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Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste E-Book

Julia von Staden

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Beschreibung

Die Konflikte um das Großprojekt »Stuttgart 21« verdeutlichen exemplarisch, wie Protestbewegungen das postdemokratische Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft herausfordern. Bürgerbeteiligung und Kostentransparenz sind seither nahezu obligatorisch, dabei hat die Bewegung gegen »S21« ihr eigentliches Ziel, das Bahn- und Immobilienprojekt zu stoppen, verfehlt, trotz scheinbar positiver Ausgangslage. Anhand von Schlüsselereignissen im Konflikt um das Großprojekt rekonstruiert Julia von Staden die Dynamiken und Diskurse dieser sozialen Bewegung. Diese Untersuchung stellt in ihrer Art eine Neuheit in der Protest- und Bewegungsforschung dar und ist gleichzeitig ein Lehrstück für andere soziale Bewegungen.

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Julia von Staden, geb. 1981, promovierte am Otto-Suhr-Institut Berlin und an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Bewegungen, Konstruktivismus, Kritische Theorie und die objektive Hermeneutik sowie EU- und UN-Institutionen. In Stuttgart arbeitet die Soziologin als Geschäftsführerin einer zivilgesellschaftlichen Organisation.

Julia von Staden

Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste

Soziale Bewegungen in Zeiten der Postdemokratie

D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

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Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld

© Julia von Staden

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5158-4

PDF-ISBN 978-3-8394-5158-8

EPUB-ISBN 978-3-7328-5158-4

https://doi.org/10.14361/9783839451588

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

1.Einleitung

1.1Der Protest gegen S21 im Spannungsfeld neoliberaler Interessen und unausgeschöpfter Durchsetzungspotenziale

1.2Einführung in die Themenstellung: Protestdynamiken und Aushandlungsprozesse im Konflikt um das Großprojekt S21

1.2.1Einordnende Begriffserklärung

1.2.2Forschungsstand zur Protestbewegung gegen S21: Motive und Zusammensetzung der Bewegung als Schwerpunkt der bisherigen Untersuchungen

1.2.3Bearbeitungsansatz und Fragestellung

2.Theoretische Fundierung

2.1Paradigmen der Bewegungsforschung: Zweckdienlichkeit und Grenzen

2.1.1Ressourcenmobilisierung

2.1.2Kollektive Identität

2.1.3Framing-Ansatz

2.1.4Politische Gelegenheitsstrukturen und Dynamiken

2.1.5Ergänzungsnotwendigkeit herkömmlicher Ansätze: Protestbewegungen in Zeiten der Postdemokratie

2.2Die Herausforderung der neoliberalen Wirtschaftsordnung durch Protestbewegungen

2.2.1Postdemokratie als Dauerkrise der demokratischen Politik bei Colin Crouch

2.2.2Veränderungsmöglichkeiten hegemonialer Verhältnisse bei Chantal Mouffe

2.3Mechanismen zur Festigung hegemonialer Ordnung

2.3.1Repressionsmaßnahmen zur Herrschaftssicherung

2.3.2Legitimation durch Verfahren als Herrschaftsinstrument bei Niklas Luhmann

2.3.3Problematiken direktdemokratischer Entscheidungsverfahren

2.4Mehrheitsentscheidungen und ziviler Ungehorsam

2.4.1Kritische Würdigung von Mehrheitsentscheidungen als Instrumente zur Entscheidungsfindung

2.4.2Entscheidungen zulasten von Minderheiten: Korrekturmöglichkeiten durch zivilen Ungehorsam und Massenproteste

3.Methodologische Konzeptualisierung und Operationalisierung

3.1Forschungsprogramm, Gütekriterien und Datenquellen

3.1.1Das Forschungsprogramm als Komplementaritätsmodell: Ergänzende Verwendung interpretativer Policy-Analyse, quantitativer Analyse und der Mehrebenenanalyse anhand des akteurszentrierten Institutionalismus

3.1.2Gütekriterien qualitativer Forschung als konzeptionelle Untersuchungsbasis

3.1.3Datenquellen: Feldforschung als Schwerpunkt der Materialerhebung für eine Politikfeld-Analyse des Konflikts um das Großprojekt S21

3.2Untersuchungsetappen der Schlüsselereignisse: Ergebnisanreicherung über vier Forschungsphasen

3.2.1Forschungsphase 1: Teilnehmende Beobachtung und erste Arbeitshypothesen

3.2.2Forschungsphase 2: Mehrfache peer-checks zur Validierung der Zwischenergebnisse

3.2.3Forschungsphase 3: Deutungspraktiken der Protestbewegung und weiterer Akteurinnen und Akteure im Politikfeld

3.2.4Forschungsphase 4: Ergänzende Auswertung der Forschungsergebnisse

4.Ausgangslage und Beginn der Massenproteste gegen Stuttgart 21

4.1Adressaten und Rahmenbedingungen des Protests

4.1.1Interessenüberschneidungen der S21-Projektbetreibenden und der Wirtschaftslobby

4.1.2Die eindeutige Positionierung Stuttgarter Medien für das Großprojekt S21

4.1.3Stuttgart 21 und die Parteien im Spiegel des öffentlichen Meinungsbildes

4.2Fraktionen der Protestbewegung gegen S21: institutionelle Organisationen und Protestbasis

4.2.1Diversitätsstärke der Protestgruppen und ihrer Aktionsfelder

4.2.2Entscheidungsstrukturen zwischen Partei-Avantgarde und Basisdemokratie

4.2.3Parteien und Verbände auf der Bühne der Protestbewegung: Politische Einflussnahme oder praktikable Politikbeeinflussung?

4.2.4Identitäten und Ziele der Protestbewegung gegen S21

4.3Massentaugliche Proteststrategie und Aktionsrepertoire

4.3.1Niederschwellige Protestaktionen: Briefaktionen, Druck auf beteiligte Firmen und ›Schwabenstreich‹

4.3.2Erfolgreiche Mobilisierungsstrategie in der Anfangsphase: Aktionstrainings, ›Parkschützer-Alarm‹ und Eventisierung der Massenproteste

5.Eskalation am ›Schwarzen Donnerstag‹

5.1Konfliktlesarten der S21-Projektbetreibenden: ›Zukunftsfähigkeit Deutschlands‹ und Feindschaftsrhetorik deuten auf anstehende Repressionen hin

5.2Aktionsvorbereitungen der Protestbewegung auf ihre Bewährungsprobe

5.2.1Protestziel ›Verteidigung‹ der Bäume im Stuttgarter Schlossgarten: Identifikationssymbol, Eigentumsanspruch der Protestbewegung und Grundlage ihrer Kompromissunwilligkeit

5.2.2Zurückhaltende Mobilisierungsbestrebungen und Einschwören auf Gewaltfreiheit in der unmittelbaren Vorbereitungsphase auf die Baumfällungen

5.3Der ›Schwarze Donnerstag‹: Höhepunkt der Aktionen und Eskalation des Konflikts

5.3.1Ablauf der Protestaktionen und des Polizeieinsatzes am 30. September 2010: Demonstrierende ohne Proteststrategie konfrontiert mit unerwartet schweren Repressionen

5.3.2Verspätung eines EBA-Schreibens verhindert Chance zu alternativem Konfliktverlauf und Stopp der Baumfällungen

5.3.3Selbst-Viktimisierung und Kanalisierung der Empörung – Polizeigewalt und Landtagswahl im Fokus der Aktionsinterpretationen der Protestbewegung

5.3.4Konfliktlesart der Landesregierung erzielt keine Vorherrschaft

5.3.5Positive mediale Resonanz auf die Viktimisierungslesart der Protestbewegung

Exkurs: Aufarbeitung des Polizeieinsatzes

6.Das Schlichtungsverfahren

6.1Der Weg zur Schlichtung: Parteipolitik dominiert Protestbewegung

6.1.1Strategische Konfliktverschiebung auf die parteipolitische Ebene

6.1.2Die parteipolitische Ebene als maßgebliche Entscheidungstragende der Proteststrategie

6.2Preisgabe der eigenen Handlungsmacht der Protestbewegung: Prämissen des Schlichters als unwidersprochene Verfahrensregeln

6.2.1Dokumentation und Teilnehmende der Schlichtungsgespräche: Parteienhintergrund herrscht vor

6.2.2Semantische Feinheiten: Schlichtung vs. Faktencheck

6.2.3Verkanntes Risiko der Konfliktbefriedung oder: das Hoffen der Protestbewegung auf die Kraft der besseren Argumente

6.3Ritualisierte Motive der Schlichtung: Friedenspflicht und Fachwissen

6.3.1Symbolische Friedenspflicht: Verhandlungsbereitschaft der S21-Befürwortenden vs. Durchsetzungskraft der S21-Gegnerschaft

6.3.2Die vermeintliche Kernkompetenz des Fachwissens der S21-Gegnerschaft

6.3.3Medienecho während Schlichtungsgespräche: Friedensverhandlungen und das ›Fachchinesisch‹ der S21-Gegnerschaft

