Studienbuch Sprachheilpädagogik -  - E-Book

Studienbuch Sprachheilpädagogik E-Book

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Beschreibung

Dieses Lehrbuch konzipiert die Sprachheilpädagogik als polyintegrative Handlungswissenschaft, die die Erkenntnisse unterschiedlicher Bezugswissenschaften adaptiert und unter dem Dach der Pädagogik als Leitwissenschaft integriert, um die komplexen Handlungsfelder im Kontext von Sprach-, Sprech-, Kommunikations-, Redefluss-, Stimm- und Schluckstörungen umfassend bearbeiten und die schulische sowie therapeutische Versorgung betroffener Menschen optimieren zu können. Den Herausgebern ist es gelungen, führende VertreterInnen der Sprachheilpädagogik und der Sprachtherapie für Beiträge zu gewinnen. Der Band bietet einen aktuellen Überblick über das Fachgebiet Sprachheilpädagogik, dessen Handlungsfelder und Bezugswissenschaften sowie den Spracherwerb und die häufigsten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter. Das Buch wendet sich an Studierende der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, an DozentInnen sowie interessierte PädagogInnen und TherapeutInnen aus der Praxis.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

I Sprachheilpädagogik als polyintegrative Wissenschaftsdisziplin

1 Sprachheilpädagogik als Wissenschaftsdisziplin

1.1 Wissenschaft – begriffliche Klärung

1.2 Sprachheilpädagogik als Wissenschaftsdisziplin

Literatur

2 Das Verhältnis von Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie: Für eine pädagogische Sprachtherapie und einen therapeutischen Unterricht

2.1 Problemstellung

2.2 Der sprachheilpädagogische Unterricht muss therapeutischer werden

2.3 Die Sprachtherapie muss pädagogischer werden

Schlusswort

Literatur

3 Bezugswissenschaften der Sprachheilpädagogik

3.1 Medizin

3.1.1 Anatomische und physiologische Grundlagen

3.1.2 Sprachentwicklung

3.1.3 Bedeutung der Bezugswissenschaft Medizin für die Sprachheilpädagogik

Literatur

3.2 Linguistik

3.2.1 Linguistik und Zeichentheorie (Semiotik)

3.2.2 Phonetik und Phonologie

3.2.3 Lexikalische Semantik

3.2.4 Morphologie

3.2.5 Syntax

Literatur

3.3 Psychologie

Einleitung

3.3.1 Grundlagenfächer der Psychologie und ihr Bezug zur Sprachheilpädagogik

3.3.2 Anwendungsfächer der Psychologie und ihr Bezug zur Sprachheilpädagogik

3.3.3 Methodenfächer der Psychologie und ihr Bezug zur Sprachheilpädagogik

Zusammenfassung und Fazit

Literatur

3.4 Soziologie

3.4.1 Soziologie der Behinderten als Wissenschaft vom Zusammenleben und Zusammenhandeln der Menschen

Literatur

3.4.2 Bedeutung einer soziologischen Perspektive auf Sprach- und Kommunikationsbeeinträchtigungen

Literatur

4 Die Pädagogik als Leitwissenschaft der Sprachheilpädagogik

4.1 Die Pädagogik als Wissenschaftsdisziplin unter besonderer Berücksichtigung der Erziehung, Bildung, Sozialisation und des Lernens

4.1.1 Pädagogik als Wissenschaft

4.1.2 Konzeptuelle Aspekte

4.1.3 Wissenschaftstheoretische Aspekte

4.1.4 Methodische Aspekte

4.1.5 Vielfalt und Einheit der Pädagogik

Literatur

4.2 Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen als Aufgabe der Sprachheilpädagogik – eine fachliche Konzeptualisierung aus Sicht der Leitwissenschaft Pädagogik

4.2.1 Das Mehrebenenmodell der Sprachheilpädagogik als Integrationswissenschaft

4.2.2 Die Ebene der Metatheorie (V): Reflexion von Paradigmenwandel, Methodologie und Ethikgrundsätzen aus pädagogischer Perspektive

4.2.3 Die Ebene der Theoriebildung (IV): Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen im Kontext sprachlich-kultureller Vielfalt als transdisziplinäre Aufgabenstellung

4.2.4 Die Ebene der Konzeptentwicklung (III): Pädagogische Sprachtherapie und sprachheilpädagogischer Unterricht an der Schnittstelle von Sprachpädagogik und Sprachdidaktik

4.2.5 Die Ebene der Praxis (II): Prävention, Diagnostik, Therapie, Unterricht und Beratung als genuin pädagogische Handlungsfelder

4.2.6 Forschung als Garant für Weiterentwicklung, Qualitätssicherung und interdisziplinär-internationale Anschlussfähigkeit der Sprachheilpädagogik

