Supply Chain Management - Eric Sucky - E-Book

Supply Chain Management E-Book

Eric Sucky

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Beschreibung

Supply Chain Management (SCM) bezeichnet "...the integration of business processes from the end user through original suppliers that provides products, services, and information that add value for customers." (Global Supply Chain Forum, 1998) SCM basiert insbesondere auf Konzepten des Produktions- und Logistikmanagements, des Operations Research, dem Einsatz von innovativen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie theoretischen und praktischen Erkenntnissen des Kooperationsmanagements. Die Ausbildungsnachfrage in diesem Bereich ist hoch und dieses neue Managementkonzept hat inzwischen die klassischen produktionswirtschaftlichen Teildisziplinen der BWL majorisiert. Vor diesem Hintergrund bietet dieses Lehrbuch eine wissenschaftlich fundierte Einführung in die Planung, Steuerung und Kontrolle von unternehmensübergreifenden Wertschöpfungssystemen.

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Eric Sucky

Supply Chain Management

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Aufl. 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030979-1

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-030984-5

epub:        ISBN 978-3-17-030985-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

Teil 1:   Grundlagen des Supply Chain Managements

1   Einleitung und Motivation

1.1   Staffellauf zum Kunden: Koordination in Supply Chains

1.2   Chaos in der Supply Chain: der Bullwhip-Effekt

1.3   Machtspiele und Partnerschaft: die integrierte Losgröße

1.4   Die »Big 3« des Supply Chain Managements

2   Von der Supply Chain zum Supply Chain Management

2.1   Wertschöpfung: Prozesse, Ketten und Netzwerke

2.1.1   Operationalisierung der prozessbezogenen Wertschöpfung

2.1.2   Betriebliche Wertschöpfung

2.1.3   Exkurs: Wertschöpfung ist kein Unternehmensziel!

2.1.4   Wertschöpfungsketten und Wertschöpfungsnetzwerke

2.2   Die Supply Chain

2.2.1   Supply Chain-Definition

2.2.2   Modell der Supply Chain

2.2.2.1   Institutionelle Ebene der Supply Chain

2.2.2.2   Informatorische Ebene der Supply Chain

2.2.2.3   Prozess- und Ressourcenebene der Supply Chain

2.2.2.4   Interdependenzen der Supply Chain-Ebenen

2.3   Das Supply Chain Management

3   Bezugsrahmen des Supply Chain Managements

3.1   Denkschulen des Supply Chain Managements

3.2   Referenzmodelle des Supply Chain Managements

3.2.1   Elementares Supply Chain Management-Referenzmodell von Cooper/Lambert/Pagh

3.2.2   Referenzmodelle für die Supply Chain-Struktur

3.2.3   Referenzmodelle für Supply Chain-Prozesse

3.2.4   Referenzmodelle für die Managementkomponenten des Supply Chain Managements

3.2.4.1   Supply Chain Configuration – die strategische Gestaltungsebene

3.2.4.2   Supply Chain Planning – die taktische Planungsebene

3.2.4.3   Supply Chain Execution – die operative Ausführungsebene

3.2.5   Koordination in Supply Chains

3.2.5.1   Kurzer Exkurs: Logistikdienstleister als zentrale Koordinationsinstanz in Supply Chains

3.2.5.2   Kurzer Exkurs: Koordination in der Plattformökonomie

3.2.6   Das Zielsystem des Supply Chain Managements

3.3   Theorie(n) des Supply Chain Managements

3.3.1   Transaktionskostentheorie

3.3.2   Prinzipal-Agent-Theorie

3.3.3   Property-Rights-Theorie

3.3.4   Resource-based View

3.3.5   Market-based View

3.3.6   Resource-Dependence-Ansatz und soziale Austauschtheorie

3.3.7   Netzwerkansatz und Systemtheorie

3.3.8   Spieltheorie

3.3.9   Multitheoretischer Ansatz für das Supply Chain Management

3.4   Ein Bezugsrahmen für das Supply Chain Management

Teil 2:   Planungsaufgaben des Supply Chain Managements

1   Einleitung

2   Supply Chain Configuration

2.1   Wer ist der Suppy Chain-Konfigurator?

2.2   Supply Chain-Struktur folgt der Supply Chain-Strategie

2.3   Mittel- bis langfristige Absatzprognosen

2.4   Standortplanung

2.4.1   Kontinuierliche Standortplanungsmodelle

2.4.2   Diskrete Standortplanungsmodelle

2.4.3   Kapazitierte, mehrstufige Warehouse Location-Probleme

2.4.4   Dynamische und stochastische Standortplanung

2.5   Gestaltung der Supply Chain-Struktur: Bestimmung der Stufigkeit

2.6   Gestaltung der Supply Chain-Struktur: Zentralisierung von Beständen

2.6.1   Wirkung einer Zentralisierung auf den Losgrößenbestand (cycle stock)

2.6.2   Wirkung einer Zentralisierung auf den Sicherheitsbestand (safety stock)

2.6.3   Wirkung einer Zentralisierung von Kapazitäten auf den Lagerbestand

2.7   Produkt- und Prozessgestaltung in Supply Chains: Wo ist der Kundenauftragsentkopplungspunkt?

2.7.1   Kundenindividuelle Massenproduktion

2.7.2   Postponement

2.7.3   Portfolio-Effekt

2.8   Produkt- und Prozessgestaltung in Supply Chains: Gleichteileverwendung

2.9   Auswahl der Supply Chain-Partner: Lieferantenauswahl

2.9.1   Local oder Global Sourcing

2.9.2   Single oder Multiple Sourcing

2.9.3   Bewertung und Auswahl von Lieferanten

2.9.4   Ein dynamischer Planungsansatz zur Lieferantenbewertung und -auswahl

3   Supply Chain Planning

3.1   Mittel- bis kurzfristige Absatzprognosen

3.1.1   Zeitreihenprognosen

3.1.2   Konstantes Niveau (X-Güter)

3.1.3   Exponentielle Glättung 1. Ordnung

3.1.4   Trend und oder Saisonalität (Y-Güter)

3.1.5   Exponentielle Glättung 2. Ordnung

3.1.6   Exponentielle Glättung 3. Ordnung

3.1.7   Kausalprognose mit Hilfe der linearen Regression

3.1.8   Nachfrageprognose versus tatsächliche Nachfrage

3.2   Master Planning in Supply Chains

3.2.1   Zentrales Master Planning

3.2.2   Ein dynamischer Planungsansatz für das zentrale Master Planning

3.2.3   Dezentrales Master Planning: Upstream Planning

3.2.4   Hybride Koordinationsformen des Master Plannings

3.2.5   Partiell zentralisiertes Master Planning

3.3   Efficient Consumer Response (ECR): Supply Chain Management in der Konsumgüterindustrie

3.3.1   Efficient Replenishment

3.3.1.1   Continuous Replenishment

3.3.1.2   Computer Assisted Ordering (CAO)

3.3.1.3   Synchronized Production

3.3.1.4   Vendor-Managed Inventory

3.3.1.5   Co-Managed Inventory und Buyer-Managed Inventory

3.3.1.6   Cross Docking

3.3.1.7   Efficient Unit Loads

3.3.1.8   Roll Cage Sequencing

3.3.2   Category Management

3.3.2.1   Efficient Assortment

3.3.2.2   Efficient Promotions

3.3.2.3   Efficient Product Introduction

3.3.2.4   Praxisbeispiel Category Management

3.4   Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment (CPFR): ECR der nächsten Generation

3.4.1   Bereich Strategie und Planung (Das P in CPFR: Planning)

3.4.2   Bereich Prognose-, Planungs- und Belieferungsmanagement (Das F in CPFR: Forecasting)

3.4.3   Bereich Umsetzung und Ausführung (Das R in CPFR: Replenishment)

3.5   Vertragsgestaltung zur Koordination der Supply Chain

3.5.1   Problem der doppelten Gewinnaufschläge (double marginalization)

3.5.2   Bestandsdisposition bei unsicherer Nachfrage: Das Newsvendor-Modell

3.5.2.1   Bestimmung der Produktions- bzw. Bestellmenge

3.5.2.2   Bestimmung der erwarteten Über- und Unterbestandskosten bei Normalverteilung

3.5.2.3   Bestimmung des erwarteten Gewinns

3.5.3   Vertragsdesign zur Koordination der Supply Chain

3.5.3.1   Ausgangssituation

3.5.3.2   Einschaltung eines Händlers (Großhandelspreisvertrag, Wholesale Price Contract)

3.5.3.3   Rücknahmegarantievertrag (Buy Back Contract)

3.5.3.4   Vertrag mit Umsatzteilung (Revenue Sharing Contract)

4   Supply Chain Execution

4.1   Planung von Auslieferungstouren

4.1.1   Verfahren zur Lösung von Tourenplanungsproblemen: Das Savings-Verfahren

4.1.1.1   Tourenplanung mit dem Savings-Verfahren

4.1.2   Kooperative Tourenplanung

4.2   Supply Chain Event Management

4.2.1   Event

4.2.2   Aufgaben und Funktionen des Supply Chain Event Managements

Teil 3:   Informationssysteme des Supply Chain Managements

1   Einleitung

2   Informationssysteme zur Unterstützung des Supply Chain Managements

2.1   Produktionsplanungs- und -steuerungssysteme (PPS-Systeme)

2.2   Enterprise Resource Planning-Systeme (ERP-Systeme)

2.3   Advanced Plannings and Scheduling Systems (APS-Systeme)

2.4   Collaborative Supply Chain Management-Systeme (CSCM-Systeme)

2.5   Supply Chain Event Management-Systeme (SCEM-Systeme)

3   Systeme zur Informationsgenerierung bzw.-gewinnung in Supply Chains

3.1   Lagerverwaltungssysteme (LVS), Warehouse Management-Systeme (WMS) und Warenwirtschaftssysteme (WWS)

3.1.1   Lagerveraltungssysteme und Warehouse Management-Systeme

3.1.2   Warenwirtschaftssysteme

3.2   Lokalisierungs- und Identifikationssysteme

3.2.1   Barcode

3.2.2   QR-Code oder 2D-Code

3.2.3   RFID-Systeme

3.2.4   Global Positioning System (GPS)

3.3   Tracking und Tracing-Systeme

3.3.1   Blockchain-basiertes Tracking & Tracing

4   Business Ecosystems und digitale Plattformen

4.1   Zum Begriff des Business Ecosystems

4.2   Abgrenzung von Business Ecosystems und digitalen Marktplätze

4.3   Strategisches Management von Business Ecosystems

Literatur

Vorwort

 

 

 

»The only thing that matters is what the consumer sees.« Was will uns diese Aussage verdeutlichen? Stellen wir uns einen Kunden vor, der in einem Supermarkt vor einem leeren Regal steht, weil die Filiale zu spät und zu wenig bestellt hat. Diesem Kunden werden weder die vorgelagerten, reibungslos verlaufenden Prozesse bei den Lieferanten, dem Produzenten und des Großhandels interessieren, noch wird er vor dem Regal so lange ausharren, bis die Filiale neu bestellt hat und die entsprechende Lieferung eingetroffen ist. Und wenn die frisch erworbene Digitalkamera wegen eines Defekts schon nach kurzer Zeit repariert werden muss, wird die Information, dass ein Vorlieferant unbemerkt ein Teil mit mangelnder Qualität geliefert habe, welches den Defekt auslöste, den Kunden nicht davon abbringen, die Qualität der gesamten Digitalkamera als schlecht zu bewerten – und dies möglicherweise öffentlich in den Sozialen Medien.

