieferten zu brechen. Selbst wenn man sich so weit auf die Militärlogik einlässt, das Töten von »Feinden« in einem bestimmten Kontext für ein sinnvolles und legitimes Ziel zu halten – die Formalitäten der »Ausbildung« sind es gewiss nicht. Sie zielten auf eine Dressur zu widerstandsfreier Unterwerfung ab – ohne Fragen zu stellen und den Sinn der Befehle zu hinterfragen. Nur der so Abgerichtete war fähig, später in einem möglichen Ernstfall wie besinnungslos in das Gewehrfeuer des Gegners zu laufen, für das »Vaterland« und die von ihm geführten sinnlosen Kriege zu töten und notfalls zu sterben. Das Militär – damals selbst noch im technisch vergleichsweise unterentwickelten Stadium – wollte den Maschinenmenschen, denn das Maschinenhafte am Soldaten war für dessen Zwecke weitaus besser brauchbar als das leider immer noch Menschliche.
All das ist nicht neu. Militärische Entwürdigung als System hat es vor 1984 gegeben, und es gibt sie bis heute. Gespenstischerweise erzählte mir mein Vater aus seinem Militärdienst unter Hitler etwas ganz Ähnliches. Ich zitiere aus seiner privat verlegten, bewegenden Autobiografie: »Der Umgang der Vorgesetzten mit uns Rekruten war willkürlich. Man ließ uns exerzieren, auf dem Boden robben und laufen. Ständig hieß es: ›Hinlegen!‹, ›Auf, Marsch, Marsch!‹ Wenn man einem Vorgesetzten nicht sympathisch war, waren verschiedene Strafmethoden üblich: eine Extrarunde um den Kasernenhof laufen, Kniebeugen mit dem Gewehr in den ausgestreckten Armen oder Scheißhaus reinigen mit einer Zahnbürste. Jeder eigene Wille wurde vollständig gebrochen, sodass man den gemeinsten und brutalsten Vorgesetzten hilflos ausgeliefert war.«1
In der guten alten Bundesrepublik lief das alles natürlich um einige Grade sanfter ab. Ich wurde im Gegensatz zu meinem Vater nie in einen »heißen Krieg« geschickt, wurde durch das militärische Geschehen somit nur mäßig traumatisiert. Dennoch hat sich das Erlebnis eingeprägt. Wie kann es dazu kommen, so fragte ich mich schon damals, dass sich ein solches System von Gewalt und Zwang überall auf der Welt und in praktisch allen Menschheitsepochen durchsetzen konnte? Es gibt ja neben dem Kasernenhof noch andere Zonen reduzierter Menschenwürde, die man auf der ganzen Welt findet: Gefängnisse, Lager, Erziehungsanstalten … Was geht in den Menschen vor, die uns als »Machthaber« gegenüberstehen, die das Werk der totalen Unterwerfung scheinbar ungerührt an uns exekutieren? Wie wurden diese Menschen zu dem, was sie geworden sind? Wie wurde aus dem weichen, nach Mutterwärme und Trost verlangenden Säugling der erbarmungslose Brüller und Schleifer? Was ist schiefgelaufen in deren Entwicklung? Manchmal glaubte ich in den Augen solcher »Ausbilder« etwas wie Befriedigung darüber zu bemerken, wenn es ihnen gelang, uns zu schikanieren – so als würden sie aus dem unhörbaren »Knacksen«, das man erahnen kann, wenn der Wille eines Unterworfenen bricht, eine Art giftiger Befriedigung saugen, mit deren Hilfe sie ihr labiles Selbstvertrauen nähren konnten.
Aufgrund welcher psychischen Vorgänge strebt jemand Macht an – auch in ihren erkennbar schäbigen und entwürdigenden Erscheinungsformen? Dieser Frage war ich seither auf der Spur und bin es bis heute. Nicht zu vergessen die sich daran anschließende Frage: Warum dulden die Opfer all das? Letzten Endes also auch ich. Denn ich bin in dieser Geschichte zwar der Protagonist, keineswegs aber der Held. Was hindert die vielen daran, gegen die wenigen aufzustehen, die sie drangsalieren und aller Würde berauben?
Meine Geschichte erfuhr aber vorübergehend eine positive Wendung. In jener Nacht, in der ich Wache stand, hatte nämlich einer meiner »Kameraden« – wie man die Leidensgenossen nennen musste – ein Buch dabei, das er in den Pausen in der Wachstube eifrig las. In einem Umfeld eher grob gestrickter, wenn auch teilweise menschlich integrer Kameraden erkannten sich die feineren, die sensibleren von ihnen instinktiv und rückten zu einer kleinen, wärmenden Gemeinschaft zusammen – oft nur für Stunden, die die Kälte des Zwangsregimes ein wenig erträglicher machten. Mein Kamerad also hatte ein Buch von Erich Fromm dabei: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen2. Ich las nur wenige Abschnitte darin und war fasziniert. Sobald ich wieder nach Hause konnte, besorgte ich mir dieses und in der Folge noch viele weitere Bücher von Erich Fromm. Die Furcht vor der Freiheit3 war vielleicht dasjenige, das mich am stärksten prägte.
Erich Fromm also entzündete in diesem »Herzen der Finsternis« ein kleines Licht. Seine Bücher konnten mich nicht aus der Gewaltherrschaft des Militärs befreien – das hätte ich allenfalls unter Schwierigkeiten in Form von »nachträglicher Verweigerung« gekonnt; aber das Buch half mir, meine Erfahrungen einzuordnen und zu deuten. Es zeigte mir, dass mein innerer Widerstand gegen das System, das mich bis zum Ersticken einzwängte, einer gesunden Regung entsprang, dass nichts falsch daran war, in ein Umfeld, das ganz offenbar krank und böse war, nicht recht hineinzupassen. Meine »Ausbilder« beim Militär hatten mich wohl nicht gründlich genug gebrochen – vielmehr hatten sie in dem damaligen »Rekruten« vor allem einen zwar gewaltfreien, aber beharrlichen und zähen Gegner jeder Art von Machtmissbrauch rekrutiert.
Einige Jahre vor Erich Fromm hatten schon andere Dichter und Schriftsteller den Freiheitsfunken in mir entzündet. Friedrich Schillers Don Carlos4 vor allem und George Orwells 19845 , über das die Medien just im Jahr meiner schlimmsten Knechtschaft bei der Bundeswehr selbstgerecht vermeldeten: »George Orwells Schreckensvision hat sich nicht bewahrheitet.« Ja, damals noch nicht. Ich habe Bücher immer ernst genommen, und im Grunde – selbst wenn dies vielen merkwürdig vorkommen mag – werfe ich der Corona-Politik der Jahre 2020 bis 2022 vor allem dies vor: dass sie gegen Grundsätze verstoßen hat, die von großen Denkern wie Schiller, Orwell oder Fromm lange vorher in sehr plausibler, ja begeisternder Form beschrieben worden waren. Ich werfe der heutigen Politik vor, ihre geistigen Wurzeln vergessen zu haben und die Welt mutwillig in eine Richtung zu lenken, von der für mich von vornherein feststand, dass sie ins Verderben führen würde.
Nach meinem Bundeswehr-Intermezzo und während meines Studiums forschte ich weiter, und die Freiheit begleitete mich. Man muss in relativer Freiheit leben, um überhaupt ungestört über Freiheit nachdenken zu können. Sobald der Despotismus sein Haupt erhebt, deformiert er die Gedanken der Menschen. Die bittere Wahrheit ist: Es ist gar nicht sicher, ob ein freies Denken, wie es mir geschenkt wurde und wie ich es mir in den darauffolgenden Jahrzehnten erarbeitet habe, heute für jüngere Menschen überhaupt noch möglich ist. Zumindest wird es durch die Umstände extrem erschwert. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen, die die »alte Normalität« noch gekannt haben, nicht müde werden, an sie zu erinnern. Wir Älteren sind Bewahrer des Feuers. Es mag zwar auf einen beklagenswerten Rest heruntergebrannt sein – die Glut aber gilt es zu schützen, weil sich ohne sie ein neuer Flächenbrand des Freiheitsbewusstseins kaum wird entzünden lassen können.
Friedrich Schiller lässt in seinem Don Carlos dem Titelhelden ausrichten, »dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird«. Jetzt bin ich ein Mann und nicht mehr der Allerjüngste. Bezogen auf die heutige politische Lage bedeutet das Zitat für mich, allem die Treue zu halten, was ich in jüngeren und empfänglichen Jahren als gut und heilsam erkannt habe: den Büchern, den Dichtern wie den Gedanken. Und diese Gedanken fruchtbar zu machen für die Zeit, in der wir jetzt das Glück oder Unglück haben zu leben.