Schlusswort

Literatur

4.3 Die ICF als übergeordneter Rahmen für die Sprachheilpädagogik

4.3.1 ICF und ICF-CY

4.3.2 Anwendung der ICF‍(-CY) bei Sprach-‍, Sprech-‍, Stimm-‍, Kommunikations- und Schluckstörungen

4.3.3 Einsatz in der sprachtherapeutischen Praxis

Literatur

II Der ungestörte Spracherwerb

5 Der typische Spracherwerb im Deutschen – Verläufe und Erklärungsansätze

Einleitung

5.1 Anfänge des Spracherwerbs

5.1.1 Frühe Sprachwahrnehmung

5.1.2 Frühe Vokalisierungen

5.2 Entwicklung der Aussprache

5.2.1 Erwerb der Wortstruktur

5.2.2 Erwerb von Silbenstrukturen

5.2.3 Phonemerwerb

5.3 Entwicklung des Wortschatzes

5.3.1 Wortschatzumfang

5.3.2 Wortarten und Wortbildung

5.3.3 Wortbedeutung

5.4 Entwicklung grammatischer Fähigkeiten

5.4.1 Syntaktische Entwicklung

5.4.2 Entwicklung morphologischer Fähigkeiten

5.5 Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten

5.5.1 Frühe kommunikative Fähigkeiten

5.5.2 Sprecherwechsel in Konversationen

5.5.3 Sprechakte und figurative Sprache

5.5.4 Narrative Kompetenzen

5.6 Erklärungsansätze zum Spracherwerb

5.6.1 Die traditionellen Ansätze: Nativismus, Kognitivismus, Interaktionismus

5.6.2 Weiterentwicklungen der traditionellen Ansätze: Gebrauchsbasierte Ansätze, Emergenzmodelle

Schlusswort

Literatur

III Handlungsfelder der Sprachheilpädagogik

6 Prävention von Sprachstörungen

Einleitung – Prävention als interdisziplinäre Herausforderung

6.1 Teilhabeorientierung sprachlicher Präventionsmaßnahmen

6.2 Unterscheidung von primärer, sekundärer und tertiärer sprachlicher Prävention

6.3 Ausgewählte präventive Maßnahmen

6.3.1 Frühintervention/Elterntrainings

6.3.2 Alltagsintegrierte Sprachförderung in Kitas

6.3.3 Einsatz von Visualisierungen

6.3.4 Umfassende Elaboration auf Lemma- und Lexemebene

6.3.5 Modalitätenwechsel – Rezeption, Produktion, metasprachliche Reflexion

6.3.6 Pädagoge als Kommunikationspartner und Sprachmodell

Zusammenfassung

Literatur

7 Diagnostik

Einleitung

7.1 Aufgaben und Ziele sprachheilpädagogischer Diagnostik

7.2 Diagnostisches Vorgehen

7.3 Diagnostische Methoden

7.3.1 Beobachtung

7.3.2 Befragung

7.3.3 Elizitation

7.4 Früherfassung sprachlicher Fähigkeiten

7.5 Diagnostik des Sprachentwicklungsstandes – Verfahren für das Vor- und Grundschulalter

7.5.1 Standardisierte Überprüfungsverfahren im Bereich Sprache

7.5.2 Screeningverfahren

7.5.3 Informelle Verfahren

7.5.4 Exkurs: Dynamic Assessment

7.5.5 Digitale Diagnostik

7.5.6 Exkurs: Unterstützte Kommunikation

7.6 Diagnostische Erfassung von sprachlichen Fähigkeiten bei Mehrsprachigkeit

7.7 Spezifische Herausforderungen im inklusiven Setting

Schlusswort

Literatur

8 Therapie

Vorwort

8.1 Begriffsklärung: (Sprach-)‌Therapie, Sprachförderung, sprachliche Bildung

8.2 Qualitätsmerkmale der Sprachtherapie

8.2.1 Wandel in der Zielsetzung

8.2.2 Diagnostische Fundierung und Individualisierung

8.2.3 Sprachtherapie als gemeinsamer Prozess

8.2.4 Symptom- und Kommunikationsorientierung – eine notwendige Ergänzung

8.2.5 Theorieorientierung

8.3 Evidenzbasierung

Schlusswort

Literatur

9 Sprachheilpädagogischer Unterricht

Einleitung

9.1 Begriffsklärung

9.2 Aufgaben und Ziele des sprachheilpädagogischen Unterrichts

9.2.1 Vermittlung schulischer Lerninhalte unter den erschwerten Bedingungen einer Spracherwerbsproblematik

9.2.2 Förderung der Sprach- und Mitteilungsbereitschaft, der Kommunikationsfreude und der Interaktionsfähigkeit

9.2.3 Sprachförderung und unterrichtsintegrierte Sprachtherapie

9.2.4 Stärkung personaler und sozialer Kompetenzen

9.3 Exemplarische Konkretisierung

9.3.1 Spezifisch sprachheilpädagogisch akzentuierte Lehrersprache

9.3.2 Wortschatzarbeit als Unterrichtsprinzip

Literatur

10 Beratung

Einleitung

10.1 Gemeinsamkeiten und Ziele sprachheilpädagogischer Beratung in Therapie und Schule

10.1.1 Begriffsklärung

10.1.2 Gemeinsame Zielsetzungen

10.1.3 ICF als Orientierungsrahmen

10.1.4 Theoretische Grundlagen

10.2 Kompetenzprofil der Berater*in

10.3 Beratung in schulischen Kontexten

10.3.1 Fragestellungen im schulischen Kontext

10.3.2 Kollegiale Beratung

10.4 Beratung in der sprachtherapeutischen Praxis

10.4.1 Formale Rahmenbedingungen

10.4.2 Doppelte Beziehungsarbeit

10.4.3 Inhalte, Umfang und Ausgestaltung der Beratung

Schlusswort

Literatur

IV Ausgewählte Störungen im Kindes- und Jugendalter

11 Sprachentwicklungsstörungen

11.1 Begriffsklärung: Sprachentwicklungsstörung

11.2 Ursachen von Sprachentwicklungsstörungen

11.3 Late Talker: Auffälligkeiten der Sprachentwicklung im Kleinkindalter

11.3.1 Begriffsklärung

11.3.2 Häufigkeit und Prognose

11.3.3 Möglichkeiten der Frühintervention

11.4 Sprachentwicklungsstörungen im Kindergarten- und Schulalter

11.4.1 Phonetisch-phonologische Ebene

11.4.2 Semantisch-lexikalische Ebene

11.4.3 Syntaktisch-morphologische Ebene

11.4.4 Pragmatisch-kommunikative Ebene

Offene Forschungsfragen

11.5 Schriftspracherwerbsstörungen bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen

11.5.1 Prävalenz

11.5.2 Annahmen zum Zusammenhang zwischen LRS und Sprachentwicklungsstörungen

11.5.3 Beeinträchtigungen des Leseverständnisses

11.5.4 Auswirkungen von Lese-Rechtschreibstörungen auf die sprachliche Entwicklung

11.6 Sprachentwicklungsstörungen im späten Kindes- und Jugendalter

Literatur

12 Redeflussstörungen: Stottern und Poltern

12.1 Einordnung und sprachsystematische Zusammenhänge

12.2 Stottern bei Kindern und Jugendlichen

12.2.1 Definition und Charakteristika

12.2.2 Ursachen

12.2.3 Symptomatik

12.2.4 Verlauf und Prognose

12.2.5 Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen

12.2.6 Therapie bei Kindern und Jugendlichen

12.3 Poltern bei Kindern und Jugendlichen

12.3.1 Definition

12.3.2 Ursachen und Symptomatik

12.3.3 Diagnostik

12.3.4 Therapie

Literatur

13 Selektiver Mutismus

13.1 Das Phänomen selektiver Mutismus

13.2 Identifikation und Abgrenzung

13.2.1 Erfassung sprachlicher Kompetenzen

13.2.2 Mehrsprachigkeit

13.2.3 Kommunikatives Wohlbefinden

13.2.4 Abgrenzung zu anderen Störungsbildern

13.3 Erscheinungsbild

13.4 Entstehungsbedingungen und Risikofaktoren

13.4.1 Genetische Prädisposition

13.4.2 Familiäres Lernumfeld

13.4.3 Physiologische Einflussfaktoren

13.4.4 Migration und Mehrsprachigkeit

13.4.5 Sprachliche Kompetenzen

13.4.6 Besondere Lebensereignisse

13.5 Verlauf und Prognose

13.6 Ausblick

Literatur

14 Sprachheilpädagogische Aufgaben im Kontext von Mehrsprachigkeit

Einleitung

14.1 Grundlagen des Spracherwerbs bei Mehrsprachigkeit

14.2 Sprachentwicklungsstörungen und Mehrsprachigkeit

14.3 Diagnostik bei Mehrsprachigkeit im Kindesalter

14.4 Bilinguale Ansätze in der Intervention bei Sprachentwicklungsstörungen

14.5 Diskussion und Ausblick

Literatur

15 Stimmstörungen

Einleitung

15.1 Was sind kindliche Stimmstörungen?

15.1.1 Organische Stimmstörungen

15.1.2 Funktionelle Stimmstörungen

15.1.3 Inzidenz- und Prävalenzrate

15.2 Bio-Psycho-Soziales Ursachenmodell

15.3 Diagnostik von Stimmstörungen

15.4 Therapie von Stimmstörungen

15.4.1 Familiengespräche

15.4.2 Kommunikationstraining

15.4.3 Stimmfunktionstherapie

15.5 Wirksamkeit des Vorgehens

15.6 Zusammenfassung

Literatur

16 Kindliche Schluckstörungen – Pädysphagien

Einleitung

16.1 Entwicklung des kindlichen Schluckens

16.2 Terminologie

16.3 Ätiologie von Pädysphagien

16.4 Bedeutung der Symptomatik für die Eltern

16.5 Statuserhebung und Diagnostik

16.6 Therapeutische Ansätze

Schlusswort

Literatur

17 Sprachstörungen bei Primärbeeinträchtigungen

17.1 Sprachstörungen bei Autismus

17.1.1 Sprache und Kommunikation bei Menschen mit Autismus

17.1.2 Kinder und Jugendliche mit ASS in Schule und Therapie

17.1.3 Konsequenzen für die Praxis

Literatur

17.2 Sprachentwicklungsstörungen bei Hörschädigungen

Vorwort

17.2.1 Ausgangslage

17.2.2 Auswirkungen auf den Sprach-‍, Schriftsprach- und Bildungserwerb

17.2.3 Kennzeichen einer audiogenen Sprachentwicklungsstörung

17.2.4 Diagnostik

17.2.5 Prävention

17.2.6 Pädagogik, Therapie und Förderung in therapeutischen und schulischen Kontexten

Literatur

17.3 Sprachentwicklungsstörungen bei genetischen Syndromen

Einleitung

17.3.1 Ausgangslage

17.3.2 Spracherwerb unter erschwerten Bedingungen

17.3.3 Diagnostik und Zielformulierung

17.3.4 Intervention in therapeutischen und schulischen Kontexten

17.3.5 Umfeldberatung

Schlusswort

Literatur

18 Neurogene Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern und Jugendlichen

18.1 Kindliche Dysarthrien

18.1.1 Grundlagen

18.1.2 Besondere Herausforderungen für die Sprachtherapie

18.1.3 Diagnostik anhand der BoDyS-KiD (Bogenhausener Dysarthrieskalen – Kindliche Dysarthrien)

18.1.4 Therapie

Literatur

18.2 Aphasien im Kindesalter

Einleitung

18.2.1 Ursachen

18.2.2 Definition und Terminologie

18.2.3 Prävalenz

18.2.4 Prognose

18.2.5 Symptomatik

18.2.6 Diagnostik

18.2.7 Logopädische Therapie

Literatur

18.3 Verbale Entwicklungsdyspraxie

18.3.1 Definition

18.3.2 Terminologie

18.3.3 Ätiologie

18.3.4 Erscheinungsbild

18.3.5 Diagnostik

18.3.6 Therapie

Schlusswort

Literatur

V Verzeichnisse

Die Herausgeber*innen

Die Autor*innen

Stichwortverzeichnis

Die Herausgebenden

Prof. Dr. Andreas Mayer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sprachheilpädagogik (Förderschwerpunkt Sprache und Sprachtherapie) an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Prof. Dr. Tanja Ulrich leitet den Arbeitsbereich Pädagogik und Didaktik im Förderschwerpunkt Sprache an der Universität Duisburg-Essen.

Andreas Mayer, Tanja Ulrich (Hrsg.)

Studienbuch Sprachheilpädagogik

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041865-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041866-0epub: ISBN 978-3-17-041867-7

Vorwort

Sprachliche Kompetenzen sind eine grundlegende Voraussetzung für schulischen Lern- und Bildungserfolg und eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe.

Störungen der Sprache, des Sprechens, der Stimme, des Schluckens, des Redeflusses und der Kommunikation im Kindes- und Jugendalter gehören zu den häufigsten Indikationen für das Heilmittel Sprachtherapie. Dabei handelt es sich um komplexe Phänomene mit weitreichenden Auswirkungen auf die psychosoziale und schulisch-kognitive Entwicklung. Unterstützungsmaßnahmen in Unterricht und Therapie, die auf die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen abzielen, können demnach als Schlüssel angesehen werden, mit dessen Hilfe Kinder und Jugendliche Integrationsprozesse in den verschiedenen Lebensbereichen bewältigen können. Um der anspruchsvollen Aufgabe der Erforschung sprachlicher Beeinträchtigungen, deren Symptomatik, Ursachen sowie Auswirkungen auf andere Entwicklungsbereiche gerecht werden zu können, um diagnostische Verfahren sowie unterrichtliche und therapeutische Konzepte entwickeln und evaluieren zu können, bedient sich die Sprachheilpädagogik als polyintegrative Handlungswissenschaft der Erkenntnisse, der Theorien und der Terminologie ihrer Bezugswissenschaften (Medizin, Linguistik, Psychologie, Soziologie) und integriert sie unter dem Dach der Pädagogik als Leitwissenschaft. Die Verortung der Sprachheilpädagogik als polyintegrative Anwendungswissenschaft und ihre Orientierung am ressourcenorientierten Handlungsrahmen, der sich aus den Empfehlungen der ICF ergibt, bestimmen die aktuelle Ausrichtung von Sprachtherapie sowie schulischer Sprachheilpädagogik. Diese theoretische Fundierung liefert Sprachtherapeut*innen und Sprachheilpädagog*innen eine grundlegende Orientierung für ihre Arbeit in den Handlungsfeldern der Prävention der Diagnostik, der Therapie, der unterrichtlichen Förderung und der Beratung.

Im Zuge bildungspolitischer Veränderungen kommt es seit einigen Jahren zu einer stetigen Reduktion sprachtherapeutischer Inhalte im Lehramtsstudium Sprachheilpädagogik, infolge dessen sich die schulische Sprachheilpädagogik und die außerschulische Sprachtherapie immer stärker voneinander entfernen. Ein besonderes Anliegen ist es uns als Herausgeber*innen dieses Buches, diesem Auseinanderdriften der beiden Disziplinen entgegenzuwirken. Eine qualitativ hochwertige Unterstützung sprachlich beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher kann nur in kooperativer Praxis und vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Therapeut*innen und Pädagog*innen realisiert werden. Wir sind darüber hinaus der Überzeugung, dass der Unterricht mit sprachlich beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen wieder mehr therapeutische Elemente beinhalten muss, um der Komplexität sprachlicher Beeinträchtigungen in Lern- und Bildungskontexten gerecht werden zu können. Die Sprachtherapie sollte sich hingegen verstärkt ihrer pädagogischen Grundhaltung bewusstwerden und in diesem Zusammenhang unter anderem die Auswirkungen sprachlicher Beeinträchtigungen auf andere Entwicklungsbereiche stärker in den Blick nehmen sowie transdisziplinäre Kooperationen mit den Akteuren im Bildungssystem anstreben.

Wir freuen uns sehr, dass es uns gelungen ist, führende Vertreter*innen der Sprachheilpädagogik und der Sprachtherapie für die Mitarbeit an diesem Band zu gewinnen und bedanken uns herzlich für die gelungene Kooperation.

Unser Dank geht auch an Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag für die hervorragende Zusammenarbeit und die nicht selbstverständliche Flexibilität und das Entgegenkommen während der Arbeit an diesem Buch.

Das Studienbuch richtet sich an Studierende der Sprachheilpädagogik und der Sprachtherapie, Dozent*innen sowie interessierten Pädagog*innen und Therapeut*innen aus der Praxis.

Es bietet einen umfassenden, aktuellen Einblick in das Fachgebiet der Sprachheilpädagogik, dessen Handlungsfelder (Prävention, Diagnostik, Therapie, Beratung, Unterricht) und Bezugswissenschaften (Medizin, Psychologie, Soziologie, Linguistik) sowie den Spracherwerb und die häufigsten entwicklungsbedingten und organisch verursachten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter

München, Essen im Juni 2023Andreas Mayer, Tanja Ulrich

I Sprachheilpädagogik als polyintegrative Wissenschaftsdisziplin

1 Sprachheilpädagogik als Wissenschaftsdisziplin

Andreas Mayer

1.1 Wissenschaft – begriffliche Klärung

Da die Sprachheilpädagogik eine wissenschaftliche Fachdisziplin ist, erscheint es sinnvoll, sich zu Beginn dieses Studienbuchs mit dem Wissenschaftsbegriff auseinanderzusetzen und dessen Bestimmungsmerkmale auf die Sprachheilpädagogik zu übertragen, um Aufgaben, Ziele sowie geeignete Arbeitsweisen und Forschungsmethoden des Fachs ableiten zu können, aber auch um die Relevanz generierter wissenschaftlicher Erkenntnisse kritisch reflektieren zu können.