In arbeitsteiligen Wirtschaften agieren Unternehmen in Netzwerken, in denen Güter von anderen Unternehmen als Input übernommen werden, welcher zu Output transformiert wird, der wiederum an andere Unternehmen weitergegeben wird. Der Endkunde nimmt das Netzwerk – die Supply Chain – jedoch nicht wahr. Konsumenten bewerten nicht die Teilleistungen einzelner an der Supply Chain beteiligten Unternehmen, sondern diejenige Leistung, die sich als Ergebnis aller in der Supply Chain arbeitsteilig durchgeführten Wertschöpfungsprozesse ergibt. Die einfache – völlig unwissenschaftliche – Aussage bringt es daher auf den Punkt: »The only thing that matters is what the consumer sees.« Eine zielgerichtete, unternehmensübergreifende Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozesse in Supply Chains ist nicht nur sinnvoll sondern notwendig. Wie diese aussehen kann, welche Hemmnisse hierbei zu überwinden sind und wie ein erfolgreichen Supply Chain Management gelingen kann, beleuchtet dieses Lehrbuch.

In Teil 1 des vorliegenden Lehrbuchs werden wir über Wertschöpfungsprozesse zu Wertschöpfungsnetzwerken gelangen und darauf aufbauend den Begriff der Supply Chain erläutern. Dies ist notwendig, um anschließend Supply Chain Management zu definieren sowie einen Bezugsrahmen für das Supply Chain Management entwickeln zu können. Abschließend wird das Theoriegebäude des Supply Chain Managements erläutert. Zu Beginn werden jedoch drei motivierende Beispiele dazu anregen, sich tiefergehend mit Supply Chain Management zu befassen. Anhand illustrativer Beispiele wird gezeigt, wie durch eine unternehmensübergreifende Koordination so genannte Win-Win-Situationen geschaffen werden können.

Teil 2 fokussiert die Planungsaufgaben des Supply Chain Managements. Es können drei – bezüglich des Planungshorizonts und der Planungsobjekte vertikal (hierarchisch) interdependente – Planungsebenen mit horizontal interdependenten Planungsaufgaben identifiziert werden: Supply Chain Configuration, Supply Chain Planning und Supply Chain Execution. Im Sinne einer entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre gilt es die relevanten (Planungs-)Probleme des Supply Chain Managements zu identifizieren, diese zu strukturieren und mögliche Handlungsalternativen bzw. Lösungsalternativen zu bewerten. Zur Strukturierung der zu identifizierenden Planungsprobleme werden wir entsprechende Planungsmodelle formulieren. Ausgewählte Planungsprobleme werden wir anhand von entsprechenden Beispielen explizit mit geeigneten Verfahren (Heuristiken und optimierende Verfahren) lösen. Dies ist insbesondere dann (didaktisch) angebracht, wenn dadurch auch bestehende Trade-offs, d. h. Abhängigkeitsbeziehungen verdeutlicht werden.

Ein effektives und effizientes Supply Chain Management bedingt einerseits die Generierung, Bereitstellung und Verarbeitung planungsrelevanter Informationen und andererseits die Kommunikation zwischen den Supply Chain-Partnern. Im Rahmen des Supply Chain Managements können Systeme zur Informationsgenerierung bzw.-gewinnung und Systeme zur Informationsverarbeitung differenziert werden. In Teil 3 des Lehrbuchs werden die in Supply Chains eingesetzten, computergestützten Informationssysteme aufgezeigt und ihr Einsatzpotenzial zur Unterstützung des Supply Chain Managements dargestellt.

Das vorliegende Lehrbuch richtet sich vornehmlich an Studierende in Bachelor- und Master- Studiengängen, die sich mit Themen des Supply Chain Managements auseinandersetzen (müssen). Aber auch interessierte Praktiker gewinnen einen tiefgehenden Einblick in die Problemstellungen des Supply Chain Managements.

Ein solches Lehrbuch ist immer eine Teamleistung. Einerseits basiert es auf den Inhalten und langjährigen Erfahrungen der Veranstaltungen im Kontext von Produktions- und Logistikmanagement, Operation Research und Supply Chain Management des Lehrstuhls für BWL, insb. Produktion und Logistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Andererseits lebt und wächst es durch kritische Diskussionen, konstruktive Feedbacks und vielfältige Anmerkungen und Korrekturen. Daher bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls – Vanessa Felch, Sophie Kurbjuhn, Dr. Björn Asdecker, David Karl und Christian Straubert – zu großem Dank verpflichtet. Schließlich entsteht ein solches Buchprojekt weitgehend außerhalb der regulären Arbeitszeit eines Universitätsprofessors. Es gilt daher auch meiner Familie Dank zu sagen, die so manche Stunden auf mich verzichten musste.

Teil 1:  Grundlagen des Supply Chain Managements

 

 

 

Penny: »Wollt ihr raten was gerade passiert ist?«Sheldon: »Ich rate nie! Als Wissenschaftler ziehe ich Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Beobachtungen und Experimenten. Andererseits ist mir gerade der Gedanke gekommen, dass das eine rhetorische Floskel war, die eine Antwort meinerseits erübrigt.«The Big Bang Theory, Staffel 1, Folge 10

1          Einleitung und Motivation

 

 

Schlechte Frisuren und schräge Klamotten: die 1980er Jahre. Ein Jahrzehnt, in dem bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1986 die »Hand Gottes« im Spiel war, Tennissport in Deutschland dank Boris Becker und Steffi Graf boomte, »99 Luftballons« von Nena und andere Hits der Neuen Deutschen Welle mitgesungen wurden und in dem Handys und Internet noch keine Rolle spielten. Die 1980er Jahre können wohl zu Recht als ein buntes und kurioses Jahrzehnt beschrieben werden.

In den 1980er Jahren wurden jedoch auch die Grundlagen für eine Vielzahl tiefgreifender und nachhaltiger Entwicklungen (Trends) gelegt. So begründete Jane Fonda mit Aerobic ab 1982 einen Fitnesstrend, der bis heute anhält – wenn auch ohne die damals obligatorischen Leggins, Bodys, Stirn- und Schweißbänder sowie Stulpen. Seit 1980 erfreut sich der Zauberwürfel – oder Rubik‘s Cube nach dem Erfinder dieses Geduldspiels Ernő Rubik – ungebrochener Beliebtheit und Computerspiele und Spielkonsolen starteten mit der seit 1980 in Europa erhältlichen Konsole Atari 2600 ihren unaufhaltsamen Siegeszug in deutschen Wohn- und Kinderzimmern. Der Start des Privatfernsehens (Sat.1, RTL, Tele 5 und ProSieben) Mitte der 1980er Jahre veränderte ebenso nachhaltig die Rundfunklandschaft wie der Einzug der Grünen 1983 in den Bundestag die politische Landschaft. Und 1989 wurde mit dem Mauerfall das Ende der DDR eingeläutet.

Auch in der betriebswirtschaftlichen Praxis und Forschung wurde in den 1980er Jahren ein wegweisender Trend geboren: Supply Chain Management. Wie häufig in der Betriebswirtschaftslehre kam der Anstoß hierzu aus der betrieblichen Praxis, als die Unternehmensberater Oliver und Webber 1982 den Begriff Supply Chain Management erstmals in ihrer Publikation »Supply-chain management: logistics catches up with strategy« explizit verwendeten. Aufgrund der Zielkonflikte zwischen Beschaffung, Produktion und Absatz proklamierten sie die Notwendigkeit eines strategischen, schnittstellenübergreifenden Logistikmanagements. Weitergehend und pointiert formulierte Houlihan (1985, S. 23): »Through our study of firms in a variety of industries […], we found that the traditional approach of seeking trade-offs among the various conflicting objectives of key functions – purchasing, production, distribution and sales – along the supply chain no longer worked very well. We needed a new perspective and, following from it, a new approach: supply chain management.«

Mit den beiden genannten Publikationen startete eine eingehende und umfassende Beschäftigung mit Supply Chain Management in der Wissenschaft, welche bis heute anhält. Die Recherche in Google Scholar ( Abb. 1-1) zeigt zwar, dass der Höhepunkt mit 71100 Publikationen im Zeitraum 2008–2012 erreicht wurde, aber auch im Zeitraum 2013-2017 noch 35600 Veröffentlichungen zum Supply Chain Management erschienen sind. Asgari et al. (2016) zeigen für Artikel in begutachtete Zeitschriften einen analogen Verlauf. Die Anzahl deutschsprachiger Veröffentlichungen zum Supply Chain Management ist hingegen mit 4180 in den Jahren 2003-2007, 4350 in 2008–2012 und 4200 in 2013-2017 in den letzten 15 Jahren relativ konstant. Entgegen dieses Trends konstatieren Eßig et al. (2013), dass insbesondere deutschsprachige Lehrbücher zum Supply Chain Management quantitativ noch nicht weit verbreitet sind.

