Suchttherapie inside - Jens Winkler - E-Book

Suchttherapie inside E-Book

Jens Winkler

0,0
27,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wissen, das angehenden SuchttherapeutInnen wirklich hilft Alltagsnah: Kompakte Schilderungen, die sich nicht in Theorien verlieren. Schulenübergreifend: Behandlungsleitfaden aus humanistisch-tiefenpsychologischer Perspektive, kann aber für alle Schulen fruchtbar gemacht werden. Die Arbeit in der Suchttherapie ist anspruchsvoll. Sie bietet einige Besonderheiten, Herausforderungen und Fallstricke besonders für angehende TherapeutInnen in diesem Bereich. Der Psychotherapeut Jens Winkler beschreibt in diesem Buch genau das, was er gerne zu Beginn seiner Laufbahn gelesen hätte – aber nicht gefunden hat. Nah am therapeutischen Alltag und den emotionalen Herausforderungen gibt dieses Buch eine griffbereite Orientierung, was Sie wissen sollten, wenn Sie mit Suchterkrankten arbeiten bzw. arbeiten wollen. Hierbei scheut sich der Autor nicht, klare Positionen zu beziehen und mit Ihnen seine Gefühle zu teilen. Ziel ist es, Vorurteile abzubauen, Berührungsängste zu lindern, schwierige Situationen und Gefühle einordnen zu können und die Kompetenz und Freude bei der Arbeit zu vergrößern. Letztendlich muss jede/r eine Haltung entwickeln, die der eigenen Person entspricht und den Anforderungen der Therapie gerecht werden kann – dieses Buch soll Ihnen dabei die größtmögliche Hilfe sein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 166

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jens Winkler

Suchttherapie inside

Erfahrungswissen für junge Therapeutinnen und Therapeuten

Impressum

Jens Winkler

Weiherstr. 5

8280 Kreuzlingen

Schweiz

[email protected]

Besonderer Hinweis:

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von shutterstock/peampath2812

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Marion Drachsel

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40085-4

E-Book ISBN 978-3-608-11887-2

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20572-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

1 Einleitung

2 Die Psychodynamik der Suchterkrankung

3 Der stationäre Behandlungsrahmen

3.1 Behandlungsvoraussetzungen

3.2 Die Sache mit der Abstinenz …

4 Besonderheiten des Settings

5 Besonderheiten der Gruppentherapie

5.1 Vorbereitung der Gruppentherapien

5.2 Umgang mit Konsumereignissen in der Gruppe

6 Einbindung von Angehörigen

7 »Hotel-Klinik«, »Totale Institution« oder Ort der Erkenntnis?

8 Der Umgang mit schwierigen Situationen

9 Mögliche Fallstricke in der Therapie

10 Haltungen für eine unbefangene positiv zugewandte Beziehungsgestaltung

11 Anforderungen an uns Therapeuten

Danksagung

Literatur

Glossar

Sachverzeichnis

1 Einleitung

»Jahrzehntelange Forschung zeigt, dass die Grundlage von Psychotherapie ein interpersonaler Prozess ist, in dem die therapeutische Beziehung der zentrale Wirkfaktor ist. Praktizierende müssen sich vor Augen führen, dass dies das Fundament unserer Bemühungen ist, anderen zu helfen. Die Verbesserung der Qualität von Psychotherapie wird wohl am besten erreicht, indem wir unsere Fähigkeit, uns auf Klienten zu beziehen, verbessern und unsere Therapien den individuellen Besonderheiten unserer Klienten anpassen.«