Wissenschaft verfolgt das Ziel, durch Forschung überprüfbare Fragestellungen zu beantworten und dadurch begründetes, nachvollziehbares Wissen zu generieren, zu systematisieren, zu dokumentieren und weiterzugeben, von dem zu einer bestimmten Zeit angenommen wird, dass es der Realität entspricht, das aber dennoch stets hinterfragt werden soll. Auf diese Weise sollen die von einer Fachdisziplin erforschten Phänomene beschrieben, erklärt, verstanden und optimiert werden.

Der Begriff der Wissenschaft referiert demzufolge zum einen auf die Forschungsaktivität des Wissenschaftlers, zum anderen auf das Produkt dieser Tätigkeit, also das systematisierte, theoretisch begründete, überprüfte, zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr beurteilte, nachvollziehbare Wissen über die Natur, die Gesellschaft und den Menschen sowie die Dokumentation und Weitergabe dieses Wissens einschließlich seiner Grundlagen z. B. in universitären Lehrveranstaltungen, auf Tagungen und Kongressen.

Das durch Forschung generierte Wissen bezieht sich in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen auf einen bestimmten Realitätsausschnitt, dessen Phänomene beschrieben, erklärt, verstanden und optimiert werden sollen. Dabei darf der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Realität aber nicht auf materielle, quantifizierbare Fakten reduziert werden. Vielmehr handelt es sich auch bei Phänomenen des subjektiven Erlebens, der subjektiven Wahrnehmung, bei Emotionen, Einstellungen, Haltungen und Werten, die durch Befragungen und Beobachtungen in Erfahrung gebracht und v. a. qualitativ interpretiert werden, um reale überprüfbare Tatsaschen innerhalb des Objektbereichs einer Disziplin.

Um wissenschaftliche Fragestellungen beantworten und Wissen generieren zu können, orientieren sich die jeweiligen Fachdisziplinen an unterschiedlichen grundlegenden Forschungsparadigmen. In Abhängigkeit vom jeweiligen Gegenstandsbereich und der grundlegenden Ausrichtung eines Fachs kommen dabei unterschiedliche wissenschaftliche Methoden zum Einsatz. Traditionell werden in diesem Zusammenhang Natur-‍, Ingenieurswissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften unterschieden, die sich aufgrund ihrer spezifischen Untersuchungsgegenstände und der damit verbundenen unterschiedlichen Fragestellungen und Zielsetzungen durch unterschiedliche forschungsmethodische Herangehensweisen charakterisieren lassen. Während sich naturwissenschaftliche Fächer (z. B. Physik, Biologie, Chemie) und Ingenieurswissenschaften (z. B. Maschinenbau, Elektrotechnik) einem quantitativ-erklärenden Forschungsparadigma verpflichtet fühlen und ihre Fragestellungen durch empirische Untersuchungen beantworten, steht in geisteswissenschaftlichen Disziplinen (z. B. Theologie, Geschichtswissenschaften, Jura, Literaturwissenschaften) das qualitativ-verstehende Paradigma im Vordergrund.

Das quantitativ-erklärende Paradigma zielt darauf ab, ausgehend von einer Hypothese durch die z. B. mittels Beobachtung, Versuch oder Experiment gewonnenen Daten sowie deren statistischer Aufbereitung und quantitativer Auswertung von Einzelfällen zu abstrahieren, allgemeingültige Gesetze zu formulieren und auf diese Weise die Natur zu erklären (Stein & Müller, 2016). Durch eine Zerlegung der komplexen Realität sowie die Identifizierung und Isolierung immer kleinerer Funktionseinheiten und Variablen sollen naturwissenschaftliche Phänomene beschrieben sowie Zusammenhänge identifiziert und wechselseitige Einflüsse erklärt werden. Im Gegensatz dazu fokussiert das qualitativ-verstehende Paradigma der Geisteswissenschaften mentale Objekte (wie z. B. historische Prozesse, Emotionen) und lenkt den Blick auf die Komplexität der Realität. Insbesondere geht es dabei auch darum, die subjektive Sinnhaftigkeit des Handelns einzelner Menschen oder sozialer Gruppen, die subjektiven Beweggründe, Haltungen, Werte, Einstellungen der Handelnden herauszuarbeiten und zu verstehen. Das bedeutet, dass geisteswissenschaftlich orientierte Disziplinen ihre Erkenntnisbemühungen auf das Besondere und Einmalige in spezifischen sozialen Kontexten ausrichten, dass sie insbesondere die von einzelnen Menschen oder sozialen Gruppen subjektiv erlebte konkrete Wirklichkeit im Blick haben (Schad, 2014).

Da es sich dabei um Forschungsgegenstände und Phänomene handelt, die nur eingeschränkt quantifiziert werden können, wissenschaftliches Arbeiten im Kontext dieses Paradigmas v. a. auf das Verstehen der Objektgegenstände abzielt, werden in den Geisteswissenschaften insbesondere Methoden der qualitativen Interpretation, z. B. der Hermeneutik favorisiert, mit Hilfe derer Ereignisse, Situationen, Lebens- und Sinnzusammenhänge interpretiert und verstanden werden sollen. Traditionell kommt eine hermeneutische Vorgehensweise z. B. bei der Auslegung von juristischen, theologischen, philosophischen und literarischen Texten zum Einsatz.

Die den Natur- und Geisteswissenschaften zugrunde gelegten Paradigmen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Forschungsmethoden sind notwendige Konsequenzen der unterschiedlichen Objektbereiche und Fragestellungen. »Die Bestimmung des Objektbereichs ist unmittelbar gekoppelt an die Methoden seiner Erforschung« (Schad, 2014). Während Naturwissenschaften auf die Erklärung der Natur abzielen, versuchen Geisteswissenschaften das Seelenleben zu verstehen (Stein & Müller, 2016).

In enger Verbindung mit diesen beiden grundlegenden wissenschaftstheoretischen Paradigmen (quantitativ-erklärend vs. qualitativ-verstehend) stehen bei der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse die beiden prinzipiell unterschiedlichen, aber sich nicht gegenseitig ausschließenden forschungsmethodischen Vorgehensweisen der Deduktion und der Induktion. Während die am qualitativen Forschungsparadigma orientierten geisteswissenschaftlichen Disziplinen eher eine induktive Methodik favorisieren, ist die Deduktion kennzeichnend für das quantitative Forschungsparadigma.

Bei einer deduktiven Herangehensweise bildet eine auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes entwickelte Theorie über ein Phänomen des von der Disziplin beforschten Realitätsausschnitts den Ausgangspunkt des Forschungsprozesses. Das Ziel besteht darin, diese vorab formulierte Theorie durch die Überprüfungen ihrer zentralen Vorhersagen (Forschungshypothesen) zu bestätigen, zu widerlegen oder zu modifizieren. Zu diesem Zweck werden mittels Beobachtungen, Experimenten oder Tests Daten erhoben, die nach einer statistischen Analyse und Interpretation eine Aussage ermöglichen sollen, ob es sich um theoriekonforme oder theoriekonträre Ergebnisse handelt. Die deduktive Vorgehensweise ist demzufolge eine theoriebestätigende (hypothesenprüfende) Vorgehensweise.

Theorie: Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis liegen lexikalische Defizite zugrunde.Hypothese: Kinder mit lexikalischen Defiziten schneiden bei Überprüfungen des Leseverständnisses signifikant schlechter ab als Kinder mit unauffälligen lexikalischen Fähigkeiten.Methode: Überprüfung lexikalischer Fähigkeiten und des Leseverständnisses; mittels Korrelationsanalysen und Mittelwertvergleichen kann die Hypothese (vorläufig) bestätigt werden oder muss zurückgewiesen bzw. modifiziert werden.

Bei einem induktiven Vorgehen beginnt der Erkenntnisprozess dagegen relativ theoriefrei und ohne Reduzierung auf einige wenige isolierte Variablen (z. B. lexikalische Fähigkeiten) mit konkreten Befragungen und Beobachtungen im realen sozialen Umfeld der beforschten Personen. Die Vermeidung einer apriori-Festlegung auf eine Theorie soll es ermöglichen, den beforschten Gegenstand möglichst unvoreingenommen zu erfahren und zu verstehen, ohne dass der Blick durch die innerhalb einer Theorie fokussierten Variablen und Persönlichkeitsmerkmale eingeengt wird. Durch eine induktive Vorgehensweise im Rahmen qualitativer Forschung sollen insbesondere auch die subjektiven Wahrnehmungen und Sinngebungen, Einstellungen und Haltungen der beforschten Personen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Nicht die Realität, wie sie in einer Theorie konzipiert wurde, sondern so, wie der Beforschte sie sieht, trägt wesentlich zum Verständnis für dessen Handeln, Denken und Fühlen bei.

Das Ergebnis des Forschungsprozesses dient als Grundlage für eine Theorie, die die Realität angemessen beschreiben und verstehen soll. Die Theorie soll möglichst unvoreingenommen aus den empirischen Daten heraus entwickelt werden. Es handelt sich demnach um eine theorieentdeckende (hypothesengenerierende) Forschungslogik. Die Theorie ist das Ergebnis von Forschung.

Fragestellung: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um sprachentwicklungsgestörten Kindern eine maximale Teilhabe in schulischen Settings zu ermöglichen?Methode: möglichst umfassende und unvoreingenommene Beobachtung von Schüler*innen und Lehrkräften im realen sozialen Feld (Unterricht, Schulleben), Befragung der Schüler*innen, Lehrkräfte, Eltern (Interviews, Fragebogen)Durch eine qualitative Analyse der Daten sollen Grundmuster und Tendenzen identifiziert werden, die es ermöglichen, eine Theorie über die soziale Teilhabe sprachentwicklungsgestörter Kinder in der Schule zu entwickeln.

Deduktive und induktive Vorgehensweisen schließen sich nicht aus, sondern können sich zur Beantwortung komplexer Fragestellungen gegenseitig ergänzen. So wäre es denkbar, dass die Erforschung eines bestimmten Phänomens (z. B. die Partizipation sprachlich beeinträchtigter Kinder in inklusiven Settings, siehe Beispiel im Kasten oben) relativ theoriefrei beginnt und aus der qualitativen Interpretation der Informationen eine Theorie über eine gelingende Integration sprachlich beeinträchtigter Kinder abgeleitet wird (theorieentdeckende Vorgehensweise der Induktion). Das Ergebnis dieses Forschungsprozesses kann in einem zweiten Schritt genutzt werden, indem diese Theorie im Rahmen einer deduktiven Vorgehensweise in konkret operationalisierte Hypothesen überführt und im Rahmen einer Datenerhebung überprüft wird.