6.4Die Proteststrategie und interne Kontroversen während des Schlichtungsverfahrens

6.4.1Selbstauferlegte Aushöhlung politischer Handlungsmacht der Protestbewegung: ›Wir sind nicht politisch‹

6.4.2Interne Differenzen der Protestbewegung verschärfen sich – Konflikt mit der Zeltstadt

6.4.3Unzulänglichkeiten der Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Protestbewegung als Hindernis der Basisaktivistinnen und -aktivisten

6.5Ergebnisse und Auswirkungen des Schlichtungsverfahrens

6.5.1Schlichterspruch bestätigt die Verfahrenslogik

6.5.2Demobilisierung und Umfragetief zum Abschluss der Schlichtung

6.5.3Unterlassene Auseinandersetzung mit Herrschaftslogiken und politische Unerfahrenheit: Hintergründe in der rückblickenden Bewertung des Schlichtungsverfahrens

7.Überhöhtes Vertrauen der Protestbewegung in eine neue Landesregierung

7.1Der Konflikt um S21 im Spiegel der Wahlkampfstrategien

7.1.1Mäßigung und parteipolitische Zielverfolgung als Wahlkampfstrategie der Protestbewegung

7.1.2Dialog, Transparenz und Partizipation als letzter Versuch der bisherigen Landesregierung

7.2Veränderung der Konfliktdynamiken nach der Landtagswahl

7.2.1Neue Zerwürfnisdynamik innerhalb der Protestbewegung nach der Wahl

7.2.2Paradoxon nach der Wahl: Vertretung der Protestbewegung innerhalb der Landesregierung?

7.2.3Der Einfluss der DB AG auf die weitere Konfliktdynamik nach der Landtagswahl

7.3Strategische Defizite der Protestbewegung in der neuen Konfliktkonstellation

7.3.1Weitere Fehleinschätzung der Prämissen für Mobilisierungserfolge bei Massenaktionen des zivilen Ungehorsams

7.3.2Verkannte Rahmenbedingen: Mehrheit für Stuttgart 21 bewirkt keinen Strategiewandel

7.3.3Der Einfluss einer Besetzungsaktion auf die öffentliche Wahrnehmung der Protestbewegung – partieller Imagewandel vom friedlichen Protest zum gewalttätigen Mob

7.3.4Verfahrenszusatz ›Stresstest‹ ermöglicht keinen erneuten Aushandlungsprozess

8.Die Volksabstimmung als konfliktbefriedendes Verfahren

8.1Nachteilige Ausgangslage und Vernachlässigung der Deutungsmacht – strategische Irrtümer der Protestbewegung vor der Volksabstimmung

8.2Uneinheitliche Handlungslogik der neuen Landesregierung reflektiert konträre Haltung zu S21

8.2.1Konflikt um Mischfinanzierung: Vermeintlicher Rechtsbruch als allübliche Praxis

8.2.2Wunderrhetorik und die Macht der Verträge offenbaren Konflikt-Entpolitisierung durch die Grünen

8.2.3Durchsetzungspotenzial der SPD im Sinne neoliberaler Machtverteilung

8.3Fehlende Kostentransparenz und sukzessive Kostensteigerungen als Symptom des neoliberalen Großprojekts

8.4Verstärkte Diversitäten innerhalb der Protestbewegung: Partielle Radikalisierung und widersprüchlicher Umgang mit den Grünen

8.5Die Volksabstimmung über das S-21-Kündigungsgesetz

8.5.1Juristische Grundlage führt zu irreführender Formulierung der Abstimmungsfrage

8.5.2Wahlkampfstrategie der Protestbewegung: Ja zum Ausstieg – Sympathiegewinn mittels der Allgemeinplätze ›Sparsamkeit und Demokratie‹

8.5.3Strategische Trümpfe der Pro-Stuttgart-21-Kampagne: Sechsfaches Budget, Wahlkampfhilfe des Oberbürgermeisters und die vermeintliche Geldverschwendung in Milliardenhöhe

8.6Die Volksabstimmung als postdemokratisches Herrschaftsinstrument

8.6.1Lesarten von Landesregierung und Medien zur Volksabstimmung: Demokratischer Erfolg, Schweigen über ungleiche Ausgangsbedingungen und das scheinbare Ende der Proteste

8.6.2Reaktionen der Bewegung: Protestfortsetzung trotz Entmutigung und Mobilisierungsrückgangs

9.Schlussbetrachtung

9.1Reflexion der Ergebnisse: Der Konflikt um das neoliberale Großprojekt S21 und die Protestbewegung in Zeiten der Postdemokratie

9.1.1Stuttgart 21 als postdemokratischer Herrschaftskonflikt

9.1.2Unterschiedliche Wirkungsweise der Repression und Vernachlässigung des zivilen Ungehorsams

9.1.3Macht der Verfahren vs. emanzipatorischer Aushandlungsprozess

9.1.4Delegierung des Politischen an die Parteienpolitik

9.1.5Undemokratische Entscheidungsstrukturen der Protestbewegung

9.2Implikationen für Theorie und Methodik

9.2.1Ethnographie als entscheidender Bestandteil eines Komplementaritätsmodells: Komplexität aus der Handlungspraxis der Protestbewegung erschließen

9.2.2Bewegungsforschung und hegemoniale Konflikte

9.2.3Gesellschaftliche Kontrollfunktion der sozialen Bewegung

9.3Politische Implikationen und Legitimationsprobleme neuen Typs

Anhang

1Aktionskonsens der Protestbewegung gegen S21

2Gelöbnis auf der Montagsdemonstration gegen S21

3Fragenkatalog – Interviews mit Akteurinnen und Akteuren der Protestbewegung, 2016

4Auszug aus dem Koalitionsvertrag der Landesregierung Baden-Württemberg: Der Wechsel beginnt. Koalitionsvertrag zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNE und SPD Baden-Württemberg, Baden-Württemberg 2011-2016

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

AK Arbeitskreis

APS Aktive Parkschützer

BAA Bei Abriss Aufstand

BG Bezugsgruppe

BT Deutscher Bundestag

BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland

BW Baden-Württemberg

CDU Christlich Demokratische Union Deutschland

DB AG Deutsche Bahn AG

DGB Deutscher Gewerkschaftsbund

EBA Eisenbahn-Bundesamt

GdP Gewerkschaft der Polizei

GWM Grundwassermanagement

IG Interessengemeinschaft

K21 Kopfbahnhof 21

Koko Koordinationskomitee

Lpb Landeszentrale für politische Bildung

NABU Naturschutzbund

POS Political Opportunity Structure

S21 Stuttgart 21

SMI Social Movement Industry

SMO Social Movement Organizations

SMS Social Movement Sector

SOFa Stuttgart Open Fair

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StA Staatsanwaltschaft

SÖS Stuttgart Ökologisch Sozial

Taz Die tageszeitung

VCD Verkehrsclub Deutschland

ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft

VG Verwaltungsgericht

Danksagung

Eine wissenschaftliche Arbeit ist nie das Werk einer einzelnen Person, deshalb ist es jetzt an der Zeit, mich bei allen Menschen zu bedanken, die mich bei der Erstellung meiner Dissertation vielfältig unterstützt haben. Mein Dank gilt zuallererst Herrn Professor Dr. Peter Grottian, meinem Doktorvater, für die wertvolle Unterstützung dieses Forschungsprojekts. Ich habe unsere Dialoge stets als Ermutigung und Motivation empfunden. Die inspirierende Zusammenarbeit mit ihm wird mir immer als bereichernder und konstruktiver Austausch in Erinnerung bleiben. Bei Herrn Professor Dr. Alex Demirovic möchte ich mich ebenfalls bedanken, ohne dessen kompetenten Rat und Unterstützung der Transit vom Otto-Suhr-Institut Berlin zur Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. so einfach sicher nicht möglich gewesen wäre.

Auch meinen Interviewpartnerinnen und -partnern aus der Protestbewegung danke ich recht herzlich für ihre Offenheit und Bereitschaft, ihre Sichtweise und Analyse mit mir zu teilen. Sie haben mir dadurch wichtige Erkenntnisse und Impulse für meine Untersuchung gegeben.

Ganz besonderer Dank gilt all denen, die den gesamten Arbeitsprozess mit fachlichen Ratschlägen und kritischen Diskussionen begleitet und bereichert haben, allen voran meine Mutter, Ingrid von Staden, sowie Dr. Gottfried Weissert. Immer wieder wurde ich auch mit Literaturhinweisen und Datenmaterial von engagierten Weggefährtinnen und -gefährten unterstützt, ihnen allen gilt mein besonderer Dank. Für das Lektorat und die wertvollen Tipps bedanke ich mich herzlich bei Heiko und Tabea.

Mein Dank gilt auch meinen Kolleginnen und Kollegen, besonders dem Vorstand der AnStifter und meinen ehemaligen Kolleginnen im Kinderschutz-Zentrum für ihren Rückhalt und ihr Verständnis.