(Lambert & Barley 2001, S. 357)1

Die Arbeit in der Suchttherapie ist sehr anspruchsvoll. Sie bietet einige Besonderheiten, Herausforderungen und Fallstricke für den jungen Therapeuten2. Diese zu kennen, kann den Start wesentlich erleichtern. Als ich angefangen habe, im Suchtbereich zu arbeiten, wäre ich über die folgenden Informationen froh gewesen, denn sie hätten mir möglicherweise einige ungute Gefühle, Zweifel und Unsicherheiten erspart. Alle Ausführungen spiegeln meine subjektiven Erfahrungen, Beobachtungen und Haltungen wider und treffen sicherlich nicht auf alle Patienten, Therapeuten und Settings gleichermaßen zu. Sie sollen innerlich auf die Arbeit vorbereiten und als Orientierungshilfe für die Therapie dienen. Ziel ist es, Vorurteile abzubauen, Berührungsängste zu lindern, schwierige Situationen und Gefühle einordnen zu können und letztendlich die Kompetenz und Freude in der Arbeit zu vergrößern. Im Fokus stehen die Fallstricke und Chancen der therapeutischen Beziehungsgestaltung in der stationären Therapie von Menschen mit Alkoholabhängigkeitserkrankungen. Meine Ausführungen lassen sich jedoch auch auf andere Substanzabhängigkeiten übertragen. Mich bewegt dabei im Kern, wie eine unbefangene und positiv zugewandte therapeutische Beziehung möglich ist. Letztendlich muss jeder Therapeut eine Haltung entwickeln, die der eigenen Person entspricht und den Anforderungen der Therapie gerecht werden kann.

In Bezug auf die Behandlung von Suchterkrankungen gibt es eine große Auswahl an Literatur. Die verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Manuale benennen strukturiert wichtige Inhalte der Therapien und geben diesbezüglich eine gute Orientierung, z. B. das »Therapieprogramm zur integrierten qualifizierten Akutbehandlung bei Alkohol- und Medikamentenproblemen« (TIQAAM; Lippert 2020) oder »Rückfallprävention mit Alkoholabhängigen: das strukturierte Trainingsprogramm S.T.A.R.« (Körkel & Schindler 2003). Hinsichtlich der spezifischen Schwierigkeiten und Herausforderungen innerhalb der Therapien fühlte ich mich jedoch nur ungenügend vorbereitet: Wie gehe ich mit schwierigen Gefühlen um, wie mit Lügen, Abwertungen und Abwehr oder mit schwierigen Dynamiken in der Gruppentherapie? Die tiefenpsychologisch-analytischen Abhandlungen boten hingegen sehr scharfsinnige und interessante Einblicke in die mögliche Psychodynamik der Sucht (z. B. Ebi 2000; Rost 2009; Voigtel 1996). Sie verstärkten bei mir mit einer pathologisierenden und intellektuellen Sprache jedoch tendenziell eine Distanz und ein Misstrauen in Bezug auf die Klienten. Manches wirkte auf mich wie eine Abrechnung mit einer oft schwierigen Klientel.

Wonach ich suchte, war eine Orientierung für eine positive und zugewandte Beziehungsgestaltung. Ich hoffe, dass die vorliegenden Informationen diesen Zweck beim Lesen erfüllt. Sie sind ein Erfahrungsbericht aus tiefenpsychologisch-humanistischer Perspektive. Ich gebe dabei bewusst keine »How to«-Formeln für die Psychotherapie. Wir können meiner Meinung nach am nachhaltigsten durch unsere eigene klare Haltung wirken. Ich möchte mit diesem Buch dazu anregen, die eigenen Haltungen zu hinterfragen, zu erweitern und zu festigen und damit mehr Sicherheit in der Behandlung zu ermöglichen.

»Ich kann mir vorstellen, mit allen möglichen Störungsbildern zu arbeiten. Nur nicht in der Sucht.« Diesen Satz habe ich häufig von jungen Berufskollegen gehört, bevor ich in einer Klinik für die »Behandlung von Alkoholerkrankungen« anfing zu arbeiten. Ein Kollege bezeichnete die Suchttherapie als »kleine Schwester der Psychotherapie«. Ich selbst habe auch so gedacht. Das gehörte irgendwie dazu. Aber warum eigentlich? Ist die Behandlung so unterschiedlich oder sind die Anforderungen an den Therapeuten so anders? Wird sie mir die Freude an der therapeutischen Arbeit nehmen? Ein Therapeut hat mir einmal gesagt, er habe aufgehört, in der Suchtbehandlung zu arbeiten, da er »nicht professionell misstrauisch« werden wolle. Ist das so? Werde ich das auch?