Dennoch soll dieses Buch kein literarischer Gang durch ein Freiheitsmuseum werden. Es ist zutiefst geprägt und überschattet von einem aktuellen politischen Geschehen, das am besten unter dem Etikett »Corona« bekannt ist. Der schockierende und im Wesentlichen erfolgreiche Generalangriff auf unsere Freiheits- und Bürgerrechte hat mich aufgewühlt wie kein zweites politisches Ereignis zu meinen Lebzeiten. Ich bin schon lange ein Freiheitsjournalist gewesen. Blättere ich in den Listen meiner älteren Veröffentlichungen, so finde ich überall den Geist des Widerstands gegen jede Form der illegitimen Einschränkung unserer Spielräume – der körperlichen wie auch der geistigen und sprachlichen. Ich bin – ausgelöst sicher auch durch meine wenig ruhmreiche Erfahrung als »Wehrpflichtiger« – auf dem Freiheitsohr sehr hellhörig geworden und geblieben – und finde mich hineingestellt in ein gesellschaftliches Umfeld, das dabei ist, auf ebendiesem Gebiet gänzlich zu ertauben. Doch erst mit »Corona« war ich derart aufgescheucht, dass ich – in fast wöchentlichen Artikeln im Webmagazin Rubikon6 und anderswo – die Freiheit und deren illegitime Einschränkung zu meinem Hauptthema als Autor gemacht habe.
Es ist wohl die Tragik der Nachkriegskinder, die es in vielem leichter hatten als ihre Vorgängergenerationen, dass sie kaum gelernt haben, zu kämpfen und Schweres zu durchleben. Die Tyrannei, die wir lange wie ein fernes Märchen aus sicherem Abstand bestaunt haben, die wir zu »bekämpfen« meinten, als dies noch völlig gefahrlos war – viele von uns erkennen sie nicht mehr, jetzt, da sie direkt vor uns steht. Die Menschen unserer Generation sind ihren Ahnen nie näher gewesen als in ihrer derzeitigen Verblendung, in diesem wie gelähmten und lähmenden Akt der Unterwerfung. Der sicherste Weg, eine Bewährungsprobe nicht zu bestehen, ist, zu leugnen, dass es sie gibt. Wir glauben, unsere Ketten wären erträglicher, wenn wir so tun, als existierten sie nicht. Wer nicht das Bedürfnis hat, seinen Radius um mehr als ein paar Meter zu erweitern, spürt nicht, wie ihm die Hundeleine seines Herrchens in den Hals schneidet – und meint vielleicht, er/sie sei frei. Wird die Leine kürzer gezogen, fühlt sich auch die Unfreiheit schmerzhafter an – und vielfach ist es dann schon zu spät.
Im Foyer des Gymnasiums, das ich neun Jahre lang besuchte, hing ein Metallschild, das den Kopf des »Namenspatrons« zeigte. Darauf stand: »Professor Kurt Huber – kämpfte und starb für Geistesfreiheit und Menschenwürde«. Nun, ich mache niemandem einen Vorwurf, der es dem großen Mentor der Widerstandsbewegung »Weiße Rose« nicht gleichtun kann und nicht bereit ist, für Freiheit und Würde zu sterben. Ich bin kein Held, im Grunde habe ich mich meinen Leserinnen und Lesern eher als eine Art Antiheld vorgestellt. Was mich aber traurig stimmt, ist, dass nur ein Bruchteil der Menschen, die mit Geschichten wie denen von Kurt Huber aufgewachsen sind, bereit zu sein scheint, wenigstens für die Freiheit zu leben – oder sich dafür einzusetzen, dass so viele Menschen wie möglich in Freiheit leben können.
Meine Bundeswehrzeit brachte ein ebenso pompöses wie skurriles Event mit sich: das Rekrutengelöbnis. Zu diesem Anlass mussten wir geloben, »der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen«. Mir bedeutet diese »Deutsches Volk«-Rhetorik nicht viel. Aber der Satz hat Kraft und er besitzt Würde, auch wenn er ständig missbraucht wird. Zunächst, weil Soldaten schon längst wieder in gefährliche und sinnlose Kriege geschickt werden – von Befehlshabern, die nie selbst unter Todesangst in Schützengräben übernachten müssen. Und dann auch, weil jegliches Militär ganz offensichtlich der Freiheitskiller Nummer eins ist. Weil zwar die Wahrheit in jedem Krieg vielleicht das erste Opfer ist, die Freiheit jedoch das zweite. Dennoch denke ich in letzter Zeit manchmal an den Spruch aus dem Rekrutengelöbnis, wenn ich sehe, mit welch perfiden und zugleich raffinierten Mitteln das Recht und die Freiheit der Bevölkerung heute mit Füßen getreten werden und wie weit entfernt unsere Mitbürger davon entfernt sind, diese »tapfer zu verteidigen«.
Ja, wir smarten, verwöhnten und lauen »Baby-Boomer«. Unser behütetes Aufwachsen war überschattet von einer Art Johannisnacht-Melancholie, von der dumpfen Ahnung, die sich manchmal auf dem Höhepunkt der Party einschleicht und die uns zuflüstert, dass wir das Dunkelste noch vor uns liegen haben. Wir sind die Generation, die Umweltzerstörung, Turbokapitalismus, neue Angriffskriege und dann diese völlig neuartige Form des Hygiene-Totalitarismus mehrheitlich in einer Haltung grotesker Duldungsstarre über sich ergehen lässt. Das Urteil der Nachwelt über uns dürfte nicht schmeichelhaft ausfallen.
Unsere Väter haben Schreckliches durchlebt, in einigen Fällen auch Schreckliches getan, uns Jüngeren aber eine bessere Welt hinterlassen. Bei uns dürfte es umgekehrt sein. Wir könnten als eine Generation in die Geschichte eingehen, der in historisch beispielloser Weise gute Startvoraussetzungen geschenkt wurden, die ihren Nachkommen jedoch eine spürbar schlechtere, ja eine in vieler Hinsicht bereits unerträgliche Welt hinterließ. Ja, wir sind dabei, die Freiheit zu verspielen, so wie man das unpassende Weihnachtsgeschenk einer ungeliebten Tante in den Mülleimer wirft, sobald die Tür hinter ihr zugefallen ist.
Wenn jetzt nicht etwas ganz Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Sie dürfte nicht so sehr an den Angriffen sterben, die ihre erklärten Gegner geschickt gegen sie führen, sondern vielmehr an der Lauheit und Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen haben. Hat irgendeiner der klassischen »Werte« unserer Kultur uns, die wir in ihrem Schutz lebten, mehr Gutes geschenkt als die Freiheit? Und wurde jemals einer schmählicher verraten? So lange schon wälzen wir uns im Bett der falschen Braut. Sie wurde fett von unserer Angst, von der sie sich nährt – und sie heißt »Sicherheit«. Wir haben verlernt, den blauen, den weiten Himmel zu lieben, und begnügen uns mit dem Blick auf den Gefängnishof durch vergitterte Fenster.
Was ich meinen Leserinnen und Lesern vor allem vermitteln will: Geben wir die Freiheit niemals auf! Sie wächst durch unsere Liebe, und sie stirbt, wenn man ihr keine Achtung zollt. In guten Zeiten ist sie mitunter unauffällig, kaum spürbar – wie das Wasser, von dem Fische stets umgeben sind. Erst wenn sie fort ist, merken wir schmerzlich, was sie für uns war. Freiheit ist manchmal unbequem, denn sie wirft uns auf uns selbst zurück. Sie sprengt jedes System – aber um die meisten davon ist es nicht schade. Wenn fast jeder sich von der Freiheit abwendet, müssen eben wir ihr Halt und Zuflucht sein. Denn fast alle treten auf in ihrem Namen, doch fast niemand tritt wirklich für sie ein.
Darum ist es jetzt an der Zeit zu kämpfen! Und wenn wir tausendmal verlieren, müssen wir jedes Mal wieder aufstehen und weiterkämpfen. Wir können nicht immer und sofort siegen. Doch manchmal ist schon viel damit gewonnen, wenn wir uns selbst nicht verlieren. Wir werden zu unseren Lebzeiten kaum erreichen können, dass die Tyrannei völlig vom Erdboden verschwindet – aber versuchen wir zu verhindern, dass sie ihren Wirkungsbereich um uns selbst erweitert. Wir sind nicht schwach, es herrscht nur starker Gegenwind. In vieler Hinsicht steht es schlimm um diese Welt, aber wir können sicher sein: Ohne uns wäre es schlimmer.
Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin – was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.
1Josef Rottenfußer, Ein Musikerleben, Eigenverlag, München 2015, nur in wenigen privaten Exemplaren vorhanden
2Erich Fromm, Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1984
3Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, dtv, München 2012
4Friedrich Schiller, Don Carlos, Reclam, Stuttgart 1984
5George Orwell, 1984, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981
6https://www.rubikon.news/autoren/roland-rottenfusser
ERINNERUNGEN AN DIE FREIHEIT
»Der Freiheit Kampf, einmal begonnen, wird immer, wenn auch schwer, gewonnen.« Diese goldenen Worte fand ich schon als Kind in einem sehr originellen Geschichtsbuch. Es heißt Die synchronoptische Weltgeschichte1 und stellt die Lebensläufe bekannter Persönlichkeiten in Form von Balken dar, die sich quer über die Seiten ziehen. Auf diese Weise wird dem Leser die Gleichzeitigkeit geschichtlicher Ereignisse anschaulich vor Augen geführt. Die Lebenszeiten von Sigmund Freud, Mahatma Gandhi und Kaiser Wilhelm II. überschneiden sich. Die Chronologie endet abrupt irgendwo in den 1960er-Jahren. Weiter war der Verlauf der Weltgeschichte damals nicht bekannt, und die Zukunft lag für die Verfasser im Dunkeln. Nur eines glaubten sie zu wissen und den Lesern mitteilen zu müssen: Die Freiheit würde am Ende siegen – so schwer und lang andauernd die Kämpfe um sie auch sein mochten.
Ein solch optimistisches Geschichtsbild erscheint uns heute naiv. Spätestens seit der vorübergehenden Aufhellung des historischen Horizonts mit dem Zusammenbruch des »Ostblocks« ist es eigentlich nur noch abwärts gegangen mit der Freiheit. Obwohl zu jung, um ein »68er« zu sein, wuchs ich in der Atmosphäre jenes freiheitlichen und emanzipatorischen Geistes auf, der in den 60ern und 70ern in Deutschland herrschte. Die Freiheitsliebe reichte seinerzeit tief ins Bewusstsein der Menschen und auch in die Populärkultur hinein. Wo sie auf gesellschaftlicher Ebene nicht realisiert war, wurde ihr Fehlen beklagt – etwa in dem furiosen antiautoritären Musik- und Filmprojekt The Wall von Pink Floyd aus dem Jahr 1979, an dem wir Gymnasiasten uns berauschten. »Wir brauchen keine Erziehung«, verkündeten die Rockmusiker. »Wir brauchen keine Gedankenkontrolle.« Selbst die leichte Muse schien infiziert. ABBAs »Fernando« war ein mexikanischer Freiheitsheld, von dem die Sängerinnen schwärmten: »Ich konnte in deinen Augen sehen, wie stolz du warst, für die Freiheit in diesem Land zu kämpfen.« Viele erfolgreiche Spielfilme sangen das Hohelied des Nonkonformismus wie etwa Einer flog über das Kuckucksnest, Full Metal Jacket oder Der Club der toten Dichter.
Und heute? Viele bekannte Musiker und Schauspieler, auch solche, die über Jahre eifrig an einem rebellischen Image gebastelt hatten, kämpfen teilweise immer noch vehement – jedoch nun gegen die Freiheit. Impfappelle und Demonstranten-Beschimpfungen sind in der Szene der Deutschrock-Superstars eher die Regel als die Ausnahme. Etabliert-rebellische Künstler waren für viele Vorbilder. Jetzt gleichen sie Fackeln, die vor dem Erlöschen andere entzündet haben, um diesen dann ihre Helligkeit zum Vorwurf zu machen. Gerade Musiker des Typs »linker 68er« haben ihre Fans mit Freiheitsrhetorik heißgemacht, mit der Aufforderung zu Widerstand und bedingungsloser Selbstidentität, mit der Mahnung, autoritären und faschistoiden Entwicklungen frühzeitig entschlossen entgegenzutreten. Sie haben Menschen, die in weniger glutvollen Jahrzehnten groß wurden als sie selbst, mit wohltönenden Anfeuerungsrufen an die Front aktueller politischer Auseinandersetzungen geschickt. Mitten im Kampfgetümmel bemerkten die Jüngeren dann aber, dass sie dort allein kämpften – weil sich die Älteren längst vornehm hinter die Linien zurückgezogen hatten und ihr Klein-Beigeben gegenüber dem vorwärts marschierenden Autoritarismus als »Antifaschismus« verbrämten.
The Times They Are a-Changin’. Wie konnte sich der Zeitgeist derart drehen? Manches an der alten Zeit erscheint selbst freiheitsliebenden Menschen im Nachhinein als »zu viel des Guten«. In den 70ern war die Promillegrenze für Alkohol am Steuer so hoch, wie die Strafen niedrig waren. Der Hundebesitzer konnte nach verrichtetem »Geschäft« seines Schützlings einfach weitergehen, ohne den warmen, stinkenden Haufen eigenhändig mit einer Plastiktüte vom Bürgersteig auflesen zu müssen. In U-Bahnen tranken Jugendliche unbedarft ihr Bier und platzierten ihre Straßenschuhe dabei auf den durch Filzstift-Graffiti verunzierten Kunstledersitzen. Die Kneipen waren verraucht, in den Grünanlagen davor pinkelten Angeheiterte ungeniert in die Büsche. Beim Einfahren in eine Ortschaft wurde man nicht mit blinkenden Geschwindigkeitsanzeigen und elektronischen Emojis begrüßt, deren heruntergezogene Mundwinkel uns das Missfallen »unseres« Staates unaufgefordert kundtaten.
Hier werden viele sagen: »Gut, dass das jetzt verboten ist.« Sicher, es spricht einiges für die Gurtpflicht und auch für das Rauchverbot in Kneipen. Als Nichtraucher profitiere ich durchaus davon. Aber unabhängig vom Sinn oder Unsinn der einzelnen Vorschrift – im Spannungsfeld von Freiheit und Ordnung kann es zu Schwankungen kommen, bei denen mal der eine, mal der andere Pol dominiert. Seit den späten 70ern ging es für die Freiheit jedoch meist abwärts. Bildlich ausgedrückt, kann man sich den Bereich des Erlaubten – den »Freiraum« – wie eine Insel vorstellen, die bei steigender Vorschriftenflut kleiner und kleiner wird, bis den sich dort Zusammendrängenden das Wasser bis zur Unterlippe steht.
Verhaltensweisen zu verbieten, die von den meisten Menschen tatsächlich als störend empfunden werden – man denke etwa an Hundehaufen –, stellten eine Art Werbeveranstaltung für die Unfreiheit dar. Man gewöhnte sich daran, dass Bürgerinnen und Bürger das zwischen ihnen bestehende Gleichgewicht von Freiheit und Rücksichtnahme nicht mehr untereinander aushandelten, sondern dass der Staat dies durch Vorschriften und Verbote regelte. Nachdem also auf diese Weise das »Image« der Freiheit gelitten und sich der durchgreifende Staat als Retter vor rücksichtslosen Mitmenschen positioniert hatte, konnte die zweite Angriffswelle gestartet werden. Dabei ging es dann nicht mehr um das rüpelhafte Verhalten Einzelner – es ging ans Eingemachte: unsere Grundrechte.
DER TODESSTOẞ
Die Freiheit hatte den Zenit ihrer Beliebtheit bereits überschritten, als ich begann, politisch zu denken. Studentenproteste und 68er-Bewegung waren verklungen. Nach chaotischen Jahren sehnten sich viele wieder nach Ruhe. Ende der 70er war das Land auf Terroristenjagd, erste »Sicherheitspakete« wurden geschnürt, in den 80ern schickten sich Konservative und Wirtschaftsliberale an, die Macht zu übernehmen, während gleichzeitig die Arbeitslosenquote im Vergleich zu den 60ern stark angestiegen war. Auf diese Weise schrumpfte die Freiheit der Arbeitenden, sich angemessene Arbeitsplätze zu suchen, Unternehmern Paroli zu bieten und auf eigene Rechte zu pochen.
