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Zwei Staaten, zwei Epochen, vier Liebende: der große Roman von Bestseller-Autorin Karin Kalisa Bevor Jon die Schule abschließen kann, schließt sie mit ihm ab. Er ist draußen. Und Sunny, nach der er sich sehnt, wie er sich noch nie nach jemanden gesehnt hat, meldet sich nicht Unter der sengenden Sonne eines Jahrhundertsommers streift er durch die Wälder vor den Toren Berlins und stößt auf die darin verborgenen Gebäude der ehemaligen Jugendhochschule der DDR – und auf Benno, der hier einst die Liebe seines Lebens gefunden hatte, Alemee aus Äthiopien, und dieser Liebe wegen ausgebürgert wurde. Nach langen Jahren in Afrika ist er allein zurückgekehrt in ein ihm unvertraut gewordenes Land. Jon und Benno werden zu Gefährten, die einander helfen, ihre Lebenslinien nicht als abschüssige Bahnen zu begreifen. Sunny und Alemee, um die ihre Gedanken nicht aufhören zu kreisen, mischen sich in die gleißende Gegenwart wie Luftspiegelungen am Horizont einer stillgestellten Zeit. Aber dann bringen ein ramponierter japanischer Jeep, frisch gebrühter Kaffee aus Sidamo und einige überaus glückliche Formfehler der Berliner Verwaltung auf einmal Bewegung in alles, was festgefahren schien. Hochaktuell und zugleich ein Echolot in die Epoche der Weltrevolution – von Berlin bis Addis Abeba und darüber hinaus. Karin Kalisa erzählt von den Passagen eines Sommers, in der eine nie gekannte Hitze die Grenze zwischen Realem und Irrealem ins Schlingern geraten lässt. Völlig real ist dabei ihr entlarvender Blick auf das seltsame System Schule und auf ein kaum bekanntes Stück deutscher Vergangenheit.
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Seitenzahl: 421
Karin Kalisa
Oder die Geometrie der LiebeRoman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Bevor Jon die Schule abschließen kann, schließt sie mit ihm ab. Er ist draußen. Und Sunny, nach der er sich sehnt, wie er sich noch nie nach jemandem gesehnt hat, meldet sich nicht. Unter der sengenden Sonne eines Jahrhundertsommers streift er durch die Wälder vor den Toren Berlins und stößt auf die darin verborgenen Gebäude der ehemaligen Jugendhochschule der DDR – und auf Benno, der hier einst die Liebe seines Lebens gefunden hatte, Alemee aus Äthiopien, und dieser Liebe wegen ausgebürgert wurde. Nach langen Jahren in Afrika ist er allein zurückgekehrt in ein ihm unvertraut gewordenes Land. Jon und Benno werden zu Gefährten, die einander helfen, ihre Lebenslinien nicht als abschüssige Bahnen zu begreifen. Sunny und Alemee, um die ihre Gedanken nicht aufhören zu kreisen, mischen sich in die gleißende Gegenwart wie Luftspiegelungen am Horizont einer stillgestellten Zeit. Aber dann bringen ein ramponierter japanischer Jeep, frisch gebrühter Kaffee aus Sidamo und einige überaus glückliche Formfehler der Berliner Verwaltung auf einmal Bewegung in alles, was festgefahren schien.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Motto
Einsteigen
1. Kapitel
2. Kapitel
ALEMEE
3. Kapitel
4. Kapitel
ALEMEE
5. Kapitel
6. Kapitel
ALEMEE
7. Kapitel
8. Kapitel
ALEMEE
9. Kapitel
10. Kapitel
ALEMEE
11. Kapitel
Wirklich wahr? Ein Nachwort
Quellen
Weitere Literatur
Unter jedem Stein gibt es ein Nest von Worten. Aus ihrem raschen Gewirbel bildet sich der Stoff der Welt.
Tristan Tzara
Anaxagoras war ein Denker, der meinte, das Denken verdanke sich dem Gebrauch der Hände.
Er behauptete, die Sonne sei ein glühender Felsen und beleuchte den Mond. Dafür warf man ihn ins Gefängnis. Man fand es gottlos.
Im Gefängnis berechnete er die Quadratur des Kreises. Sicherheitshalber hatte er sich eine Aufgabe gesucht, die ihm unendlich lange zu denken geben würde.
Später, in der Verbannung, wurde er sehr verehrt.
Er verzichtete auf alle Auszeichnungen und verfügte stattdessen, dass an dem Tag seines Todes alle Kinder schulfrei haben sollten.
Anaxagoras ist Pate der folgenden Geschichte, die zweieinhalb Jahrtausende später einsetzt –
– und zwar, als in Addis Abeba ein Mann, nicht jung, nicht alt, in einen weißblauen Minibus einsteigt. Der Bus ist ein Toyota Hiace mit vierzehn Sitzen und fährt Richtung Flughafen. Der Mann? Was man mit Sicherheit sagen kann: Er ist weiß, und er ist kein Tourist. Er trägt keine Sonnenbrille, er atmet nicht schwer, seine Hände sind schwielig. Beim Bezahlen des Tickets fingert er nach Münzen, die er gern loswerden möchte. Der Busfahrer winkt ab, verdreht die Augen, verlangt einen Geldschein, ob er so aussehe, als habe er ewig Zeit? Der Mann antwortet mit einem kurzen Satz, der das Gesicht des Busfahrers augenblicklich aus seiner Anspannung löst, der Platz macht für ein gutmütiges Lachen, das auf die Mitfahrenden überspringt, hier eine freundliche Geste, dort ein beifälliges Kopfnicken, zumindest in den umliegenden Sitzreihen. Ein Stück weiter nimmt der Mann Platz, als wolle er hinter den launigen kleinen Wortwechsel, den er soeben angestoßen hat, einen Punkt setzen. Er spricht ein flüssiges Amharisch, auffällig, insofern es keinerlei lokale Färbung aufweist. Er hat keinen Koffer dabei, was nicht heißt, dass er nicht schwer an etwas trägt. Dafür spricht die Verschlossenheit seines Gesichtes. In dem gleichwohl ein Lächeln passieren kann. Das ist überhaupt nicht ausgeschlossen. Möglicherweise angesichts der ersten Regentropfen, die gerade aufs Pflaster fallen. Genau zum erwarteten Zeitpunkt. Wäre das nicht ein guter Anlass? Am Ende wird dies, nach vielen Jahren des Wechsels von Dürre und Überschwemmung, die erste Regenzeit, die sich an die Regeln hält. Er allerdings wird anderswo sein.
Anderswo,damit die eine, mit der er ins Land gekommen war und für die er blieb, aufhört, ihm durch den Kopf zu gehen. Das ist wörtlich zu nehmen. Wenn sie ihm durch den Kopf geht, dann läuft jeder seiner Gedanken auf sie zu, und jede Schwingung ihrer Schritte lässt nicht nur seinen Kopf, sondern seinen ganzen Körper, jeden Nerv und jede Faser, eine einzige Resonanzfläche sein für diesen ziehenden Schmerz. Er muss fort. Distanz muss er schaffen. Sagt ihm sein Kopf.
Wie kommt er nur darauf? Als ob jemand wie er, ausgebildet an einer Polytechnischen Oberschule, nicht darüber informiert wäre, dass jede Bewegung über die Erde eine Kreisbahn beschreibt, und es der Sehne als einer Verbindungsstrecke von zwei Punkten auf der Kreislinie vollkommen egal ist, ob die beiden Punkte nah beieinander oder weit voneinander entfernt sind. Sie zieht sich in genau die Länge, die es eben braucht, um Verbindung nicht abreißen zu lassen. Man kommt nicht davon.
Aber noch während er zum Flughafen fährt, ist er vom Gegenteil überzeugt.
Zeitgleich steigt etwa zweieinhalbtausend Kilometer weiter nördlich, in Berlin, ein Junge mit einem Schulrucksack in den Bus, nicht groß, nicht klein, ein hellbrauner Haarschopf mit wesentlich mehr Wirbeln, als eine Frisur verkraften kann, und Augen, deren Farbe auf den ersten Blick schwer zu bestimmen ist, aber was man sofort sieht, ist, dass da eine gute Portion Schalk ziemlich locker sitzt und auf erstbeste Gelegenheiten lauert. Der Anflug eines Bartes spricht dafür, dass er in einer der oberen Klassen ist.