Eigentlich ist der erste Satz inhaltlich falsch. Wir arbeiten nämlich nicht mit Störungsbildern und auch nicht in der Sucht, sondern mit Menschen. Das mag nach Wortklauberei klingen, ist jedoch für unsere Haltung wichtig. Andererseits basiert diese Aussage auf Vorurteilen. Die Stigmatisierung von Sucht und Alkoholabhängigkeit ist nicht nur in der »Gesellschaft« verbreitet, sondern auch unter Therapeuten. Anfänglich sagte ich noch: »Ich arbeite mit Alkis«, obwohl das in meinen Ohren nicht gerade »schick« klang, denn bei »Alki« schwingt etwas Abfälliges mit. Allerdings klingen alle Bezeichnungen aus der Alkoholtherapie nicht gerade sexy: trockener Alkoholiker, Abstinenz, Rückfälle, (Koma-)Saufen, Abstürze, kontrolliertes Trinken(1), Rückfallschock, nasse Klinik(1) … Diese Sprache macht es sowohl Betroffenen als auch Behandlern schwierig, sich mit dem Thema zu identifizieren. Auch die zahlreichen Selbsthilfegruppen haben nach wie vor ein »schambesetztes Image« (Schreiber 2016, S. 39). Von meinen Kollegen hörte ich nicht selten: »Oh, echt? Das könnte ich mir nicht vorstellen. Die Arbeit in der Sucht habe ich für mich ausgeschlossen.« Auch manche Patienten bezeichnen sich selbst als »Alki«. Dahinter steht meist eine unbewusste Ablehnung und Abwertung der eigenen Suchtthematik. Die innere Haltung könnte lauten: »Ich bin mit dieser Problematik nicht in Ordnung. Ich werte mich dafür ab, bevor andere es tun. Ich habe erst dann wieder Selbstachtung, wenn das Thema erledigt ist. Deshalb muss der Alkohol weg.« Wenn wir Behandler uns mit dieser Haltung identifizieren, fixieren wir uns auf die Abstinenz. Wir bekämpfen dann mit unseren Klienten die Sucht und damit einen Teil von ihnen anstatt gemeinsam Wege der Bewältigung oder tiefer gehende Antworten auf diese Schwierigkeit zu finden. Wir verpassen es dann, uns mit der Abhängigkeit als tiefer liegendem Lebensthema, welches zum Patienten dazu gehört, auseinanderzusetzen. Ein Lernprozess auf tieferer Ebene kann nicht angestoßen werden.

MERKE

Die Therapie beginnt mit der Sprache(1), die wir gemeinsam mit unseren Patienten für ihre Problematik finden.

Vor der Arbeit lohnt es sich, sich mit seinen eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen. Wir können unsere Motivation hinterfragen, z. B. warum wir in diesem Bereich arbeiten möchten, oder aber Vorbehalte dagegen haben: Litten oder leiden Menschen in meinem Umfeld unter einer Abhängigkeit? Wie schaue ich auf sie? Welche Folgen hatte dies für die Person, mich und unsere Beziehung? Welchen Stellenwert hat die Alkoholabhängigkeit für mich neben anderen psychischen Erkrankungen? Inwiefern sehe ich sie überhaupt als psychische Erkrankung? Welche persönlichen Erfahrungen habe ich mit Abhängigkeit gemacht? Wo zeige ich selbst suchtähnliches Verhalten? Wäre es möglich gewesen, dass ich selbst mal eine Sucht entwickele? Wie fühlt es sich an, etwas weniger machen zu wollen und doch immer wieder in alte Muster zu verfallen? Wie fühlt es sich an, sich damit zu zeigen? Wie fühlt es sich an, damit konfrontiert zu werden? Habe ich schon einmal die Tendenz verspürt, mein Verhalten zu verstecken, zu vertuschen, herunterzuspielen oder zu verheimlichen? Wie sehe ich insgeheim auf Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit?