Aber was war bzw. ist so neu an dem Konzept des Supply Chain Managements, dass es das Denken und Handeln in Unternehmen nachhaltig veränderte. Fokussierte das Management in Unternehmen bisher auf interne Abteilungen, Bereiche, Abläufe und Prozesse, so verlassen Unternehmen mit Supply Chain Management ihre Komfortzone. Supply Chain Management geht über die klassische Ausrichtung der Betriebswirtschaftslehre am System Unternehmen hinaus und befasst sich mit dem unternehmensübergreifenden System Supply Chain.

Abb. 1-1: Publikationen zum Supply Chain Management gemäß Google Scholar

Sowohl die Tendenzen zur Konzentration auf Kernkompetenzen und zur Verringerung der Fertigungstiefe, Wettbewerb in globalen Märkten, kurze Produkteinführungszeiten, kurze Produktlebenszyklen als auch hohe, individualisierte Kundenerwartungen führen zu arbeitsteiligen Wirtschaftssystemen (Chen/Paulraj, 2004). In einer arbeitsteiligen Wirtschaft agieren Unternehmen in Netzwerken, in denen Güter von anderen Unternehmen als Input übernommen werden, welcher zu Output transformiert wird, der wiederum an andere Unternehmen weitergegeben wird. Wollen wir solche Netzwerke von Unternehmen – ohne der später noch folgenden, notwendigen Definition vorzugreifen – als Supply Chains bezeichnen, so kann zunächst festgehalten werden, dass Endkunden (Konsumenten) nicht die Leistungen einzelner in einer Supply Chain agierender Unternehmen bewerten, sondern diejenige Leistung, die sich als Resultat aller in einer Supply Chain vollzogenen Wertschöpfungsprozesse ergibt (Pibernik, 2001). Dieser Umstand, den Christopher (1998) als »the new rules of competition« bezeichnete, führte zu der immer wieder genannten Grundidee des Supply Chain Managements, wonach Wettbewerb nicht mehr zwischen einzelnen Unternehmen stattfindet, sondern zwischen Supply Chains:

•  Christopher (1992, S. 28): »We are now entering the era of supply chain competition.«

•  Christopher/Jüttner (1998, S. 89): »Supply Chains compete, not companies.«

•  Lummus/Vokurka (1999, S. 11): »Firms can no longer effectively compete in isolation of their suppliers and other entities in the supply chain.«

•  Cox (1999, S. 168): »Companies are […] instructed to construct ever more efficient and responsive supply chains because it will no longer be company competing with company, but supply chain competing against supply chain.«

•  Lambert/Cooper (2000, S. 65): »One of the most significant paradigm shifts of modern business management is that individual business no longer compete as solely autonomous entities, but rather as supply chains.«

•  Stank et al. (2001, S. 29): »The supply chain management philosophy stresses that maximizing service to customers of choice at the lowest total cost requires a strong commitment to close relationship among trading partners. The philosophy requires a movement away from arms-length interactions toward longer term, partnership-type arrangements to create highly competitive supply chains.«

•  Rice/Hoppe (2001, S. 47): »By integrating the capabilities of others into its supply network, a company can effectively create unique value. That value is maximized when the supply network acts in unison, almost as if it were one company in the marketplace. Given these trends toward outsourcing and integration, it’s not surprising that so many views the nature of future competition as supply-chain based.«

•  Chopra/Meindl (2013, S. 45): »The competitive playing field has shifted from company versus company to supply chain versus supply chain.«

•  Christopher (2016, S. 14): »[…] the real competition is not company against company but rather supply chain against supply chain.«

Dieser Grundgedanke des Supply Chain Managements, dass nicht einzelne Unternehmen im Wettbewerb zueinander stehen, sondern ganze Supply Chains miteinander konkurrieren (z. B. Pfohl, 2018, S. 338 und Kurzmann/Langmann, 2015, S. 21), muss nicht nur aus kartellrechtlichen Gesichtspunkten sehr kritisch betrachtet werden (Bretzke, 2015, S. 74 und Bretzke, 2016, S. 114). In Supply Chains agieren rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Unternehmen. Werden Supply Chains als eigenständige Institutionen betrachtet, die miteinander konkurrieren, würde dies folgerichtig Supply Chain-weite, unternehmensübergreifende Ziele und Strategien voraussetzen und damit die Aufgabe und den Verlust von Autonomie auf Seiten der in der Supply Chain agierenden Unternehmen. Es stellt sich daher die begründete Frage, ob Supply Chains und damit auch das Supply Chain Management noch visionär oder gar nur Utopien sind?

Rufen wir uns nochmals die Tatsache ins Gedächtnis, dass der Endkunde nicht die Teilleistungen einzelner an der Supply Chain beteiligten Unternehmen bewertet, sondern diejenige Leistung, die sich als Ergebnis aller in der Supply Chain arbeitsteilig durchgeführten Wertschöpfungsprozesse ergibt. Steht beispielsweise ein Kunde in einem Supermarkt vor einem leeren Regal, weil die Filiale falsch disponiert hat, so wird er weder die vorgelagerten, reibungslos verlaufenden Prozesse bei Vorlieferanten, Lieferanten, Hersteller oder Großhandel loben, noch wird er vor dem Regal so lange ausharren, bis die Filiale neu bestellt hat und die entsprechende Lieferung eingetroffen ist. Und wenn die frisch erworbene Digitalkamera wegen eines Defekts schon nach kurzer Zeit zu Reparatur muss, wird die Information, dass ein Vorlieferant unbemerkt ein Teil mit mangelnder Qualität geliefert habe, welches den Defekt auslöste, den Kunden nicht davon abbringen, die Qualität der gesamten Kamera als schlecht zu bewerten – und dies möglicherweise öffentlich in diversen Internetforen. Eine einfache – und zunächst völlig unwissenschaftliche – Aussage bringt es auf den Punkt: Kundennutzen schafft Unternehmensgewinn. Der Endkunde steht im Mittepunkt des Interesses – der Konsument ist der »König der Wertschöpfungskette« (Kurzmann/Langmann, 2015, S. 18).

»The only thing that matters is what the consumer sees.« Diese Aussage eines unbekannten Autors zeigt sehr deutlich, dass eine zielgerichtete, unternehmensübergreifende Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozesse in Supply Chains nicht nur sinnvoll, sondern absolut notwendig ist. Wie diese aussehen kann, welche Hemmnisse hierbei zu überwinden sind und wie die Realisation eines erfolgreichen Supply Chain Management gelingen kann, zeigt dieses Lehrbuch.

Im vorliegenden Grundlagenkapitel werden wir über Wertschöpfungsprozesse zu Wertschöpfungsnetzwerken gelangen und darauf aufbauend den Begriff der Supply Chain erläutern. Dies ist notwendig, um anschließend Supply Chain Management zu definieren sowie einen Bezugsrahmen für das Supply Chain Management entwickeln zu können. Im Vorfeld sollen jedoch drei motivierende Beispiele dazu anregen, sich tiefergehend mit Supply Chain Management zu befassen. Diese illustrativen Beispiele zeigen bereits, wie durch eine unternehmensübergreifende Koordination so genannte Win-Win-Situationen geschaffen werden können. Insbesondere verdeutlichen diese Beispiele aber die Grundproblematik des Supply Chain Managements, welche im Anschluss an die Beispiele ausformuliert und sämtlichen folgenden Ausführungen zu Grunde gelegt wird.

Den folgenden Beispielen liegt dabei eine (stark vereinfachte) Bier-Supply Chain zu Grunde, die in Abbildung 1-2 dargestellt ist. Betrachtet wird eine mittelständische Brauerei, wie sie beispielsweise in und um Bamberg zu finden ist. Hierbei wurde aus Gründen der Verständlichkeit eine Komplexitätsreduktion derart vorgenommen, dass

Abb. 1-2: Beispielhafte Bier-Supply Chain

z. B. potenzielle Zwischenhändler (Agrargenossenschaften, Verpackungsgroßhändler, etc.) nicht dargestellt werden. Auch mögliche Rückflüsse in Form von Pfandflaschen und -kästen (Closed Loop Supply Chain) werden nicht abgebildet. Auch in weiteren Betrachtungen ist eine problemadäquate Vereinfachung sinnvoll, da sich vollständige Supply Chains i. d. R. aufgrund ihrer Komplexität einer vollständigen Erfassung entziehen. So führte Anfang der 2000er Jahre die damalige DaimlerChrysler AG ein so genanntes »Supply Chain Mapping« mit dem Ziel durch, für das Modul »Türinnenverkleidung der E-Klasse« das Netzwerk an Lieferanten – ausgehend vom Werk Sindelfingen bis hinunter zur südafrikanischen Rinderfarm – zu visualisieren. Es zeigte sich, dass hinter dem Modul- bzw. Systemlieferanten rund 100 weitere, miteinander vernetzte Komponenten- und Teilelieferanten auf mehreren Stufen (Tier-2 bis Tier-7) standen (Graf/Putzlocher, 2004). Das ermittelte Modell konnte aufgrund seiner Komplexität nicht auf andere Vormaterialien übertragen und somit nicht multipliziert werden (Bretzke, 2016). Während die bestehende Komplexität bereits für ein einziges Modul aufgezeigt werden kann, präsentiert Siebert (2010) ein Beispiel aus den 1980er Jahren, wonach der Automobilkonzern Toyota insgesamt auf der ersten Stufe noch über 168 System- und Modullieferanten verfügt, während auf der zweiten Stufe bereits 4700 Komponentenlieferanten und auf der dritten Stufe sogar 31600 Teilelieferanten existieren. Nach einer Studie von Harms et al. (2013), die 80 deutsche, börsennotierte Unternehmen untersuchten, haben 53 % der Unternehmen mehr als 5.000 Lieferanten und 47 % dieser Unternehmen beziehen ihre Waren aus 50 oder mehr Ländern. Bosch als ein großer Zulieferer der Automobilindustrie verfügt über mehr als 20000 direkte Lieferanten (Bosch, 2017). Aktuell will Volkswagen die Blockchain-Technologie nutzen, um die Supply Chain für den Rohstoff Blei abzubilden (VW, 2019). Inwieweit dieses Pilotprojekt multiplizierbar ist, muss die Zukunft zeigen. Immerhin ist zu bedenken, dass ein PKW aus ca. 10000 Teilen besteht, die wiederum selbst aus vielen Einzelteilen bestehen. Lassen wir uns aber nicht von dieser realexistierenden Komplexität abschrecken und wenden uns den Beispielen zu.