Es sind nur zwei Stationen, aber es ist heiß, und der Bus ist klimatisiert. Tatsächlich ist dies der erste Tag in einer Kette von Rekordhitzetagen, dem etwas Unwirkliches anhaftet. Die Temperaturen sind viel zu früh viel zu schnell angestiegen. Die Leute blinzeln in die Sonne, als suchten sie eine Erklärung, finden aber nur eine maßlose Helligkeit, die sich an sich selbst zu verschlucken scheint. Natürlich hat er nicht daran gedacht, seine Schülerfahrkarte einzustecken, an einem solchen Morgen, in dieser fiebrigen Gluthitze. Eine Handvoll jüngerer Schüler auf den vorderen Plätzen sehen ihn an wie einen Aussätzigen. Ihre Monatskarten hängen in einer Plastikhülle gut sichtbar am Schulrucksack. Das kann im Prinzip jeder so machen, du auch, sagen ihre Blicke. Die Blicke scheren den Jungen nicht. Er verhandelt, sucht und erklärt, macht unverdrossen Witzchen, die nicht ankommen, bis der sagenhaft schlecht gelaunte Busfahrer ihn durchwinkt, aber so ruckartig anfährt, dass der Junge stolpert und sich gerade eben noch an der Lehne eines Sitzes festhalten kann. Egal, er hat damit zu tun, nach dem Gesicht jener einen zu suchen, die er liebt. Manchmal nimmt sie den Bus, manchmal das Fahrrad, und demnächst wird sie nach Afrika aufbrechen, lange Ferien lang, möglicherweise verlängerte lange Ferien lang. Gerade sehnt er sich von Tag zu Tag und nur über eine Distanz hinweg, die sogar ein Walkie-Talkie überwinden kann. Doch die Strecke wird sich um ein unvorstellbar Vielfaches erweitern. Er hat keine Idee, wohin das dann führen wird. Er denkt sich schon jetzt so intensiv das Ende der Ferien herbei, die noch nicht einmal angefangen haben, dass sich irgendetwas darin schon selbst nach dem Ende von irgendetwas anfühlt.
Aber es ist der Anfang.
JON
Die Mauern des Schulgebäudes sind aus Backsteinen zusammengefügt, die mehr als hundert Jahre lang ihre Fähigkeit zum Temperaturausgleich unter Beweis gestellt haben. Bevor aus solchen Wänden im Winter die Restwärme des Sommers ganz gewichen ist, wird es erneut Sommer, und bevor sich im Sommer die Hitze durch die Steine gearbeitet hat, gibt es die ersten Nachtfröste. Dieser Hitzewelle aber waren selbst die Steine nicht gewachsen. Wie ein riesiger Akku hatten sie sich bereits seit Mitte Mai mit Hitze vollgesogen, Ende Juni war ihre Speicherkapazität erschöpft, und sie begannen, schon vor den Sommerferien, einer widersinnigen Wandheizung gleich, die Wärme statt nach außen nach innen abzugeben.
Auch die Jalousien hatten aufgegeben. Die jedenfalls, auf die Jon gerade schaute, hatte sich auf halber Höhe verhakt und hing schief, die linke Seite ein gutes Stück höher als die rechte, wo die Lamellen sich wie in einer letzten verzweifelten Dienstleistung auffächerten, sinnloserweise. Auf der abschüssigen Aluleiste tanzte ein greller Funke, mittendrin eine Spinne, die sich geradewegs ins Leere gleiten ließ, um vor Jons Augen in der Luft stehen zu bleiben; in einer Luft, die selbst stand. Vielleicht half ihr das. Geradezu auffordernd verharrte sie dort, als suche sie das Gespräch mit ihm. Im gleißenden Licht präsentierte sie sich seltsam überwirklich. Ihm war, als habe er noch nie eine solche Spinne gesehen, ja, als habe er überhaupt noch nie eine Spinne gesehen, wie sie wirklich war. Standen Spinnenaugen tatsächlich so nah zusammen? Sahen diese hier ihn an, so, wie seine Augen sie ansahen? Hatten Spinnen tatsächlich derart viele Haare am Leib? Und warum war diese hier gelbschwarz gestreift wie eine Wespe? Ob die hier überhaupt heimisch war? Womöglich war sie von weit her eingewandert, auf langen Wegen, über die nachzudenken ziemlich unterhaltsam wäre.
Als könne sie Gedanken lesen, fing die Spinne an, sich an ihrem seidenen Faden zügig auf und ab zu bewegen. Sie nickt, dachte Jon. Wie macht sie das bloß? Saugte sie den Faden ein, oder spulte sie ihn auf? Wo in diesem winzigen Körper verschwand er, und wie wurde er wieder ausgestoßen? Ob ihr schwindelig wurde bei diesem heftigen Auf und Ab? Oder war so ein Spinnengehirn unerschütterlich? Wie viel Kraft sie dieses Freeclimbing wohl kostete? Wo in diesen dünnen Beinchen versteckte sich die erforderliche Muskelmasse? Ihm fiel auf, dass er so gut wie nichts über Spinnen wusste. Aber schön war es, in den Halbschatten zu blinzeln und dieser Art Fragen nachzuhängen, die nicht unmittelbar beantwortet werden mussten; so schön, dass Jon die Änderung in der Stimmung erst spürte, als es im Klassenraum bereits sehr still geworden war. Wie lange hatte es schon gedauert, dieses stumme Schauen der Anderen, halb gelangweilt, halb sensationslüstern – bis er Sunnys Blick gefunden hatte, fragend und beschwörend? Wie lange hatte es gedauert, bis er Hören und Sehen wieder halbwegs zusammengebracht hatte und die Worte des Chemielehrers an sein Ohr drangen?
»Wir wünschen Jon, der die Schule verlässt, jedenfalls alles Gute für seinen weiteren Weg«, sagte der Lehrer, und, wieder an die Klasse gewandt, »wir anderen sehen uns dann in alter Frische nach den Ferien.«
Was war das hier? Ein Tagtraum? Ein Witz? Es musste doch irgendwie zur Versetzung gereicht haben. Hatte er nicht sogar zwei, wenn nicht drei Einsen eingeheimst, und die Fünfen – nicht mehr als sonst, würde er meinen. Es hatte keine Briefe, keine Gespräche, nur die üblichen Ermahnungen gegeben. Es musste sich um ein Versehen handeln, denn selbst wenn er sitzenbleiben würde, wäre Sitzenbleiben immer noch das exakte Gegenteil von ›die Schule verlassen‹. Sitzenbleiben, dachte er. Sitzenbleiben. Wieso blieb er sitzen? Er blieb sitzen, weil er nicht aufstehen konnte, nicht aufstehen konnte er und nicht gehen und schon gar nicht die Schule verlassen. Er starrte auf die Hände des Lehrers, die die ledernen Laschen seiner Aktentasche schlossen.
»Sag nicht, dass du das nicht wusstest.«
Was war das – das, was er nicht wusste?
»Nun, es hat wieder nicht gereicht. Und inzwischen hast du genug Schuljahre hier abgesessen. Tja …«
In Jons Kopf verfingen nur das erste und das letzte Wort. Alles, was zwischen nun und tja gesagt worden war, hatte er gehört, aber nicht verstanden. Aber nun tja signalisierte, dass etwas beschlossen und besiegelt war, gegen ihn, ohne ihn. Nun tja sagte nicht viel, aber immerhin eines, nämlich, dass er hier wegmusste. Jon stand auf, ihm wurde schwarz vor Augen. Wenn du jetzt nicht sofort losläufst, dachte Jon, wenn du dich nicht in Sicherheit bringst, bevor du umfällst, wird er dich hier liegen lassen und mit einem nun tja über dich hinwegsteigen, alle werden das tun, dachte Jon. Alle außer Sunny. Er lief am Lehrer vorbei auf den Flur, wo sie wartete, leichenblass.
»Du bist ganz blass«, sagte Sunny.
Er sah, dass ihre Knie zitterten, und er sah, dass sie seine Knie zittern sah. Er fühlte es nicht, er sah es.
»Ich muss nur kurz noch mal rein, bin gleich wieder da«, sagte Sunny.