Ich war letztendlich offen dafür, meine eigenen Erfahrungen zu machen.

Als ich mit der Arbeit begann, wunderte ich mich anfangs darüber, dass die Patienten »so normal« wirkten. Den meisten sah man nicht an, ob sie hier arbeiteten oder Patienten waren, auch in den flüchtigen Kontakten merkte man dies nicht. In der Klinik waren nicht obdachlose Trinker, wie sie einem in Städten oder gar unter Brücken begegnen. Mir begegneten Frauen und Männer über alle Altersgruppen verteilt, überwiegend jedoch Männer ab 40.

Männer sind etwa viermal häufiger betroffen als Frauen (Lindenmeyer 2016). In Deutschland liegt die »Lebenszeitprävalenz(1) für Alkoholismus« bei 13 Prozent (Wittchen et al. 1992; s. auch Lindenmeyer 2006). Alkoholabhängigkeit ist die häufigste psychische Erkrankung bei Männern und die zweithäufigste – nach den Angsterkrankungen – bei Frauen (Lindenmeyer 2006, 2016). Die Punktprävalenz, d. h. das prozentuale Vorkommen einer Erkrankung in einer Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, liegt bei 2,4 Prozent, der Alkoholmissbrauch bei vier Prozent und ein riskanter Konsum bei 11,7 Prozent (Kraus & Augustin 2001; s. auch Lindenmeyer 2006). Schreiber (2016, S. 34) nennt Zahlen der Bundeszentrale für Gesundheit, wonach 27 Prozent der Bevölkerung alkoholabhängig sind oder »an der Schwelle zum Alkoholismus« stehen. Jährlich sterben in Deutschland etwa 43 000 Menschen an den Folgen der Abhängigkeit (Lindenmeyer 2016). In der EU ist es die häufigste Todesursache für junge Männer (Lindenmeyer 2006), Alkoholabhängigkeit ist eine Volkskrankheit. Menschen aller sozialen Schichten leiden gleichermaßen darunter (Lindenmeyer 2016). In der stationären Behandlung befinden sich überwiegend »Normalbürger«, denen man den Konsum draußen nicht ansehen würde.

FALLBEISPIEL

Meine erste Patientin war »aus gutem Hause«. Sie war zuvorkommend, freundlich, reflektiert und angenehm selbstkritisch. Ich war richtig froh darüber, wie gut die Therapie lief, wie sie mein empathisches Kontaktangebot zu schätzen wusste. Denn das hatte ich in der Ausbildung gelernt: Das Wichtigste ist, dass die Patienten sich verstanden fühlen! Das konnte ich gut! Die erfahrenen Therapeuten wirkten geduldig und entspannt, aber irgendwie fehlte ihnen doch der »letzte Drive«, dachte ich insgeheim. Am Entlasstag – nach vier Monaten Behandlung – rief der Ehemann verzweifelt an: Er habe seine Frau vom Bahnhof abgeholt. Sie habe ihn »stockbesoffen« begrüßt. Das war mein erster wichtiger Dämpfer.

Suchttherapie bedeutet auch, als Therapeut wenig »narzisstische Zufuhr«(1) von positiven Gefühlen zu bekommen. Durch die Therapieprozesse und die Rückmeldungen der Patienten erfahren wir kaum Spiegelung(1), wie »wirksam« wir als Therapeuten sind. Mir fiel auf, dass es selten Dank von Patienten nach teilweise monatelanger Begleitung gab, insbesondere im Vergleich zur Arbeit mit anderen Patientengruppen. Dort waren die Patienten stets bemüht, mir nach der Therapie zu zeigen, wie dankbar sie waren und wie hilfreich ich als Therapeut für sie gewesen sei. Nicht aber in der Suchttherapie!

Neben unserer Klinik steht ein Blumenladen, ich kann ihn aus meinem Bürofenster sehen. Ich sah dort noch nie einen Patienten Blumen kaufen. Warum eigentlich nicht?