1.1       Staffellauf zum Kunden: Koordination in Supply Chains

»The focus of supply chain management is on co-operation and trust and the recognition that, properly managed, the whole can be greater than the sum of its parts« (Christopher, 2016, S. 3).

Das Management von Supply Chains kann mit einem Staffellauf verglichen werden, wobei der Kundenauftrag das Staffelholz darstellt (Melzer-Ridinger, 2018, Melzer-Ridinger, 2007). Bei einem Staffellauf kommt es neben der individuellen Leistung der einzelnen Läufer insbesondere auf die Koordination bei der Übergabe des Staffelholzes an. Es ist darauf zu achten, dass z. B. kein Läufer das Staffelholz verliert oder ein Läufer vor der Staffelholzübergabe zu schnell oder zu langsam anläuft. Das Resultat – die Laufzeit – ist dann nicht die Summe der Einzellaufzeiten, sondern das Ergebnis des Zusammenspiels von Einzelläufen und koordinierten Staffelholzübergaben.

Usain Bolt (Jamaika) hält aktuell den Weltrekord im 100-Meter-Lauf mit einer Zeit von 9,58 Sekunden. Der im Jahr 2009 bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin aufgestellte Männer-Weltrekord entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 10,44 Meter/Sekunde oder 37,58 km/h. Den aktuellen Weltrekord im 4-x-100-Meter-Staffellauf der Männer erzielte Jamaika (Nesta Carter, Michael Frater, Yohan Blake und Usain Bolt) im Jahr 2012 in London mit einer Zeit von 36,84 Sekunden. Dies entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 10,86 Meter/Sekunde oder 39,09 km/h. Für 100 Meter benötigte die Staffel aus Jamaika im Durchschnitt 9,21 Sekunden und damit 0,37 Sekunden weniger als Usain Bolt bei seinem Weltrekord.

Auf Supply Chains übertragen bedeutet dies, dass die einzelnen Teilleistungen über alle Fertigungsstufen bzw. Lieferanten so aufeinander abzustimmen sind, dass ein Kundenauftrag (das Staffelholz) sach- und formalzielgerecht erfüllt (ins Ziel gebracht) wird. Betrachten wir beispielhaft einen Ausschnitt aus unserer Bier-Supply Chain, konkret den Weg von der Mälzerei über die Brauerei in eine Gaststätte und dann zum Endkunden ( Abb. 1-3).

An einem heißen Sommerabend sitzt ein Endkunde auf einem Bamberger Bierkeller und bestellt ein alkoholfreies Lagerbier. Leider bekommt er aber die Information, dass das alkoholfreie Lagerbier bereits ausverkauft ist – es liegt eine so genannte Out-of-Stock (OOS)-Situation vor.

Abb. 1-3: Betrachteter Ausschnitt aus der Bier-Supply Chain

In vielen Regionen von Franken, so auch in Bamberg, wird nicht »in den Biergarten«, sondern »auf den Bierkeller« gegangen. In der Vergangenheit, als Brauereien noch nicht mit technischen Kühlanlagen ausgestattet waren, nutzten die meisten Brauereien große Bierkeller zur Lagerung ihres Bieres. Da über dem Keller oftmals ein Schankbetrieb errichtet wurde, entstand die Redewendung »auf den Keller gehen«. Ein typisch fränkischer Bierkeller besteht auch heute noch aus dem Kellerhaus am Eingang zum Lagerkeller, aus welchem Getränke und Speisen gereicht werden und einem mit Bierbänken bestückten Bereich.

Aus Sicht des Managements ist einerseits von Interesse, wie der Endkunde auf eine Out-of-Stock-Situation reagiert. Andererseits – oder insbesondere – ist jedoch relevant, warum diese Situation eingetreten ist, sodass präventiv weitere Out-of-Stock (OOS)-Situationen verhindert werden können, anstatt diesen reaktiv begegnen zu müssen. Betrachten wir trotzdem zunächst die potenzielle Endkundenreaktion auf die Information, dass alkoholfreies Lagerbier ausverkauft ist. Corsten/Gruen (2004) zeigen in einer Studie, wie sich Endkunden im Einzelhandel verhalten, wenn sie mit einer Out-of-Stock-Situation konfrontiert werden ( Abb. 1-4). Übertragen auf unsere Situation auf dem Bierkeller kann es sein, dass der Endkunde eine andere Biersorte oder ein anderes Getränk bestellt (Substitution). Ist das gewählte Getränk nicht von der Brauerei, so hat die Out-of-Stock-Situation negative Konsequenzen für die betrachte Brauerei, aber nicht unbedingt für die Gaststätte. Verlässt unser Endkunde die Gaststätte, trifft es insbesondere die Gaststätte (in Form von entgangenem Umsatz und möglicherweise auch in Form von sinkender Reputation). Auch wenn hier bereits deutlich wird, dass es nicht einfach ist, die negativen Folgen (Umsatzeinbußen, Reputationsverlust, Abwanderung von Kunden aufgrund von Unzufriedenheit etc.) zu bestimmen, geht Angerer (2004, S. 6) davon aus, »[…] dass Unternehmen im Schnitt bis zu 4 % des Umsatzes durch OOS einbüßen müssen«. Dies kann jedoch nur als vorsichtige Schätzung betrachtet werden, angesichts des Umstandes, dass je nach Produktkategorie zwischen 40 und 80 % der getätigten Käufe im Einzelhandel Spontan- oder Impulskäufe sind (Amos et al., 2014). Und was nicht im Regal steht, kann auch nicht spontan gekauft werden.

Abb. 1-4: Kundenreaktion bei einer Out-of-Stock-Situation im Einzelhandel (Quelle: In Anlehnung an Angerer, 2004, S. 5)

Kommen wir zu unserem unzufriedenen Kunden auf dem Bierkeller zurück. Wie bereits erläutert, ist es von besonderem Interesse, die Ursache für die vorliegende Out-of-Stock-Situation zu ergründen, um präventiv zukünftige OOS zu vermeiden. Die Gaststätte hat ihre Bierbestellungen bei der Brauerei wie immer zu einem festgelegten Termin aufgegeben, diesmal jedoch unter Beachtung eines prognostizierten erhöhten Bierabsatzes aufgrund des anhaltend schönen Wetters. Die Mälzerei als vorgelagerter Lieferant der Brauerei hat die langfristig festgelegten, regelmäßigen Malzbestellungen der Brauerei pünktlich geliefert. Die Brauerei wiederum folgt einem mittelfristigen Produktionsplan, der auf eigenen Prognosen beruht. Da sich die Brauerei vollständig dem Konzept der Lean Production verschrieben hat, werden nur sehr geringe Lagerbestände aufgebaut. Um unvorhersehbare Nachfrageschwankungen abzufangen, kann die Brauerei kurzfristig die Kapazität durch Überstunden und Sonderschichten erhöhen. Dadurch hätte die erhöhte Bierbestellung grundsätzlich gedeckt werden können, jedoch löst die gesteigerte Bierproduktion auch einen entsprechenden Bedarf an Malz aus. Da dies nicht mit der Mälzerei abgestimmt war, konnte der erhöhte Malzbedarf nicht mehr rechtzeitig von der Mälzerei gedeckt werden. Die Bierproduktion selbst kam dadurch in Verzug. Die Bestellung der Gaststätte konnte nicht vollständig erfüllt werden, d. h. die beauftragte Spedition konnte nur Teilbestellungen ausliefern. Es wurden somit zielgerichtete Bestell-, Produktions- und Transportprozesse durchgeführt, jedoch ohne dass es gelang, Angebot und Nachfrage entlang des gesamten Ausschnitts aus der Supply Chain aufeinander abzustimmen (matching demand and supply).

Endkunde, Gaststätte, Brauerei, Mälzerei sowie die Spedition bilden die Elemente eines Systems, welche durch Bestell- und Lieferprozesse miteinander verbunden sind. Systemtheoretisch kann dieses Zusammenspiel auch folgendermaßen beschrieben werden. Ein System ist ein Ganzes, das als solches bestimmte Eigenschaften (Systemeigenschaften) und Verhaltensweisen (Systemverhalten) besitzt. Ein System besteht aus Teilen (Systemelementen), die so miteinander verknüpft sind, dass kein Teil unabhängig ist von anderen Teilen und das Verhalten des Ganzen beeinflusst wird vom Zusammenwirken aller Teile (Ulrich/Probst, 1990). In dem von uns betrachteten Ausschnitt der Bier-Supply Chain gelang es nicht, die einzelnen Teilleistungen über alle Supply Chain-Stufen so aufeinander abzustimmen, dass der Kundenauftrag erfüllt werden konnte – das Staffelholz wurde nicht ins Ziel gebracht. Wir können festhalten, dass die Leistung eines Systems nicht die Summe der unabhängigen Leistungen der einzelnen Systemelemente, sondern das Ergebnis der Interaktionen zwischen den Systemelementen ist. Gelingt die Koordination, treten als Ergebnis dieser komplexen und dynamischen Interaktion der Supply Chain-Akteure neue Eigenschaften des Gesamtsystems hervor. Dies wird auch als Emergenz bezeichnet, d. h. die Herausbildung von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Aufgabe des Supply Chain Managements ist es daher, die Leistungen der einzelnen Systemelemente sach- und formalzielgerecht aufeinander abzustimmen. Gelingt dies, so kann mit Aristoteles (384-322 v. Chr.) festgehalten werden: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«.