Mein großer Dank geht schließlich auch an meine Freundinnen und Freunde sowie an meine Familie. Ihr großes Interesse an meiner Forschungsarbeit, ihre unermüdlichen Ratschläge und Anmerkungen haben mich während dieser Zeit motiviert und bestärkt.

Julia von Staden

Frankfurt am Main, März 2020

1.Einleitung

1.1Der Protest gegen S21 im Spannungsfeld neoliberaler Interessen und unausgeschöpfter Durchsetzungspotenziale

Die Protestbewegung gegen das Großprojekt Stuttgart 21 (S21) hat die öffentliche Wahrnehmung von Protestkultur und Bürgerbeteiligung nachhaltig beeinflusst. Seit Ende 2009 ist der Protest gegen das von der Deutschen Bahn (DB) AG initiierte Großprojekt, bei dem der Stuttgarter Kopfbahnhof in einen Tiefbahnhof umgebaut und die dadurch frei werdenden Flächen vermarktet werden sollen, mit den wöchentlichen Montagsdemonstrationen sichtbarer Bestandteils des Stadtlebens. Zu den Hochzeiten des Protests im Jahr 2010 zählte die Protestbewegung mehrere Zehntausende Demonstrierende, die den finanziellen Verlust in Milliardenhöhe und die Zerstörung des Stuttgarter Schlossgartens verhindern wollten. Die Bewegung gegen S21 schien die Mehrheit auf ihrer Seite zu haben und vieles deutete darauf hin, dass es ihr tatsächlich gelingen könnte, Stuttgart 21 zu stoppen. Die Parole ›Oben bleiben!‹ wurde zum identitätsstiftenden Code einer Stadt in Aufbruchstimmung. Doch die Hoffnungen der Protestbewegung wurden fortwährend enttäuscht. Trotz vorteilhafter Voraussetzungen – Sympathien der Bevölkerung, Aufmerksamkeit der Medien, vielseitiges Aktionsrepertoire sowie später eine Regierungsbeteiligung von S21-Gegnern im Landtag von Baden-Württemberg – gelangt es nicht, das Großprojekt S21 zu stoppen.

Die Rahmenbedingungen für das Projekt wurden bereits in den 1990er Jahren ohne Involvierung der Bevölkerung von Bund, Stadt- und Landespolitik mit der damaligen Deutschen Bundesbahn beschlossen. Erst, nachdem ein Architekturwettbewerb zum Stuttgarter Bahnhofsneubau ausgeschrieben wurde, erlangte eine breite Öffentlichkeit in Baden-Württemberg Kenntnis von den Planungen des Milliarden-Projekts. Als im Jahr 2007 ein Bürgerbegehren der Initiative ›Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21‹, mehrerer Umwelt- und Verbraucherverbände und der Partei der Grünen abgelehnt wurde, formierte sich größerer Widerstand und Ende 2009 fand die erste Montagsdemonstration gegen S21 statt (vgl. Schlager 2010: 14-17). Das Bündnis für das Bürgerbegehren bezeichnete sich nun als ›Aktionsbündnis gegen S21‹ und erweiterte seinen Handlungsrahmen um Informationsveranstaltungen und weitere Demonstrationen. Innerhalb der Bevölkerung erreichte der Protest breiten Zuspruch. Besonders der Aspekt, dass für das Projekt Hunderte von Bäumen in den zentralen Parkanlagen Stuttgarts gefällt werden sollten, sorgte für eine starke Identifikation mit dem Protestziel Stuttgart 21 zu stoppen. Eine rapide ansteigende Anzahl von S21-Gegnerinnen und -Gegnern erklärte sich per Online-Bekenntnis zu ›Parkschützern‹1, einige von ihnen bekannten sich hier bereits vor den Massenprotesten zu zivilem Ungehorsam, um so das Großprojekt zu verhindern. Vielfältige Protestgruppen schlossen sich zusammen und organisierten über die wöchentlichen Montagsdemonstrationen hinaus Aktionen und Protestveranstaltungen. Die Protestbewegung gegen S21 war entstanden.

Obwohl Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung immer wieder betonten, dass es ›um mehr als einen Bahnhof‹ gehe, unterschätzten sie jedoch von Anfang an die Vormachtstellung der Projektbefürwortenden. Denn dass gerade Stuttgart 21 beispielhaft für die hegemoniale Logik in postdemokratischen Zeiten angesehen werden könnte, wurde in der Strategie der Protestbewegung größtenteils außer Acht gelassen. Konträr hierzu war die Konfliktverortung durch die S21-Projektbetreibenden. Beispielhaft hierfür steht die Äußerung des damaligen Vorstandsvorsitzenden der DB AG Rüdiger Grube: »Ich sage Ihnen: Wenn Stuttgart 21 nicht kommt, wird in Deutschland wahrscheinlich kein Großprojekt mehr durchzusetzen sein« (Augstein et al. 2010 o. S.). Auch die Bundesregierung verknüpfte die Zukunftsfähigkeit Deutschlands mit dem Großprojekt (Merkel 2010). Wird dieser Logik gefolgt, bedeutete ein Projektaus weitreichende Veränderungen der Vormachtstellung ökonomischer Prinzipien und der hegemonialen Ordnung. Diese Zuspitzung fand allerdings kaum Resonanz innerhalb der Protestbewegung, die auf technische Sach- und Fachfragen, den Schutz der Bäume und die weitläufige Forderung nach ›mehr Demokratie‹ ausgerichtet war. Eine Vormachtstellung ökonomischer Prinzipien und eine neoliberale Gesellschaftsordnung wurden von der Mehrzahl der Aktivistinnen und Aktivisten der Protestbewegung nicht infrage gestellt.

Bei der Entwicklung der Protestbewegung gegen S21 fällt auf, dass insbesondere bei Schlüsselereignissen, wenn der Stopp von S21 möglich erschien, Proteststrategien gewählt wurden, die dem Ziel der Bewegung wenig zuträglich waren. Während der wichtigsten Kristallisationspunkte des Protests – sei es der schwere Polizeieinsatz am sogenannten Schwarzen Donnerstag, die Schlichtungsgespräche zu S21, die Wahl einer grün-geführten Landesregierung oder die Volksabstimmung zum Ausstieg aus der S21-Finanzierung – entfernte sich die Protestbewegung weiter von ihrem Ziel. Innerhalb der Protestbewegung wurde jedes weitere Protestereignis als neue Chance, auf die es zu hoffen galt, interpretiert, die stets in eine Enttäuschung führte. Eine umfassende Selbstreflexion und strategische Anpassung blieben aus. Diese Entwicklung eröffnet den Blick auf wichtige Durchsetzungspotenziale, die von der Protestbewegung offenbar ungenutzt blieben, sowie auf strategische Fehleinschätzungen der maßgeblichen Fraktionen der Bewegung.

1.2Einführung in die Themenstellung: Protestdynamiken und Aushandlungsprozesse im Konflikt um das Großprojekt S21

Obwohl der Protest gegen Stuttgart 21 bundesweit rezipiert und das politische Handeln vielfältig beeinflusst hatte, wurde bisher keine umfassende sozialwissenschaftliche Analyse der Protestbewegung vorgelegt. Aufgrund des Konfliktverlaufs und der Entwicklung des Protests liegt folgender Gedankengang nahe: Um eine möglichst große Offenheit als ›Bürgerinnen- und Bürgerprotest‹ zu erhalten, vermieden die Wortführenden der Protestbewegung eine gesellschaftskritische Einordnung des Projekts S21 und legten stattdessen der Schwerpunkt auf technische Sach- und Fachfragen. Darüber hinaus wurden bei der strategischen Planung wichtige Durchsetzungspotenziale innerhalb des Aktionsrepertoires und des strategischen Vorgehens nicht ausgeschöpft. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte der Umstand bieten, dass insbesondere bei Grundsatzentscheidungen der Bewegung vornehmlich institutionelle Umweltverbände und Parteipolitikerinnen und -politiker die Proteststrategie vorgaben. Diese konnten von dem Zusammenschluss mit der Protestbewegung profitieren: insbesondere die Grünen mit einem faktischen Wahlsieg bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg im Jahr 2011, bei den folgenden Landtagswahlen im Jahr 2016 erreichten sie schließlich die Mehrheit, und ihrem Wahlsieg bei den Stuttgarter Oberbürgermeisterwahlen im Jahr 2013; auch die Verbände konnten am Rande der zahlreichen Demonstrationen gegen S21 regelmäßig um Mitgliedschaften werben. Für die Protestbewegung waren jedoch die strategischen Entscheidungen, die bei Schlüsselereignissen getroffen wurden, mit einer selbst verursachten Schwächung der eigenen Durchsetzungskraft verbunden.