Mit Hartz IV und der Regierung Schröder wurden die Menschen dann nach der Jahrtausendwende schrittweise daran gewöhnt, dass es auch außerhalb der Kasernen, Gefängnisse und Erziehungsheime Zonen reduzierter Menschenwürde geben konnte. Jeder konnte unvermittelt von Verarmung, Drangsalierung und Ausgrenzung betroffen sein – das übte auch auf jene eine stark disziplinierende Wirkung aus, die man »noch« arbeiten ließ. Zugleich sorgten der 11. September 2001 und eine Serie von Attentaten, auch in Europa, rund um das Jahr 2016 für weitere Wellen des Freiheitsabbaus. Neue Sicherheits- und Polizeigesetze schränkten die Bürgerrechte zunehmend ein. Ein insgesamt autoritärer Geist machte sich breit. Den fortgesetzten Angriffen auf die Freiheit von oben assistierte irritierenderweise der Verrat an der Freiheit von unten.
Jeder, der alt genug ist, kann angesichts der politischen Geschehnisse der letzten Jahrzehnte eine andere – seine eigene – Geschichte erzählen. Manche werden andere Schwerpunkte setzen oder auch der Meinung sein, dies alles sei nicht so schlimm gewesen. Im Rückblick, aus der Sicht der fortgeschrittenen »Corona-Epoche«, scheint mir aber klar, dass all diese Nadelstiche gegen die Freiheit den großen »Coup« vorbereitet haben, den wir jetzt erleben. Die Bevölkerung war mittels einer Salamitaktik über viele Jahre weichgekocht worden. Eine Verrohung des allgemeinen Bewusstseins machte sich breit, angeheizt durch hirnrissige Reality-Shows, durch das Comeback Deutschlands als Kriegsnation, durch den kruden Umgang mit Flüchtlingen, die »christliche« Politiker ohne Weiteres im Mittelmeer ertrinken ließen – und durch viele andere desaströse Entwicklungen mehr.
Es ist wichtig, sich in diesen Tagen zu erinnern – an das Gute wie auch an die Vorboten des Schlechten. Die Unfähigkeit, sich Bewährtes vor Augen zu führen und daran festzuhalten, hat uns offenbar unbegrenzt formbar gemacht für die disruptiven Agenden derer, die eine Zukunft nach ihrem Gusto erzwingen wollen. Die Unfähigkeit, zu erkennen, wo sich große Verbrechen im scheinbar Kleinen bereits andeuteten, hat uns zu dem kulturellen und politischen Tiefpunkt geführt, an dem wir jetzt stehen.
Das Ergebnis einer Politik, die sich auf der abschüssigen Bahn in Richtung Autoritarismus befindet, können wir heute auch in unserem privaten Umfeld beobachten. Wann immer ich das Thema Freiheit außerhalb des Kreises passionierter »Corona-Skeptiker« anspreche, bekomme ich abwehrende »Ja-aber«-Antworten. Freiheit, gut und schön, aber die Verantwortung … aber die Sicherheit … aber die Volksgesundheit … aber die Rettung des Klimas … Diese Grundstimmung in der Bevölkerung zermürbt auch uns publizistisch Tätige mit der Zeit, denn man gewinnt zunehmend das Gefühl, immer wieder und mit großem Energieaufwand einen absoluten Ladenhüter unter die Leute bringen zu wollen.
Ich vergleiche mich manchmal mit einem der unverdrossenen Zeugen Jehovas, die – bei Regen, Schnee und Sonnenschein an der Straßenecke stehend, niemals von jemandem angesprochen und selten überhaupt bemerkt – ihr Druckwerk Erwachet an den Mann oder die Frau zu bringen versuchen. Es ist ja nur die Freiheit, um die es geht. Da kann man keinen großen Run erwarten, wie ihn eine Fußball-EM, eine Bratwurst-Geschenkaktion vor Impfzentren oder Konzerte großer Stars auslösen. Oder eine neue Smartphone-Generation, die Menschen dazu bringt, über Nacht vor der Filiale eines Technik-Shops zu kampieren, um zu den Ersten zu gehören, die ein Exemplar ergattern. Die Freiheit dagegen steht unbeachtet am Rand.
Und es wird gehorcht und befohlen wie lange nicht mehr in diesem Land. Es findet so etwas wie die Demokratisierung der Repression statt. In einem großen Wärter-Gefangenen-Experiment wurde ein Teil der Bevölkerung, wie der Bahnschaffner, die Supermarktkassiererin oder die Café-Bedienung, für Kontrolleurs- und Zurechtweiser-Funktionen rekrutiert. Und die Übrigen fanden sich in der undankbaren Rolle der Kontrollierten und Zurechtgewiesenen wieder.
Der Bürger ist in immer mehr Lebensbereichen Objekt von Erziehungs- und Optimierungsversuchen geworden, und das durch Personen, die für Lehrer- und Polizistenfunktionen weder ausgebildet noch legitimiert sind. Nur hoffnungslose Optimisten können annehmen, dass es damit nach den halbherzig verhängten »Freedom Days« in verschiedenen europäischen Staaten vorbei wäre.
Wir finden uns also zunehmend in einer »Schönen neuen Welt« wieder, die nicht so sehr auf brutale Gewalt, sondern vielmehr auf strukturelle Zwänge setzt. Der Bürger oder die Bürgerin kann sich nicht mehr spontan und unbefangen auf eine Weise verhalten, die er/sie selbst für angemessen hält. Es ist den Menschen immer weniger möglich, die Bedingungen, unter denen eine Interaktion stattfindet, ergebnisoffen und auf Augenhöhe mit einem Gegenüber auszuhandeln, wenn dieses Gegenüber von vornherein als Autorität auftritt. Wird der Kunde vom Ladenbesitzer zurechtgewiesen, ist er eben kein »König« mehr, sondern ein Untertan, der Vorschriften und Verbote zu beachten hat.
»Die Geschichte wird verraten von erzwungenen Demokraten«, sang der verstorbene Kabarettist Werner Schneyder. Viele Politiker, nicht nur in Deutschland, erwecken derzeit den Eindruck, dass sie die Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten nicht wirklich lieben – um es vorsichtig auszudrücken. Es scheint, als betrachteten sie diese als einen lästigen Ballast aus der Nachkriegszeit, die mit Blick auf die Menschenrechtskatastrophe des Dritten Reichs diesbezüglich besonders empfindsam war – einen Ballast, den sie bei erster Gelegenheit ohne Skrupel und entschlossen über Bord zu werfen bereit sind.
Es begann schon bald nach der Ausrufung der »Pandemie« durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. März 2020. Niedersachsens damaliger Innenminister Pistorius (SPD) forderte am 17. März 2020 das Verbot von »Fake-News«.2 Dabei blieb unklar, ob damit wirklich nur »Panikmacher« gemeint waren oder nicht auch Menschen, die Zweifel am herrschenden Narrativ zu Corona äußerten. Hätte sich der Minister mit einem solchen Vorstoß durchsetzen können, wäre die Meinungsfreiheit der Bewegungsfreiheit in den Tod gefolgt. Die Bundesregierung lehnte zwar eine diesbezügliche Änderung des Strafrechts ab, doch in der Folge wurde die Zensur privatisiert und auf Plattformen wie YouTube ausgelagert, was im Ergebnis Ähnliches bedeutete: die massive Behinderung unabhängiger Informationsvermittlung. Zumindest vorerst konnte auch das Ansinnen des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn gestoppt werden, der ein Ausspähen der Handydaten von Infizierten plante.3
Sehr häufig fand man in der Mainstream-Presse während der »ersten Welle« auch Meldungen, die suggerierten, die Freiheitseinschränkungen gingen nicht weit genug. So berichtete der Münchner Merkur über Forderungen des Landkreises Tegernsee, quasi ein Ausflugsverbot für alle Deutschen durchzusetzen – mit anderen Worten, eine Art Residenzpflicht in der eigenen Heimatregion.4 Tegernseer Bürger hinterließen auf parkenden Münchener Autos Zettel mit der Aufschrift »Ihre Uneinsichtigkeit kann Leben kosten«, obwohl die Wochenendurlauber ja durchaus Abstand zu anderen Menschen einhalten konnten.
Natürlich waren und sind die Medien nicht alle zentral gesteuert. Vermutlich haben wir es mit einer Mischung aus Gleichmacherei infolge der Medienkonzentration, der »ansteckenden« Wirkung dominanter Narrative und wirklicher Überzeugung von Journalisten zu tun, die Leben schützen wollen. Obwohl ich Letzteres respektierte, beobachtete ich eine gefährliche Tendenz zur Einebnung. Es wurde suggeriert, in Zeiten der Not müsste das sonst übliche kontroverse Palaver aufhören, das ganze Volk müsse an einem Strang ziehen und sich hinter seine Anführer scharen.