Sie ging rein, und er war draußen.
Seit Sunny, die Nomadin, in seine Klasse gekommen war vor einem guten halben Jahr, hatte er Angst davor gehabt, dass sie wieder gehen würde. Diese Schule passte nicht zu ihr, aber er, Jon, er passte zu Sunny, und es hatte eine Weile gedauert, bis Sunny das wahrgenommen hatte, und wo anders als in der Schule hätte er sie das merken lassen können? Und jetzt, gerade jetzt, nachdem auch Sunny begriffen hatte, wie gut sie zusammenpassten, obwohl sie und er auf unterschiedliche Weise nicht in die Schule passten, und es jetzt so hätte weitergehen können, denn jetzt waren sie zu zweit, war es andersrum gekommen, dachte er, und genau in diesem Moment fing es an. Zuerst drehten sich die Schließfächer um ihre eigene Achse, dann kippten die Kakteen auf der Fensterbank weg. Der Boden hob und senkte sich. Die Bewegung der Dinge um ihn herum erfasste seinen Magen, es stieg ihm sauer die Kehle hoch, er schaffte es gerade noch aufs Klo. Kein Fenster war hier zu öffnen, kein Papier im Halter, keine Seife, um, was auf seinem T-Shirt gelandet war aus einem sich mehrfach umdrehenden Magen, wegzuwischen. Er versuchte, die Flecken mit Wasser auszuwaschen, sah sein Gesicht im Spiegel, weiß, wie die Kacheln hinter ihm. Jon lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. So, wie er aussah, konnte er nicht zurück auf den Flur.
Er wartete ab, bis die Pause vorbei war und es draußen still wurde. Sicher würde Sunny vor der Tür des Klassenzimmers auf ihn warten. Aber sie war nicht da. Er suchte sie auf allen Stockwerken, raste die Treppen rauf und runter, fand sie nicht. Es konnte nicht sein, dass sie einfach wieder reingegangen war in den Unterricht. So war sie nicht. Sie war keine von der Nun tja-Fraktion. Oder doch? Jon setzte sich auf einen Treppenabsatz. Wie still es hier war während der Unterrichtszeit. Waren die Wände immer schon gelb gewesen? All die Jahre? Er stand auf und legte eine Hand auf die Wand – vielleicht war sie ja gerade frisch gestrichen worden, und er hatte es mal wieder nicht mitbekommen, wie er das meiste, was hier ablief, nicht mitbekam. Aber die Farbe war nicht frisch. Er konnte sich gerade noch beherrschen, den Schüler, der ihm auf der Treppe entgegenkam, danach zu fragen, ob die Wände immer schon so gelb gewesen waren, so gelb, so unfassbar gelb. Das Gelb schmerzte in seinen Augen.
Als er die Tür zum Hof öffnete, war es, als würde eine Flut von Scheinwerfern dieses Gelb in seinen Augen anstrahlen und seine Sehkraft auslöschen. Wie blind musste er sich darauf verlassen, dass seine Beine den Weg finden würden. Seine Beine, die so unwirklich leicht gewesen waren beim Hoch- und Runterlaufen. Jetzt waren sie ohne jedes Gewicht, nicht mehr zu fühlen, obwohl sie liefen und liefen. Wie ein Hund oder eine Katze wissen, wohin sie zurückmüssen, so wussten es auch seine Beine. Geblendet, körperlos, wie ein Geist auf der Flucht, lief er nach Hause.
Er schloss die Wohnungstür auf und sah seine Mutter in der Küche sitzen, ein Buch in der Hand. Neben ihr der dampfende Reiskocher. Immer kochte sie Reis, nein, sie ließ den Reiskocher Reis kochen, saß daneben und las. Im Reiskocher konnte der Reis nicht anbrennen, im Gegenteil, der Reiskocher hielt den Reis genau richtig warm, auf den konnte man sich verlassen, daneben sitzen und so tun, als würde man kochen. Gerade im Sommer könne man sehr gut von Reis, Ketchup und Salatgurken leben – meinte seine Mutter. Und Geld spare es auch. Geld war in letzter Zeit ein Thema gewesen.
»Ich bin raus aus der Schule«, sagte Jon.
Seine Mutter hob kurz den Kopf. Sie sah aus wie jemand, der von sehr weit herkam, für eine kurze Zwischenlandung.
»Sehr schön, Essen ist gleich fertig.«
Der dampfende Reiskocher, die aufgeschnittene Salatgurke und die Flasche Ketchup daneben brachten Jon mit einem Ruck zurück in einen halbwegs normalen Zustand. Er spürte seine Beine wieder, schwerer als sonst. Einen viel zu leichten Körper auf viel zu schweren Beinen musste er in sein Zimmer balancieren. Er konnte gerade noch das T-Shirt ausziehen und die Vorhänge zuziehen gegen das gleißende Mittagslicht, bevor er aufs Bett fiel – und nicht aufhörte zu fallen. Was war das? Langsam und intensiv, fast genüsslich zeigte ihm das Fallen, was es war: eine bodenlose Senkrechte. Er fiel und wollte es nicht. Niemand will in eine solche Bodenlosigkeit fallen. Er müsste sich wieder hochhangeln wie die Spinne an der Jalousie, aber er fiel. Fiel immer schneller. Das Fallen selbst war ohne Ziel, es blieb in der Schwebe. Leichtigkeit fuhr ihm in die Glieder und zwischen seine Organe, ein nur noch lose zusammengefädelter Jon war das hier, dessen Kopf auf einmal mühelos mit den Fallgesetzen jonglieren konnte.
Schwerkraft und Schwerelosigkeit, das musste es sein. Die Schwerkraft ließ fallen, die Schwerelosigkeit hielt dagegen. Beide zusammen erschufen die schwebende Unendlichkeit. Gleich würde ihm die Formel dazu einfallen. Sie dämmerte ihm schon. Aber was, wenn die Schwerkraft die Schwerelosigkeit eine Sekunde aus dem Auge verlieren würde? Wie lange schon fiel er? Wie lange würde er noch fallen? Jedes Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Sein Gesicht fühlte sich klamm an. Waren das Schweißtropfen? Seit wann kostete Fallen Kraft? Jedenfalls müssten Schweißtropfen im Fallen trocknen und sein Gesicht kühlen. Aber nein, er schwitzte nicht, er kühlte nicht ab. Weinte er? Ja, vielleicht weinte er, ohne es zu wollen, ohne es anhalten zu können, ohne zu fühlen, dass er weinte, wie er auch, ohne seine Beine zu fühlen, nach Hause und die Treppe hochgekommen war. Fühlen war offenbar überbewertet. Es ging auch ohne. Dieser Gedanke wirkte auf ihn befreiend. Dann fiel er eben. Auch nur eines dieser Fallgesetze, dass ab einem bestimmten Punkt das Fallen ohne Widerstand des fallenden Körpers funktionierte. Der Widerstandsauflösungspunkt. Hatte er davon nicht schon einmal gehört? Das Wort kam ihm erst bekannt vor, dann wie nie gehört.Immer nasser wurde sein Gesicht. Es regnet, dachte Jon, darauf haben doch alle gewartet, nun ist es so weit. Warum sollte es kein Wetter geben in der Unendlichkeit? Warum nicht? Warum nicht? Ein Lachen saß ihm in der Kehle. Das Lachen ließ ihn im Bett aufsitzen, und sobald er saß, war klar, dass nicht Tränen ohne Weinen, Schweiß ohne Schwitzen, dass nicht Regen ohne Wetter sein Gesicht benetzten, sondern Wassertropfen, einfache Wassertropfen, die, einer nach dem anderen, von der Zimmerdecke auf ihn herabfielen.
Er griff nach der Taschenlampe neben seinem Bett und leuchtete nach oben, mitten in die Geburt eines Wassertropfens hinein. Ein schimmernder Strich zog sich an der Zimmerdecke zusammen, begann sich zu runden, löste sich ab und fiel. Er spürte ihn auf seinem Arm aufkommen und glaubte es nicht. Denn wie hätten diese Tropfen und alle Tropfen vor diesem ihn überhaupt erreichen können? Er selbst war ja im freien Fall, hatte Vorsprung, die Wassertropfen würden ihm immer nur folgen, ihn aber nie erreichen, durch das Dunkel, durch die Stille, in alle Ewigkeit. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf seinen Arm, wo er eben noch den Tropfen gespürt hatte, aber jetzt nichts sah. Natürlich nicht, denn es konnte ja gar nicht – der Fall sein.