Neben den Natur-‍, Ingenieurs- und Geisteswissenschaften stellen die Sozial- und Humanwissenschaften die vierte große Gruppe wissenschaftlicher Fachdisziplinen dar. Zu ihnen gehören neben der Psychologie, der Soziologie und der Pädagogik auch die Sonderpädagogik und damit auch die Sprachheilpädagogik. In Anlehnung an Döring und Bortz (2016) können Sozial- und Humanwissenschaften synonym als Oberbegriff für ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Einzeldisziplinen und Subdisziplinen verstanden werden, die sich im weitesten Sinne mit dem Menschen bzw. mit sozialen Sachverhalten befassen. Ihre Forschungsgegenstände sind das Verhalten, Erleben, Zusammenleben sowie Persönlichkeitsmerkmale von Menschen. Damit handelt es sich um Phänomene, die der menschlichen Erfahrung zugänglich sind, weshalb es sich bei den Sozialwissenschaften um empirische Wissenschaften handelt. Ihre Erkenntnisse basieren also auf der systematischen Sammlung, Aufbereitung und (quantitativen und qualitativen) Analyse von empirischen Daten, also auf Informationen über die Erfahrungswirklichkeit (z. B. Testwerte, physiologische Messwerte, Interviewaufzeichnungen, Beobachtungsprotokolle). Bei den Informationen handelt es sich aber nicht ausschließlich um quantifizierbare Messwerte. Auch sprachlich übermittelte oder beobachtete Informationen über das subjektive Erleben, die subjektive Wahrnehmung, Emotionen, Haltungen, Werte, die v. a. qualitativ interpretiert werden, gehören zu empirischen Daten. Ein besonderes Charakteristikum der Human- und Sozialwissenschaften ist deshalb darin zu sehen, dass sie sich in ihrer forschungsmethodischen Herangehensweise in Abhängigkeit von der konkreten Fragestellung sowohl an der quantitativ-naturwissenschaftlichen (deduktiven) als auch an der qualitativ geisteswissenschaftlichen (induktiven) Forschungslogik orientieren (Schad, 2014).

Allgemein steht die quantitative empirische Sozialforschung in der Tradition der Naturwissenschaften. Hier ist z. B. der Beginn der institutionellen Psychologie am »Laboratorium für experimentelle Psychologie« an der Universität Leipzig durch Wilhelm Wundt (1832 – 1920) zu nennen. Die qualitative geisteswissenschaftliche Psychologie (Wilhelm Diltey 1833 – 1911) dagegen versucht, soziale Sachverhalte umfassend zu beschreiben und den subjektiven Sinn menschlichen Handelns zu verstehen (Döring & Bortz, 2016).

1.2 Sprachheilpädagogik als Wissenschaftsdisziplin

Den Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt folgend bedarf es keiner weiteren Erläuterung, dass die Sonderpädagogik und damit auch die Sprachheilpädagogik aufgrund ihres Forschungsgegenstandes den Sozial- und Humanwissenschaften zuzuordnen ist. Dagegen handelt es sich bei der Entscheidung für die Pädagogik als Leitwissenschaft und damit für eine grundlegende pädagogische Ausrichtung der Fachdisziplin Sprachheilpädagogik um eine normative Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen für den Objektbereich, das Verständnis, die Handlungsfelder und die Zielsetzung sprachheilpädagogischen Handelns.

»Unter Leitwissenschaft ist eine wissenschaftliche Disziplin zu verstehen, die als maßgebliche Orientierung für ein Fach zu sehen ist. Die Denkmuster und Erklärungsansätze einer leitenden Wissenschaftsdisziplin bestimmen primär die Ausrichtung eines Faches und den Fokus der Analyse, Rezeption, Reflexion, Adaptation und Integration anderer Wissenschaften« (Lüdtke & Stitzinger, 2015, S. 37 f).

Ohne an dieser Stelle auf die Begrifflichkeiten im Einzelnen eingehen zu können (vgl. dazu den Beitrag von Eckert in diesem Band), ist die Pädagogik die Wissenschaftsdisziplin, die Prozesse des Lernens, der Bildung, der Erziehung und der Sozialisation in unterschiedlichen Institutionen (Schule, Kindergarten, Museum, Universität, Betriebe) über die gesamte Lebensspanne beschreiben, erklären und verstehen sowie Handlungswissen für eine optimierte Praxis des Lernens etc. zur Verfügung stellen möchte. Aufgrund der Differenziertheit und Vielfalt pädagogischer Teildisziplinen und den Kontexten, in denen diese Prozesse beforscht werden sollen, schlägt Lenzen (1997, zit. Gudjons & Traub, 2020) den Begriff der »professionellen Lebensbegleitung« als Gegenstand und Aufgabe der Erziehungswissenschaft vor.

Auf die Sprachheilpädagogik übertragen bedeutet das, dass der beforschte Wirklichkeitsausschnitt dieser Disziplin nicht ausschließlich die symptomspezifische Therapie der Störungsbilder (Sprach-‍, Sprech-‍, Stimm-‍, Redefluss- und Kommunikationsstörungen) darstellt, sondern insbesondere auch notwendige Unterstützungsmaßnahmen im schulisch-kognitiven und psychosozialen Bereich fokussiert werden, während sich die Logopädie z. B. als Disziplin charakterisiert, in deren Kerngebiet Sprach-‍, Sprech-‍, Stimm- und Schluckfähigkeiten und deren Störungen stehen und die sich als interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin mit der Ätiologie, Diagnostik und Intervention hinsichtlich sämtlicher Kommunikations- und Schluckstörungen beschäftigt (Rausch, 2018).

Vor dem Hintergrund der zentralen Handlungsfelder der Pädagogik lässt sich dagegen für die Sprachheilpädagogik ableiten, dass neben der Prävention, der differenzierten Identifizierung und Beschreibung sprachlicher und kommunikativer Beeinträchtigungen (Diagnostik) und der Überwindung der sprachlichen Symptomatik (Therapie) v. a. auch das Lernen, die Bildung und die Erziehung von Menschen mit Beeinträchtigung der Sprache und der Kommunikation im Fokus des sprachheilpädagogischen Aufgabenbereichs stehen. Die Vermeidung der Reduktion auf beeinträchtigte Sprach- und Sprechfunktionen sowie die Fokussierung des ganzen Menschen und die daraus resultierende Komplexität des Handlungsfeldes darf nicht gleichgesetzt werden mit einem diffusen Ganzheitlichkeitsbegriff, der insbesondere in den 1990er Jahren in der schulischen Praxis im Zusammenhang mit dem Konzept der Psychomotorik zu einer deutlichen Reduzierung spezifischer sprachtherapeutischer Maßnahmen führte. Die Notwendigkeit, den Menschen in den Mittelpunkt der Fachdisziplin zu stellen und sich nicht ausschließlich auf den schmalen Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit von Personen mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu beschränken, nämlich den Bereich der gestörten Sprach- und Sprechfunktionen, ergibt sich aus der Tatsache, dass sich sprachliche Einschränkungen üblicherweise auf die psychosoziale und schulisch-kognitive Entwicklung auswirken, weshalb Betroffene Begleiter benötigen, die ihnen bei der erschwerten Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben und Lebensgestaltung zur Seite stehen (Dannenbauer, 2004).

Zur Zielgruppe sprachheilpädagogischen Handelns gehören also Menschen mit Sprach-‍, Sprech-‍, Stimm-‍, Redefluss- und Kommunikationsstörungen, die in der Folge ihrer Beeinträchtigungen in ihrer psychosozialen und schulisch-kognitiven Entwicklung gefährdet sind. Demzufolge darf sich sprachheilpädagogisches Handeln auch nicht auf die symptomorientierte spezifische Sprachtherapie reduzieren, sondern muss auch mögliche Folgeproblematiken in anderen Entwicklungsbereichen in den Blick nehmen. Sprachheilpädagogisches Handeln zielt deshalb über die Überwindung der sprachlichen Symptomatik hinaus auch auf die Optimierung des außerschulischen und schulischen Bildungsangebots, um sprachlich beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen ein erfolgreiches Lernen zu ermöglichen.

Darüber hinaus kann sprachheilpädagogisches Handeln erst dann als erfolgreich beurteilt werden, wenn Fortschritte beim Erwerb und der Anwendung des linguistischen Regelsystems auch zu einer verbesserten Kommunikationsfähigkeit und einer maximalen gesellschaftlichen Teilhabe beitragen. Die Qualität sprachheilpädagogischen Handelns muss sich daran messen lassen, inwiefern sich durch therapeutische, sprachfördernde, außerschulische und unterrichtliche Maßnahmen die Lebensqualität verbessert, also ob durch sprachheilpädagogisches Handeln eine verbesserte soziale Integration und eine umfassende Autonomie im Leben des Betroffenen erreicht werden kann.

Damit lassen sich die Zielsetzungen der Sprachheilpädagogik in einer Hierarchie anordnen, auf deren untersten Ebene die Erweiterung formalsprachlicher Kompetenzen auf den unterschiedlichen Sprachebenen (Aussprache, Wortschatz, Grammatik), des Sprechens, der Stimme und des Redeflusses stehen. Diese verbesserten sprachlichen Fähigkeiten gewinnen aber erst dann eine Bedeutung im Leben der Betroffenen, wenn sie zu einer verbesserten Kommunikationsfähigkeit führen, die wiederum die soziale Integration und damit auch die psychosoziale und schulisch-kognitive Entwicklung des Betroffenen positiv beeinflusst. Das übergeordnete Ziel der Sprachheilpädagogik ist die maximale Autonomie und Emanzipation sprachlich beeinträchtigter Menschen, die es ihnen ermöglichen, sozial umfassend integriert zu sein (= Partizipation) und alle Aktivitäten auszuführen, die von einem Menschen ohne sprachliche Beeinträchtigung erwartet werden und die er ausüben möchte.

Um der Komplexität der Aufgaben innerhalb der verschiedenen Handlungsfelder (Prävention, Diagnostik, Therapie, Beratung, Unterricht, Erziehung, Bildung) gerecht werden zu können und die vielfältigen Ziele erreichen zu können, adaptiert die Sprachheilpädagogik die Erkenntnisse und Terminologie ihrer Bezugswissenschaften (der Medizin, der Linguistik, der Soziologie und der Psychologie, ▸ Kap. 3), versucht diese für ihre eigenen Fragestellungen fruchtbar zu machen und unter dem Dach der Pädagogik zu integrieren (▸ Kap. 4). Auch aus diesem Grund wird die Sprachheilpädagogik als polyintegrative Handlungswissenschaft bezeichnet, also als »eine Wissenschaftsdisziplin, die unterschiedliche Teilbereiche anderer Wissenschaftsdisziplinen rezipiert [...] und unter dem Fokus [...] des eigenen Faches adaptiert und integriert« (Lüdtke & Stitzinger, 2015, S. 37).

Ein grundlegendes Charakteristikum der Sprachheilpädagogik ist die Berücksichtigung des sozialen Kontextes betroffener Menschen. In diesem Zusammenhang betont die Sprachheilpädagogik zum einen, dass die Bezugspersonen von Menschen mit einer sprachlichen Beeinträchtigung von der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit auch betroffen sind, da die Kommunikation mit ihren Kindern, Partnern, Geschwistern etc. nicht (mehr) problemlos gelingt. In Abhängigkeit vom Angebot oder dem Ausbleiben notwendiger Unterstützungsmaßnahmen kann das soziale Umfeld von Menschen mit beeinträchtigter Sprach- und Kommunikationsfähigkeit darüber hinaus sowohl als Barriere als auch als Ressource fungieren, was die Überwindung oder die Aufrechterhaltung der sprachlichen Symptomatik und die Ausbildung einer Folgeproblematik im psychosozialen oder schulisch-kognitiven Bereich angeht (siehe Handlungsfeld der Beratung, Beitrag von Bauer & Kiening in diesem Band).