Richard David Precht, Talkshow-Routinier und im doppelten Sinne des Wortes Staatsphilosoph, forderte denn auch den von jeder eigenständigen Reflexion befreiten Gesetzesgehorsam und zog zur Veranschaulichung das Beispiel der roten Ampel heran.
»Trotzdem nötigt der Staat Ihnen ab, an einer roten Ampel zu halten; einfach weil Sie ein guter Staatsbürger sind, der hat sich an die Regeln zu halten und es steht ihm nicht frei, diese Regeln zu interpretieren. Persönlich können Sie denken, die Ampel ist sinnlos. Das können Sie auch Ihrer Frau oder Ihren Freunden sagen. Sie müssen sich aber an die Regeln halten und es ist erschreckend, dass wir ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung haben, die das immer noch nicht verstanden haben.«5
Damit lag Precht ganz auf der Linie des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann,6 der – dabei Maske tragend und die Luft mit ruckartigen Handkantenschlägen zerhackend – auf bedingungslosem Gehorsam bestand. »Was immer man von dem Gesetz halten mag, man muss ihm gehorchen. Das ist in der Demokratie wichtig, dass man den Gesetzen folgt, egal ob man sie gut findet oder nicht so gut.« Was an diesem Prinzip spezifisch demokratisch sein soll, bleibt das Geheimnis des Repressions-Veterans aus dem Südwesten.
In diesem Rigorismus wurde Kretschmann nur noch übertroffen von einem weltbekannten Killerroboter-Darsteller, der sich im August 2021 zu folgendem Statement berufen fühlte: »Es gibt hier ein Virus, das Menschen tötet, und der einzige Weg, uns zu schützen, ist, uns impfen zu lassen, Masken zu tragen, Social Distancing zu machen, die ganze Zeit unsere Hände zu waschen – und nicht nur zu denken: ›Irgendwie wird hier gerade meine Freiheit eingeschränkt‹.« Arnold Schwarzenegger schließt seine Ermahnung mit dem prägnanten Satz: »Nein, scheiß auf deine Freiheit!«7
Und bereits seit Anfang 2020 taten die Menschen genau das: auf die Freiheit scheißen – sowohl diejenigen, die sich all die erdrückenden Regeln ausdachten, als leider auch die, die ihnen unterworfen waren. In der Summe zeigen die jüngsten Ereignisse: Demokratie und Freiheitsrechte haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht deswegen existiert, weil die Bürger diesbezüglich besonders wachsam und wehrhaft gewesen wären, sondern nur, weil sich die Mächtigen bisher nicht zur Totalpreisgabe der Freiheit entschlossen hatten. Dies änderte sich jedoch seit dem »Annus horribilis« im Sauseschritt.
Die Süddeutsche Zeitung betitelte 2021 einen Artikel von Thomas Brussig allen Ernstes mit der Überschrift »Mehr Diktatur wagen«.8 In jenem Jahr, seit »jeder ein Impfangebot erhalten hat«, wickelte die Politik nach der Freiheit auch den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes mit einer beispiellosen Arroganz und Beiläufigkeit ab. Die Ausgrenzung nicht geimpfter Menschen nahm schon im Herbst des Jahres Ausmaße an, die man zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Bei jeder Gelegenheit mussten Menschen ihren Gesundheitsstatus offenbaren, schoben sich unüberwindbare Hürden zwischen sie und das Leben, das ihnen vertraut gewesen war. Der Staat schuf eine neue Klasse von Aussätzigen und übernahm bei ihrer Ausgrenzung und Beschimpfung gleich selbst die Meinungsführerschaft. Millionen »normaler« Deutscher folgten ihm und setzten die verordnete Diskriminierungskampagne bis in den privaten Raum hinein fort. Sicher, manchen war es auch egal, sie quittierten die neue Impfapartheid mit einem Achselzucken. In Anlehnung an ein berühmtes Zitat von Martin Niemöller könnte man ihr Verhalten so wiedergeben: »Als sie den Ungeimpften verboten, Kinos, Restaurants oder Schwimmbäder zu betreten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Ungeimpfter.«
Als vorläufig schlimmste Eskalationsstufe stellten viele Vertreter der etablierten politischen Landschaft ab November 2021 auch die Selbstbestimmung der Bürger über ihren eigenen Körper infrage und setzten sich vehement für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ein. Faktisch sahen sich schon vorher viele Deutsche zu einer Impfung gezwungen, weil sie von ihren Arbeitgebern drangsaliert wurden oder weil der Testmarathon für sie unerträglich geworden war. Zwar wurde die allgemeine Impfpflicht im Bundestag erst einmal abgeschmettert, wohl aber erklärte das Bundesverfassungsgericht im März 2021 die Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegewesen für verfassungskonform. Damit könnte durchaus der erste Schritt getan sein, um dann auch jeden Bürger zur Impfung verpflichten zu können.
Viele Menschen empfinden die Möglichkeit, dass Fremde über ihren Körper verfügen können, wie eine Vergewaltigung. Einige sehen sich durch die Ereignisse der Corona-Jahre an Erfahrungen mit dem Regime in der DDR erinnert, an Erlebnisse beim Militär oder allgemein mit übergriffigen und gewalttätigen Menschen.
Die letzte Entscheidung über Gesundheitsmaßnahmen muss jedem selbst überlassen bleiben. Freiwilligkeit aber ist offenbar das rote Tuch eines Machtsystems, das zunehmend auf Fremdbestimmung setzt. Sie erscheint heute geradezu wie ein Relikt aus den idyllischen Zeiten der »alten Bundesrepublik«, das in den Tagen eines uns schärfer ins Gesicht blasenden Windes der Geschichte auf dem Altar der Pflicht geopfert werden muss. Gerade in Kreisen, in denen zum Beispiel Minderheitenschutz und Feminismus hochgehalten werden – etwa bei Grünen, Linken und SPD –, gilt das körperliche Selbstbestimmungsrecht von physisch oder sozial schwächeren Personen als besonders schützenswert. Aber genau von den Parteien, die dieses »Milieu« vertreten, vernehmen wir nun einige der krudesten Äußerungen zur Impfpflicht. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer etwa drohte einer Impfkritikerin auf Facebook offen: »Für Leute wie Sie muss die Impfpflicht her. Wenn nötig, bis zur Beugehaft.«9
Übergriffigkeiten der Art »Dein Körper gehört mir« erinnern fatal an die Zustände in Sklavenhaltergesellschaften. Sie gehören eigentlich in die Kriminalstatistik, nicht in die Diskurse demokratisch gewählter Volksvertreter. Derartige Grenzverletzungen von Staatsorganen sind schlimmer als die von Privatpersonen, weil die Geschädigten auf keinerlei Schutz durch das Gesetz und auf keinerlei Anerkennung ihres Opferstatus hoffen dürfen. Sie sind vielmehr einem überlegenen Apparat völlig hilflos ausgeliefert und dürfen nicht einmal auf das Mitgefühl der meisten ihrer Mitbürger hoffen, denn das Volksbewusstsein ist offensichtlich ein Fähnlein im Wind der Macht.
EIN UNMORALISCHES ANGEBOT
Warum lassen die meisten das zu, schützen nicht einmal ihre Kinder vor so offensichtlichen Übergriffen? Die Staatsmacht hat uns allen ein zutiefst unmoralisches Angebot unterbreitet: »Kommt, wir werfen eure Feigheit und unsere Herrschsucht zusammen und basteln daraus eine schöne, gemütliche Diktatur.« Unterwürfigkeit zugunsten der Sicherheit fühlt sich offenbar für die Mehrheit besser an, als wir freiheitsliebenden, kritischen Zeitgenossen glauben mögen. Die Verantwortung »oben« abgeben, die Richtung dem Obrigkeits-Navi überlassen – das erspart die Mühen des Selberdenkens. Der einzige Weg, um sich in einem autoritären Staat wohlzufühlen, ist nun mal, sich dem Regime anzuschließen, zu seinem Mitläufer oder Büttel zu werden, den Zwingherrn anzuhimmeln und dessen Weltsicht mit Copy & Paste in den eigenen Kopf zu verpflanzen.