Werden die Soloalben bzw. Soloprojekte der Mitglieder der britischen Rockband Queen betrachtet – beispielsweise »Mr. Bad Guy« von Freddy Mercury (1985), »Back to the Light« von Brian May (1992), »Fun in Space« von Roger Taylor (1981) oder »No Turning Back« von John Deacon mit der Band »The Immortals« (1986) – und den Alben von Queen gegenübergestellt – beispielsweise »A Night at the Opera« (1975) oder »A Kind of Magic« (1986) – so zeigt sich auch hier: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Kommen wir in diesem Zusammenhang nochmal auf die obigen Aussagen »Kundennutzen schafft Unternehmensgewinn« und »Der Konsument ist der König der Wertschöpfungskette« zurück. Wir könnten an dieser Stelle des Buches noch den Begriff Lieferkette verwenden, da der in diesem Beispiel betrachtete Ausschnitt unser Bier-Supply Chain ( Abb. 1-3) durchaus eine Kettenstruktur aufweist. Konsequenterweise und im Sinne der später folgenden Definition werden wir jedoch von Supply Chains und nicht von Lieferketten sprechen. Für den betrachteten Ausschnitt als auch für die gesamte Bier-Supply Chain kann nach Chopra/Meindl (2014, S. 25-27) festgehalten werden:

Was bedeutet das? Der Kundenwert eines Bieres auf dem Bierkeller kann bei jedem Kunden anders ausfallen und kann als dessen Zahlungsbereitschaft geschätzt werden, also der Betrag, den ein Kunde maximal bereit ist, für das Bier zu zahlen. Die Differenz zwischen dem Kundenwert des Bieres und dessen Preis verbleibt beim Kunden als so genannte Konsumentenrente. Nehmen wir an, dass unsere Kunde für ein Seidla – ein halbes Maß, d. h. ein halber Liter Bier – auf dem Bierkeller 4 € bezahlt, was den Erlös der gesamten Supply Chain für dieses Bier darstellt. Da es ein heißer Sommertag ist und unser Kunde sehr durstig ist, liegt der Wert des Bieres für unseren Kunden (Kundenwert) deutlich über 4 €. Daher bleibt ein Teil des Kundenwerts beim Kunden als Konsumentenrente, während der Rest (und somit 4 €) als Erlös in der Supply Chain verbleibt. Der Gaststätte, der Brauerei und der Mälzerei entstehen Kosten für Produktion, Lagerung, Transport etc. des Bieres. Die Differenz zwischen den 4 €, die der Kunde zahlt, und der Summe aller Kosten in der Supply Chain für Produktion und Bereitstellung des Bieres auf dem Bierkeller stellt den Gewinn der Supply Chain bezogen auf dieses eine Bier dar. Dieser Gewinn ist auf alle Akteure in der Supply Chain aufzuteilen. Unabhängig vom damit verbundenen Verteilungs- oder Allokationsproblem macht das Beispiel eines sehr deutlich. In jeder Supply Chain gibt es nur eine einzige Erlösquelle: den Endkunden! Der Endkunde ist der Einzige, der in der betrachteten Bier-Supply Chain für einen positiven Cashflow sorgt. Alle anderen Cashflows sind lediglich der Austausch von Zahlungsmitteln innerhalb der Supply Chain. Wenn die Gaststätte die Bierlieferungen bezahlt, wird ein Teil des vom Kunden gezahlten Erlöses an die Brauerei weitergegeben, die ihrerseits einen Teil an die Mälzerei weitergibt. Der Endkunde als einzige Erlösquelle in Supply Chains kann somit zu Recht als dessen »König« bezeichnet werden. Die Supply Chain ist daher auf den Kunden derart abzustimmen, dass das Sachziel erfüllt werden kann: Das richtige Produkt soll in der richtigen Quantität, der richtigen Qualität, am richtigen Ort, zum richtigen Zeitpunkt, für den richtigen Kunden verfügbar sein.

1.2       Chaos in der Supply Chain: der Bullwhip-Effekt

»How do you shift your supply chain from a push system to a push-pull system that allows you to better match supply and demand?« (Simchi-Levi, 2000, S. 79).

Die Vermeidung bzw. Überwindung des so genannten Bullwhip-Effekts (Peitschenschlageffekt) wird als ein wichtiges Motiv des Supply Chain Managements angesehen. Was hat es mit diesem Effekt auf sich? Der Bullwhip-Effekt beschreibt das Phänomen des Aufschaukelns der Bestell- und Produktionsquantitäten und der damit verbundenen Lagerbestände über die einzelnen Wertschöpfungsstufen der Supply Chain (Stadtler, 1999 und Göpfert, 2002). Das oben genannte »matching« von »supply« und »demand« wird somit verfehlt.

Der Bullwhip-Effekt entsteht, neben anderen Gründen, wenn Informationen über die Endkundennachfrage nicht direkt an alle Akteure in der Supply Chain weitergegeben werden, sondern diese Informationen nur implizit in Form von Bestellungen sukzessive, stufenweise weitergegeben werden. Jedes Unternehmen generiert die Bestellungen bei seinen Lieferanten dann auf der Basis eigener, individueller Prognosen. Durch lokal vorgehaltene Sicherheitsbestände und den Zeitverzug im Informationsfluss schaukeln sich die prognostizierten Nachfragequantitäten sowie die dadurch induzierten, aggregierten Bestell- oder Produktionsquantitäten von den Endkunden über den Handel, vom Handel über die Produzenten und von diesen über die Lieferanten bis hin zu den Lieferanten der Lieferanten immer weiter auf.

Der Bullwhip-Effekt ist bereits seit Anfang der 1960er Jahre bekannt. Forrester (1958 und 1961) simulierte in seinen Arbeiten System Dynamics und Industrial Dynamics das Verhalten mehrstufiger Produktionssysteme bei unterschiedlichen Bedarfsverläufen und stellte eine Zunahme der Schwankungen von Bestellmengen entlang der Supply Chain fest. Der Bullwhip-Effekt wird daher auch Forrester-Effekt genannt.

Der Bullwhip-Effekt konnte in der betrieblichen Praxis beobachtet und nachgewiesen werden (z. B. Lee et al., 1997a und 1997b sowie Hammond, 1994). So beobachtete P&G (Procter & Gamble) diesen Effekt bei Babywindeln der Marke Pampers. Trotz des weitgehend konstanten Verbrauchs der Windeln wiesen die Bestellungen des Handels bei P&G starke Schwankungen auf. Bestellungen von P&G bei den Materiallieferanten (z. B. 3M) schwankten noch stärker. Auch die Analyse des Absatzes des Druckers LaserJet III von HP (Hewlett-Packard) ergab, dass die Nachfrage beim Händler nur leichte Schwankungen aufwies, während die Bestellungen des Händlers bei HP sowie die Bestellungen von HP bei den Lieferanten stark schwanken. Der italienische Nahrungsmittelkonzern Barilla beobachtete ebenfalls, dass die Nachfrage im Einzelhandel nach Pasta der Marke Barilla in Italien kaum Schwankungen aufwies, die Bestellungen des Einzelhandels beim Großhandel im Zeitverlauf jedoch schwankten. Die Bestellungen des Großhandels bei dem Pasta-Produzenten schwankten sogar sehr stark. In der Folge beschäftigten sich viele Wissenschaftler mit den unterschiedlichsten Aspekten des Bullwhip-Effekts.

Tab. 1-1: Ausgewählte Arbeiten zum Bullwhip-Effekt

Die vorstehende Tabelle 1-1 zeigt ausgewählte Arbeiten zu verschiedenen Aspekten des Bullwhip-Effekts. Aufgrund der vielfältigen Beschäftigung mit diesem Phänomen folgern Lee et al. (2004, S. 1891): »Nowadays the bullwhip effect is a standard industry term and reference to it in industry publications has become commonplace.« Auch wir können den Bullwhip-Effekt im Rahmen eines einfachen Beispiels nachweisen und sogar eine Möglichkeit aufzeigen, diesen zumindest abzumildern. Aus der Sicht eines in Bamberg lehrenden und forschenden Autors sowie in Anlehnung an das MIT Beer Distribution Game, welches in den frühen 1960er Jahren am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt wurde (https://beergame.org/), betrachten wir hierzu wieder unsere Bier-Supply Chain – konkret den in Abbildung 1-5 dargestellten, dreistufigen Ausschnitt: Produzent (Brauerei), Großhandel (Getränkegroßhandel), Einzelhändler (Getränkefachhandel) und Endkunden.

Abb. 1-5: Betrachteter Ausschnitt der Bier-Supply Chain

Im betrachteten Beispiel bestellen bzw. produzieren alle Akteure am Ende der Periode t genau so viel, dass der Lagerbestand am Anfang der Folgeperiode t+1 mindestens dem in Periode t geschätzten Prognosewert der Nachfrage für Periode t + 1 entspricht (Sollbestand).

Mit yt als Absatz in Periode t ergibt sich der am Ende von Periode t prognostizierte Absatz für die Folgeperiode t+1 als gleitender Mittelwert von n Vorperioden:

Eine Bestellung/Produktion qt > 0 erfolgt somit nur, wenn der Lagerbestand in Periode t abzüglich des tatsächlichen Verbrauchs in Periode t kleiner ist als der Sollbestand . Auftretende Fehlmengen werden durch entsprechende Nachlieferungen zu Beginn von Periode t+1 sofort befriedigt und schlagen sich daher nicht im Lagerbestand lt+1 nieder. Der Lagerbestand zu Beginn von Periode t+1 ergibt sich daher mit:

Tab. 1-2: Bestellpolitik des Einzelhändlers

Die Ergebnisse in Tabelle 1-2 zeigen, dass der Einzelhändler einer weitgehend konstanten Nachfrage nach Bier gegenübersteht. Lediglich in Periode 3 steigt die Biernachfrage – vielleicht witterungsbedingt oder ausgelöst beispielsweise durch eine ungeplante und unbezahlte Werbung durch einen Celebrity oder einen Influencer in den sozialen Medien oder auch bedingt durch Knappheit eines Substitutionsprodukts – einmalig an. Da sich daraus ein Prognosewert und Sollbestand von 10000 [ME] für Periode 4 ergibt, muss der Einzelhändler 14000 [ME] bestellen – nur so kann er die Fehlmenge (Out-of-Stock) von 4000 [ME] der Periode 3 ausgleichen. In der nachfolgenden Tabelle 1-3 sind die entsprechenden Auswirkungen beim Großhändler auf der zweiten Stufe dargestellt.