Wie alle anderen Sozial- und Humanwissenschaften ist die Sprachheilpädagogik eine empirische Wissenschaft und orientiert sich in ihren Forschungsarbeiten methodisch sowohl am quantitativ-erklärenden Paradigma der Naturwissenschaften als auch am qualitativ-verstehenden Paradigma der Geisteswissenschaften. Insbesondere um die Effektivität einer Intervention zu überprüfen und die pädagogische und therapeutische Praxis optimieren, aber auch um Zusammenhänge zwischen sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen und anderen Entwicklungsbereichen sowie wechselseitige Einflüsse zwischen verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen beschreiben, erklären und verstehen zu können, werden quantifizierbare Daten erhoben, statistisch aufbereitet und mit gängigen Methoden analysiert (z. B. Korrelations-‍, Varianz- und Regressionsanalysen). Die bekanntesten Interventionsstudien aus der Sprachheilpädagogik z. B. zur Effektivität der Kontextoptimierung bei grammatischen Störungen (Motsch, 2017) und des Wortschatzsammlers (Motsch et al., 2022) bei lexikalischen Störungen orientieren sich an diesem Paradigma. Kritisch hinterfragt werden muss dabei allerdings, ob die Wirksamkeit eines Therapiekonzepts und das damit verknüpfte Qualitätsmerkmal »evidenzbasiert« ausschließlich an den Fortschritten im Bereich des Erwerbs und der Anwendung linguistischer Erkenntnisprozesse gemessen werden darf. Durch die nahezu ausschließliche Fokussierung linguistischer Fortschritte in der sprachheilpädagogischen Interventionsforschung besteht die Gefahr, dass die Pädagogik aus dem Gegenstandsbereich der Sprachheilpädagogik zu verschwinden droht (Schad, 2012). Genuin pädagogische Fragestellungen, insbesondere solche, die auf die Teilhabe, die Lebensqualität und die Autonomie betroffener Menschen abzielen, werden in der Sprachheilpädagogik oftmals nicht mehr gestellt. Um die pädagogische und therapeutische Praxis optimieren zu können, erscheint es notwendig, über formalsprachliche Verbesserungen hinaus auch die Frage zu beantworten, inwiefern sich die linguistischen Fortschritte auch positiv auf die Kommunikationsfähigkeit, die Aktivitäten, die Teilhabe und die Autonomie betroffener Menschen auswirken. Fragen nach dem emotionalen Wohlbefinden, der Lebensqualität, dem subjektiven Erleben der eigenen Lebenssituation etc. lassen sich mit Hilfe der bloßen Betrachtung phonologischer, grammatischer, lexikalischer etc. Entwicklungsfortschritte nur unzureichend beantworten. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert, wenn sich die Sprachheilpädagogik in ihren Forschungsarbeiten auch am qualitativ orientierten Paradigma der Geisteswissenschaften orientiert, um die übergeordneten Ziele der Teilhabe und der Autonomie stärker in den Blick nehmen zu können, wenn es um die Effektivität von Therapie, Förder- und Unterrichtskonzepten geht.

Literatur

Dannenbauer, F. M. (2004). Spezifische Sprachentwicklungsstörung als pädagogische Aufgabe. In S. Baumgartner, F. M. Dannenbauer, V. Maihack & G. Homburg (Hrsg.), Standort: Sprachheilpädagogik (S. 277 – 307). verlag modernes lernen.

Döring, N. & Bortz, J. (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-41089-5

Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen. Überblick – Kompendium – Studienbuch (13., aktualisierte Auflage). UTB. https://doi.org/10.36198/9783838555232

Lüdtke, U. & Stitzinger, U. (2015). Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache. UTB; Reinhardt.

Motsch, H.-J. (2017). Kontextoptimierung. Evidenzbasierte Intervention bei grammatischen Störungen in Therapie und Unterricht. (4. Auflage). Reinhardt. https://elibrary.utb.de/doi/book/10.2378/9783497604081

Motsch, H.-J., Marks, D.-K. & Ulrich, T. (2022). Wortschatzsammler. Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter (4. Auflage). Reinhardt.

Rausch, M. (2018). Zum Wissenschaftsbegriff in Logopädie und Sprachtherapie. In R. Haring & J. Siegmüller (Hrsg.), Evidenzbasierte Praxis in den Gesundheitsberufen (S. 1 – 16). Springer.

Schad, G. (2012). Evidenzbasierte Erziehung? In C. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung (S. 23 – 37). Athena.

Schad, G. (2014). Wissenschaftstheoretische Grundlagen, Pluralismus und Paradigmenkonkurrenz. In M. Grohnfeldt (Hrsg.), Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie (S. 43 – 48). Kohlhammer.

Speck, O. (1991). System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung (2. aktualisierte Auflage). Reinhardt.

Stein, R. A. & Müller, T. (2016). Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen. Ein Arbeitsbuch zu Theorien und Methoden (UTB, Bd. 4441). Klinkhardt.

2 Das Verhältnis von Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie: Für eine pädagogische Sprachtherapie und einen therapeutischen Unterricht

Tanja Ulrich & Andreas Mayer

2.1 Problemstellung

Seit knapp 30 Jahren ist in der Sprachheilpädagogik ein Wandel festzustellen, der sowohl in der institutionalisierten sprachheilpädagogischen Praxis als auch in der Ausbildung im Lehramt Sprachheilpädagogik (Förderschwerpunkt Sprache) und der Sprachtherapie/Logopädie offensichtlich wird und zu einem Auseinanderdriften der schulischen Sprachheilpädagogik und der außerschulischen Sprachtherapie geführt hat.

Der Beschluss der KMK-Konferenz zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen von 1994, ergänzt durch förderschwerpunktspezifische Empfehlungen z. B. zum Förderschwerpunkt Sprache (Beschluss der KMK, 1998), führte zu einem Abbau der bis zu diesem Zeitpunkt im Sonderschulwesen fest etablierten Sprachheilschulen und zu einem Aufbau integrativer Einrichtungen sowie förderschwerpunktübergreifender Förder- und Kompetenzzentren bzw. Verbundschulen, in denen Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten, sprachlichen Einschränkungen und emotionalen und sozialen Schwierigkeiten gemeinsam unterrichtet und gefördert werden. Anstatt Sprachheilschulen zum »Kristallisationspunkt sonderpädagogischer Expertise für eine differenzierte und leistungsstarke Diagnostik und eine (unterrichtsintegrierte) Sprachtherapie zu machen, wurden sie in ihrer klassischen Gestalt von oben negativ etikettiert« (Baumgartner, 2006, S. 270) und »ohne Sinn und Verstand abgebaut« (Dannenbauer, 2004, S. 282 f).

Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations, 2006) in der Bundesrepublik Deutschland (2009) sowie der Beschluss der Kultusministerkonferenz (2011) zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen intensivierte den Prozess der Auflösung spezifischer Förderschulen zugunsten des Aufbaus eines inklusiven Schulsystems.

Die im selben Zeitraum (1999) im Rahmen des Bologna Prozesses angestrebten Hochschulreformen mit dem Ziel einer internationalen Vereinheitlichung von Studiengängen, einer möglichst umfassenden Mobilität der Studierenden und der Harmonisierung der akademischen Ausbildung durch ein zweistufiges System berufsqualifizierender Abschlüsse (Bachelor und Master) und die damit verbundenen Änderungen der Studieninhalte und Curricula führten in der Sprachheilpädagogik zu einer Entspezifizierung, insbesondere zu einer deutlichen Reduktion therapeutischer Inhalte in der Lehramtsausbildung (Grohnfeldt, 2016). Der Schwerpunkt im Studiengang Sprachheilpädagogik (Lehramt) sowie des sprachheilpädagogischen Handelns in schulischen Kontexten liegt seitdem auf der Vermittlung schulischer Lern- und Bildungsinhalte unter den erschwerten Bedingungen einer Sprachentwicklungsproblematik. Aufgrund der empirisch belegten Auswirkungen sprachlich-kommunikativer Beeinträchtigungen auf das schulische Lernen (vgl. auch den Beitrag von Mayer zum sprachheilpädagogischen Unterricht) handelt es sich dabei um eine komplexe und anspruchsvolle Aufgabe, die durch eine ausschließlich fachdidaktisch orientierte sprachsensible Unterrichtsgestaltung nicht umfassend bewältigt werden kann.

Während im Lehramt Sprachheilpädagogik demnach aktuell die unterrichtliche Aufgabe in der Arbeit mit sprachlich beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen im Vordergrund steht, wird die therapeutische Aufgabe weitgehend der außerschulischen Sprachtherapie und Logopädie überlassen. Und diese außerschulische, primär medizinisch und linguistisch orientierte Sprachtherapie leistet, insbesondere seit der Etablierung von Studiengängen der akademischen Sprachtherapie sowie Modellstudiengängen für Logopädie, im Bereich der spezifisch symptomorientierten Therapie qualitativ hochwertige Arbeit.

Um eine optimale Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen zu gewährleisten, besteht nichtsdestotrotz zum einen die Notwendigkeit, dass sich Sprachheilpädagog*innen in der schulischen Praxis wieder verstärkt ihrer unterrichtsintegrierten sprachtherapeutischen Möglichkeiten bewusst werden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass sich ihr spezifisches Profil verwischt und schließlich von einer allgemeinen Einheitssonderpädagogik aufgesaugt wird (Dannenbauer, 1998). Zum anderen stehen Sprachtherapeut*innen und Logopäd*innen vor der Aufgabe, eine deutlichere pädagogische Grundhaltung in ihre berufliche Identität zu integrieren.

2.2 Der sprachheilpädagogische Unterricht muss therapeutischer werden

Der therapeutische Auftrag von Lehrkräften, die Schüler*innen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen unterrichten, ist in den Lehrplänen der Bundesländer fest verankert. Im bayerischen Lehrplan Plus für den Förderschwerpunkt Sprache (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, 2019) heißt es in diesem Zusammenhang bspw., dass

in spezifischen, sprachtherapeutischen Interaktionssequenzen der sprachliche Förderbedarf im Mittelpunkt der Lernsituation steht (32),

der Prozess der Prävention und Förderung durch Individualtherapie und unterrichtliche Angebote durch unterrichtsintegrierte Therapiemaßnahmen ergänzt wird (54).

Ein derart spezifisch sprachtherapierender Unterricht ist nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung und Unterstützung der Individualtherapie zu verstehen, die ein unverzichtbarer Bestandteil des therapeutischen Gesamtkonzepts bleibt (Berg, 2008) und überwiegend von Sprachtherapeutinnen geleistet wird.

Nichtsdestotrotz stehen Sprachheilpädagog*innen in schulischen Settings vor der herausfordernden Aufgabe, dem komplexen Bedarf an Bildungs-‍, Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen von Kindern und Jugendlichen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen gerecht zu werden, indem sie Kompetenzen im Bereich der Diagnostik, des Unterrichts, der Erziehung, der Prävention, der Beratung, aber auch der Therapie erwerben und umsetzen (Bauer et al., 2022).

Sprachheilpädagog*innen unterstützen die Arbeit von Sprachtherapeut*innen, indem sie im Schulalltag natürliche Kommunikationssituationen schaffen, in denen Schüler*innen das in der Therapie angebahnte linguistische Wissen in pragmatisch realistischen Kontexten erproben und damit in die Spontansprache transferieren können (Dannenbauer, 1998). Damit bietet der schulische Kontext sprachliche Interaktionen, die insbesondere auf die situationsangemessene Anwendung linguistischen Wissens abzielen.