George Orwell schreibt in einer seiner prophetischen Passagen in 1984:
»Die Erben der französischen, englischen und amerikanischen Revolutionen hatten teilweise an ihre eigenen Phrasen von Menschenrechten, freier Meinungsäußerung, Gleichheit vor dem Gesetz und dergleichen mehr geglaubt und hatten sogar ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen. Aber mit dem vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurden alle Hauptströmungen der politischen Denkweise autoritär. Das irdische Paradies war genau in dem Augenblick in Misskredit geraten, in dem es sich verwirklichen ließ.«10
Heute jedenfalls sind die erwähnten Freiheitsrechte abbruchreif. Gleichheit? Klar, alle Menschen sind gleich, aber Geimpfte sind gleicher. Menschenrechte? Eher Geimpften- und allenfalls noch Getestetenrechte – jedenfalls über lange Zeit. Freie Meinungsäußerung? Sicher, solange man nicht erwartet, auf den wirklich großen Plattformen unzensiert publizieren zu können.
Gespenstisch mutet daher eine Passage in George Orwells Buchkapitel »Kleine Grammatik« an, in dem es um die Regeln der Regierungssprache »Neusprech« geht:
»Das Wort ›frei‹ gab es zwar in der Neusprache noch, aber es konnte nur in Sätzen wie ›Dieser Hund ist frei von Flöhen‹, oder ›Dieses Feld ist frei von Unkraut‹ angewandt werden. In seinem alten Sinn von ›politisch frei‹ oder ›geistig frei‹ konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische oder geistige Freiheit nicht einmal mehr als Begriff gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung dafür vorhanden war.«11
Wir wissen zwar heute noch recht gut, was »politisch frei« bedeutet, und abgesehen von Kindern, die von den Corona-Maßnahmen in ihren ersten bewusst erlebten Lebensjahren heimgesucht wurden, erinnern sich die meisten noch an freiere Zeiten. Dennoch hatte und habe ich, wenn ich in Gesprächen an die Freiheit erinnere, das Gefühl, damit immer seltener durchzudringen. Unfreundliche Zeitgenossen raunzten mich an, meine Freiheitsliebe sei wohl auf rücksichtslose Egomanie und Ignoranz gegenüber den Erfordernissen der Pandemiebekämpfung zurückzuführen. Freundlichere Naturen halten mein Gerede für eine zwar putzige, jedoch entbehrliche Nostalgieveranstaltung.
Ich sage es nicht gern, aber die FDP hatte recht, als sie in einem Werbespot zur Bundestagswahl 2021 anführte: »Unsere Freiheit ist nicht selbstverständlich. Immer scheint etwas anderes wichtiger zu sein.«12 Natürlich ist der Freiheitsbegriff dieser Partei fragwürdig, weil man diese Art von Liberalismus immer noch mit der Vorsilbe »Neo« versehen muss. Gemeint ist oftmals die Freiheit des Unternehmers, seine Interessen auch auf Kosten der Angestellten durchzusetzen. Dennoch trifft der FDP-Spot einen Nerv: Etwas Unwichtigeres als die Freiheit scheint es überhaupt nicht mehr zu geben. War die Reaktion auf COVID-19 mehr Unfreiheit, so könnte auf sich häufende Umweltkatastrophen noch mehr Unfreiheit folgen. Ob Terrorismus, Kriegsbeteiligung oder ein Erstarken des radikalen Islam, ob soziale Unruhen oder das Überhandnehmen perfider »Fake News« – Unfreiheit ist der Joker, der auf alles passt. Umgekehrt ausgedrückt: Freiheit ist in diesem Spiel die Karte mit dem kleinsten Wert. Sie kann von jeder anderen Karte ausgestochen werden.
Der Titel von Erich Fromms berühmtem Buch Die Furcht vor der Freiheit13 lautet im englischen Original Escape from Freedom, also »Der Freiheit entkommen«. Liegt darin nicht ganz offensichtlich ein Geheimnis unserer Epoche? Die Mächtigen, quasi von Amts wegen Freiheitsskeptiker, kreieren zusammen mit den Freiheitsflüchtlingen eine neue Realität. Eine Gesellschaft, in der der Mensch nur noch als Schrumpfform seiner früheren Größe vorkommt. Als der Homo obediens, der gehorsame Mensch. Da Normalität nach dem Verhalten der Mehrheit bemessen wird, stellt sich für den noch Freiheitsliebenden eine bedrängende philosophische Frage, die sich schon der Held in Ionescos groteskem Theaterstück Die Nashörner14 gestellt hat. Darin verwandeln sich Menschen nach und nach in grobschlächtige Dickhäuter, bis der letzte Mensch am Ende allein dasteht. Ist es nicht anmaßend, die eigene Wesensart als richtig und normal zu bezeichnen, obwohl eine wachsende Mehrheit dagegensteht? Gleicht der Freiheits- und Menschenrechts-Nostalgiker nicht einem Geisterfahrer, der ausruft: »Unglaublich, wie viele in die falsche Richtung fahren«?
Die Deutschen, vor allem im Westen, haben sich die Demokratie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht selbst erkämpfen müssen. Die Alliierten hatten Freiheit befohlen, also richteten sie sich für einige Jahrzehnte mit der Freiheit ein. Eine Liebesheirat aber war dies nie gewesen, eher eine Vernunftehe, mit der man sich arrangieren konnte. Jetzt, da wieder mehr Autoritarismus angezeigt ist, können sich die meisten Deutschen auch damit sehr gut anfreunden. Ihnen wurde die Freiheit entrissen, wie man ein Sahnehäubchen von einem Kuchen nimmt, der auch ohne dieses noch gut schmeckt. Und neben den vielen Unentschiedenen gibt es als Steigerungsform nicht wenige Repressionsenthusiasten, die im Verbots- und Regel-Deutschland erst so recht in ihrem Element zu sein scheinen. So als hätten sie schon lange mit der Freiheit gefremdelt – wie ein »fish out of water« mit dem Leben an Land.
Man könnte nun einwenden: Wenn die Romanze zwischen einer Obrigkeit, die gern herrscht, und einer Bevölkerungsmehrheit, die gern beherrscht wird, so gut funktioniert – warum beide nicht ihrem Glück überlassen? Warum Einwände erheben wie ein ungebetener Hochzeitsgast, der auf die Aufforderung des Pfarrers – »Er möge jetzt sprechen oder für immer schweigen« – zum Entsetzen aller Anwesenden den Finger hebt? Darauf habe ich drei Antworten:
1. In einer Realität, die von den Freiheitsmuffeln und »ihrer« Obrigkeit einvernehmlich kreiert wurde, müssen auch wir freiheitsliebenden Menschen leben.
2. Freiheit tut auch denen gut, die scheinbar keinen Wert auf sie legen.
3. Hass auf die Freiheit oder Gleichgültigkeit ihr gegenüber können die Folgen eines Herrschaftsnarrativs sein, das den Menschen während ihrer gesamten Lebensspanne – ja darüber hinaus generationenübergreifend – in die Köpfe gepflanzt wurde. Die angebliche Notwendigkeit von Machtausübung ist eine Erzählung, die Erzählern wie Zuhörern unermesslich geschadet hat. Was aber lange gegolten hat, ist mit dem Nimbus des Selbstverständlichen und Alternativlosen umgeben. Es ist sehr schwer, nach Jahrhunderten geistiger Kolonialisierung und Unterwerfung der Massen eine neue, freiheitlichere Erzählung dagegenzusetzen. Wer es versucht, riskiert, von den Löwen zerfleischt zu werden, denen er aus Mitleid die Käfigtür geöffnet hat. Dennoch will ich versuchen, alle drei genannten Thesen in diesem Buch näher zu begründen.
»FREIHEIT IST DIE EINZIGE, DIE FEHLT«
Schon vor Jahren habe ich in einigen journalistischen Artikeln beklagt, dass Freiheit in der öffentlichen Debatte, speziell in den Medien und auf dem Buchmarkt, kein Thema sei. Es war ein bisschen so wie in einem bekannten Lied von Marius Müller-Westernhagen: »Freiheit ist die einzige, die fehlt«. Da wurden zunächst der Terrorismus, dann Migrations-, dann Klima- oder auch Friedensfragen in den Vordergrund gerückt. Die Mainstream-Medien sprachen mit unerschütterlicher Ignoranz von unserer Hemisphäre als der »freien Welt« und erkannten nicht, wie sich die Unfreiheit gleich einem Schatten langsam vorschob. Viele kleine, unabhängige Medien dagegen sahen die Herrschaftssysteme außerhalb der NATO, insbesondere in Russland, China, Syrien und dem Iran, vor allem als Partner friedenspolitischer Bemühungen, schienen jedoch die desolate Situation der Freiheit in diesen Ländern nicht wahrnehmen zu wollen.