Das war also gemeint, wenn man von Leuten sagte, sie seien geistig umnachtet, dachte Jon. Leute, die genauso dachten, wie er jetzt gerade dachte. Das leuchtete ihm vollkommen ein, was ja wiederum nichts anderes bedeutete, als dass Erleuchtung und geistige Umnachtung einander nicht ausschlossen. Wahnsinn, dachte Jon, Wahnsinn, als mitten in diese Gedanken hineinplötzlich der reale Irrsinn ausbrach. Er hörte seine Mutter fluchen und seinen Namen rufen. An der Tür klingelte es Sturm, laute Stimmen im Hausflur, hastiges Getrappel auf den Treppen.
»Raus hier«, rief seine Mutter. »Das Wasser kommt durch die Lampen und den Sicherungskasten. Nichts anfassen. Raus raus raus.«
Wenig später fand Jon sich mit den anderen Bewohnern der dritten Etage auf dem Gehweg wieder. Irgendjemand hatte aus einem Umzugswagen, der ein Haus weiter in der zweiten Reihe parkte, einen Klavierhocker gegriffen und ihn Livia Gentangeboten, ein anderer hatte ihr einen Kaffee geholt. Als Wissenschaftshistorikerin, Schwerpunkt Vorsokratiker, Spezialgebiet Geometrie, und dauerreiskochende Mutter war sie den Wechsel der Welten gewohnt, aber nicht derart rasch. Das sah man ihr an. Als sie sich etwas gesammelt hatte, fiel ihr Blick auf Jon, der sich an die Hausmauer gelehnt hatte und ebenfalls noch sichtlich mit einer abrupten Rückkehr aus einer anderen Dimension kämpfte. Als ob ihr hier und jetzt, mitten auf dem Gehweg, auf einem kleinen runden Klavierhocker, der wer weiß wem gehörte, auf einmal der doppelte Boden bewusst wurde, der in Jons Äußerung gelegen hatte, fragte sie:
»Wieso raus aus der Schule? Du bist doch lange noch nicht fertig.«
»Aber sie sind fertig mit mir.«
Schweigen.
»Ich muss nicht mehr hin. Darf nicht.«
Livia Gent nickte langsam, gleichsam vorsichtig, um das allmähliche Begreifen in ihrem Kopf nicht zu erschüttern, in dem das Wort Schulpflicht eine Metamorphose durchmachte, von etwas Notgedrungenem zu etwas Willkürlichem. Ihr ausdrucksloses Gesicht zeigte, dass sie zu keinem Ergebnis kam. Stattdessen hielt sie Jon, obwohl sie sehr gut wusste, dass er keinen Kaffee trank, ihren Kaffeebecher hin – als wolle sie ihn sicherheitshalber schon mal in der Erwachsenenwelt ohne Schule willkommen heißen. Anderswo gab es für diese Art Übergang Kämpfe mit wilden Tieren,Schnitte mit scharfen Messern oder Sakraltänze. Hier gab es, schien ihr Gesicht zu sagen, zwar gerade nichts – aber immerhin gab es Kaffee.
Jon nahm den Becher, trank einen Schluck, gab ihn wieder zurück. Er schmeckte nichts außer Bitterkeit.
Inzwischen war die Vermieterin eingetroffen. Trotz der Hitze hatte sie einen weiten Mantel über ihre Yogaklamotten geworfen. Jemand musste sie direkt aus der Endentspannung zum Wasserschaden geholt haben. Sie nahm das Handy nur vom Ohr, um immer weitere Nummern zu wählen,im hektischen Bemühen, aufzuklären, wo die Mieterin aus dem vierten Stock abgeblieben war, in deren Wohnung offenbar aus allen Hähnen Wasser schwoll, und nicht erst seit eben.Alle auf dem Gehweg Versammelten konnten mitverfolgen, dass die Mieterin von oben offenbar vor Jahr und Tag ihre Wohnung untervermietet hatte und diese Untermieterin regelmäßig und ungenehmigt die Wohnung über Airbnb weitervermietet hatte, wobei die letzte Buchung nicht selbst anreisen konnte, sondern die nicht stornierbare Anmietung der Freundin ihrer Schwester überlassen hatte, einer jungen Frau, die offenbar just in dem Moment angereist war, als gerade kurzfristig das Wasser abgestellt worden war, um das Hauptrohr zu warten. Die kolumbianische Touristin musste alle Wasserhähne aufgedreht und, als sich nichts getan hatte, umgehend das Weite gesucht haben – nicht ohne eine vernichtende Bewertung abzugeben, die jetzt allerdings half, die verhängnisvolle Kette des Wasserschadens zu rekonstruieren. Die Vermieterin kommentierte jeden Schritt dieser Aufdeckung mit einem: ›Die fliegt so was von achtkantig aus der Wohnung.‹ Der Weg von achtsam zu achtkantig war anscheinend fußläufig.
Ein Klempner kam aus dem Haus. Er trocknete sich Gesicht und Hände mit einem großen Stofftaschentuch, das er lose wieder zusammenfaltete und bedächtig in die Hosentasche steckte.
»Hier geht erst mal janüscht mehr«, sagte er. »Das wird dauern. Gefahr im Verzug.«
»Wohin jetzt mit uns?«, fragte Jons Mutter.
Die Vermieterin sah sie irritiert an. Hatte man nicht irgendwo eine Zweitwohnung für solche Fälle? Der Hausmeister Herr Al-Musawa, der an der Seite des Notdienst-Klempners Türen geöffnet, Hähne zugedreht und Steckdosen gesichert hatte, stand da, mit Schlüsselbund und Rohrzange, und wartete, ob seine Chefin von selbst draufkommen würde. Als sie nicht von selbst draufkam, sagte er: »Umsetzwohnung.« Und zu Jons Mutter: »Sie müssen eine Umsetzwohnung bekommen, Frau Gent.«
Woher und wieso kannte er dieses Wort? Erst vor drei Jahren war er nach Deutschland gekommen. Im Haus erzählte man sich, dass er auf ihr Geheiß hin rostige Herde und stumpf gewordene Spülbecken aus Kellerverschlägen in neu vermietete Wohnungen stellte, um sie dort der Vermieterin, die durch das Berliner Wohnaufsichtsgesetz gehalten war, Herd und Ausguss bereitzustellen, zu präsentieren – mit einem melancholischen, aber nicht hoffnungslosen Blick, der in etwa zu übersetzen war in:›Sie wollen nicht die Vermieterin sein, die für eine Miete, fünfundzwanzig Prozent über dem Mietspiegel, dieses Monster von einem Herd anbietet.‹ Und, was niemand hier im Haus für möglich gehalten hätte, die Vermieterin ließ neue Herde und Spülen springen. Seit er bei ihr angefangen hatte, erzog Herr Al-Musawa seine Chefin mit sanfter Autorität zu einem besseren Menschen. Und sie ließ es geschehen, wahrscheinlich aus dem Gefühl heraus, dass es einen besseren Lehrer als ihn nicht geben würde und es höchst unsicher bis sehr unwahrscheinlich war, dass das Leben ihr, wenn sie diese Chance nicht ergriffe, ein zweites Mal einen Herrn Al-Musawa vorbeischicken würde. Sie war noch nicht ganz verloren.
Nun wiederholte sie das Wort »Umsetzwohnung« wie etwas nie Gehörtes. Sie war eine Erbin, keine Mietsachverständige. Immerhin war sie mit Mietangelegenheiten so weit vertraut, dass sie mit einer irgendwo und irgendwann korrekt abgeschlossenen und korrekt mitvererbten Versicherung auch im Falle schwerer Havarien rechnen konnte und durfte. Sie nickte, wenn auch zögerlich. Herr Al-Musawa sah sie freundlich und nachsichtig an.
»Irgendwo müssen Menschen wohnen«, sagte er.