Tab. 1-3: Bestellpolitik des Großhändlers

Die einmalig erhöhte Nachfrage des Einzelhändlers in Periode 3 schlägt sich in den Prognosewerten des Großhändlers für die Perioden 4 und 5 nieder. Da sich ein Prognosewert und Sollbestand von 11000 [ME] für Periode 4 ergibt, muss der Großhändler 17000 [ME] bestellen um die Fehlmenge von 6000 [ME] der Periode 3 ausgleichen. Der durch die Prognose ausgelöste, überhöhte Lagerbestand in Periode 4 wird dann durch eine niedrige Bestellmenge in Höhe von 2000 [ME] in Periode 5 wieder korrigiert. Dieses Verhalten hat natürlich Auswirkungen auf den Produzenten (Brauerei) auf der ersten Stufe.

Tab. 1-4: Produktionspolitik des Produzenten

In Tabelle 1-4 sind bereits die massiven Schwankungen sowohl bei den Produktionsmengen als auch bei den Lagerbeständen der Brauerei zu erkennen – ausgelöst durch die einmalig erhöhte Nachfrage bei dem Einzelhändler. Die nachfolgenden Grafiken verdeutlichen dieses Aufschaukeln der Bestell-, Produktions- und Lagerquantitäten über die einzelnen Stufen der Supply Chain: den Bullwhip-Effekt.

Das Phänomen Bullwhip-Effekt ist im Rahmen des Supply Chain Managements so bedeutend, dass der Effekt auch als »first law of supply chain dynamics« bezeichnet wird (Kouvelis et al., 2006, S. 450). Lee et al. (1997b) identifizieren insbesondere vier Ursachen für diesen Peitscheneffekt:

•  Verarbeitung von Nachfragesignalen: Hierbei wird wie in unserem Beispiel die beobachtete Nachfrage als Signal für die zukünftige Nachfrage aufgefasst, was oft jedoch nicht der Fall ist.

•  Auftragsbündelung: Aus Kostengründen ist eine Bestellung in jeder Periode oft nicht wirtschaftlich, sodass Aufträge gebündelt werden. Dies führt zu Prognoseproblemen auf vorgelagerte Stufen in der Supply Chain.

•  Engpasspoker: Ein Lieferant rationiert proportional zu den Bestellungen seiner Kunden aufgrund eines Lieferengpasses die Lieferungen, wodurch die Kunden zur Erhöhung ihrer Ration mehr bestellen als sie benötigen. Werden diese Bestellungen als Signal für die zukünftige Nachfrage aufgefasst, resultieren Prognoseprobleme auf vorgelagerte Stufen in der Supply Chain.

•  Preisschwankungen: Vermutet ein Abnehmer steigende Preise, so ist damit zu rechnen, dass die derzeitige Nachfrage steigt und sich der Abnehmer Vorräte anlegt, die nicht auf die aktuelle Nachfragesituation abgestimmt sind. Dieses so genannte Forward Buying (d. h. Kauf von Produkten ohne aktuelle Nachfrage zu niedrigen Preisen in Erwartung eines zukünftigen Preisanstiegs) führt zu Prognoseproblemen auf vorgelagerten Stufen in der Supply Chain.

Bei näherer Betrachtung können diese vier Gründe in einem einzigen zusammengefasst werden: falsche Verarbeitung von Nachfragesignalen. Entsprechend führt Sucky (2009, S. 313) aus: »These four causes are interdependent; the causes may interact and act in concert. However, the updating of demand forecasts appears to be the major source of the bullwhip effect« ( Abb. 1-6).

Das illustrative Beispiel zeigt, dass die Folgen des Bullwhip-Effekts mit steigenden Bestandskosten, steigenden Produktionskosten, steigenden Transportkosten, steigenden Durchlaufzeiten und einer sinkenden Marktreaktivität gegeben sind. Der Bullwhip-Effekt kann reduziert werden, indem eine Verstetigung des Materialflusses bzw. eine Synchronisation des Materialflusses mit der Kundennachfrage, durch eine unmittelbare, verzögerungsfreie Informationsbereitstellung der relevanten Nachfragedaten für alle Akteure in der Supply Chain realisiert wird (Steven/Krüger, 2001). In unserem Beispiel soll eine solche Informationsbereitstellung derart erfolgen, dass der Einzelhändler Informationen über seine tatsächlichen Absatzquantitäten sowohl an den Großhändler als auch an den Produzenten weitergibt. Großhändler und Produzent erstellen ihre jeweilige Prognose (und die daraus abgeleiteten Bestell- und Produktionsmengen) dann auf der Basis der tatsächlichen Abverkäufe des Einzelhändlers. Die daraus resultierenden Bestell- und Produktionsquantitäten des Großhandels und des Produzenten zeigen die Tabellen 1-5 und 1-6.

Es zeigt sich eine deutliche Reduktion des Bullwhip-Effekts, d. h. es gelingt eine zielgerichtete, unternehmensübergreifende Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozesse in der betrachteten Supply Chain durch die Weitergabe relevanter (Planungs-)Informationen. Die Bestell- und Produktionsquantitäten des Großhandels und des Produzenten weisen deutlich geringere Schwankungen auf ( Abb. 1-8). In diesem Kontext sagte Sam Walton, der Gründer von Wal-Mart: »People think we got big by putting big stores in small towns. Really we got big by replacing inventory with information« (Huo et al., 2016). Wir werden auf diese unternehmensübergreifende Weitergabe planungsrelevanter Informationen im Rahmen des Konzepts Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment (CPFR) tiefer eingehen.

Abb. 1-6a: Bestell- und Produktionsquantitäten der einzelnen Akteure

Abb. 1-6b: Bestell- und Produktionsquantitäten der Akteure insgesamt

Abb. 1-7: Lagerbestandsverläufe der Akteure insgesamt

Tab. 1-5: Bestellpolitik des Großhändlers auf Basis der Abverkäufe des Einzelhandels

Tab. 1-6: Produktionspolitik des Produzenten auf Basis der Abverkäufe des Einzelhandels

Abb. 1-8a: Bestell- und Produktionsquantitäten der einzelnen Akteure auf der Basis der Abverkäufe des Einzelhandels

Abb. 1-8b: Bestell- und Produktionsquantitäten der Akteure auf der Basis der Abverkäufe des Einzelhandels insgesamt

1.3       Machtspiele und Partnerschaft: die integrierte Losgröße

»The integration of all key business processes across the supply chain is what we are calling supply chain management« (Cooper/Lambert/Pagh, 1997, S. 11)

Auch im dritten Beispiel – welches hoffentlich ebenfalls dazu motiviert, sich tiefer mit Supply Chain Management zu beschäftigen – geht es um die Koordination arbeitsteiliger Wertschöpfungsprozesse; konkret um die Abstimmung von Produktions-, Transport- und Bestellquantitäten zwischen einem Lieferanten und seinem Abnehmer. Grundlage des Beispiels bildet das von Banerjee (1986) präsentierte JELS-Model (Joint Economic Lot Size Model) zur Bestimmung einer standortübergreifenden, integrierten Losgröße.

Wir betrachten wieder die uns bekannte, arbeitsteilige Bier-Supply Chain, jedoch diesmal den Ausschnitt mit dem Lieferanten für Glasflaschen (hier eine Glashütte) und dem Produzenten (Brauerei), der diese Flaschen in seiner Abfüllanlage verwendet. Zur Vereinfachung betrachten wir Einweg-Bierflaschen, auch wenn dies aus Umweltgesichtspunkten abzulehnen ist ( Abb. 1-9).

Aktuell existieren in Deutschland zwei Pfandsysteme: Mehrwegpfand und Einwegpfand. Gesetzlich geregelt ist der Einwegpfand insbesondere in § 9 der Verpackungsverordnung (VerpackV). Mehrwegpfand hingegen ist ein freiwilliges System der Getränkeindustrie. Der Unterschied zwischen beiden Systemen besteht darin, dass Mehrwegpfandflaschen wiederverwendet werden, d. h. nach Rückgabe werden die Pfandflaschen umfangreich gereinigt und anschließend neu befüllt. Einwegpfandflaschen hingegen werden zerkleinert und recycelt.

Abb. 1-9: Ausschnitt der Bier-Supply Chain

Wird ein bestimmtes Produkt im Rahmen eines mehrstufigen, arbeitsteiligen Produktionsprozesses erzeugt und erfolgen die einzelnen Teilprozesse an räumlich getrennten Standorten (Werken) eines oder unterschiedlicher Unternehmen, so stellt sich das Problem der standortübergreifenden (werksübergreifenden) und wohlmöglich unternehmensübergreifenden Losgrößenplanung. Um mögliche Lösungen dieses Planungsproblems beurteilen zu können, legen wir als außenstehender Betrachter das Zielkriterium derart fest, dass sämtliche Teilproduktionsprozesse so zu koordinieren sind, dass die relevanten Gesamtkosten in dem betrachteten Ausschnitt der Bier-Supply Chain minimiert werden (Formalziel), bei vollständiger Erfüllung der Kundenanforderungen (Sachziel). Schließlich werden wir das Beispiel möglichst simpel und mathematisch einfach gestalten – für eine umfassende, spieltheoretische Analyse dieses Problems sei auf Sucky (2004b und 2004c) verwiesen.

Betrachten wir zunächst den Abnehmer, d. h. die Brauerei. Es ist festzulegen, wie oft im Planungszeitraum die fremdbezogenen Glasflaschen bestellt werden und wie hoch die jeweilige Bestellmenge ist. Zur Ermittlung dieser Bestellpolitik des Abnehmers (A) – als auch später zur Ermittlung der Produktions- und Transportpolitik des Lieferanten (P) – kann das von Harris (1913) für den Produktionsbereich entwickelte, von Stefanič-Allmayer (1927) auf den Beschaffungsbereich übertragene, aber erst durch Andler (1929) im deutschen Sprachraum bekannt gewordene Grundmodell der Losgrößenplanung (Andler-Formel, Economic Order Quantity, EOQ-Formel) herangezogen werden. Die Brauerei (A) plant ihre Bestellpolitik unter dem Ziel der Minimierung ihrer gesamten entscheidungsrelevanten Periodenkosten: die Bestellkosten und die Lagerhaltungskosten. Die variablen Beschaffungskosten je Stück werden als im Planungszeitraum konstant angenommen und sind daher nicht entscheidungsrelevant.