MERKE

Die meisten Patienten sagen deshalb nicht Danke, weil sie ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihrer Sucht und damit auch zur Behandlung haben. Die Sucht führt zwar zu Leid, Verzweiflung, Schuld und häufig Einsamkeit, sie entspannt aber auch, erhöht, tröstet, ermöglicht Kontakt, besänftigt und berauscht.

Dazu Dörner et al. (2007, S. 261): »Denn eine Ersatzbefriedigung ist zwar Ersatz, aber auch Befriedigung.« Ich danke nicht jemandem, der mir etwas sehr Wertvolles wegnehmen möchte.

Und so werden wir Behandler häufig gesehen. Dann sind natürlich auch die Beziehung zu mir und mein Beziehungsangebot ambivalent besetzt. Wichtig ist, dies nicht persönlich zu nehmen. Gemeint sind nicht wir und unsere Behandlung. Um dies zu verstehen, sind jedoch ein tieferes Verständnis und Interesse für die Dynamik der Suchterkrankung notwendig. Der Abhängige hat immer zwei Seiten: eine Seite, die eine Veränderung möchte, und eine Seite, die weiter konsumieren möchte! Diese Ambivalenz ist vielschichtig und anschaulich im Film »Alki Alki« (Panisch 2015) dargestellt, den ich an dieser Stelle sehr empfehle. Die Ambivalenz lässt sich nicht ausmerzen. Wir sollten uns die Frage stellen, welche Seite wir stärken wollen, wie wir Patienten dabei unterstützen können, die Spannung zwischen diesen Polen besser zu halten. Manche Patienten sind weniger in dieser Ambivalenz gefangen. Sie sind »einen Schritt weiter« und nehmen die Hilfe als Selbsthilfe für eigene Ziele in Anspruch. Sie sagen »Danke«, erleben die Behandlung als persönliche Chance und machen dementsprechend gute Fortschritte. Sie sind sich bewusst, dass die Suchtthematik mit der stationären Behandlung nicht »erledigt« ist.

J. W.: Welches waren die größten Herausforderungen für dich, als du als Suchttherapeut angefangen hast?

Max Dürr: Am Anfang habe ich mir noch oft Gedanken darüber gemacht, wie es nach der Behandlung weitergeht. Ich war oft deprimiert, wenn Patienten nach der Behandlung schnell wieder zu trinken angefangen haben. Außerdem haben mir Patienten zu schaffen gemacht, die in der Therapie nichts verändern wollten.3

Bei mir führten Therapieprozesse wie der mit der Patientin »aus gutem Hause« anfänglich zu Selbstzweifeln. Ich fragte mich, ob ich in dem Beruf überhaupt richtig sei. Erst später wurde mir klar, dass solche Prozesse »normal« sind. »Der/die muss vielleicht noch eine Runde drehen«, sagen die erfahrenen Kollegen bei uns. Für den Weg aus der Sucht sind häufig mehrere Behandlungen erforderlich und sinnvoll.

Es ist leicht, auf einen Menschen mit Alkoholabhängigkeit zu zeigen und zu sagen: »Der kommt eh wieder, der schafft es nicht! Der wird bald rückfällig werden.« Bei dieser Perspektive komme ich schließlich als Therapeut nicht vor, ich muss mich nicht kritisch mit dem Therapieprozess auseinandersetzen, was letztendlich selbstwertdienlich für mich ist.

MERKE

Eine Gefahr in der Suchttherapie ist, dass wir als Therapeuten zwar äußerlich Beziehung und Hilfe anbieten, innerlich jedoch bereits resigniert haben. Wir haben den Patienten insgeheim schon fallen gelassen. Unser Beziehungsangebot ist leer.