Darüber hinaus stehen Sprachheilpädagog*innen aber auch Methoden, Konzepte und Maßnahmen zur Verfügung, die es sprachentwicklungsgestörten Kindern ermöglichen, sich am Unterricht sprachlich angemessen zu beteiligen, sowie spezifische linguistische Erkenntnisprozesse in Gang zu setzen. Als eine weitgehend unspezifische Fördermaßnahme sind in diesem Zusammenhang die in der schulischen Sprachheilpädagogik etablierten Modellierungstechniken zu nennen (Dannenbauer, 2002). Dabei werden von der Lehrkraft passend zum Unterrichtsinhalt syntaktische und/oder morphologische Strukturen präsentiert, die es den Schüler*innen ermöglichen, Form und Funktion grammatischer Strukturen wahrzunehmen und zu verstehen. Die Übernahme des sprachlichen Modells ermöglicht es sprachlich-kommunikativ beeinträchtigten Kindern, sich formalsprachlich korrekt am Unterrichtsgespräch zu beteiligen. Auf formalsprachlich fehlerhafte oder unvollständige Äußerungen von Kindern kann mit Hilfe von Expansionen oder des korrektiven Feedbacks reagiert werden.

Eine überlegte Gestaltung des sprachlich-kommunikativen Milieus, das von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung geprägt ist, sowie sprachliche Rituale im Unterrichtsalltag bieten sprachentwicklungsgestörten Kindern die Möglichkeit, sich sprachlich zu bewähren, erfolgreich an sprachlichen Interaktionen teilzunehmen und sich als selbstwirksam zu erleben (Dannenbauer, 1999, vgl. auch den Beitrag von Mayer zum sprachheilpädagogischen Unterricht).

Eine besondere Bedeutung kommt im Unterricht der Wortschatzarbeit zu. Da lexikalische Schwierigkeiten eine Kernsymptomatik sprachentwicklungsgestörter Kinder darstellen, muss die Wortschatzarbeit ein durchgängiges Unterrichtsprinzip darstellen, um den Schüler*innen die in nahezu allen Fächern relevanten fach- und bildungssprachlichen Register vermitteln zu können. Der für das Verstehen und die Wiedergabe schulischer Lern- und Bildungsinhalte relevante Wortschatz kann durch Techniken der semantischen und phonologischen Elaboration im mentalen Lexikon der Schüler*innen verankert werden.

Über diese Maßnahmen hinaus, bei denen üblicherweise der Unterrichtsinhalt als Ausgangspunkt einer eher unspezifischen Sprachförderung fungiert, hat die Sprachheilpädagogik Konzepte mit sprachtherapeutischem Charakter entwickelt und evaluiert, die als unterrichtsintegrierte Maßnahmen realisiert werden können.

In diesem Zusammenhang kommt der von Motsch (2017) entwickelten Kontextoptimierung eine zentrale Rolle zu. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das die als wirksam identifizierten Elemente bereits vorhandener therapeutischer Ansätze, z. B. der entwicklungsproximalen Sprachtherapie (Dannenbauer, 2002) und dem Pattern Practice-Ansatz, berücksichtigt und in ein neues Konzept integriert. Um grammatisch gestörte Kinder beim Erwerb syntaktisch-morphologischer Regeln zu unterstützen, werden die Elemente einer Lernsituation optimiert, die im Vorfeld geplant und verändert werden können. Dazu gehören das ausgewählte Sprachmaterial, die Handlungs-‍, Spiel- bzw. Lernsituation des Unterrichts (der Kontext), die besondere Sprechweise der Lehrkraft sowie die konkreten Hilfestellungen. Bei der Planung und Umsetzung der Kontextoptimierung sind vier Prinzipien (Kick-Off, Ursachenorientierung, Ressourcenorientierung und Modalitätenwechsel) handlungsleitend, die es grammatisch gestörten Kindern erleichtern sollen, die zentralen Merkmale einer syntaktischen oder morphologischen Struktur sowie deren Funktion zu entdecken, zu verstehen und spontansprachlich anzuwenden. Die Prinzipien nehmen zum einen Rücksicht auf die angenommenen Ursachen einer grammatischen Störung (z. B. im Bereich des Arbeitsgedächtnisses), versuchen zudem einen Wechsel zwischen rezeptiven, produktiven und reflexiven Phasen zu realisieren sowie die Vorlieben und Interessen sowie vorhandene Ressourcen (z. B. Schriftsprache) der Kinder zu berücksichtigen (für eine ausführliche Beschreibung der Didaktik der Kontextoptimierung s. Motsch, 2017). Die Effektivität der Kontextoptimierung wurde sowohl für sprachtherapeutische, aber auch für unterrichtsintegrierte Settings für die bei grammatischen Störungen am häufigsten betroffenen syntaktischen und morphologischen Regeln (Verbzweitstellungsregel im Hauptsatz, Verbendstellungsregel im Nebensatz, Subjekt-Verb-Kontroll-Regel, Kasusmorphologie) belegt. Sprachheilpädagog*innen in der schulischen Praxis steht damit ein praktikables, evidenzbasiertes sprachtherapeutisches Konzept mit zahlreichen Ideen und Anregungen für die konkrete Umsetzung im Unterricht zur Verfügung.

Wie bereits angedeutet, haben Maßnahmen, die auf eine Erweiterung lexikalischer Fähigkeiten abzielen, im Unterricht mit sprachlich beeinträchtigten Kindern eine besondere Bedeutung. Zum einen müssen Schülerinnen und Schüler in nahezu allen Unterrichtsfächern kontinuierlich neue Wörter verstehen und anwenden lernen. Zum anderen handelt es sich aber auch um eine sprachheilpädagogische Aufgabenstellung, Kindern unabhängig von Unterrichtsinhalten Unterstützungsmaßnahmen zur Erweiterung und Differenzierung lexikalischer Fähigkeiten anzubieten. In diesem Zusammenhang spielt die Vermittlung lexikalischer Lernstrategien, mit Hilfe derer Kinder ihre eigenen lexikalischen Lücken identifizieren und eigenaktiv schließen können, eine zentrale Rolle. Ein für die Einzeltherapie und Kleingruppensettings evidenzbasiertes Konzept ist die Wortschatzsammlertherapie (Motsch et al., 2022). Deren Ziel besteht darin, Kindern einen positiven, konstruktiven Umgang mit ihren lexikalischen Lücken zu vermitteln und sie bei der eigenaktiven Erweiterung ihres Wortschatzes zu unterstützen. Den Kindern werden explizit Strategien vermittelt, die sie selbständig einsetzen können, um den Erwerb, das Verstehen und den Abruf neuer Wörter zu optimieren (Ulrich & Laßmann, 2020). Dazu gehören Selbstevaluationsstrategien, die es Kindern ermöglichen, lexikalische Lücken selbständig zu entdecken, Fragestrategien, mit denen Kinder Informationen über die Bedeutung und die Wortform erwerben, sowie Speicher- und Abrufstrategien, um neue Wörter qualitativ möglichst hochwertig im mentalen Lexikon verankern und sie in unterschiedlichen kommunikativen Situationen aktivieren zu können. Elemente aus diesem Konzept können auch in die Unterrichtsarbeit mit sprachentwicklungsgestörten Kindern integriert werden. Innerhalb eines Klassenklimas, das von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt geprägt ist, in dem die Hemmschwelle zur Preisgabe von Nichtwissen möglichst gering ist (Ulrich & Laßmann, 2020), sollen die Schüler*innen erfahren, dass es sich bei der Wahrnehmung lexikalischer Lücken um etwas Positives handelt, da ihnen dies die Möglichkeit eröffnet, neue Wörter kennen zu lernen. Darüber hinaus werden Fragestrategien erarbeitet, mithilfe derer fehlendes oder nicht zugängliches lexikalisches Wissen erfragt werden kann (ebd.). Schließlich werden Speicher- und Abrufstrategien eingeführt, mit denen die Speicher- und Abrufqualität lexikalischer Einräge verbessert werden soll.

Sprachheilpädagog*innen stehen in der schulischen Praxis vielfältigen und komplexen Aufgabenstellungen gegenüber (vgl. auch den Beitrag von Mayer zum sprachheilpädagogischen Unterricht in diesem Band). Neben der Vermittlung schulischer Lern- und Bildungsinhalte unter den erschwerten Bedingungen einer Spracherwerbsproblematik verfolgen Lehrkräfte auch das Ziel, sprachtherapeutische Elemente in den Unterricht zu integrieren. Sprachheilpädagog*innen sind Lehrkräfte und Therapeut*innen in Personalunion.

2.3 Die Sprachtherapie muss pädagogischer werden

Historisch betrachtet entstand die Logopädie als medizinischer Heil-Hilfsberuf, den die Phoniatrie ins Leben rief, um die medizinisch diagnostizierten Sprach- und Sprechstörungen »beheben« zu können. Dies implizierte eine eher defizitorientierte Sicht auf das einzelne Symptom bzw. die isolierte Sprachstörung. In der 1980 verabschiedeten »Logopädenausbildungs- und Prüfungsordnung (LogAPrO)«, welche das Curriculum für eine einheitliche staatliche Ausbildung angehender Logopäd*innen darstellt, findet sich dementsprechend ein deutliches Übergewicht medizinischer gegenüber pädagogischen Ausbildungsinhalten, wenngleich pädagogisch- didaktische Überlegungen insbesondere im Rahmen der praktischen Ausbildung und der Ausbildungssupervision implizit ebenfalls eine zentrale Rolle spielen.

Seit Inkrafttreten der LogAPrO im Jahr 1980 ergaben sich umfassende Veränderungen im Selbstverständnis der Sprachtherapie/Logopädie sowie ihrer Positionierung im Feld der Expert*innen für sprachliche Rehabilitation. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der zunehmende Einfluss einer ICF-orientierten Betrachtungsweise als übergeordneter Rahmen des sprachtherapeutischen Handelns und Selbstverständnisses (Grötzbach et al., 2014). In Abkehr von einer symptom- und defizitorientierten Sichtweise der isolierten Sprachstörung rückt der gesamte Mensch mit den ihm zur Verfügung stehenden kommunikativen Möglichkeiten sowie deren Einbindung in personale und umweltbezogene Aspekte in den Blick. Im Bereich der Kindersprachtherapie bedeutet dies zum Beispiel, dass Auswirkungen sprachlicher Beeinträchtigungen auf andere Entwicklungsbereiche des Kindes wahrgenommen sowie im Rahmen des therapeutischen Prozesses berücksichtigt werden (ggf. mit Unterstützung angrenzender Fachdisziplinen). Es impliziert auch, dass eine vergleichbare sprachliche Einschränkung (z. B. Aussprachestörung, die die Laute /sch/ und /ch/ betrifft) hinsichtlich der sprachlichen Identität sowie der Sprachhandlungskompetenzen im Alltag (Lüdtke & Stitzinger, 2015) von zwei verschiedenen Kindern sehr unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche Unterstützung bieten, eine Einschränkung sprachlicher Kompetenzen aber auch überhaupt erst als solche erfahrbar machen können. Insgesamt treten somit Fragen der individuellen Lebensbedeutsamkeit sprachlicher Einschränkungen in den Vordergrund. Übergeordnetes Ziel eines sprachtherapeutischen Vorgehens nach ICF-Orientierung ist es, Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen die bestmögliche Teilhabe bzw. Partizipation an der Gesellschaft zu ermöglichen und sie beim Erwerb einer maximalen Autonomie zu unterstützen.