Wenn Freiheit in Sonntagsreden der Politiker zum Thema wurde, dann handelte es sich meist um eine biedere, kastrierte Joachim-Gauck-Freiheit: eine Freiheitsrhetorik, die immer mit einer Aufforderung zu fügsamer Zufriedenheit verknüpft schien – vor allem an ehemalige DDR-Bürger. Seid froh, dass der Albtraum vorüber ist und dass ihr in diesem freien Land leben könnt, das eure politischen Beschützer so behaglich für euch eingerichtet haben. Nun seid aber auch zufrieden, jammert nicht und verlangt vor allem nicht noch mehr Freiheit. Mit dieser Art relativer Freiheit ließ es sich lange gut leben – sie wurde aber ab einem bestimmten Punkt miefig und unkreativ, konnte keine rechte Begeisterung oder gar Liebe mehr erwecken. Ebenso von Optionen übersättigt wie unterschwellig unzufrieden, vermochte ein Großteil der Bevölkerung dem gefährlichen Flirt mit der Unfreiheit nicht zu widerstehen. So als verführte uns die Kleinteiligkeit der politischen Ereignisse während unserer Lebensspanne dazu, uns nach etwas Schicksalhaft-Großem zu sehnen – und sei es in Gestalt einer Katastrophe. Und sei es um den Preis des Verlustes der Freiheit.
Das weitgehende Schweigen über die Freiheit – es hat mit der Corona-Krise, man könnte fast sagen: zum Glück, ein Ende gefunden. Viel war in den Monaten, in denen mein Buch entstand, von der Preisgabe der Grundrechte im Zuge autoritärer Corona-Maßnahmen die Rede, viel von Internetzensur, Cancel Culture, von einem Verlust der inneren Pressefreiheit im Kontext eines Zeitgeistes, der sich nach den Bedürfnissen der Macht ausrichtete wie Eisenspäne nach einem starken Magneten. Es entstand eine reichhaltige Gegenkultur, bestehend aus freien Medien und Internetkanälen, populären Influencern, unbeugsamen Künstlern sowie einer aktiven Demonstrationsbewegung.
Ausführlich wurden die Phänomene beschrieben, die mit dem rasanten Freiheitsverlust einhergingen, wie auch die sozialen, wirtschaftlichen und psychischen Folgen; es wurden sogar Geheimpapiere mutmaßlicher »Drahtzieher« des Corona-Geschehens gefunden und ausführlich analysiert. All diese Aufklärungsbemühungen haben aber eines gemeinsam: Sie bilden das »Wie« des derzeit beobachteten dramatischen Angriffs auf die Freiheit ab, ohne das »Warum« zu klären. Noch präziser: Es werden zwar Gründe für die Corona-Inszenierung ins Feld geführt – Gründe globalpolitischer oder wirtschaftlicher Natur, Bargeldabschaffung, die Bereicherung der Pharma- und Digitalindustrie, Bevölkerungsreduktion gar in extremen Veröffentlichungen. Was aber meist völlig unter den Tisch fällt, ist die eine zentrale Frage: Warum sollte jemand überhaupt Macht in einem solchen Ausmaß und über so viele Menschen anstreben?
WER ÜBER MACHT NICHT REDEN WILL, SOLLTE VON FREIHEIT SCHWEIGEN
Politik, Medien, eingebettete Wissenschaften sowie die Pharma- und Digitalindustrie haben das Netz, in dem man uns gefangen hat, äußerst geschickt gewoben, es hat sich immer dichter und lückenloser zusammengezogen. Warum aber sollten einzelne Menschen, Kräfte und Vereinigungen die Absicht haben, das Leben von Millionen Menschen weltweit totalitär zu durchdringen und zu steuern? Sich darüber Klarheit zu verschaffen scheint mir essenziell zu sein.
Viele Menschen beklagen den Freiheitsabbau, ohne zu erklären, warum Freiheit überhaupt wünschenswert ist. Sie scheinen die Knechtschaft und Gängelung zu hassen, die Freiheit jedoch nicht zu lieben. Natürlich verfügen viele über ein intuitives Freiheitsverständnis, jenseits ausführlicher Erklärungen. Man spürt, was Freiheit bedeutet, vor allem im Moment ihres Verlustes. Ein Gefühl der Beengung, der Atemnot stellt sich ein, wenn sie fehlt. Eine giftige Falschheit schleicht sich in die Gedanken, wenn man versucht, das Verhalten der Macht und den mangelnden eigenen Mut im Umgang mit ihr schönzureden. Im Moment einer wahrhaft dramatischen, globalen Bedrohung der Freiheit sollte man sich jedoch die Zeit nehmen, gründlicher über sie nachzudenken.
Jenseits philosophischer Tiefenanalyse verstehe ich Freiheit hier ganz unmittelbar als das Erleben, unbehelligt zu sein von Zurechtweisung, Drangsalierung und Strafandrohung, solange man selbst die Grundsätze einer natürlichen Ethik nicht verletzt. Destruktive Macht definiere ich als die Unfähigkeit beziehungsweise den Unwillen, diese Freiheit zu respektieren. Erlebte Freiheit hat viel damit zu tun, ob Obrigkeiten uns schlicht in Ruhe lassen und unauffällig im Hintergrund die Verwaltungsarbeit verrichten, für die wir sie engagiert haben und bezahlen. Dieses Verlangen mag egozentrisch oder gar banal klingen. Wir spüren aber die Dringlichkeit dieses Freiheitsanliegens in dem Moment, in dem wir mit einer übergriffigen Verwaltung konfrontiert sind. Etwa wenn man beim Überqueren eines Innenstadtplatzes von der Polizei herbeigepfiffen, wegen Nichttragens einer Maske im Freien zur Rede gestellt und mit einer empfindlichen Ordnungsstrafe belegt wird.
Normalerweise würde man der Zumutung derartiger Kleingeistigkeit den erhobenen Mittelfinger zeigen und unbeeindruckt seines Weges gehen. Nicht aber, wenn hinter der Maßnahme die Macht steht, also eine Organisationsstruktur mit der Fähigkeit, den Einzelnen zu identifizieren, zu verfolgen, zu drangsalieren und ihm das verlangte Geld abzupressen. Eine Kraft also, der man sich unter normalen Umständen nicht gewachsen fühlt und auch nicht gewachsen ist. Ohne die Drohkulisse der Macht wären viele Dinge, die wir erleben, lediglich skurrile und eigentlich lächerliche Ausdrucksformen einer labilen Persönlichkeitsstruktur.
Dies also ist meine einfachste Definition von Freiheit: in Ruhe gelassen zu werden. Schon Laotse hat das Gegensatzpaar »aufdringlich« und »unauffällig« mit Bezug auf den Staat formuliert: »Der, des Verwaltung unauffällig ist, des Volk ist froh. Der, des Verwaltung aufdringlich ist, des Volk ist gebrochen.« (Laotse, zitiert nach einem Flugblatt der Widerstandsbewegung »Weiße Rose«15)
Dieses Buch ist vom Corona-Geschehen der Jahre 2020 bis 2022 stark beeinflusst, doch es ist nicht das einzige Thema. Den Abbau von Freiheit gab es schon vor Corona, und es wird ihn auch weiterhin geben. Wahrscheinlich werden wir in den kommenden Jahren einander überlagernde Vorstöße der Machteliten erleben, die allesamt auf mehr Unfreiheit hinauslaufen. Beispiel: Es könnte neue »Sicherheitsgesetze« geben, weil sich infolge der unsicheren Lage in Afghanistan die Themen »Terror« und islamischer Fundamentalismus wieder stärker in den Vordergrund schieben. Die Spannungen mit Russland aufgrund des Ukraine-Kriegs schicken neue Angstwellen über das Land, und Politiker versuchen das Volk zu einer Not- und Zwangsgemeinschaft zusammenzuschweißen. »Klimapakete« der neuen Bundesregierung könnten die Bewegungs- und Handlungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger stark einschränken. Nicht zu vergessen: Politik und Medien werden sicher versuchen, mit dem Thema »Corona« in die Verlängerung zu gehen. Schließlich werden irgendwann die Temperaturen wieder sinken, und es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn dann nicht neue Virusvarianten auf den Plan treten. Immerhin hat der Bundesgesundheitsminister schon angekündigt, für 830 Millionen Euro Impfstoffe einzukaufen, um auf alle Szenarien vorbereitet zu sein.
Wir wissen nicht, welche weiteren Themen in nächster Zeit aufpoppen werden. Wichtig ist jedoch, ein paar grundlegende Gedanken zum Thema Freiheit und Macht anzustellen, die auch für ganz neue politische Situationen Bedeutung haben können.