Wenn wir Alkoholabhängigkeit als psychische Erkrankung ernst nehmen, dann ist sie vergleichbar mit einer Depression(1). Bei Menschen mit einer Depressionserkrankung erlebt etwa ein Drittel der Betroffenen einmalig eine depressive Episode, ein weiteres Drittel einen chronischen Verlauf, das letzte Drittel erlebt immer mal wieder depressive Episoden, jedoch bei zwischenzeitlich vollständiger Remission (Beesdo & Wittchen 2006). Das ist bei Alkoholabhängigkeit ähnlich. Nur zeigt niemand auf einen Menschen mit Depression, wenn er zum wiederholten Male in die stationäre Behandlung kommt, und sagt: »Wusste ich doch, der kommt wieder.« Dabei ist ein Rückfall(1) mit dem Suchtmittel vergleichbar mit einem Rückfall in dysfunktionale depressive Gedankenmuster (Lindenmeyer 2006). Das Symptom ist nur sichtbarer – und häufig für das Umfeld verstörender. Fraglich ist, ob das Kriterium der Rückfälligkeit überhaupt ein gutes Kriterium für eine erfolgreiche Behandlung ist. Allgemein ist bekannt, dass ein Vermeidungsziel ein wenig motivierendes Veränderungsziel darstellt. Letztendlich ist es das Ziel der Behandlung, dass der Betroffene einen veränderten Bezug zu sich als Mensch und seiner Problematik entwickelt (Kolbe 2020). Das ist durch den Konsum als alleiniges Merkmal nicht abgedeckt. Die »Rückfallraten« nach einer stationären Entzugsbehandlung liegen bei etwa 33 bis 42 Prozent nach dem ersten Monat und etwa 67 bis 84 Prozent nach dem ersten Jahr nach Abschluss der Behandlung. Bei einer stationären Entwöhnungsbehandlung liegen die Rückfallhäufigkeiten bei etwa 36 bis 53 Prozent nach dem ersten Jahr und bei ungefähr 44 bis 69 Prozent nach fünf Jahren (Körkel & Schindler 2003).4

EXKURS

Der Begriff »Rückfall«(2) ist häufig negativ konnotiert. Er impliziert eine statische Orientierung am Abstinenzparadigma für Fortschritte in der Therapie: Ein Patient ist entweder abstinent oder eben rückfällig. In der modernen Suchttherapie wird versucht, diesen Begriff durch andere Bezeichnungen, etwa Vorfall, Ausrutscher (engl. »lapse«) oder Konsumereignis, zu ersetzen, um Patienten in einer Konsumsituation nicht zusätzlich mit dem Stigma des Rückfalls zu belasten und ihnen bereits gemachte Fortschritte sprachlich wieder abzuerkennen. Er kann auch ein Scheitern suggerieren und anklagend aufgefasst werden. Als ein Rückfall wird weiterhin das Bild beschrieben, wenn Betroffene den Weg der Veränderung ganz verlassen haben und wieder im »alten Muster« konsumieren (engl. »relapse«). Aus Mangel an einer eindeutigen Alternative zum Oberbegriff und wegen der bis heute üblichen Verwendung in der einschlägigen Literatur benutze ich »Rückfall« hier weiterhin für beide Ereignisse. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, mit den Patienten gemeinsam ganz offen zu diskutieren, was Begrifflichkeit in ihnen auslösen und welche Alternativen sie für sich hilfreich fänden. Interessanterweise scheinen die wenigsten Patienten Probleme mit diesem Wort zu haben. Möglicherweise fühlen sie sich durch einen strafend klingenden Begriff von entstandenen Schuldgefühlen entlastet. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich Rückfall hier im modernen Sinne, also wertfrei beschreibend, verwende.