Besonders die Problematik, weshalb Durchsetzungs- und Kompromisspotenziale durch die Bewegung gegen S21 weitgehend nicht ausgeschöpft wurden, ist nicht nur im spezifischen Fall dieser Protestbewegung von Relevanz. Die angestrebte Analyse der Dynamiken des Protests gegen S21 kann darüber hinaus weitere Erkenntnisse über Aushandlungsprozesse bei Großprojekten und gesellschaftlichen Verteilungslogiken erschließen. Einige Aspekte des Protests gegen S21 bieten in ihrer Zuspitzung und Komplexität Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsprojekte.

1.2.1Einordnende Begriffserklärung

Es gibt im Fall von sozialen Bewegungen keine einzelne Definition, die in den Forschungskanon als Standarddefinition eingegangen ist. Vielmehr finden sich zahlreiche Definitionen von sozialer Bewegung und, allgemeiner, Protestgruppen, die sich teils deutlich voneinander unterscheiden (vgl. Opp: 2009: 34-37). Wie sich im Kapitel 2.1 anhand der Paradigmen der Bewegungsforschung zeigen wird, werden auch Erkenntnisse aus Untersuchungen zu gesellschaftlichen Umbrüchen, bis hin zur Französischen Revolution, auf soziale Bewegungen übertragen (vgl. Rule und Tilly 1975). An dieser Stelle soll keine ausführliche Diskussion aller gängigen Definitionen erfolgen. Anzumerken ist allerdings, dass der Protest gegen S21 bei manchen Definitionen nicht unbedingt als soziale Bewegung eingestuft werden würde. Hierzu zählt die Definition von McCarthy und Zald:

»A social movement is a set of opinions and believes in a population which represents preferences for changing some elements of social structure and/or reward distribution of a society.« (McCarthy und Zald 1977: 1217f.)

Um festzustellen, ob die S21-Gegnerschaft im Sinne von McCarthy und Zald als soziale Bewegung gesehen werden können, müsste demnach zunächst geklärt werden, ob sie auch bewusst die Sozialstruktur oder die Einkommensverteilung verändern will. Dies würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nur auf einen Teil der S21-Gegnerschaft zutreffen. Bei anderen Definitionen ist das Ziel eines Wandels der Sozialstruktur kein notwendiges Merkmal sozialer Bewegungen. Hierzu zählt die Netzwerk-Definition von Diani (1992). Hier gelten soziale Bewegungen als:

»[…] a network of informal interactions between a plurality of individuals, groups and/or organizations, engaged in a political or cultural conflict, on the basis of a shared collective identity.« (Diani 1992: 13)

Diese Definition schließt andere politische und kulturelle Konflikte jenseits von Einkommensverteilung und Sozialstruktur mit ein. Die S21-Gegnerschaft kann nach dieser Definition als soziale Bewegung angesehen werden. Allerdings lässt die Definition außer Acht, dass sich innerhalb von sozialen Bewegungen durchaus eine formelle Arbeitsteilung herausbilden kann, die über ein informelles Netzwerk hinausginge und bei der auch (formelle und informelle) Hierarchien denkbar wären. Wird hier »a network of informal« beispielsweise durch ›Gemeinschaft‹ ersetzt, ist die Definition weit genug angelegt, um alle Formen von sozialen Bewegungen zu integrieren. Für die vorliegende Untersuchung bietet sie demnach einen adäquaten Ausgangspunkt.

Eine soziale Bewegung kann sich dabei verschiedener Formen des Protests bedienen. Dazu gehören: Demonstrationen, Streiks, Besetzungen, Kundgebungen, Petitionen oder Flashmobs (vgl. Tarrow 2011: 29). ›Ziviler Ungehorsam‹ ist eine spezielle Protestform, bei der Gesetze bewusst überschritten werden, um so dem Protest besonderen Nachdruck zu verleihen. Der Handlungsrahmen einer sozialen Bewegung ist jedoch nicht auf Protesthandlungen beschränkt und kann gängige Formen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ebenso beinhalten wie Lobbying. Der Handlungsvielfalt sind zunächst keine konkreten Grenzen gesetzt, solange die Handlungen innerhalb der bereits festgestellten Definition sozialer Bewegungen ablaufen.

1.2.2Forschungsstand zur Protestbewegung gegen S21: Motive und Zusammensetzung der Bewegung als Schwerpunkt der bisherigen Untersuchungen

Im bisherigen Fokus der sozialwissenschaftlichen Forschung über die Bewegung gegen Stuttgart 21 standen hauptsächlich die Zusammensetzung und die Motive der S21-Gegnerschaft. Von besonderem Interesse war dabei die Frage, inwiefern es sich um einen Protest der sogenannten ›Wutbürger‹ handelte. Auch die Parteienpräferenz und die Einstellung zu direktdemokratischen Beteiligungsformen wurden in den Untersuchungen aufgeschlüsselt. Die größer angelegten Studien unterscheiden sich methodisch: Einen quantitativen Ansatz verfolgten die Forschendenr vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Rucht et al. 2010) und vom Göttinger Institut für Demokratieforschung (Bebnowski et al. 2011), dabei untersuchten sie das Spannungsfeld zwischen allgemeiner Politikverdrossenheit und bürgerlichem Protest; ein qualitativer Zugang wurde hingegen von Franz Walter et al. (2013) verfolgt. Der Frage nach der Motivation innerhalb der Protestbewegung wurde zudem in weniger umfangreichen Studien untersucht: So wurden Interviews mit Protagonistinnen und Protagonisten aus der Protestbewegung analysiert, zum einen aus der Framing-Perspektive (Dittes et al. 2013) und zum anderen im Sinne der Aktionsforschung in Bezug auf gewaltfreie Aktionen (Schmitz 2012). Darüber hinaus gibt es weitere zeitdiagnostische Ansätze aus verschiedenen Perspektiven, die jedoch keine umfangreichen empirischen Studien darstellen. Beispielsweise wird die Protestbewegung gegen S21 als ›bürgerlicher Protest‹ gegen die eine neo-liberale Kultur interpretiert (Ohme-Reinicke 2012) sowie in ihrer Bedeutung für ›linke Politik‹ umrissen (Schlager 2010).2

1.2.3Bearbeitungsansatz und Fragestellung

Über die Binnenstrukturen, Dynamiken und Diskurse3 der Protestbewegung gegen S21 im Zusammenhang mit dem Protestverlauf gibt es allerdings bisher keine umfassenden Erkenntnisse. Mit der vorliegenden Untersuchung ist es gelungen, anhand eines Komplementaritätsmodells aus ethnographischen und weiteren Methodiken die Bewegung gegen S21 deutlich gehaltvoller ›aus dem Forschungsfeld heraus‹ zu rekonstruieren als es außenstehenden Forschenden bisher möglich gewesen ist. Die Forschungsbestrebungen waren darauf ausgerichtet, dieses umfangreiche Unterfangen auf die ersten und entscheidenden Schlüsselereignisse im Konflikt um S21 zu begrenzen, um so einen größtmöglichen Erkenntnisgewinn zu realisieren. Die tiefen Einblicke und Einsichten über die Heterogenität und die Interessenkonflikte innerhalb einer sozialen Bewegung sind in dieser Art eine Neuheit in der Bewegungsforschung. Die hier gewonnenen Erkenntnisse setzen deshalb auch einen wichtigen Impuls für die weitere Forschung zu sozialen Bewegungen und tragen dazu bei, diese Forschungsrichtung methodisch und theoretisch weiterzuentwickeln.

Die umfangreiche Auseinandersetzung um das Großprojekt Stuttgart 21 ist einer der seltenen Fälle, in denen sich exemplarisch zugespitzt zeigt, wie das etablierte Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft, das sich in der Vormachtstellung ökonomischer Prinzipien zeigt, durch eine Protestbewegung herausgefordert wird. Der Protest gegen das neoliberale Großprojekt bringt die bisherige hegemoniale Ordnung in Legitimationsprobleme neuen Typs. Folgende Forschungsfragen sind bei der vorliegenden Untersuchung von zentraler Bedeutung: Wird die Zuspitzung eines Herrschaftskonflikts von der Bewegung gegen S21 aufgegriffen und richtet sie ihre Proteststrategien entsprechend aus? Werden alle Fraktionen der Bewegung eingebunden, um die Durchsetzungspotenziale für das gemeinsame Ziel, den Stopp von Stuttgart 21, umfassend einzusetzen? Es ist hierbei auch zu überprüfen, ob die Bewegung bei wichtigen Schlüsselereignissen tatsächlich so gehandelt hat, wie es erwartbar gewesen wäre, wenn das gemeinsame Ziel, S21 zu stoppen, an erster Stelle handlungsleitend gewesen wäre. Dabei lassen allein die Fraktionszugehörigkeiten der Bewegung oder Mitgliedschaften in Parteien und Verbänden sicherlich nicht immer auf die tatsächlichen Strategien schließen. Sehr wohl ist aber die strategische Ausrichtung der Protestbewegung über die Lesarten des Konflikts und die vorherrschenden Deutungsmuster zu rekonstruieren. Denn diese geben weitaus deutlicher eine ideologisch-strategische Ausrichtung der Protestbewegung wieder, als es über ein bloßes Nachzeichnen der Binnenstrukturen der Bewegung möglich wäre. Gleichzeitig lassen sich diese Deutungsmuster deutlicher mit den Lesarten des Konflikts auf der Gegenseite, also den Projektbefürwortenden und -betreibenden, kontrastieren. Mit diesen Überlegungen hängt auch die Frage zusammen, weshalb ein von der Protestbewegung selbstbestimmter Aushandlungsprozess nicht realisiert werden konnte. Profitierenden der Auseinandersetzung um S21 werden dabei ebenso zu identifizieren sein wie die Entscheidungsprinzipien für die strategische Ausrichtung des Protestes mit der Konzentration auf technische Sach- und Fachfragen statt Gesellschaftskritik.