Ein zaghaftes, fast schüchternes Lächeln huschte über das Gesicht der Vermieterin und machte es nahezu sympathisch. Ihre Umerziehung hatte ein neues Level erreicht. Es war ein langsamer, aber stetiger Prozess, und es war der Mühe wert. Vielleicht sogar einen Wasserschaden.
Jon sah, wie seine Mutter, den Rücken streckend, den Becher absetzend, langsam wieder zu alter Form auflief.
»Herr Al-Musawa«, wandte sie sich an den Hausmeister, »ich brauche für die Umsetzwohnung meinen Reiskocher von oben. Kann ich den eben noch holen?«
Der Hausmeister nickte, als sei es ein weiterer, im Berliner Wohnungsaufsichtsgesetz fest verankerter und allgemein bekannter Bestandteil, dass im Falle von Havarien nicht nur alle Bewohner und Bewohnerinnen, sondern auch sämtliche Reiskocher zu evakuieren seien.
»Augenblick, bitte«, sagte er und nickte dem Elektriker zu, »wir schauen, was wir tun können.«
Wenig später hatte Livia Gent den Reiskocher auf dem Schoß. »Fast fertig«, hatte Herr Al-Musawa gesagt, als er ihr den Kocher übergeben hatte. Ihr Gesicht hatte sich entspannt. Die Arme locker um die Aluminiumverkleidung des Kochers gelegt, harrte sie der Dinge, die da kommen mochten. Von seinem Schattenplatz dicht an der Hausmauer her sah Jon seinen Vater und seine beiden Schwestern heraneilen.
»Wir kriegen eine Umsetzwohnung«, sagte Jon, als sie nahe genug waren – und während er es aussprach, durchfuhr ihn der Gedanke, dass sich mit einer Umsetzwohnung vielleicht ja auch eine Umsetzschule für ihn hervorzaubern ließ. Wenn man schon nicht mehr versetzt werden konnte, konnte man möglicherweise ja noch umgesetzt werden.
»Großartig«, sagte sein Vater.
Die Begeisterungsfähigkeit der Zwillinge war noch immun gegen ironische Zersetzung.
»Super!«, jubelten sie. »Wo ist sie, diese Umsetzwohnung?«
Die Umsetzwohnung lag in einem Stadtteil, den Jon bislang nur aus dem Radio, von den Verkehrsmeldungen her kannte, und als sie in der Wohnung waren, war schnell klar, warum, denn sie wohnten gewissermaßen über einer Kreuzung. Jon saß auf einem Schlafsofa und konnte nicht schlafen. Die Ampelfarben irrlichterten über die Wände der notmöblierten Wohnung und die Gesichter der schlafenden Zwillinge. Deren anfänglicher Sinn fürs Abenteuerliche hatte sich gelegt, als sie entdeckten, dass der Kühlschrank in der Umsetzwohnung leer war, die Dusche nur lauwarm und die Betten nach Zigaretten rochen. Jons Eltern hatten Mühe gehabt, ihnen das Gefühl auszureden, sie seien schuld daran, dass es nur diese erbarmungswürdige Wohnung für sie gab.
»Fünfköpfig?« – Dieser entsetzte Ausruf der Hausverwaltungsangestellten war selbst durch das Telefon gut hörbar gewesen. Die Zwillinge hatten einander betroffen angesehen. War ihre ungeplante Verdoppelung das Problem? Vielleicht wäre vierköpfig gar kein Problem gewesen, fünfköpfig aber schon. Aus irgendeinem Grund hatten sie schon als Kleinkinder, wenn nicht sogar bereits als Babys, ein Gefühl für den Quantensprung von vier zu fünf entwickelt und die Entscheidung getroffen, ihr Doppeltsein durch Unauffälligkeit zu kompensieren. Wie auf eine geheime Verabredung hin wuchsen sie nach dem Abstillen auf eine Weise heran, die ihre Eltern nicht besonders forderte, obwohl die sich sieben Monate lang auf die totale Überforderung eingestellt hatten. Livia Gent hatte sich innerlich bereits von den Vorsokratikern und Marius Gent von der Historischen Bauforschung verabschiedet. Ohne jeden Grund, denn die Zwillinge beschäftigten sich weitgehend miteinander, zogen sich hier oder da ein paar Schrammen, aber nie ernsthafte Verletzungen zu, waren weder besorgniserregend gut noch besorgniserregend schlecht in der Schule. In ihren Zeugnissen wurde ihr ausgeglichenes Wesen hervorgehoben. So hatten sie sich auch jetzt, nach der enttäuschenden Wohn- und insbesondere Kühlschranksituation einfach mit je einem Kissen nebeneinander auf den Boden gelegt und waren kurze Zeit später tief und fest eingeschlafen.
Jon dagegen lag wach und beobachtete, wie die Ampellichter die seltsam verteilten Dübellöcher in der ausgefransten Raufasertapete ausleuchteten. Zwischen zwei Ampelphasen kam ihm die Erleuchtung, warum alles so schiefgelaufen und im freien Fall gemündet war. Es war passiert, weil er dem Spanischlehrer keinen Kuchen gebacken hatte. Er hatte die sicheren und die möglichen Fünfen mit den guten Noten gegengerechnet und war darauf gekommen, dass er in Spanisch die eine Fünf eingefahren hatte, die zu viel war. Er war sich, hier auf dem Schlafsofa, inmitten des Scheinwerferkarussells, auf einmal absolut sicher, dass es Spanisch gewesen sein musste, obwohl die Vokabeltests halbwegs in Ordnung gewesen waren, jedenfalls zu Beginn des Halbjahres. Mündlich allerdings, und die Klausuren –
Der Spanischlehrer war nett zu denen, die zu ihm nett waren. Es gab zwei Arten von Schülern. Die, die rausbekamen, wann ihr Lehrer Geburtstag hatte, die ihm Kuchen backten, und die, die eine Bemerkung fallen ließen über die, die sich für die Geburtstage ihrer Lehrer interessierten und ihnen Kuchen backten. Zwischen zwei Noten konnte ein Kuchen den Ausschlag geben, und zwischen einer Vier minus und einer Fünf plus entschied am Ende Double Choc und New York Cheese. Warum hatte er nicht rechtzeitig eine Backmischung gekauft oder sich wenigstens an eine Backgruppe rangehängt? Wahrscheinlich, weil Kuchenbuffets bei den Gents keine Familientradition hatten. Schon in der Grundschule hatte seine Mutter unweigerlich ihre Salatgurken aufgeschnitten für alle Feiern, die unter backender Mitwirkung der Eltern stattfanden. Immer waren ihre Gurkenscheiben liegen geblieben und beim Abbau der Tische von irgendeiner Mutter mitgenommen worden, die fand, für eine Gesichtsmaske würden sie noch reichen.
Es hatte nicht gutgehen können mit ihm und Schule.
Am nächsten Morgen, die Zwillinge schliefen noch, gingen sie zum Bäcker frühstücken. Livia und Marius Gent befanden, dass sie zwar nicht für Noten, aber doch dafür, dass Noten nicht das Ordnungsgemäße und Verhältnismäßige dieser Welt aus den Angeln heben durften, zuständig seien und schnellstmöglich den Direktor noch erwischen müssten. Denn erstens handele es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen Irrtum, und zweitens hätte es an sie, die Sorgeberechtigten, sorgeberechtigt im mehrfachen und wörtlichsten Sinne des Wortes, Briefe geben müssen, Termine hätten vorgeschlagen, Gespräche hätten geführt werden müssen. Auf ein Aus musste man vorbereitet werden. Selbst Schüler ohne Gewerkschaft und Jugendliche ohne Lobby hätten doch wohl mindestens dieses Recht, ihrer Meinung nach. Das Gespräch ging über Jon hinweg, der ja für sich selbst nicht sorgeberechtigt war (oder doch?) und auf einer Parallelspur darüber nachdachte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Schule sich irrte, groß war, aber klein, dass sie es zugeben würde.