Für einen weiteren Wandel des Professionsverständnisses von Sprachtherapeut*innen und Logopäd*innen sorgen die seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention zunehmenden Inklusionsbestrebungen des Bildungssystems (UN, 2006). In inklusiven schulischen Settings lässt sich die starke Tendenz beobachten, dass eine spezifisch sprachtherapeutische Unterstützung in Therapie und Unterricht seltener durch Sprachheilpädagog*innen übernommen wird, sondern vielmehr an (externe) Sprachtherapeut*innen ausgelagert wird (s. o.). Dies impliziert für die beteiligten Sprachtherapeut*innen eine immer stärkere Notwendigkeit, interdisziplinär zu kooperieren sowie sich mit sprachheilpädagogischen Unterrichtsprinzipien, schulischen Lerninhalten und Bildungszielen vertraut zu machen (Reber & Schönauer-Schneider, 2016).

Last but not least haben die anhaltenden Bestrebungen bzgl. einer Akademisierung sprachtherapeutischer Berufsgruppen dazu geführt, dass Ausbildungs- bzw. Studieninhalte um zentrale Aspekte erweitert wurden. So werden Prozesse der therapeutischen Entscheidungsfindung, welche über viele Jahre hinweg von Praktiker*innen vorwiegend intuitiv umgesetzt wurden, mittlerweile modelltheoretisch fundiert und wissenschaftlich begleitet (»Clinical Reasoning«, z. B. Beushausen, 2020). In der im Laufe der letzten Jahrzehnte aufblühenden Sprachtherapieforschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass evidenzbasierte sprachtherapeutische Praxis neben externer Evidenz aus wissenschaftlichen Studien auch die klinische Expertise des/der Therapeuten/in sowie die Perspektive der Patienten*innen berücksichtigen muss (Beushausen & Grötzbach, 2018). Auch an dieser Stelle emanzipiert sich die Fachdisziplin von ihren medizinischen Wurzeln, indem sie allgemeine Wirksamkeitsnachweise, die für eine Methode aus klinischen Studien vorliegen, nicht als »Allheilmittel« für alle Patient*innen versteht, sondern sich ganz gezielt die Frage stellt, in welcher Form diese Methode eingesetzt und ggf. modifiziert werden muss, um zu diesem Zeitpunkt für diesen Patienten unter diesen Bedingungen angemessen zu sein.

Aufgabe einer in Praxis und Wissenschaft professionell agierenden Sprachtherapie ist es damit, sich mit Fragen sprachtherapeutischer Didaktik zu beschäftigen, um

sich Wirkfaktoren in der therapeutischen Arbeit, über Forschungsergebnisse quantitativer Forschung hinaus, bewusst zu machen und diese gezielt nutzen zu können (z. B. Motivation, Beziehung, individuelle Erwartungen und Zielsetzungen, Reber & Schönauer-Schneider, 2016),

ein Rahmengerüst für die Planung, Strukturierung und Reflexion sprachtherapeutischer Sitzungen aufstellen zu können (Grohnfeldt, 2017),

die didaktischen Modelle bzw. lerntheoretischen Zugänge, die sprachtherapeutischen Konzepten zugrunde liegen, verstehen zu können,

das eigene Vorgehen innerhalb der Therapie didaktisch-methodisch begründen zu können,

ein im Hinblick auf die eigene Therapeutenpersönlichkeit, die Individualität des Kindes sowie das komplexe Zusammenwirken mit Umgebungsfaktoren adäquates, individualisiertes Vorgehen bei der Begleitung sprachlichen Lernens leisten zu können.

Sprachtherapeutisches Handeln zielt damit auf die Initiierung sprachlicher Lernprozesse. Didaktische Überlegungen hierzu sind zentral für die bewusste pädagogische Gestaltung des therapeutischen Prozesses insgesamt ebenso wie der einzelnen Therapiesitzungen im Spezifischen. Sprachtherapeut*innen können bei der erforderlichen Professionalisierung ihrer Disziplin auf Wissen zurückgreifen, welches die Nachbardisziplin Sprachheilpädagogik aufgrund ihrer langjährigen Beschäftigung mit der didaktisch-methodischen Gestaltung von (sprachlichen) Lernprozessen in Therapie und Unterricht zur Verfügung stellen kann (Grohnfeldt, 2017).

Schlusswort

Sprachheilpädagog*innen vermitteln schulische Lern- und Bildungsinhalte unter der erschwerten Bedingung einer Sprachentwicklungsstörung. Sie werden sprachtherapeutisch wirksam, indem sie sprachtherapeutische Konzepte in den Unterricht integrieren.

Sprachheilpädagog*innen sind vom beruflichen Selbstverständnis Lehrkräfte und Therapeut*innen.

Sprachtherapeut*innen ermöglichen Menschen mit sprachlichem Unterstützungsbedarf die bestmögliche kommunikative Teilhabe an der Gesellschaft. Wenngleich sie in erster Linie Therapeut*innen sind, ist ihre Tätigkeit dennoch als pädagogisches Wirken zu beschreiben: Sie gestalten sprachliche Lernprozesse, die sich an der Lebensbedeutsamkeit für den einzelnen Menschen orientieren, auf einer tragfähigen Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in basieren und auf die gesellschaftliche Partizipationsfähigkeit des Einzelnen abzielen (Reber & Schönauer-Schneider, 2016).

Gerade vor dem Hintergrund eines sich wandelnden, zunehmend inklusiv ausgerichteten Bildungssystems stellt die Zusammenarbeit sowie der interdisziplinäre Austausch der beiden Fachdisziplinen eine Notwendigkeit dar, um die bestmögliche Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen gewährleisten zu können.

Literatur

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3 Bezugswissenschaften der Sprachheilpädagogik

3.1 Medizin

Axelle Felicio-Briegel, Matthias Echternach

Die medizinische Grundlage der Sprachheilpädagogik umfasst die Anatomie des Kehlkopfes und der Artikulationsorgane sowie die Physiologie der Stimmerzeugung und des Sprechens. Unter der Anatomie versteht man den makro- und mikroskopischen Aufbau der Organe, die für die Stimme und das Sprechen relevant sind. Die Physiologie beschäftigt sich mit der Erzeugung menschlichen Schalls und der Formung dieses Schalls zur Stimm- und Sprechfunktion, die für die Sprachproduktion beim Menschen wesentlich sind.

3.1.1 Anatomische und physiologische Grundlagen

Anatomie

Maßgeblich für die Stimmerzeugung beim Sprechen ist der Kehlkopf, auch Larynx genannt. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts konnte der französische Arzt Antoine Ferrein anhand von Tierpräparaten nachweisen, dass die Stimmlippen im Kehlkopf einen Ton erzeugen, der dann in den Ansatzräumen des Menschen, dem Vokaltrakt, modifiziert wird (Echternach & Richter, 2014). Der Kehlkopf befindet sich zwischen dem Rachenraum und der Luftröhre und verbindet beide Röhrensysteme miteinander. Die Regionen des Larynx (Abb. 3.1) umfassen den Kehlkopfeingang, die Stimmlippenebene und den unteren Kehlkopfanteil. Der obere Kehlkopfanteil (Supraglottis) reicht vom Kehlkopfeingang bis zu den Larynxventrikeln (Sinus Morgagni) und umfasst damit auch den Kehldeckel (Epiglottis) und die beiden Taschenfalten, die beidseits jeweils knapp oberhalb der Stimmlippen liegen. Beim Sinus Morgagni handelt es sich um den Bereich zwischen den Taschenfalten und den Stimmlippen. Der untere Kehlkopfanteil reicht vom Ende der Verschlussebene der Stimmlippen (Reinke-Raum) bis zur Unterkante des Ringknorpels. Hinter dem Kehlkopf befindet sich der Eingang in die Speiseröhre. Rechts und links vom Eingang in die Speiseröhre befinden sich die Recessus piriformi, die zum unteren Rachenraum gehören. Der Larynx dient neben der Schluckfunktion auch der Stimmbildung. Beim Schlucken verschließt die Epiglottis den Eingang zum Kehlkopf und damit zur Luftröhre.

Abb. 3.1:Übersicht des Kehlkopfes

Knorpelgerüst

Das knorpelige Gerüst des Kehlkopfes (Kehlkopfskelett) besteht aus:

dem Schildknorpel (Cartilago thyroidea)

dem Ringknorpel (Cartilago cricoidea)

den Stellknorpeln bzw. Aryknorpel (Cartilago arythenoidea)

dem Kehldeckel (Epiglottis)

Membranen verbinden das Zungenbein (Os hyoideum) mit dem Schildknorpel, den Schildknorpel wiederum mit dem Ringknorpel und den Ringknorpel mit der ersten Trachealspange. Das Zungenbein kann als Verbindungsglied zwischen Mundboden und Kehlkopf gesehen werden und unterstützt die Koordination der Muskel. Die Stellknorpel wiederum sind mit einem Ligament am Ringknorpel befestigt. Hierdurch bildet sich das Kriko-Arytenoid-Gelenk, in dem sich zum einen die Stellknorpel drehen – und damit die Stimmlippen öffnen und schließen können – und sich zum anderen verschieben können. An den Stellknorpeln befindet sich ein Vorsprung, der Processus vocalis. Hier setzt das Ligamentum vocale an, welches tief gelegene Bindegewebsschichten bezeichnet und zum Schildknorpel zieht. Das Gelenk zwischen Schildknorpel und Ringknorpel ermöglicht eine Verkippung dieser Knorpel gegeneinander, die eine Spannungserhöhung der Stimmlippen und insbesondere der Ligamente, zur Folge hat.

Kehlkopfmuskeln

Man unterscheidet die äußeren und die inneren Kehlkopfmuskeln. Die äußeren Kehlkopfmuskeln dienen der Hebung, Senkung und Fixation des Kehlkopfes sowie der indirekten Stimmlippenspannung, während die inneren Kehlkopfmuskeln der Spannung der Stimmlippen sowie deren Öffnung und Schließung dienen. Die äußeren Kehlkopfmuskeln werden durch den Nervus (N.) laryngeus superior aus dem N. vagus und Plexus cervicalis innerviert; die inneren durch den N. laryngeus inferior (N. recurrens) aus dem N. vagus.

Zu den äußeren Kehlkopfmuskeln zählt auch der Musculus (M.) cricothyroideus, der für die Koordination der Grundfrequenz bzw. Tonhöhe eine entscheidende Rolle einnimmt.

Der M. cricothyroideus setzt am Ringknorpel an und zieht zum Schildknorpel. Bei Kontraktion kippt er den Schildknorpel nach vorne unten bzw. den Ringknorpel nach vorne oben. Hierdurch nimmt die Spannung der Stimmlippen zu. Durch die Zunahme der Spannung erhöht sich die Grundfrequenz. Ein einseitiger Ausfall führt zu einer Erschlaffung der gleichseitigen Stimmlippe.

Zu den inneren Kehlkopfmuskeln gehören der M. aryepiglotticus, M. interarytaenoidei (M. arytaenoideus transversus und obliquus), M. cricoarytaenoideus posterior, M. cricoarytaenoideus lateralis und der M. thyroarytaenoideus (Pars externa, M. vocalis, pars thyroepigloticca) (Abb. 3.2).

Der M. aryepiglotticus zieht von den Stellknorpeln zum Seitenrand der Epiglottis. Er bewirkt eine Annäherung der Stellknorpel zum Kehldeckel und führt zu einer Verengung des Kehlkopfeinganges. Hierdurch werden alle lufthaltigen Räume oberhalb der Stimmlippen moduliert und die Stimmlippen verkürzt. Bewirkt wird dadurch eine Spannungserhöhung.