Wenn davon ausgegangen wird, dass Chancen und Potenziale von der Bewegung an gewissen Weggabelungen nicht wahrgenommen wurden, führte jede weitere strategische Entscheidung dazu, dass die folgenden Möglichkeiten zunehmend eingeschränkt wurden. Die letzte große Weggabelung stellte dabei die Volksabstimmung dar. Bis hier hin, also bis Ende 2011, wird aus forschungspragmatischer Sicht mit den meisten Erkenntnissen zu rechnen sein. Die darauffolgenden Entwicklungen waren so stark durch vorangegangene Entscheidungen geprägt, dass sie nicht notwendigerweise untersucht werden müssen, um die Entwicklung der Protestbewegung gegen S21 zu verstehen. Folglich werden die Kristallisationspunkte des Protests der Jahre 2010 und 2011 miteinander in Verbindung gesetzt und sollen den Schwerpunkt der empirischen Untersuchung bilden.

1Die Verwendung der Bezeichnung ›Parkschützer‹ ist nur als generisches Maskulinum üblich.

2Insgesamt soll damit eine Auswahl einzelner, relevanter Studien zu S21 gegeben werden, um die allgemeine Ausrichtung der bisherigen Analysen der Protestbewegung gegen S21 darzulegen. Auf weitere einzelne Ergebnisse wird zudem in der empirischen Untersuchung eingegangen werden (vgl. Kapitel 4 bis 8).

3Diese Untersuchung befasst sich mit den einzelnen Aspekten des Diskurses, der dem Konflikt um S21 zugrunde liegt. Sie hat nicht zum Ziel, sich in eine konkrete Tradition der Diskurstheorie einzureihen. In erster Linie steht das bereits dargelegte Forschungsinteresse im Mittelpunkt, Traditionsdiskussionen sind hier nachrangig. In der politikwissenschaftlichen Diskursanalyse hat sich besonders die Diskurs-Definition von Hajer etabliert: »Discourse is here defined as a specific ensemble of ideas, concepts, and categorizations that are produced, reproduced, and transformed in a particular set of practices and through which meaning is given to physical and social realities« (Hajer 1995: 44). Auch für die vorliegende Untersuchung erscheint ebendiese Definition ertragreich, da hiermit der Diskursbegriff im Sinne des Forschungsinteresses hinreichend umschrieben ist. Obgleich im Folgenden auch die Theorie Chantal Mouffes miteinbezogen wird und einen Teil der theoretischen Basis ausmacht, soll hier explizit nicht auf ihre mit Ernesto Laclau aufgestellte Definition von Diskurs zurückgegriffen werden. Denn diese kommt insbesondere in ihren Auswirkungen auf den Gesellschaftsbegriff nicht ohne eine komplexe Erläuterung aus (Laclau und Mouffe 2012: 141-152) und ist aus forschungspragmatischer Sicht für diese Untersuchung weniger ertragreich als die erstgenannte.

2.Theoretische Fundierung

Paradigmen-Pluralität als notwendige Basis für ein zeitaktuelles Analysekonzept

Der Forschungsgegenstand der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 ist thematisch der Forschung zu sozialen Bewegungen zuzuordnen. Gleichzeitig kann das Großprojekt S21 beispielhaft für ein neoliberales Projekt angesehen werden, bei dem Politik und Wirtschaftsinteressen miteinander verknüpft sind. Deshalb sollten bei der Analyse der Protestbewegung gegen S21 auch Fragen der Postdemokratie und neoliberalen Wirtschaftsordnung in die theoretische Basis miteinfließen, ebenso wie Mechanismen und Verfahren zur Herrschaftssicherung. Ergänzend zur Diskussion über Mehrheitsentscheidungen werden außerdem Durchsetzungspotenziale und strategische Möglichkeiten von Protestbewegungen aufgezeigt. Diese komplexen Problematiken werden innerhalb der klassischen Ansätze der Bewegungsforschung insgesamt nicht hinreichend genug verbunden. Deshalb wird nach einem Überblick über die gängigen Paradigmen der Bewegungsforschung im Folgenden die Notwendigkeit eines eigenständigen Analysekonzepts dargelegt, um die Spezifik der Protestbewegung gegen S21 umfassend zu rekonstruieren. Der multitheoretische Ansatz einer paradigmatischen Pluralität ist in dem vorliegenden Fall kein Manko, sondern eine erfolgreiche Puzzle-Strategie, um die Konfliktlesarten und Durchsetzungspotenziale der Protestbewegung gegen S21 umfassend sinnverstehend zu erklären und diese mit der vorherrschenden Gesellschaftsordnung analytisch in Verbindung zu setzen.

2.1Paradigmen der Bewegungsforschung: Zweckdienlichkeit und Grenzen

Innerhalb der Forschungstradition zu sozialen Bewegungen werden insbesondere Ressourcenmobilisierung, Framing, politische Gelegenheitsstrukturen und kollektive Identitäten als paradigmatische Ansätze angewandt. Diese sollen im Folgenden veranschaulicht werden, um anschließend aufzuzeigen, wie sich die vorliegende Untersuchung in Relation zu diesen Paradigmen verortet. Dabei ist hervorzuheben, dass die unterschiedlichen Ansätze der Bewegungsforschung in ihren ersten Formulierungen und in der Anwendung meist nicht auf soziale Bewegungen beschränkt sind: Methodisch und theoretisch tritt eine Unterscheidung zwischen Protesten, sozialen Bewegungen sowie gesellschaftlichen Umbrüchen und Revolutionen in den Hintergrund. Implizit oder explizit wird in der Literatur der Bewegungsforschung zudem auf zwei zuvor formulierte theoretische Grundlagen Bezug genommen: Collective Behavior, also Prinzipien des kollektiven Verhaltens (vgl. Blumer 1971), und den Ansatz zu Relative Deprivation (Runciman 1966), bei dem die subjektive Situation eines Individuums im Vergleich zu dessen Bezugsrahmen als Mangelzustand empfunden wird, wodurch Protest ursächlich erklärt werden soll.

2.1.1Ressourcenmobilisierung

Zu den ältesten Ansätzen zur Untersuchung von Protesten und sozialen Bewegungen gehört die Frage nach der Ressourcenmobilisierung. Hier wird ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Zustandekommen einer Bewegung auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, den verschiedenen Ressourcen (Zeit, Geld, Fertigkeiten, Personal) sowie der Fähigkeit der Bewegung, diese zu nutzen hergestellt (vgl. McCarthy/Zald 1977 und Staggenborg 1988). Bei diesem Ansatz geht es jedoch um mehr als die Folgekette: Mehr Ressourcen führen zu größeren Bewegungen. In ihrem Aufsatz ›Resource Mobilization and Social Movements: A Partial Theory‹ systematisieren John D. McCarthy und Mayer N. Zald (1977) zusätzlich die Einbindungsprozesse unterschiedlicher Individuen und Organisationen in die Bewegung und geben damit ein konkretes, teils starres Analysegerüst vor.1 Damit erweitern sie die Theorie über kollektives Handeln von Mancur Olson, bei der insbesondere ›selektive Anreize‹ eine bindende Funktion für kollektives Handeln zugeschrieben wird (2004: 50). Der Wettbewerb unterschiedlicher ›Social Movement Organisations‹ um Ressourcen soll mittels eines einfachen ökonomischen Modells erklärt werden; den unterschiedlichen Rollentragendenägern wird dabei jeweils ein anderer Einsatz von Ressourcen zugeschrieben. Zur damaligen Zeit, Ende der 1970er Jahre, stellte dieses Paradigma einen wichtigen Ansatz dar, um systematisch soziale Bewegungen zu analysieren. Die Unterscheidung zwischen Kausalität und Korrelation bleibt hier jedoch problematisch – durch die starren Analyseeinheiten können nur Regelfälle in Momentaufnahmen untersucht werden und keine komplexen Dynamiken. Außerdem muss rationales Handeln hier als Grundlage jegliches Handlungspraxis angenommen werden, was auch als problematische Grundannahme angesehen werden kann. Zwar kommen in der vorliegenden Untersuchung auch Mobilisierungsproblematiken zum Tragen. Doch um weitere Aspekte der Bewegung gegen S21 und die eingangs dargelegte Konfliktproblematik zu beleuchten, greift dieser Ansatz zu kurz.