»Außerdem sind Fehler menschlich«, sagte sein Vater in diese Gedanken hinein, »und so ein Direktor ist letztlich auch nur ein Mensch. Auf geht’s. Wir bringen das hinter uns.«
Ein Mensch? Möglicherweise. Jonkannte den Direktor nur von dessen Ansagen, die regelmäßig über die Lautsprecher kamen. »Hier spricht Doktor Rost.« Konnte man das Kennen nennen? Es gab immer mal wieder Gerüchte, es gäbe ihn gar nicht. Bei offiziellen Anlässen sprachen abwechselnd seine Stellvertreter. Bis einer aus der Zwölften, Jorge, kurz vorm Abi der Schule verwiesen wurde, weil er komplett bekifft mit einer Farbpistole etwas an die Schulmauern gesprayt hatte, was einerseits nach Spanisch und andererseits nach Schimpfwörtern klang. Einige Buchstaben waren verwischt, andere kaum leserlich. Es hatte jedenfalls für den Rausschmiss des Abiturienten gereicht, der somit ab sofort kein Abiturient mehr sein würde, weder an dieser Schule noch an einer anderen. Das Letzte, was er bei seinem unfreiwilligen Abgang den anderen zugerufen hatte, war, dass es »ihn« doch gebe. Und wie!, hatte er dreimal durchs Treppenhaus gerufen, und wie, und wie!
Dass es ihn gab, hieß streng genommen nicht, dass er auch nur ein Mensch war, dachte Jon. Auf dem Weg zur Schule ging Jorge ihm nicht aus dem Kopf. Damals hatte es lange gedauert, bis die Fassadenreiniger kamen. Das hätte Jorge gefreut. Als sie schließlich da waren, mit ihren Bürstenaufsätzen und Spezialspülmitteln, hielt eine Mutter, die gerade an der Aufsicht vorbei in den Schulhof gehetzt kam, plötzlich inne, sah zu den Männern hoch, bewegte die Lippen, lächelte versonnen, schüttelte unwillig den Kopf, ging zurück zur Pausenaufsicht und meinte: »Darf ich mal fragen, warum Sie da Weltliteratur abschrubben lassen?« Es stellte sich heraus, dass die gesprayten Zeilen aus dem Gedicht eines berühmten chilenischen Antifaschisten und Nobelpreisträgers stammten – was in den ungelenken Buchstaben, die ein Algunas Bestias ergaben, niemand erkannt hatte, nur ebenjene Mutter, die ihrem Sohn das Sportzeug nachtrug, weil sie Sport wichtiger fand, als dass ihr Sohn es lernen musste, an sein Sportzeug zu denken. Aber da war es sowieso zu spät gewesen. An Jorge konnten sich da die wenigsten noch erinnern. Auch Jon hatte ihn schnell vergessen, aber jetzt, mit Blick auf die Mauern der Schule, stand ihm sein Gesicht, schmal und lebhaft, so deutlich vor Augen, dass er meinte, gleich, auf dem Weg zum Direktorenzimmer, würde er dastehen, mit Spraydose und einem vielsagenden Lächeln. Du hoffst noch?
Warum denn nicht? Zeugnisse können bis zur letzten Sekunde geändert und neu geschrieben werden, hieß es doch immer in den letzten Schulwochen, auch eine Vier könne im Handumdrehen noch zur Fünf werden. Und dann kann ich euch auch nicht mehr helfen. Theoretisch müsste das auch umgekehrt gelten, dachte Jon, warum eigentlich immer nur zum Schlechten? Nachprüfung,Probeversetzung, irgendetwas würde schon noch gehen.
Im Sekretariat hob die Sekretärin kurz den Kopf. »Name?«, fragte sie.
Die Gents sahen sich einen Moment lang verunsichert an. Die Sekretärin bezog es auf ihre Ein-Wort-Frage. Vielleicht hatte sie selbst gemerkt, dass darin ein Freundlichkeitsdefizit offen zutage trat.
»Was denn«, sagte sie, »wir haben derzeit 1257 SuS. Da kann ich mir wirklich nicht jeden Namen merken.«
»SuS«, sagte seine Mutter.
»Verständlich«, sagte sein Vater.
»Jonathan«, sagte Jon, »Jonathan Gent. Und das sind meine Eltern.«
Er nahm das Erstaunen seiner Eltern wahr. Entweder darüber, dass nach etlichen Jahren Schulbesuch ein Schüler der Sekretärin nicht bekannt war, oder darüber, dass seine Umgangsformen so viel besser waren, als sie gedacht hatten.
»Wir sind hier, um das Missverständnis aufzuklären, dass Jon von dieser Schule abgehen soll«, sagte Jons Vater.
Die Sekretärin sah ihn ausdruckslos an.
»Also, wir wussten gar nichts davon, sind nicht informiert worden. Wir haben keine Briefe bekommen.«
Jetzt sah die Sekretärin ihn an wie einen armen Irren. In ihrem Gesicht standen Sätze geschrieben wie: Wissen Sie, wie oft einer wie Sie es hier auf diese krumme Tour versucht? Glauben Sie wirklich, dass wir auf derart billige Tricks hereinfallen? Aber alles, was sie sagte, war: »Gehen Sie schon mal rein. Er kommt sicher gleich.«
Im Zimmer dessen, den es vielleicht gar nicht gab, setzte Livia Gent ihre Brille auf, die sie eigentlich nur zum Lesen brauchte. Marius Gent starrte aus dem Fenster. Jon schlug das Herz bis zum Hals, und er hoffte, dass man das nicht sah. Es gehörte sich nicht, dass einem das Herz in der Schule höherschlug.
Auf einmal war er da. Ein mittelgroßer, schwerer Mann war ins Zimmer getreten, leise wie ein Katzentier. ›Guten Tag‹ hielt er nicht für nötig. Er sah sie nicht an, er sah auf die Uhr, während er sich setzte.
»Bitte«, sagte er.
»Wir sind hier, um ein Missverständnis aufzuklären«, sagte sein Vater.
»In Spanisch müsste es im Prinzip doch gereicht haben«, sagte Jon.
»Ich habe über Schulpflicht und Fürsorgepflicht nachgedacht«, sagte seine Mutter.
Mit unbewegter Miene hatte der Direktor zugehört, blätterte wortlos in den Papieren, die die Sekretärin ihm hingelegt hatte, stieß dann mit einer abrupten Bewegung seinen Stuhl zurück, griff im Sitzen ein dickes blaurotes Buch aus dem Regal, knallte es auf den Tisch und sagte: »Lesen Sie selbst nach. Zehn Jahre Schulbesuch. Dann ist der Beschulung Genüge getan. Gerade bei Kandidaten wie ihm hier, der meint, eine Extrarunde nach der anderen drehen zu können.«
»Aber er hat noch gar keinen Abschluss«, sagte Jons Vater, »dafür muss es doch irgendeine Lösung geben, eine Perspektive.«
»Wenn einer meint, er müsse die Sache hier nicht ernst nehmen, dann geht er eben sehr gern ohne Abschluss von der Schule«, antwortete der Direktor.
Sehr gern? Nein, er wollte weder ohne Abschluss noch ohne Sunny von der Schule gehen. Sehr gern wollte er das – nicht.
Jon sah seine Mutter den Kopf schütteln und war sicher, dass auch sie an diesem eigenartigen sehr gern hängen geblieben war, das da nicht reinpasste und doch voller Absicht reingeschoben worden war in diesen Satz. Noch bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, erhob sich der Direktor halb vom Stuhl, stützte seinen gewaltigen Oberkörper mit jeweils drei schnell weiß anlaufenden Fingern auf der Tischplatte ab, beugte sich vor, wie um sie anzubrüllen, blieb aber leise, gefährlich leise: »Ich sag Ihnen mal was, er hat seine Chance gehabt.«
Seine Leibesfülle machte eine Vierteldrehung, wie von einem Automaten angetrieben, und wurde jetzt nur noch von den rechten drei Fingern abgestützt. Ob die ihn halten würden, sicherlich mehr als hundert Kilo, fragte sich Jon, und wenn nicht – wenn sie ihn nicht hielten und der schwere Mann vor ihren Augen mit dem Gesicht auf die Schreibtischplatte knallen würde –, würde das dann Selbstverletzung genannt werden, oder würden sie, die Familie Gent, Vater, Mutter, Sohn, als Zeugen oder als Verdächtige für Fremdeinwirkung verhört werden? Aber wenn er, Jon, dann sofort Erste Hilfe leisten würde, wäre das am Ende Grund genug, ihn doch wieder zur Schule gehen zu lassen? Weil er so nett gewesen war, das Leben des Direktors zu retten?