Das Vorurteil, eine Alkoholbehandlung würde »eh nichts bringen« und Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit seien »nicht therapierbar«, ist nicht nur in der Bevölkerung weitverbreitet, sondern auch unter Therapeuten. Und: Es ist falsch! Die »Würde einer Krankheit« (Heigl-Evers 1991, S. 164) erlangten die Abhängigkeitserkrankungen in Deutschland erst im Jahr 1968. Und noch immer werden diese von vielen als Willens- und Charakterschwäche ausgelegt und nicht als behandlungsbedürftige Erkrankung. »Bei Diabetes oder Herzinfarkt wird Ihnen Ihre Lebensführungsschuld verziehen, nicht aber, wenn Sie Alkoholiker sind« (Dörner et al. 2007, S. 259). Das ist spürbar. In unserer Gesellschaft, unter Therapeuten und auch in den Köpfen unserer Patienten. Die Entstigmatisierungskampagnen der letzten Jahrzehnte in Bezug auf Depressionen waren wesentlich erfolgreicher als bei Suchterkrankungen. Das führt allgemein zu einer breiteren Akzeptanz der Depression als Erkrankung, entlastet Betroffene und verringert die Schwelle, eine Behandlung aufzusuchen. Diese Entwicklung lässt hoffen, dass auch Betroffenen von Abhängigkeitserkrankungen in Zukunft mit weniger Stigmatisierung und Vorurteilen begegnet werden könnte. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Heute nutzte ich diese Erfahrungen, um mich als Therapeut zu entwickeln. Eine wichtige Entwicklungsrichtung ist dabei, mich von den Patienten »unabhängiger« zu machen, zu lernen, eine klare Haltung zu entwickeln, meine eigene Resonanz sehr ernst zu nehmen und bei meiner »eigenen inneren Wahrheit« zu bleiben. Unabhängig davon, ob der Patient, der mir gegenübersitzt, dann klatscht oder nicht. Dazu müssen wir als Therapeuten sowohl Kontakt zu unserer Empathie(1) als auch zu unserer eigenen konstruktiven Aggression haben. Diese Mischung brauchen wir, um immer wieder aus fürsorglicher Position heraus zu klären, zu konfrontieren und zu kontrastieren. Unsere Bereitschaft, uns durch die Abwehr des Patienten fesseln oder auf Distanz halten zu lassen, wird geringer. Und letztendlich sind wir als Therapeuten eine Art »Entfesslungskünstler«, wie ein Supervisor von mir betonte. Wir müssen der Versuchung widerstehen, unreflektiert dem Beziehungsangebot der Klienten zu entsprechen. Wir müssen unbefangen bleiben, damit wir den Patienten immer wieder offen und zugewandt begegnen können. Es zählen weniger Wunderheilungen und geniale »alles verändernde Interventionen« als eine klare Haltung sowie ein geduldiges und beharrliches Beziehungsangebot von unserer Seite. Das wirkt dann vielleicht irgendwann heilsam.

J. W.: Welche Qualitäten sollte ein Suchttherapeut(1) mitbringen?

Max Dürr: Gelassenheit und die Fähigkeit, sich innerlich gut zu distanzieren. Vor dem Hintergrund meiner systemischen Ausbildung würde ich noch die Fähigkeit zur Neutralität hinzufügen.

J. W.: Was verstehst du unter Neutralität?

Max Dürr: Neutralität bedeutet, dass wir in den Gesprächen eigene Bewertungen und Wertungen vermeiden. Die Frage ist nicht, ob wir ein Verhalten gut oder schlecht finden, sondern die Frage ist, wie die Menschen, mit denen wir zu tun haben, selbst ihr Verhalten bewerten. Es ist nicht unbedingt immer besser, ein abstinentes Leben zu führen, sondern es könnte wichtig sein, die Vor- und Nachteile eines abstinenten gegenüber eines süchtigen Lebens sorgfältig abzuwägen und den Patientinnen und Patienten damit dabei behilflich zu sein, eine eigene Entscheidung zu treffen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass unsere Bewertung möglicherweise das Gegenteil von dem auslöst, was wir uns wünschen würden.

Wer anfällig für Höhenflüge als »Supertherapeut«(1) ist, für den bietet die Suchtbehandlung immer wieder erdenden Bodenkontakt. Die destruktiven Auswirkungen der Sucht machen sich oft erst spät bemerkbar. »Sucht zerstört Beziehungen«, habe ich einen Kollegen sagen hören. Die ganze Not und das Leid, das mit der Suchterkrankung einhergeht, werden häufig erst dann klar, wenn Patienten Bilder ihrer desolaten Wohnung zeigen oder im Paargespräch das jahrelange Leid der Angehörigen deutlich wird. Jedoch vergisst man das leicht im Kontakt mit ihnen.