Der bekannte Gesamtbedarf je Periode b [ME/Periode] kann z. B. durch eine Bestellpolitik mit geringen Bestellquantitäten bei hoher Bestellfrequenz oder durch eine Bestellpolitik mit großen Bestellquantitäten bei niedriger Bestellfrequenz gedeckt werden. In Abhängigkeit der damit verbundenen Bestellquantitäten und -frequenz verlaufen die resultierenden entscheidungsrelevanten Bestell- und Lagerhaltungskosten gegenläufig. Gesucht ist die Bestellpolitik, die über einen Ausgleich dieser gegenläufigen Tendenz zu den minimalen gesamten entscheidungsrelevanten Periodenkosten führt. Unter der Annahme einer unendlich schnellen Lieferzeit sowie eines kontinuierlichen Lagerabgangs mit einer konstanten Nachfragerate ist der Gesamtbedarf b [ME/Periode] durch Bestellungen je Periode der identischen Quantität von xA [ME] zu decken. Fehlmengen treten annahmegemäß nicht auf, d. h. die Bestellmenge xA [ME] entspricht der Liefermenge und der Lagereingangsmenge. Erfolgt der Lagerabgang kontinuierlich, so beträgt der durchschnittliche Lagerbestand [ME]. Der Lagerbestandsverlauf beim Abnehmer (A), unter den gegebenen Annahmen, ist in Abbildung 1-10 dargestellt.

Abb. 1-10: Lagerbestandsverlauf des Abnehmers (A)

Pro Bestellung fallen Kosten in Höhe von B [GE] an und der Lagerhaltungskostensatz beim Abnehmer (A) beträgt hA [GE/ME und Periode]. Mit den pro Periode anfallenden Bestellkosten [GE/Periode] und Lagerkosten [GE/Periode] ergeben sich die zu minimierenden entscheidungsrelevanten Kosten im Planungszeitraum mit:

Die optimale Bestellmenge [ME] lässt sich durch Nullsetzen der ersten Ableitung der Funktion (1.3-1) nach xA ermitteln:

Die Brauerei möchte somit 50-mal pro Jahr mit jeweils 2000 Flaschen beliefert werden. Aus entsprechenden Bestellungen und Lieferungen resultieren die minimalen entscheidungsrelevanten Kosten in Höhe von:

Die folgende Abbildung 1-11 zeigt, dass sich die optimale Bestellmenge im Schnittpunkt der entgegengesetzt verlaufenden Lager- und Bestellkostenkurven ergibt.

Abb. 1-11: Optimale Bestellmenge und resultierende, minimale Gesamtkosten der Brauerei

Betrachten wir nun die Glashütte, d. h. den Lieferanten der Glasflaschen. Die Glashütte (P) plant ihre Produktions- und Transportpolitik unter dem Ziel der Minimierung ihrer gesamten entscheidungsrelevanten Periodenkosten: die Rüstkosten und die Lagerhaltungskosten. Ein Produktionslos ist die (positive) Quantität eines Gutes, die auf einem Produktionssystem ohne Unterbrechung zu fertigen ist. Zur Fertigung des Produktionsloses muss das Produktionssystem zunächst (um-)gerüstet werden, um für die Fertigung des Produktionsloses einsatzbereit zu sein. Diese Rüstvorgänge beanspruchen Rüstzeit und verursachen Rüstkosten unabhängig von der Quantität (Losgröße) des aufgelegten Produktionsloses. Die Versorgung des nachgelagerten Standorts (der Brauerei) mit dem zu erstellenden Vorprodukt erfolgt aus dem Ausgangslager. Durch die Lagerung der erzeugten Vorprodukte bis zu ihrem Transport zu dem nachgelagerten Standort fallen Lagerhaltungskosten (Lagerkosten i. e. S. und Kapitalbindungskosten) an.

Bezüglich der Produktionspolitik wird angenommen, dass die Glashütte eine so genannte geschlossene Produktion verfolgt, d. h. fertiggestellte Produkteinheiten eines Produktionsloses können erst an die nachfolgende Stufe – den Brauereistandort (A) – weitergegeben werden, nachdem die Bearbeitung des gesamten Produktionsloses abgeschlossen ist. Des Weiteren entspricht die Weitergabe-/Transportmenge dem Produktionslos. Das gesamte Produktionslos wird somit unmittelbar nach Fertigstellung an den Brauereistandort (A) weitergegeben. Diese Produktionspolitik wird aufgrund der losweisen Weitergabe auch Lot-for-Lot Production Strategy genannt (Toomey, 2000).

Unter der Annahme einer unendlich schnellen Lieferzeit sowie eines Lagerzugangs mit konstanter Produktionsrate ist der Gesamtbedarf b [ME/Periode] durch Losauflagen je Periode der identischen Quantität von xp [ME] zu decken. Fehlmengen treten annahmegemäß nicht auf, d. h. die Produktionslosgröße xp [ME] entspricht der Transportmenge. Der Lagerbestandsverlauf beim Lieferanten (P), unter den gegebenen Annahmen, ist in der nachfolgenden Abbildung 1-12 dargestellt. Aufgrund von d > b ergibt sich ein durchschnittlicher Lagerbestand von [ME].

Abb. 1-12: Lagerbestandsverlauf des Lieferanten (P)

Die Rüstkosten, die bei jeder Losauflage in gleicher Höhe anfallen, betragen R [GE] und der Lagerhaltungskostensatz beim Lieferanten (P) beträgt hp [GE/ME und Periode]. Transportkosten berücksichtigt Banerjee (1986) in seinem Beispiel nicht explizit. Im Falle einer Lot-for-Lot-Produktionspolitik ist jedoch die Anzahl der Losauflagen je Periode identisch mit der Anzahl der Transporte je Periode. Der Rüstkostensatz von R [GE] repräsentiert daher die Summe aus Rüst- und Transportkosten je Losauflage und Transport. Mit den pro Periode anfallenden Rüst- und Transportkosten [GE/Periode] und den Lagerkosten [GE/Periode] ergeben sich die zu minimierenden entscheidungsrelevanten Kosten im Planungszeitraum mit:

Die optimale Produktions- und Transportlosgröße [ME] lässt sich durch Nullsetzen der ersten Ableitung der Funktion (1.3-5) nach xp ermitteln:

Die Glashütte wählt somit 10-mal pro Jahr eine Losauflage von 10000 Flaschen. Aus entsprechenden Losauflagen und Transporten resultieren die minimalen entscheidungsrelevanten Kosten in Höhe von:

Die folgende Abbildung 1-13 zeigt, dass sich die optimale Produktions- und Transportmenge im Schnittpunkt der entgegengesetzt verlaufenden Lagerkosten einerseits und der Rüst- und Transportkosten andererseits ergibt.

Abb. 1-13: Optimale Produktionspolitik und resultierende, minimale Gesamtkosten der Glashütte

Gilt , d. h. stimmen die individuell optimalen Lösungen der Brauerei (A) und der Glashütte (P) überein, so ist das Koordinationsproblem gelöst. Für den Fall ergibt sich nur dann eine standort- bzw. unternehmensübergreifende Lösung, wenn

•  die Glashütte (P) sich an die optimale Bestellpolitik der Brauerei (A) anpasst

Abb. 1-14: Lagerbestandsverläufe bei integrierter Bestell- und Produktionspolitik

•  die Brauerei (A) sich an die optimale Produktionspolitik der Glashütte (P) anpasst oder

•  sich die Brauerei (A) und die Glashütte (P) auf eine andere gemeinsame Bestell- und Produktionspolitik einigen

Die folgende Tabelle 1-7a zeigt die individuell optimalen Bestell- bzw. Produktionspolitiken sowie die daraus resultierenden Kosten des jeweils anderen Supply Chain-Akteurs.

Tab. 1-7a: Bestell- und Produktionspolitiken sowie resultierende Kosten

In unserem Beispiel der Bier-Supply Chain besteht offensichtlich das Koordinationsproblem, dass sich die Brauerei (A) und die Glashütte (P) auf eine gemeinsame Bestell- und Produktionspolitik einigen müssen, da gilt. Es existieren darüber hinaus konfliktionäre bzw. konkurrierende Beziehungen zwischen den (Kosten-)Zielen der beiden Akteure, d. h. mit der Erfüllung des Ziels eines Akteurs geht die Beeinträchtigung der Erfüllung des Ziels des jeweils anderen Akteurs einher. Wie kann nun dieses Koordinationsproblem bei konfliktionären Zielbeziehungen gelöst werden? Banerjee (1986) schlägt hierzu vor, eine integrierte Bestell- und Produktionspolitik derart zu wählen, dass die Summe der entscheidungsrelevanten Kosten der Akteure (A) und (P) minimiert wird:

Die optimale, integrierte Bestell- und Produktionspolitik [ME] lässt sich durch Nullsetzen der ersten Ableitung der Funktion (1.3-9) nach xG ermitteln:

Tab. 1-7b: Bestell- und Produktionspolitiken sowie resultierende Kosten

Auch wenn eine »faire« Aufteilung der Gesamtkosten einer integrierten Bestell- und Produktionspolitik erfolgt, besteht weiterhin eine Lose-Lose-Situation. Bei der

Abb. 1-15: Bestell- und Produktionspolitiken sowie und resultierende Kosten der Akteure

von Banerjee (1986) vorgeschlagenen Lösung – auch bei einer »fairen« Kostenaufteilung – handelt es sich entscheidungstheoretisch um ein so genanntes Kompromissmodell, da es die Zielvorstellungen der beiden Akteure, repräsentiert durch die Zielfunktionen (1.3-1) und (1.3-5), in der Kompromisszielfunktion (1.3-9) zusammenfasst. Das bereits oben genannte Problem der konkurrierenden Zielbeziehungen besteht jedoch weiterhin, d. h. akzeptiert ein Akteur die mit Hilfe eines Kompromissmodells generierte Lösung nicht und fordert die Realisierung einer anderen Lösung, welche ihn besser stellt, so impliziert dies zwingend, dass der andere Akteur schlechter gestellt wird, was dieser ablehnen wird (Knörzer, 2002). Sowohl die Glashütte (P) als auch die Brauerei (A) haben somit zunächst kein Interesse daran, von ihrer jeweils individuell optimalen Lösung abzuweichen und eine wie auch immer ermittelte Kompromisslösung zu akzeptieren ( Tab. 1-7c).