Der Direktor, ihn zum ersten Mal in diesem Gespräch direkt ansehend, fiel nicht vornüber, er sackte nicht zusammen, er sagte: »Wenn du mich fragst, du gehörst nicht hierher.«
Jon hatte ihn nicht gefragt, er hatte über die Stützkraft von drei Fingern nachgedacht und über Erste Hilfe.
»Mach Platz für andere, die etwas lernen wollen. Andere kommen mal vorbei und sprechen über ihre Fehler. Was sie falsch gemacht haben, wo es besser werden kann. Er hier hat das ja wohl nicht nötig. Du fliegst. Basta.«
Er hatte ja noch nicht mal sicher gewusst, ob es ihn überhaupt gab, dachte Jon. Er sah, er hörte förmlichLuft in die Lungen seiner Mutter einströmen, Atem für vieles, was zu sagen sie willens und bereit war. Sein Vater erhob sich, beugte sich ebenfalls leicht vor und sagte: »Sie…«
»Sie wollen mir drohen?« In den Augen des Direktors blitzte eine Hoffnung auf, fast eine Bitte: Schlag zu, damit ich dich vernichten kann, vernichten ist meine Bestimmung.
»Sie – müssen meinen Sohn mit Sie ansprechen. Er ist sechzehn. Merken Sie sich das.«
Ausgerechnet sein Vater, dachte Jon, der bis zur Peinlichkeit niemanden mehr siezte. Der Direktor riss die Tür auf. Eine Flügeltür, so breit, dass sie zu dritt nebeneinanderher hindurchkamen. Die Sekretärin sah sie kommen und griff in die Schublade. Jetzt, dachte Jon, jetzt gibt sie mir das Versetzungszeugnisund sagt: Das war jetzt alles für ›Versteckte Kamera‹, sorry, und natürlich bist du versetzt, und wir freuen uns, dass du unsere Oberstufe besuchen und der Schule eines Tages Ehre machen wirst, du mit deiner Eins in Englisch und Sport. Und der Zwei plus in Erdkunde. Aber sie hielt ihm eine Bonbondose hin.
»Es muss nicht jeder Abitur machen, weißt du?«, sagte sie. »Ich meine, Sie«, schob sie hinterher, unsicher auf Jons Vater schauend. Sie sah aus, als wolle sie noch mehr sagen, etwas in der Art von: ›Ich hatte auch mal hochfliegende Pläne, und jetzt bin ich hier bei diesem Choleriker gelandet und versorge ihn mit Kaffee. Willkommen im Klub.‹
Jon ignorierte die Bonbons. Sie hatten das Vorzimmer schon fast verlassen, als sie den Direktor noch einmal hörten: »Wir sind ein Gymnasium und nicht bei der Heilsarmee. Erst nichts leisten und dann mit Mutti und Vati aufkreuzen. Das haben wir gern.«
Da hielt Livia Gent im Hinausgehen inne, drehte sich um, trat, ohne zu klopfen, über die Schwelle des Direktorenzimmers und zog von innen die Tür ran. Man hörte sie leise sprechen – wahrscheinlich, weil alle im Raum den Atem anhielten –, ohne zu verstehen, was sie sagte. Kurz darauf kam sie wieder raus und zog die Tür sehr rasch hinter sich zu. Da wusste Jon, dass es endgültig gelaufen war.
Wortlos gingen sie nebeneinanderher, eine entmutigte Dreierkette. Als sie am Fußballplatz vorbeikamen, sahen sie ein Dutzend jüngere Schüler, die Schultaschen mit lose reingestopften Zeugnissen auf den Boden geworfen hatten. Die Stimmen auf dem Fußballplatz vermischten sich in Jons Kopf mit der Erinnerung an die Worte des Direktors und ja, da war etwas, was langsam aus seiner Erinnerung emporschwappte. Nicht hingehören. Das hatte es schon einmal gegeben. Ganz woanders. Vor das feiste Gesicht des Direktors schob sich das Gesicht von Taylan. Taylan, dem Linksfuß.
Wie der auf einmal aufgekreuzt war bei ihnen in der Zweiten C, weil der Trainer der Ersten C ihn loswerden wollte, obwohl er ein Linksfuß war, und Linksfüße waren selten, und ihnen fehlte gerade einer, denn Benny, ihr eigentlicher Linksfuß, hatte ein Austauschjahr in Costa Rica ergattert – aber Taylan hatte zwar einen Linksfuß wie Benny, doch anders als Benny wusste er mit dem nichts anzufangen, schien überhaupt nicht zu wissen, was für ein Geschenk so ein Linksfuß ist, und statt mit seinem Linksfuß mal was anzustellen, schien er über alles Mögliche oder über nichts nachzudenken, wer konnte das wissen, während das Spiel an ihm vorbeilief, und Jens, der Haupttrainer, stand immer so da mit verschränkten Armen an den Eckfahnen, immer stand der an den Eckfahnen rum und hatte Taylan von Anfang an auf dem Kieker gehabt, und am Ende irgendeines Trainings, da hat er zu Jonny, dem zweiten Trainer, gesagt – und er hat sich dabei nicht einmal die Mühe gegeben, seine Stimme abzusenken –, dass der Taylan hier nicht hingehöre, und Jonny hat darauf erst mal gar nicht geantwortet, sondern einfach immer weiter mit zusammengekniffenen Augen den Taylan mit seinen Blicken verfolgt, und alle anderen konnten die wahnsinnigsten Fallrückzieher und Übersteiger machen, immer hat Jonny nur Taylan im Blick gehabt, total irre war das gewesen, und erst viel später, bei der Weihnachtsfeier, hatte Jonny dann erzählt, was er da gesehen hatte mit seinen zusammengekniffenen Augen, dass Taylan nämlich Fußball wie Schach spielte, im Prinzip stand er immer genau richtig, nur eben vier, fünf Spielzüge voraus, mehr jedenfalls, als alle anderen im Kopf hatten, und so einen Schachspieler auf dem Feld zu haben, ist eine feine Sache, habe er sich gedacht, hat Jonny gesagt, und als Jens dann immer wieder mit diesem Nicht-Hierhingehören angefangen habe, und soll der Taylan doch in die Freizeitmannschaft gehen und mit dem machen wir uns ja lächerlich undsoweiterundsoweiter, da habe er ihm gesagt, so Jonny, wart mal noch ’n bisschen ab, und hat nicht aufgehört, am Spielfeldrand in der Abendsonne zu stehen und mit zugekniffenen Augen einerseits die Flugzeuge im Landeanflug und andererseits den Taylan bei seinen Fehlstarts zu beobachten, und irgendwann hatte er ungefähr so langsam zu nicken angefangen, wie Taylan die Richtung wechselte, und dann hat er Taylan kurz vor den Herbstferien nach dem Training zu sich gewunken und sich mit ihm auf den Rasen gesetzt, und wir dachten, nun ist es aus für Taylan, und als wir aus der Kabine kamen, saßen sie da noch immer, nur hatten sie inzwischen ein Bitter Lemon in der Hand, das hätte man auch gern mal gehabt, so ein schönes kaltes Bitter Lemon direkt nach dem Training, aber einem, der gerade rausgeschmissen wird, dem neidet man seine Bitter Lemon nicht, dem sagt man lieber mal Tschüs, indem man die Hand hebt, wenn man ihm auch echt gern noch auf die Schulter geklopft hätte, weil er ein netter Kerl war, auch wenn er so viele Fast-Siege versaut hatte, aber ganz im Gegenteil ging es jetzt erst richtig los, weil nämlich Jonny bei der Bitter Lemon dem Taylan erklärt hat, wo das Problem lag, also dieses Problem, was eigentlich gar kein Problem war, eher das Gegenteil von einem Problem, nämlich, dass er einerseits zu schnell und andererseits zu langsam war, da habe Taylan, so Jonny, bei der Weihnachtsfeier, während Taylan auf der anderen Seite des Tischs rot wurde und verlegen grinste, habe ihn dann der Taylan so angesehen wie jemand, dem man einen Vorhang vor den Augen wegzieht, und so hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben Taylan mit Jonnys Augen selbst ins Auge gesehen und sich erkannt als einen, der immer alles richtig machen wollte in einer Welt, die nicht sein Tempo hatte, die immer entweder viel zu langsam oder viel zu schnell war, und wenn nicht Jonny damals am Spielfeldrand mit der Bitter Lemon das Tempo der Normalwelt und das Tempo von Taylans Welt so zusammengebracht hätte, dass sie sich in den entscheidenden Momenten irgendwo in der Mitte trafen, hätte dieser irre Linksfuß es niemals Tore hageln lassen können, dabei konnte er ja, können war gar kein Ausdruck, aber erst nachdem Jonny irgendwas in der Art von: Im Prinzip machst du alles goldrichtig und bist echt spitze, aber das Ganze jetzt drei Schritte zurückgedacht und dann mit hundert Stundenkilometern nach vorn und reingeballert das Ding, konnte Taylan praktisch nicht mehr anhalten, und wegen dem, der da angeblich nicht hingehörte, wo wir waren, sind wir dann in der nächsten Saison aufgestiegen und waren alle zusammen auf einmal zusammen da, wo keiner von uns gedacht hatte, jemals hingehören zu können –
Wie lange war das her?, dachte Jon. Jetzt, wo er aus der Schule raus war, fühlte sich der Abstand zur C-Jugend so an wie der Rückblick eines Rentners auf vierzig Berufsjahre. Jedenfalls war das damals definitiv eine Happy-End-Geschichte gewesen und somit genau das Gegenteil von seiner Geschichte, die gerade ohne Abschluss abgeschlossen worden war. Kein Jonny weit und breit. Jeder dort, wo er hingehörte, und nicht dort, wo er nicht hingehörte. Demnächst wird es noch eine Hingehören-Partei geben, dachte Jon. HIGE würde sie heißen. Er sah sie schon vor sich, die Buttons, die Jutetaschen und die Kugelschreiber, unterm Sonnenschirm auf dem Marktplatz, vor der nächsten Wahl. Und wenn sie dann aus dem Stand die Fünfprozenthürde geknackt haben würde, die HIGE, dann würden sie über die Wahlplakate einen Zettel kleben: ›Danke, dass ihr helft, unser Land aufzuräumen!‹ Wenn später dann jemand fände, dass er dort, wo HIGE ihn hinplatziert hatte, lieber doch nicht hingehören wollte, wäre es zu spät. Dann könnte er sehr gerne ohne Pass das Land verlassen.