EIN WIEDER NOTWENDIGER KAMPF
Natürlich steht die Freiheit immer auch in einem Spannungsverhältnis zu bestimmten Werten. So sind zum Beispiel Verantwortung und Rücksichtnahme geboten, wenn es um Gesundheitsvorsorge oder auch ökologische Vernunft geht. Allerdings haben wir es mit einer beträchtlichen Schieflage zu tun, wenn solche Werte von Medien und Politik fortwährend gegen die Freiheit ausgespielt werden. Wer ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit hat, zeichnet deren Verfechter gern in den schwärzesten Farben. So entwarf der regierungsnahe Philosoph Richard David Precht ein desaströses Bild allzu liberaler Zustände mit klarer Botschaft: Wenn jemand im Freien keine Maske tragen möchte, sind Chaos und Anarchie nicht weit. Wer die Regierung für Ausgangssperren, Kinder-Zwangsimpfung, Polizeigewalt gegen Grundrechtsdemonstranten und eine Politik der organisierten Panikmache kritisiert, befürwortet vermutlich auch Gewalt gegen Frauen und Straffreiheit bei Mord.16
Natürlich ist Freiheit in Reinform nicht immer möglich und auch gar nicht wünschenswert. Welchen Standpunkt wir sinnvollerweise zu Freiheit versus Sicherheit oder Verantwortung einnehmen, hängt jedoch ganz von der gesellschaftlichen Ausgangslage ab. Würde eine entfesselte Barbarenhorde ihre Neigungen rücksichtslos ausleben, den Planeten plündern und dessen Bevölkerung bedrohen, wäre wohl auch ein Buch gegen zu viel Freiheit angebracht. Doch die gegenwärtige Situation ist eine ganz andere: Wir schleichen in eher geduckter Haltung durch die Welt, umstellt von Verboten, Geboten und allerlei Warnungen, sorgsam nach links und rechts schielend, ob uns nicht irgendeine Obrigkeit bei Missetaten ertappen und verfolgen könnte. Die Unfreiheit hat sich so tief in unsere Seelen gefressen, dass manche sie zwar noch als solche wahrnehmen, aber nicht wissen, wie sie sich gegen die Übermacht und Brutalität der Herrschenden zur Wehr setzen können. In Zeiten, in denen das Gleichgewicht derart zu Ungunsten der Freiheit verschoben ist, halte ich es für dringend geboten, ein Buch über die Freiheit zu schreiben.
Wie oft muss die Freiheit eigentlich noch in den Staub getreten werden, bevor wir nicht nur defensiv und halbherzig, sondern leidenschaftlich ihre Partei ergreifen? Wie viele Färbungen ideologischer Art, wie viele Gesichter und Masken muss Unfreiheit noch annehmen, bevor wir begreifen, dass Despotismus verachtenswert ist und dass Staatlichkeit – ja jegliche Art von Macht und Autorität – unserer wachsamen Kontrolle bedarf? Brauchen wir wirklich noch schlimmere Zustände, als sie in den Jahren 2020 bis 2022 herrschten, bevor wir aufwachen und endlich begreifen, was wir einmal an Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Menschenwürde hatten?
»Eigentlich hatte sich niemand mehr so recht vorstellen können, dass das Kämpfen noch mal nötig werden könnte«, schrieb der Zeit-Autor Gero von Randow 2016.17 Die liberalen Kräfte schienen erschlafft und fühlten sich zu sicher, argumentierte er. So könnte es den damals irritierend selbstbewusst auftretenden Autokraten wie Erdogan, Orban oder Trump gelingen, uns in die Defensive zu treiben und – wie es teilweise schon geschah – zu verhöhnen. Damals ging es noch um ausländische Potentaten – heute sind uns die Einschläge, was den Freiheitsabbau betrifft, näher gerückt. Bevor wir Zartbesaiteten angesichts der sich überstürzenden Berichte über Menschenrechtsverletzungen im In- und Ausland aus unserer Schockstarre erwachen, befinden sich autoritäre Strukturen auch hierzulande längst im fortgeschrittenen Stadium ihrer Etablierung.
Das Mindeste, was wir tun können und müssen, selbst wenn es auch in Deutschland noch dunkler werden sollte, ist dies: darauf achten, dass unser eigenes Herz warm und mitfühlend, unser Geist klar und unser Gewissen unkorrumpierbar ist. Ein klares Nein zu Autoritarismus und Totalitarismus! Ein deutliches »Mit uns nicht« in Richtung jener Politiker, die die Pläne für eine weitere Entdemokratisierung Deutschlands unter welchem Vorwand auch immer, seien es Virus-Bekämpfung oder kriegsbedingte Sachzwänge, wahrscheinlich schon jetzt in ihren Schubladen haben.
Der Zeitgeist muss sich drehen und in eine kraftvolle Bewegung münden. Ihr Schlachtruf muss sein: Im Zweifel für die Freiheit!
1Arno Peters, Die synchronoptische Weltgeschichte, Universum, Frankfurt a. M. 1951, nur noch antiquarisch erhältlich
2https://taz.de/Reaktion-auf-Corona-Falschmeldungen/!5672179/
3https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/spahn-rudert-bei-handydaten-ortung-zurueck
4In einer Print-Ausgabe des Münchner Merkur im April 2020
5Zitiert nach: https://www.nachdenkseiten.de/?p=68101
6Winfried Kretschmann in einem Video-Interview, 23.4.2021, https://www.youtube.com/watch?v=VWrP9mxwYPo
7https://www.wochenblatt-news.de/schwarzenegger-dann-scheiss-auf-deine-freiheit/
8https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-diktatur-thomas-brussig-1.5199495?reduced=true. Der Artikel ist mittlerweile online nicht mehr vollständig zu lesen.. Der Artikel ist mittlerweile online nicht mehr vollständig zu lesen.
9https://www.fr.de/politik/gruene-kritik-corona-boris-palmer-beugehaft-schlagstoecke-massnahmen-querdenker-rentenzahleung-91199562.html
10George Orwell, 1984, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981
11Ebd.
12Christian Lindner, 16.8.2021, https://www.youtube.com/watch?v=btYzvvmphJA
13Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, dtv, München 2012
14Eugène Ionesco, Die Nashörner, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1989
15Inge Scholl, Die Weiße Rose, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1984
16Richard David Precht, Von der Pflicht, Goldmann, München 2021
17In einer Printausgabe der Zeit, 2016
DAS DUNKLE GEHEIMNIS DER VÖLKER
»Das Wie verstehe ich, aber nicht das Warum.« Diesen Satz schreibt Winston Smith, der Protagonist in George Orwells Roman 19841, in sein geheimes Tagebuch. Der kleine Angestellte im »Wahrheitsministerium« eines totalitären Staates ist im Grunde ein professioneller Wahrheitsfälscher, der historische Dokumente im Sinne der Parteilinie »überarbeitet«. Winston durchlebt einen Prozess des politischen Erwachens, im Verborgenen noch, aber doch so unabweisbar, dass ihn die Gedanken des Zweifels am System quälen.
»Mit dem Gefühl eines Albtraums bedrückte ihn am meisten, dass er nie ganz begriffen hatte, warum der ganze riesige Schwindel überhaupt vollzogen wurde. Die unmittelbaren Vorteile einer Fälschung der Vergangenheit waren offensichtlich, aber das letzte ureigene Motiv war schleierhaft.«2
Ja, warum? Wir können die Realität des Freiheitsabbaus in seiner Tiefe nicht begreifen, ohne das Bedürfnis nach Machtausübung verstanden zu haben. Macht wird von vielen begehrt, nur wenige geben dies aber ganz offen zu. Daher ist der Umgang mit dem Thema schwierig. Es gibt viele angebliche Tabuthemen in der Gesellschaft. Vor allem Sex und Tod werden gern zu solchen erklärt. Sicherlich werden diese beiden Themen – je nach Kontext – gelegentlich verdrängt. Zugleich schieben sie sich geradezu aufdringlich in den Vordergrund: Sex and Crime. Das Unterwäschemodell auf dem Plakat an der Bushaltestelle. Die täglichen Krimimorde im Fernsehen und Todesstatistiken bezüglich einer bestimmten Krankheit …
Macht dagegen ist allgegenwärtig, wird aber noch weit seltener als Sex und Tod explizit zum Thema. Von Machtkämpfen an der Oberfläche des politischen Geschehens ist zwar oft die Rede – Putin gegen Selenskyj, Scholz gegen Merz –, nicht aber vom Wesen