2.1.2Kollektive Identität

Aus einem sozialpsychologischen Blickwinkel widmet sich die Theorie der kollektiven Identität (vgl. Melucci 1988; Rucht 1995; Polletta/Jasper 2001 sowie Diani 2000) den sozialen Bewegungen, um deren Zusammenhalt zu erklären. Alberto Melucci stellt in ›Getting Involved: Identity and Mobilization in Social Movements‹ (1988) grundsätzlich fest, dass kollektive Handlungen ein Produkt verschiedener sozialer Prozesse sind, über die sich kollektive Akteurinnen und Akteure konstituieren. Ihr Protest kann demnach nicht ausschließlich über strukturelle Faktoren erklärt werden. Eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze zur kollektiven Identität ist, dass diese einerseits über gemeinsame Handlungspraxis entstehen soll, gleichzeitig aber auch als Ursache für gemeinsamen Protest gesehen wird. Nichtsdestotrotz ist gerade der Zusammenhalt innerhalb einer sozialen Bewegung, der über die kollektive Identität gestärkt wird, ein wichtiger Aspekt, um die Anziehungskraft und den Fortbestand einer Bewegung zu erklären. Im Unterschied zu den anderen Forschungsparadigmen der Literatur zu sozialen Bewegungen ist die Analyse kollektiver Identitäten darüber hinaus Gegenstand anderer Forschungsrichtungen. Im Zuge dieser Untersuchung werden kollektive Identitäten partiell von Bedeutung sein.

2.1.3Framing-Ansatz

Auch mit dem Ansatz des Framings werden sozialpsychologische und zudem strukturelle Aspekte in die Forschung zu sozialen Bewegungen aufgenommen. Im Zentrum des Interesses steht hier der Prozess der Einbettung von Konfliktthemen und Ereignissen in subjektive Deutungsrahmen bzw. soziale Konzepte (i.e. frames). Die Grundlagen dieses Paradigmas finden sich in Goffmans ›Rahmen-Analyse‹ (1980), doch divergieren hier die Begrifflichkeiten.2 Dabei geht es Goffman um die Organisation von Erfahrungen, ausgehend von der Wahrnehmung eines einzelnen Handelnden und nicht um die Erklärung gesellschaftlicher Organisation oder Sozialstruktur (ebd.: 22). Das Framing nach Goffman ist eine Soziologie der Alltagserfahrung, es geht also darum, die die Regelstrukturen bestimmenden und kulturell vorgegebenen Kontexte zu identifizieren, um als Akteurin oder Akteur den Sinn alltäglichen Verhaltens zu verstehen und um daraus eigene Handlungsoptionen abzuleiten. Die institutionalisierte Handlungspraxis als konstruierte Wirklichkeit ist also bereits bei Goffman im Rahmenkonzept angelegt. Beim Framing in der Literatur zu sozialen Bewegungen hingegen geht es um den »Kampf um die Produktion, Mobilisierung und Gegenmobilisierung von Ideen und Bedeutungen« (Münch 2016: 79f.). Es geht dabei also darum, zu untersuchen, wie soziale Bewegungen das ›Framing‹ bewusst einsetzen, um sich zu konstituieren und die eigenen Ziele zu erreichen. David Snow, Robert Benford und weitere Autoren (Snow et al. 1986) entwickeln in ›Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation‹ vier Prozesse der intentionalen Rahmenausrichtung3 als Mobilisierungs-, Partizipations- und damit Erfolgsbedingungen sozialer Bewegungen. Hier werden sozialpsychologische Gesichtspunkte mit der Theorie der Ressourcenmobilisierung verbunden. Auch in der Medientheorie wird der Begriff des Framings eingesetzt, um Prinzipien der Massenkommunikation zu erklären (vgl. Entman 1993), was wiederum näher an der begrifflichen Verwendung innerhalb der Forschung zu sozialen Bewegungen ist. Die unterschiedlichen Zugänge zum Framing erschweren eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, da das Framing je nach Forschungsdisziplin immer auch eine etwas andere Bedeutung hat, die sich meist von Goffmans ursprünglichen Ideen in der Ausrichtung unterscheidet. Allerdings soll und kann hier nur kurz auf diese Problematik verwiesen werden.4 Problematisch ist beim Framing-Ansatz, dass hier ein Herausarbeiten konkurrierender Konfliktlesarten innerhalb der Protestbewegung erschwert ist, besonders, da nicht jede Lesart äquivalent als Frame gesehen werden kann. Denn das Ziel eines intentionalen Framings ist schließlich die erfolgreiche Mobilisierung, wohingegen beim Konflikt um S21 zu festzustellen sein wird, dass von der Bewegung bevorzugte Konfliktlesarten häufig auch gegenläufig zu einer erfolgreichen Mobilisierungsstrategie der Protestbewegung waren. Wegen dieser Unklarheiten war ein klassischer Framing-Ansatz für die vorliegende Untersuchung nicht sinnvoll. Dennoch kommen auch hier Deutungsmuster und Konfliktlesarten zur Geltung, allerdings vornehmlich aus einer ethnographischen Perspektive.

2.1.4Politische Gelegenheitsstrukturen und Dynamiken

Eine weitere Herangehensweise innerhalb der Bewegungsforschung ist die Untersuchung von politischen Gelegenheitsstrukturen, Political Opportunity Structure (POS) bzw. Political Process Theory, bei der die strukturellen Bedingungen in einem politischen System in Verbindung mit dem Mobilisierungserfolg von sozialen Bewegungen gesetzt werden. Hier wird ein Zusammenhang zwischen Umweltbedingungen (unter anderem Offenheit oder Geschlossenheit des politischen Systems, sympathisierende Eliten, Gegenbewegungen) und dem Erfolg oder Misserfolg einer sozialen Bewegung hergestellt. Die Theorie war eine entscheidende Abgrenzung zu den früheren, klassischen Theorien, die Aufstand und Protest psychologisch zu erklären versuchten. Mit seiner Studie ›Political Process and the Development of Black Insurgency 1930-1970‹ entwickelt Douglas McAdam (1999) – in Verbindung mit der Theorie der Ressourcenmobilisierung – die Grundlage zum Political Process Model. Der Begriff Political Process stammt allerdings von Rule und Tilly (1975); der Ansatz wurde auch von Tarrow (2011) weiterverfolgt.5 McAdam (1999) argumentiert, dass es sich bei sozialen Bewegungen um ein politisches und kein psychologisches Phänomen handelt. Es geht ihm also darum, nachzuweisen, dass der Erfolg und das Aufkommen von Protest nicht von bewegungsinternen Faktoren oder devianten Tendenzen der Aktivistinnen und Aktivisten abhängen. Vielmehr bringen Interaktionsprozesse von Gruppen (in diesem Fall sind Gruppen ›Forderungstragende‹) mit ihrem weiteren soziopolitischen Umfeld vermehrten Protest hervor. Da auch dieses Paradigma Leerstellen aufwies und dem erklärenden Ansatz nicht hinlänglich gerecht wurde, haben McAdam, Tarrow und Tilly in ihrer Untersuchung der ›Dynamics of Contention‹ (2001) eine Zusammenführung verschiedener Ansätze entworfen. Sie identifizieren dabei Mechanismen, die letztendlich zu politischen Möglichkeiten (POS) führen.6 Dabei ist die größte Problematik dieses Ansatzes, möglicherweise zu stark im Deskriptiven zu verharren. Grundsätzlich können Dynamiken eines Konfliktes tatsächlich wichtige Protestverläufe verständlich machen und Schlussfolgerungen über Durchsetzungspotenziale ermöglichen. Auch für das vorliegende Untersuchungsinteresse bietet es sich an, die Konfliktdynamiken in die Analyse mitaufzunehmen. Doch es ist notwendig, die Forschungsmethodik zu erweitern, damit einerseits keine falschen Kausalitätsketten konstruiert werden und andererseits über eine bloße Deskription hinausgegangen wird. Es empfiehlt sich daher, die Analyse mittels eines Methodenmix zu stärken.

2.1.5Ergänzungsnotwendigkeit herkömmlicher Ansätze: Protestbewegungen in Zeiten der Postdemokratie

Ressourcenmobilisierung, Framing und politische Gelegenheitsstrukturen – und mit Einschränkung auch die kollektive Identität – gelten als grundsätzliche Paradigmen, um soziale Bewegungen zu verstehen (vgl. Münch 2016: 79). Doch hat es sich als schwer möglich herausgestellt, die Entwicklung und den Erfolg sozialer Bewegungen aufgrund struktureller Bedingungen oder geglückten Framings vorauszusagen. Von Bewegungsforschenden wird daher angenommen, dass die Parameter des Gelingens und Scheiterns außerhalb der »eingespielten Analysekonzepte von Framing und Political Opportunitiy Structure« (Roth 2012: 25) liegen, obgleich der Anspruch einer Identifikation der erfolgsentscheidenden Parameter auch innerhalb dieser Paradigmen weiter vorhanden ist. In diesem Zusammenhang ist zudem auf die Schwierigkeit der tradierten Ansätze hinzuweisen, den Erfolg zu operationalisieren und so empirisch feststellbar zu machen. Zudem – was für die vorliegende Untersuchung bedeutender ist – bleibt meist weitgehend unklar, welche Prozesse und Auseinandersetzungen innerhalb der sozialen Bewegungen ablaufen. Denn das Besondere oder Spezifische herauszuarbeiten, das sich nicht in die vorgegebenen theoretischen Muster integrieren lässt, ist bei den tradierten Paradigmen nicht vorgesehen.