Man unterscheidet zwei M. interarytaenoidei. Der M. arytaenoideus transversus zieht jeweils von einer Hinterfläche des Stellknorpels zur anderen, während der M. arytaenoideus obliquus schräg von einer Stellknorpelunterkante zum oberen Drittel des anderen verläuft. Beide verengen die Pars intercartilaginea und führen damit zu einem Stimmlippenschluss in diesem Bereich. Ein Ausfall führt zu einem offenbleibenden Dreieck im hinteren Drittel der Glottis (Bereich zwischen den Stimmlippen).

Der M. cricoarytaenoideus posterior verläuft zwischen Ringknorpel und Stellknorpel. Er öffnet als einziger Muskel die Stimmlippen. Damit führt ein einseitiger Ausfall zum Stillstand der gleichseitigen Stimmlippe in Paramedianstellung (= Stellung neben der Mitte). Ein beidseitiger Ausfall kann somit zu Atemnot führen, da für die Atmung nur noch ein zum Teil winziger Atemspalt verbleibt.

Dem entgegengesetzt ist der M. cricoarytaenoideus lateralis, der vom Ringknorpel zum Stellknorpel verläuft. Er schließt die Stimmritze in den vorderen zwei Dritteln durch Annäherung beider Stimmlippen. Bei Ausfall können die Stimmlippen nicht mehr gut geschlossen werden und begünstigt hierdurch die Entstehung einer Heiserkeit.

Abb. 3.2:Kehlkopfmuskeln

Der M. thyroarytaenoideus besteht aus drei Teilen: der Pars externa, Pars interna (Musculus vocalis) und Pars thyroepiglottica. Die pars externa zieht vom Schildknorpel zum Aryhöcker. Der M. vocalis zieht von dem Schildknorpel zum Processus vocalis des Stellknorpels, schließt die Stimmritze und erhöht bei Aktivierung die Stimmlippenspannung. Die Pars thyroepiglottica zieht vom Schildknorpel zum Kehldeckel und beeinflusst damit die Form des Kehlkopfeinganges. Ein einseitiger Ausfall des M. vocalis führt zu einer einseitigen Erschlaffung der gleichseitigen Stimmlippe und ein beidseitiger Ausfall weist oft eine ovaläre Schlussinsuffizienz auf. Dies kann sich durch eine Heiserkeit oder Leistungsminderung der Stimmfunktion äußern.

Die Stimmlippen befinden sich auf Höhe des Ligamentum vocale. Unterteilt werden sie in einen membranösen, schwingenden Anteil (Pars intermembranacea) und einen Stellknorpelanteil (Pars intercartilaginea). Der membranöse, schwingende Anteil beinhaltet die vorderen Zweidrittel der Stimmlippe und endet an den Processus vocales der Aryhöcker. Das restliche Drittel stellt den Stellknorpelanteil dar.

Eine besondere Bedeutung kommt dem mikroskopischen Aufbau der Stimmlippen zu, da dieser einen Einfluss auf die schwingende Masse hat. Abbildung 3.3 zeigt die Einteilung der Mikroanatomie der Stimmlippen nach dem Body-Cover-Modell, welches vor allem funktionelle Aspekte der Stimmlippen berücksichtigt: Die oberste Schicht besteht aus einem nicht verhornenden Plattenepithel, welches aus mehreren Zellreihen von miteinander verbundenen Zellen besteht (Epithel, schwarze Linie). Direkt darunter befindet sich eine lockere Bindegewebsschicht (Lamina propria superficialis), auch Reinke-Raum genannt. Durch diese Schicht kann das Epithel gegenüber den unterhalb des Reinke-Raumes liegenden Schichten verschoben werden. In der Stroboskopie kann dies durch wellenförmige Bewegungen der Stimmlippen-Oberflächen (Randkantenverschiebung) beobachtet werden. Unterhalb des Reinke-Raumes liegen die Lamina propria media und profunda, welche auch als Ligamentum vocale zusammengefasst werden können und schließlich der M. vocalis.

Abb. 3.3:Anatomische Struktur der Stimmlippen nach Hirano (1974) mit Schichtung nach dem Body-Cover Modell: schwarz: Cover, grau: Ligament oder Transition und hell: Body durch Echternach (Echternach, 2010)

Die Stimmlippen können sich in Respirationsstellung oder Phonationsstellung befinden. Erstere dient der Atmung, letztere der Stimmproduktion (Abb. 3.4).

Oberhalb der Stimmlippen befinden sich die Taschenfalten (Plicae vestibulares). Diese dienen hauptsächlich dem Räuspern und damit der Reinigung des Larynx. Ihre Funktion bei der normalen Stimmgebung ist bislang wissenschaftlich noch unzureichend verstanden. Bei Ausfall der Tonproduktion auf Stimmlippenebene, kann durch Zusammenpressen der Taschenfalten eine Ersatzstimme (Taschenfaltenstimme) gebildet werden. Diese klingt in der Regel in der Tonhöhe tief und zudem rau.

Abb. 3.4:Die Laryngoskopie zeigt oben Stimmlippen in Respirationsstellung und unten in Phonationsstellung. Mit * gekennzeichnet ist jeweils der Proc. vocalis, mit a die Aryhöcker und mit R die rechte Seite.

Anatomie der Artikulationsorgane

Maßgeblich für die Artikulation sind die sogenannten Artikulatoren, zu denen Gaumen, Zunge, Lippen, Zäpfchen, Zähne und Alveolarfortsatz gehören. Beim Gaumen wird zwischen hartem (Palatum) und weichem Gaumen (Velum) unterschieden. Letzterer mündet in das Zäpfchen und ist durch die Verbindung mit drei verschiedenen Muskeln (M. tensor veli palatini, M. levator veli palatini, M. palatopharyngeus) beweglich. Diese Gaumenmuskeln beeinflussen die Spannung und Hebung des weichen Gaumens. Dadurch beeinflussen sie auch den velopharyngealen Abschluss, bei dem der Nasenrachenraum vom Mundrachenraum abgetrennt wird, mit. Sie nehmen sowohl bei der Artikulation als auch beim Schluckakt eine wichtige Rolle ein. Bei Hebung des Gaumensegels erfolgt die akustische Modifikation der Laute ohne Beteiligung nasaler Räume, bei Senkung des Gaumensegels nimmt der akustisch nasale Anteil bei der Lautproduktion zu. Auch die Zunge besteht aus verschiedenen Muskeln (M. longitudinalis superior und inferior, M. verticalis linguae, M. transversus linguae, M. chondroglossus, M. genioglossus, M. hyoglossus, M. palatoglossus, M. styloglossus) und ist somit beweglich. Die Lippen werden durch den M. orbicularis oris bewegt und nehmen bei der Artikulation eine zentrale Rolle ein.

Es können fünf verschiedene Artikulationszonen zur Bildung verschiedener Konsonanten unterschieden werden:

Zone 1: Lippen (Beispiel: /b/, /p/)

Zone 2: Zungenspitze/Schneidezähne (Beispiel: /t/, /d/)

Zone 3: Zunge/weicher bzw. harter Gaumen (Beispiel: /g/, /k/)

Zone 4: Zungenwurzel/Rachenwand (Beispiel: /ħ⁠/)

Zone 5: Kehlkopf (Beispiel: /h/)

Physiologie

Bei der menschlichen Stimme handelt es sich um einen Schall. Als Schall wird eine sich durch ein Medium ausbreitende Schwingung bezeichnet, die im Falle der Stimme durch die Stauchung von Luftmolekülen entsteht. Anhand der Periodendauer einer Schwingung kann die Frequenz angegeben werden: für die Anzahl der Schwingungen pro Sekunde wird die Maßeinheit Hertz (Hz) verwendet. Je höher die Frequenz ist, desto höher wird der Ton wahrgenommen. Eine weitere wichtige Messgröße ist der Schalldruckpegel, welcher in Dezibel (dB) die Lautstärke einer Stimme angibt. Mit Hilfe eines Mikrofons kann der Schalldruckpegel bestimmt werden. Beim Sprechen werden üblicherweise Werte um die 60 dB erreicht. Der Bereich vom tiefstmöglichen bis zum höchstmöglichen Ton wird Stimmumfang genannt. Der Stimmumfang wird in Hertz oder in musikalischen Tonstufen angegeben.

Zur Erzeugung der menschlichen Stimme (Phonation) sind drei Komponenten notwendig: die Atmung, die Stimmlippenschwingung und die Formung des Klangs im Vokaltrakt. Im Bereich der Klangformung bezeichnet die Artikulation die Produktion der Sprachlaute, d. h. der Vokale und Konsonanten. Wichtig für den Erwerb der Sprache ist ein adäquates Hörvermögen während der Kindheit. Daher sollte das Hörvermögen vor einer logopädischen oder sprachheilpädagogischen Therapie immer überprüft werden.

Atmung

Bei der Atmung wird ein Luftstrom in die bzw. aus der Lunge heraus erzeugt. Beim Einatmen wird in der Lunge durch Anspannung der Einatmungsmuskulatur ein Unterdruck erzeugt. Hierdurch folgt die Luft dem Druckgefälle in die Lunge hinein. Das Ausatmen erfolgt durch die Entspannung der für die Einatmung zuständigen Muskulatur (z. B. des Zwerchfelles, der äußeren Zwischenrippenmuskulatur) bis zur Atemruhelage, in der die Kräfte, die die Lunge zusammenschrumpfen lassen würden, und diejenigen, die die Lunge im Brustraum aufspannen, im Gleichgewicht sind. Durch die elastischen Rückschnellkräfte des Lungengewebes kann die Luft ohne Arbeit wieder entweichen. Die Rumpfmuskulatur und innere Zwischenrippenmuskulatur kann dies durch Arbeit verstärken. Es ist eine sehr feine Abstimmung des Atemstroms – auch unter Hinzunahme eigentlich einatmender Muskeln als Bremse der Ausatmung (z. B. Zwerchfell, äußere Zwischenrippenmuskulatur) – in der Ausatmung möglich.

Stimmerzeugung

Während der Ausatmung entsteht ein Luftfluss, der aus der Lunge in Richtung Mund fließt. Dieser Luftfluss kann durch das Zusammenführen der Stimmlippen unterbrochen werden. Hierdurch erhöht sich der Druck unterhalb der Stimmlippen (subglottischer Druck). Übersteigt der subglottische Druck den Druck oberhalb der Stimmlippen (supraglottischer Druck), kommt es zu einer Öffnung der Stimmlippen mit erneutem Luftfluss entlang des Druckgefälles. Dieser Luftfluss wird durch den Stimmlippenschluss im Rahmen der Stimmlippenschwingung periodisch unterbrochen, wodurch Luftpulse entstehen, die Schallwellen generieren.

Die genauen Mechanismen des Stimmlippenschlusses während der Stimmlippenschwingung sind bis heute nicht abschließend verstanden. Es scheint, dass Druckänderungen auf Ebene des Raums zwischen den Stimmlippen (Glottis) durch divergente und konvergente Konfigurationsänderungen der Stimmlippen, Unterdruckphänomene (Bernoulli-Gesetz) und Rückkopplungen des Vokaltraktes sowie myoelastische Effekte eine Rolle spielen. Die myoelastischen Effekte besagen hierbei, dass sich die vom Luftstrom komprimierten Stimmlippengewebe wie eine Sprungfeder zurück in die Ausgangsposition drücken.

Die entstehenden Schallwellen ergeben das Stimmquellspektrum. Dieses besteht aus der Grundfrequenz