»An was denkst du?«, fragte Jons Mutter.
»An HIGE«, antwortete Jon.
Sie nickte.
Sein Vater schaute irritiert auf.
»Und ihr?«, fragte Jon.
»Ich denke, wir sollten raus auf unsere Wiese ziehen und dort nachdenken. In dieser Ersatzwohnung werden wir ja wahnsinnig. Wir könnten uns draußen für den Sommer was zurechtzimmern.«
Marius Gent war am besten im Nachdenken, wenn und während er etwas baute. Wenn ein Regal oder ein Hochbett fertig war, hatte er meistens auch mögliche Lösungen für ungünstige Termine, verlorene Schlüssel oder abgelehnte Forschungsanträge gefunden.
»Die Zwillinge müssen zu Oma und Opa«, meinte Livia Gent.
Sie wiederum sah voraus, dass zwei Zehnjährige bei den Großeltern, die entzückt wären, die beiden Mädchen zum Reiterhof zu fahren, mit ihnen Obst zu pflücken, Marmelade zu kochen und sie morgens im Pyjama Filme ansehen zu lassen, wesentlich besser aufgehoben wären als unter bauenden und grübelnden Menschen auf einer Wiese mitten im naturnahen Nichts. Dieses Stück Wiese hatten sich die Gents vor Jahren abgespart, um – im Falle eines Falles – wenigstens ihre Zelte irgendwo aufschlagen zu können.Wahrscheinlich, nein, ganz sicher, dachte Jon, war dieser Fall jetzt eingetreten. Er registrierte, dass er nicht gefragt worden war.
Zurück in der Umsetzwohnung sah Livia Gent so leer aus, als sei ihre Seele irgendwo zwischen den Stadtteilen verloren gegangen – oder zwischen dem, was sie gesagt hatte, und dem, was sie noch alles gerne gesagt hätte. Auch Jons Vater schien eher ins Nirgendwo zu blicken. Eine Zeitlang schwiegen alle.
»Es ist noch so hell, ich bringe die Zwillinge am besten jetzt gleich. Tagsüber ist es sowieso zu heiß zum Fahren«, sagte er.
»Ja!!«, riefen die Zwillinge, doppelte Kooperationswilligkeit. »Wir waren so lange nicht bei Oma und Opa!«
Als sie zum Abschied gewinkt hatten, setzte sich Jons Mutter neben den Reiskocher und las. Es wurde und wurde nicht dunkel, es wurde und wurde nicht kühler. Jon verzog sich in ein sehr kleines Schlafzimmer mit Blick auf einen trostlosen Hinterhof. Mehr eine Gefängniszelle als ein Zimmer war das, aber vergleichsweise kühl, weil nach Norden raus. Er legte sich auf die Pritsche, verschränkte die Arme hinterm Nacken und überließ sich der Geräuschkulisse deranfahrenden und abbremsenden Autos und Lastwagen. Es fiel ihm auf, dass in sehr regelmäßigen Abständen gehupt wurde. Diese Regelmäßigkeit machte ihn müde. Als ihm die Augen zufielen, erwartete er das Fallen. Es ließ nicht lange auf sich warten. Diesmal fiel er nicht entlang einer Senkrechten, sondern in Spiralen, was eine leichte Übelkeit in ihm aufsteigen ließ. Während man fällt, kann also etwas in einem aufsteigen, dachte Jon. Das ist nicht angenehm, aber auch nicht uninteressant. Wenn die Erkenntnisse sich weiterhin so zügig einstellten, würde er einfach Fallexperte werden. Vielleicht würde er seine Erfahrungen für Stunts verwerten können. Sein Arbeitsplatz wäre irgendwo auf dem amerikanischen Kontinent, wahrscheinlich in Arizona, wo man im Zuge der Erforschung des freien Falls im Sand landete. Stuntman zu werden war wahrscheinlich genau das Richtige für alle, die nicht Abitur machen mussten. So konnten sie sich noch nützlich machen, indem sie Risiken abfingen, die andere nicht auf sich nehmen konnten oder wollten, aber so tun wollten, als ob doch. Dafür schickte man Leute wie ihn sehr gern in die Wüste.Nun denn. Er hatte ja gerade nichts anderes vor. Er würde Sunny benachrichtigen. Sunny, die mit ihren NGO-Eltern den Sommer in Afrika verbrachte und die nicht antwortete auf seine Nachrichten. Vielleicht hatte sie ihn auch schon fallengelassen. Andererseits ließen ja vorzugsweise diejenigen jemanden fallen, die selbst fest wo hingehörten. Und Sunny gehörte nicht fest wohin. Außer zu ihm natürlich. Er erinnerte sich an ihren Blick im Klassenzimmer, aber der Blick ließ sich nicht festhalten. Als ob sein Kopf in den Mechanismus einer Rückwärtsspule geraten war, wurde seine Erinnerung weiter zurückgedreht, bis die Spinne darin auftauchte. Diese irrsinnige Spinne, wie sie fiel und sich auffing, ein ums andere Mal. Ob sie die Ferien überstand? Er würde es nicht mehr erfahren. Vielleicht konnte er gerade deshalb nicht anders, als immer weiter über Werden und Vergehen dieser Spinne nachzudenken. Es war immerhin der Chemieraum gewesen, in dem sie aufgetaucht war. Was, wenn sie sich dort an die Flüssigkeiten heranmachte? Was würde passieren, wenn sie sich Brom und Linolsäure einverleibte? Würde sie sich in Größe und Gewicht verdoppeln, verdreifachen, vervielfachen? Würden ihre Haare erst borstig werden, sich dann zu einem gelb-schwarzen Fell auswachsen? Würde sie zu einer Kreatur heranreifen, die, wenn der Chemielehrer am ersten Unterrichtstag des neuen Schuljahres den Raum beträte, um eine Versuchsanordnung aufzubauen, mit einem Nun, Sie haben die Reagenzgläser nicht richtig zugeschraubt – tja