Um die Protestbewegung gegen S21 und den gesellschaftlichen Konflikt hinreichend zu analysieren, ist es deshalb unabdingbar, einen neuen Weg einzuschreiten. Denn anders als in der Forschung zu sozialen Bewegungen üblich sind Binnenstrukturen, Streit der Fraktionen, Personennetzwerke, das Beharren auf Positionen und eine dadurch resultierende Verhandlungsunfähigkeit für die vorliegende Untersuchung ausschlaggebend; die prozessbeeinflussenden Aspekte des Forschungsfelds werden demnach innerhalb der tatsächlich wahrgenommenen Wirklichkeit zu verorten sein. Das erscheint bei der vorliegenden Untersuchung auch deshalb als besonders ertragreich, da der direkte Feldzugang gegeben ist und das entsprechende Material umfassend genutzt werden kann. Soziale Phänomene können nicht losgelöst von der Gesellschaft, innerhalb der sie sich zeigen, verstanden werden. Für das umfassende Verständnis des Konflikts um S21 und insbesondere der Protestbewegung ist es notwendig, vor der Analyse des Protestverlaufs die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufzuzeigen. Im Mittelpunkt der Fragen und Problematiken des Konflikts um das Großprojekt und im Fokus dieser Untersuchung steht, wie sich eine Protestbewegung in Zeiten der Postdemokratie konstituiert und mit welchen Umständen sie konfrontiert ist. Es geht aber auch darum, aufzuzeigen, welche Chancen und Möglichkeiten sich der Protestbewegung gegen S21 in diesen Herrschaftskonstellationen möglicherweise eröffnen. Im Folgenden wird es darum gehen, eine theoretische Basis darzulegen, die dem Untersuchungsgegenstand und dem Forschungsinteresse angemessen ist. Es sollte bereits jetzt deutlich geworden sein, dass keine einzelne Theorie übernommen werden soll: In der Literatur zu sozialen Bewegungen wurde das Zusammenwirken von Politik und Wirtschaft sowie die Vormachtstellung ökonomischer Prinzipien, die sich zugespitzt im Konflikt um neoliberale Großprojekte offenbaren, nicht hinreichend in ein Forschungsparadigma integriert. Deshalb ist es notwendig, aus verschiedenen theoretischen Argumentationen genau die Aspekte herauszuarbeiten, die für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand zutreffen und helfen, diesen sinnverstehend zu erklären.

2.2Die Herausforderung der neoliberalen Wirtschaftsordnung durch Protestbewegungen

2.2.1Postdemokratie als Dauerkrise der demokratischen Politik bei Colin Crouch

Die Postdemokratie hat sich als gängige Umschreibung der »Dauerkrise der demokratischen Politik« etabliert (Michelsen und Walter 2013: 101). Diese schlagworthafte Krisendiagnose gründet besonders auf der gleichnamigen Veröffentlichung des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch (2008). Das Prinzip ist simpel erklärt: In unseren heutigen, vermeintlich gut entwickelten Demokratien werden Wahlen tendenziell zu ›PR-Spektakeln‹ degradiert, während »die reale Politik hinter verschlossenen Türen« (Crouch 2008: 10) gemacht wird. Statt vom Volke, beziehungsweise den gewählten Regierungen, geht die Kontrolle vermehrt von Eliten und der Wirtschaft aus. Crouch formuliert seine These zur Postdemokratie wie folgt:

»Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind […], entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluß privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.« (Ebd.: 13)

Crouch zeigt mit seiner Analyse systematisch auf, wie die Wirtschaft Regierungen erfolgreich unter Druck setzt, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Das Argument der drohenden Branchenverluste, unter anderem bei Banken, Immobilien, Bauindustrie, Automobilindustrie, ist hier besonders wirkungsvoll (ebd.: 28). Regierung setzen ihren Schwerpunkt auf ökonomische Erfolge und werden an diesen gemessen. Außerdem steht der Wirtschaftslobby für ihre Kampagnen in der Regel weitaus mehr Kapital zur Verfügung als anderen Interessengruppen, was wiederum den Wettbewerb um die Meinungshoheit und um politische Unterstützung verzerrt (ebd.: 28). Aus dieser Perspektive betrachtet spitzen sich postdemokratische Prinzipien gerade bei Großprojekten wie S21 zu, da hier Wirtschaft und Politik besonders verflochten sind. Da sich Protest meist konkret zeigt und sich nicht diffus an einer Kritik an der Postdemokratie festmacht, kann der Konflikt um das Projekt Stuttgart 21 als Exempel für einen Konflikt innerhalb der neoliberalen Wirtschaftsordnung und der entsprechenden hegemonialen Logiken betrachtet werden. Würde dieses Projekt gestoppt werden, könnte das demnach einen entscheidenden Impuls setzen, um die neoliberale Wirtschaftsordnung neu legitimieren oder möglicherweise transformieren zu müssen. Optimistisch schätzt Crouch die Möglichkeiten von Protestbewegungen ein: Trotz divergierender Einflussmöglichkeiten identifiziert er Protestbewegungen allgemein als entscheidenden Gegenpol zum neoliberalen Lobbyismus. Sie sind wichtige Impulsgeber und Grundlage für eine lebendige Demokratie (ebd.: 153). Auf die konkreten Chancen und Möglichkeiten von Protestbewegungen geht Crouch allerdings nicht weiter ein.

Mit seiner Analyse hat Crouch den Begriff der Postdemokratie weit über die Grenzen des politikwissenschaftlichen Diskurses bekannt gemacht – und daraus einen politischen »Kampfbegriff« (Blühdorn 2013: 120) geprägt. Dennoch oder vielmehr gerade wegen dieser Zuspitzung einerseits und der begrifflichen Offenheit andererseits, kann eine Auseinandersetzung mit postdemokratischen Logiken und Zusammenhängen neue Sichtweisen vermitteln. Michelsen und Walter erkennen in der Analyse Crouchs »die systematischste Deutung postdemokratischer gouvernance«, gleichzeitig kritisieren sie seine »eindimensionalen Erklärungsmuster« (Michelsen und Walter 2013: 102). Wird das Prinzip der Postdemokratie genutzt, um eine bestimmte Perspektive zu eröffnen, und der appellative Charakter seiner Darstellung anerkannt, kann dieses Konzept weitergedacht werden. Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, dass Crouch in der Tendenz das Potenzial sozialer Bewegungen zwar aufzeigt, deren tatsächliche Einflussmöglichkeiten jedoch nicht weiterverfolgt.

Mit seiner fortgesetzten Analyse in ›Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus‹ skizziert Crouch (2011) Bürgerinitiativen als eine der wichtigsten Gruppen, um öffentliche Interessen gegenüber Politik und Wirtschaft zu vertreten. Er erweitert seine früheren Schlussfolgerungen zur Bedeutung von Protestbewegungen allgemein auf die ›Zivilgesellschaft‹. Crouch bezieht sich hier auf das durch den Sozialhistoriker Jürgen Kocka geprägte Konzept der Zivilgesellschaft, das den Bereich »jenseits von Wirtschaft, Staat und Privatsphäre« (ebd.: 214) umschreibt, der mit allen drei genannten Bereichen verbunden ist. Die Zivilgesellschaft steht dem »Dreikampf« (ebd.: 14) von Staat, Markt und Großunternehmen als »vierte Kraft« (ebd.) gegenüber: Ihre Aufgabe ist es, die neoliberale Ordnungen unter Druck zu setzen und so einen gesellschaftlichen Wandel voranzubringen (ebd.: 14). Crouch teilt die Zivilgesellschaft in unterschiedliche Gruppen auf: Parteien, Kirchen, Bürgerinitiativen, Wohltätigkeitsorganisationen bzw. ehrenamtliches Engagement und Berufsverbände (ebd.: 215). Dabei gesteht er ein, dass auch hier Korruption und das Verfolgen privater Ziele hinter der vordergründigen Moral stehen könnten (ebd.: 221). Die Zivilgesellschaft ist dennoch der gesellschaftliche Bereich, der die Dominanz von Staaten und Konzernen kritisch herausfordern kann. Motivation des Handels der Zivilgesellschaft ist dabei meist die Moral; ihre Mittel sind Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, direkte Verhandlung und weitere demokratische Interventionen (ebd.: 214f.). Größtenteils äquivalent zum Begriff der Zivilgesellschaft nutzt Crouch den Begriff der Öffentlichkeit, die über Vermittlungsmechanismen Druck auf die Politik ausüben kann. Hierzu zählt Crouch auch die Massenmedien (ebd.: 227). Im Vergleich zu wirtschaftlichen Unternehmen kann die Öffentlichkeit jedoch nicht ausreichend Druck auf die Politik ausüben, was zu einer Schwächung der Demokratie führt: Die Massenmedien und die Parteien werden ihrer Bedeutung als Vermittlungsmechanismen demnach nicht mehr gerecht, da sie mittlerweile zu stark unter Kontrolle von Großkonzernen und »Superreichen« (ebd.: 227) stehen. Diese Sichtweise der Rolle von Massenmedien und Parteien kann in einem ersten Schritt auch auf die Umstände bei Stuttgart 21 übertragen werden, allerdings mit einer deutlichen Einschränkung: Es handelt sich nur um Vorannahmen, mittels derer auch die Problematik um S21 zugespitzt werden kann, um so neue Perspektiven zu eröffnen. Der tatsächliche Einfluss von Großkonzernen und Finanzkapital ist nur sehr eingeschränkt belegbar und kann deshalb nicht den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung darstellen.

Crouch legt noch eine weitere Problematik von Parteien dar: Um ihre Wahl zu sichern, müssen Parteien ihre potenziellen Wähler davon überzeugen, dass die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme nicht bei ihnen, sondern bei ihrer Konkurrenz liegt. Das führt dazu, dass Verantwortlichkeiten der Vertretungen des Wirtschaftsbereichs leicht übersehen werden. Deshalb kommt Crouch zu dem Schluss, dass Bürgerinitiativen die geeigneteren Gruppen sind, um den Anstoß zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen zu initiieren (ebd.: 245). Auch diese Problematik wird sich beim Konflikt um S21 finden lassen, wenn es darum geht, inwiefern die Verantwortlichkeiten von der Protestbewegung und von den involvierten Parteien kommuniziert werden.

Crouch erhofft sich, dass die Zivilgesellschaft weiter erstarkt, indem sie Staat und Konzerne herausfordert und einen »pluralistischen Dialog« mit diesen erzwingt, der weder vom Staat noch von Konzernen komplett kontrolliert werden kann (ebd.: 241). Letztendlich neigt Crouch dazu, die Handlungsmacht der Zivilgesellschaft gegenüber dem Durchsetzungsvermögen von Banken, Investmentgesellschaften, der Immobilienwirtschaft und weiteren wirtschaftlichen Sektoren tendenziell zu überschätzen. Denn einmalige Demonstrationen mit Hunderttausend Teilnehmenden zeigen selten Wirkung auf die Politik, wichtig ist das Durchhaltevermögen der Protestbewegungen. Es scheinen heute vornehmlich oft schon ein ›Couch-Aktivismus‹ oder ›Clicktivism‹, also beispielsweise das bequeme Unterzeichnen von Online-Petitionen, auszureichen, um das politisch engagierte Gewissen zu beruhigen. Das deutet nicht nur auf den allgemeinen digitalen Wandel, sondern auch auf einen Machtverlust sozialer Bewegungen hin. Dies wird von Crouch nicht reflektiert. Es geht ihm offensichtlich in erster Linie darum, ein theoretisches Potenzial sozialer Bewegungen aufzuzeigen – im Kontrast zu den etablierten Positionen der Politik und der Massenmedien, die weit hinter ihren regulierenden Möglichkeiten zurückbleiben. Crouchs Analyse ist daher auch als Plädoyer zum ›Sich-Einmischen‹ zu verstehen, denn der Staat und die Großkonzerne sollten die Gesellschaftsordnung nicht unter sich allein aushandeln können: »Wenn wir die Konzerne schon nicht stoppen können, sollten wir sie wenigstens vor uns hertreiben« (ebd.: 15).

Zwar ist Crouch einer der prominentesten Kritiker des Neoliberalismus, doch lehnt er diesen nicht grundsätzlich und vereinfachend ab. Vielmehr befasst sich Crouch (2018) in ›Ist der Neoliberalismus noch zu retten‹ mit einer möglichen Reformierbarkeit des Neoliberalismus. Er zeichnet die unterschiedlichen Sichtweisen der »konzernfreundlichen« und der »marktfreundlichen« Neoliberalen (Crouch 2018.: 32) nach. Damit zeigt er auf, dass es hier keineswegs um ein einheitliches System geht. Die Missstände, die diese Wirtschaftsordnung mit sich bringt, können, seiner Argumentation nach, allerdings nur auf transnationaler Ebene gelöst werden – Globalisierung lässt sich nicht mehr ohne Weiteres rückgängig machen. Die Institutionen, die globale Missstände auflösen könnten, sind, angefangen von der EU bis hin zur WHO, bereits vorhanden (ebd.: 90). Das bedeutet demnach auch, dass Proteste letztendlich mit globalen Forderungen verknüpft werden sollten, um den Neoliberalismus zu transformieren. Es kann auch bedeuten, den Protest gegen S21 mit den Bewegungen gegen andere, internationale Großprojekte zu verknüpfen. Letztendlich betont Crouch:

»Das Establishment braucht uns: um zu arbeiten, um einzukaufen, um zur Wahl zu gehen, um uns zu benehmen, obwohl wir uns nicht mehr unterwürfig verhalten; und um all dies auch freiwillig zu tun. Man kann das Establishment also durchaus dazu zwingen, einen Preis zu zahlen, damit wir diese Freiwilligkeit wiedererlangen – den Preis der sozialen Gerechtigkeit.« (Crouch 2013: 220)

Und somit zeigt Crouch bereits ein Spektrum individueller und kollektiver Interventionsmöglichkeiten aus Sicht der Zivilgesellschaft auf. Die Argumentationsstränge von Crouch deuten also darauf hin, dass die neoliberale Wirtschaftsordnung in weiten Teilen die gesamte Gesellschaftsordnung bestimmt. Die Kontrolle haben die demokratischen Instanzen, trotz formaler Intaktheit, an Wirtschaft und Eliten abgegeben – die Vorherrschaft ökonomischer Prinzipien prägt die hegemoniale Ordnung. Volksvertretungen in der repräsentativen Demokratie können ihren Aufgaben nicht mehr ausreichend nachkommen und sind nicht hinreichend fähig, die Macht der Konzerne zugunsten der Gesellschaft zu beschränken. Vielmehr bemühen sich Politikerinnen und Politiker, ihre Kontrahenten zu diffamieren, um ihr Hauptziel, die Wiederwahl, zu erreichen. Gleichzeitig steht der Wirtschaftslobby mehr Kapital zu Verfügung, um ihre Interessen durchzusetzen, als es bei der Zivilgesellschaft der Fall ist. Diese Argumentationen von Crouch lassen sich auf verschiedenste Dynamiken im Konflikt um S21 übertragen, auf die im empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung näher eingegangen wird.

Die Diskussion über das partielle Versagen des modernen Staates ist zwar nicht neu, allerdings hat sich – dafür steht die Debatte um die Postdemokratie – die Perspektive verschoben. Denn bei Crouch steht die Macht der Wirtschaft im Zentrum und die durch sie beeinflusste Politik. Zwar sieht er durchaus die grundsätzliche Möglichkeit, dass transnationale Institutionen regelnd eingreifen könnten. Doch stehen bei ihm die Interventionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft, insbesondere von Protestbewegungen, im Vordergrund. Deren Proteste sind, seiner Argumentation folgend, nunmehr Schlüssel zur Lösung der demokratischen Krise, statt darin hauptsächlich die Auswirkungen verfehlter Politiken zu sehen, wie es die frühere Tendenz oftmals war. Allerdings fehlen Belege für seine Analyse der Handlungsmacht von Protestbewegungen. Es ist somit ratsam, hier von möglichen Handlungspotenzialen sozialer Bewegungen auszugehen, die Crouch aufzeigt, und nicht etwa von unabdingbaren Entwicklungen und Dynamiken.

Auf den Protest gegen S21 bezogen bedeutet diese Argumentation, dass in dieser Protestbewegung möglicherweise die Chance lag, postdemokratische Strukturen zu überwinden: Falls das Großprojekt Stuttgart 21 gestoppt würde, wäre das nicht nur ein begrenzter Erfolg der Protestbewegung, sondern würde die hegemoniale Ordnung vor neue Legitimationsprobleme stellen. Der Protest sollte demnach nicht ausschließlich als Auswirkung zu spät beteiligter Bevölkerung gesehen werden. Es geht also nicht nur darum, wie in der Bewegungsliteratur üblich, zu untersuchen, warum eine soziale Bewegung entsteht, sondern ihre Chancen zu beleuchten, die hegemoniale Ordnung grundsätzlich zu kritisieren und zu transformieren. Diese Aspekte sollen im empirischen Teil an der Protestbewegung gegen S21 nachgezeichnet werden.