Tab. 1-7c: Bestell- und Produktionspolitiken sowie resultierende Kosten

Eine Möglichkeit, eine von beiden Akteuren akzeptierte Lösung herbeizuführen, sind Verhandlungen. Die Koordination in Supply Chains auf Basis von Verhandlungen ist ein weites Forschungsgebiet (Hezarkhani/Kubiak, 2010, Shen et al., 2018) und wir werden in einem späteren Kapitel näher darauf eingehen. Bereits jetzt kann jedoch festgestellt werden, dass eine Verhandlungslösung immer auch davon abhängig ist, welcher der Akteure über die größere Macht verfügt: »A firm’s power reflects its potential for influence on the decision making and behavior of another firm« (Frazier et al.,1988, S. 58).

Tab. 1-7d: Bestell- und Produktionspolitiken sowie resultierende Kosten

Spieltheoretisch liegt hier ein so genanntes Nichtnullsummenspiel vor. Während in Nullsummenspielen die Summe der Auszahlungen (hier: die Summe der Kosten) der Akteure für alle möglichen Strategiekombinationen (hier: Bestell- und Produktionspolitiken) konstant bleibt, gibt es bei Nichtnullsummenspielen Strategiekombinationen, die für alle Akteure höhere Auszahlungen (hier: niedrigere Kosten) induzieren als andere. In Nichtnullsummenspielen existieren somit Win-Win-Situationen, in denen über die Aufteilung der Auszahlungssumme (hier: der Kostensumme) entschieden werden muss.

Diese einleuchtende Lösung hat jedoch zwei Haken. Einerseits wird die Brauerei (A) eine Verhandlungslösung mit einer möglichst hohen Seitenzahlung anstreben, während die Glashütte (P) diese minimieren möchte. Die Dauer und der Ausgang der Verhandlungen sind somit ungewiss. Andererseits muss ein Akteur zur Abgabe eines Angebots bzw. zur Beurteilung eines Angebots nicht nur seine eigene Kosten(-funktion) kennen, sondern auch die des jeweils anderen Akteurs. So stellt bereits Banerjee (1986, S. 310) die Abhängigkeit der Verhandlungslösung von den zu Grunde liegenden Informationsbedingungen der beteiligten Akteure fest: »Within the framework of an adversarial bargaining process between the buyer and a supplier, there is likely to be considerable reluctance on the part of either party to reveal the true values of its cost parameters. This can indeed be a formidable hurdle in establishing a joint optimal policy.« Bestands-, Kapazitäts- und insbesondere Kostendaten stellen hochsensible Informationen bzw. Betriebsgeheimnisse dar, sodass die Unternehmen einem Austausch dieser Informationen mit ihren Supply Chain-Partnern sehr kritisch gegenüberstehen und diesen eher ablehnen. Und selbst im Falle des Informationsaustauschs haben die Akteure einen starken Anreiz, nicht wahrheitsgemäß über ihre Kostensituation zu berichten. Karrass (1974) bemerkte daher schon: »With respect to information and backup data, buyers and sellers are on opposing sides. In my opinion, the less the seller tells the buyer, the better off he is. With respect to cost data, what is good for one is generally bad for the other.« In unserem Beispiel hat die Brauerei (A) sogar den Anreiz, für die angebotene Bestell- und Produktionspolitik höhere als ihre tatsächlich anfallenden Kosten anzugeben, um eine möglichst hohe Seitenzahlung durch die Glashütte (P) zu realisieren. Wir werden uns daher später mit einer praktikablen Lösung dieses Problems durch zielgerichtetes Supply Chain Management beschäftigen müssen.

Ein Beispiel für eine »echte« Win-Win-Situation liefert das so genannte Wasserschutzbrot (https://www.wasserschutzbrot.de/). So verzichten in Franken einige Bauern auf die letzte Stickstoff-Gabe (Dünger), wodurch sich das Risiko der Nitrat-Auswaschung in das Grundwasser verringert. Der Ernteertrag der Bauern fällt zwar etwas geringer aus, wenn die Pflanzen mit weniger Stickstoff versorgt werden, doch dieser Nachteil wird durch eine Ausgleichszahlung aufgehoben, die die Bauern von den Wasserversorgern erhalten. Außerdem sinken die Düngekosten. Die Wasserversorger wiederum sparen die teure Filterung des Nitrats aus dem Grundwasser. Ein »Spiel« bei dem alle gewinnen, nicht zuletzt die Umwelt.

1.4       Die »Big 3« des Supply Chain Managements

Bevor wir die theoretischen Grundlagen sowie praxisrelevante Ansätze des Supply Chain Managements angehen und erarbeiten, sind wir auf Basis der illustrativen Beispiele in der Lage, die drei Grundprobleme des Supply Chain Managements zu identifizieren. Diese werden wir bei allen weiteren Ausführungen zu Grunde legen und beachten müssen.

Erkenntnisproblem

In einer arbeitsteiligen Wirtschaft agieren Unternehmen in Netzwerken, in denen Güter von anderen Unternehmen als Input übernommen werden, welcher zu Output transformiert wird, der wiederum an andere Unternehmen weitergegeben wird. Der Endkunde nimmt das Netzwerk – die Supply Chain – jedoch nicht wahr. Ein Konsument bewertet nicht die Leistungen einzelner in einer Supply Chain agierender Unternehmen, sondern lediglich diejenige Leistung, die sich als Resultat aller in einer Supply Chain vollzogenen Wertschöpfungsprozesse ergibt. Unternehmen müssen erkennen, dass sie nicht isoliert agieren, sondern Teil eines unternehmensübergreifenden Netzwerks sind. Daher ist eine zielgerichtete Koordination der arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozesse über Unternehmensgrenzen hinweg notwendig, denn es gilt: »The only thing that matters is what the consumer sees.«

Komplexitätsproblem

Haben Unternehmen erkannt, dass sie in einem arbeitsteiligen, globalisierten und kundenorientierten Wertschöpfungsnetzwerk nicht isoliert und unabhängig von anderen, in diesem Netzwerk agierenden Unternehmen handeln können, da die eigene Leistung nur ein Teil eines umfassenden Leistungspakets ist, stellt sich das Komplexitätsproblem. Individuelle, sich laufend ändernde Kundenbedürfnisse sind durch eine Vielzahl von Produkten, welche wiederum in vielfältigen Varianten, über mehrere, unternehmensübergreifende Fertigungsstufen erzeugt und über diverse Vertriebswege angeboten werden, zu befriedigen. Entsprechend zeigt die Studie »Komplexität und Komplexitätsmanagement in der Unternehmenspraxis«, dass die wahrgenommene Komplexität der Leistungserstellung deutlich angestiegen ist (Gießmann/Lasch, 2010 sowie Lasch/Gießmann, 2010). Die Problemstellung der Unternehmen formulieren Bozarth et al. (2009): »The last twenty years have seen a steady convergence of the traditionally distinct areas of operations management (OM), sourcing, and logistics into a single area commonly known as supply chain management (SCM). According to the SCM perspective, it is no longer adequate for businesses to run these areas as loosely linked pockets of excellence. They must also develop and manage the information flows, physical flows and relationships that link these areas together, and link these areas with upstream and downstream partners.« Bereits die oben angeführten Beispiele von DaimlerChrysler und Toyota zeigen deutlich, dass es sich bei Supply Chains um hochkomplexe Gebilde handelt, die sich einer ganzheitlichen Analyse oder gar Gesamtoptimierung i. d. R. entziehen. Es sind daher Konzepte und Instrumente für eine unternehmensübergreifende Planung, Steuerung und Kontrolle (Management) von Wertschöpfungsprozessen zu entwickeln, die sich insbesondere auf relevante Schnittstellen bzw. bilaterale Beziehungen beziehen oder aufgrund ihrer Einfachheit und Transparenz geeignet sind, auch weite Teile der Supply Chain abzudecken. Es wird dann nicht dem Ausspruch des Kybernetikers William Ross Ashby gefolgt: »Only complexity can absorb complexity.« Vielmehr wird sich an Albert Einstein gehalten: »Everything should be made as simple as possible, but not simpler.« »Die Kunst […] besteht im Finden eines angemessenen Verhältnisses zwischen Brauchbarkeit und Abstraktion, also einer vernünftigen Reduktion von Komplexität« (Bretzke, 2016, S. 166).

Allokationsproblem

Durch eine unternehmensübergreifende, zielgerichtete Koordination von arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozessen können Effizienzgewinne in der Supply Chain realisiert werden. Diese Effizienzgewinne sind jedoch i. d. R. nicht symmetrisch verteilt (Bretzke, 2015, S. 70). So formulieren Knolmayer et al. (2000, S. 19): Es »[…] entstehen für einzelne Partner überproportionale SC-Gewinne, für andere aber unterproportionale Vorteile oder gar Schlechterstellungen. Die Quantifizierung und Zurechnung der Auswirkungen sowie die Festlegung der Ausgleichsmechanismen bergen beachtliches Konfliktpotenzial. Damit stellt sich das dritte Grundproblem: das Allokationsproblem. Wie können echte Win-Win-Situationen geschaffen werden oder anders ausgedrückt, wie können/müssen die durch Supply Chain Management erzielten Effizienzgewinne auf die beteiligten Unternehmen aufgeteilt werden, sodass sämtliche beteiligten Akteure auch einen Anreiz haben »mitzuspielen«.

Zusammenfassend können wir an dieser Stelle somit festhalten, dass Unternehmen erkennen müssen (Erkenntnisproblem), dass sie in unternehmensübergreifenden Supply Chains agieren und dass kein Supply Chain-Akteur unabhängig ist von den anderen Akteuren und das Verhalten der Supply Chain als Ganzes vom Zusammenwirken aller Akteure beeinflusst wird. Diese Supply Chains sind i. d. R. jedoch so komplex (Komplexitätsproblem), dass sie sich einer ganzheitlichen, vollständigen Betrachtung entziehen. Durch die zielgerichtete Koordination von Wertschöpfungsprozessen in der Supply Chain können jedoch Effizienzgewinne realisiert werden, welche zwischen den Supply Chain-Akteuren so aufzuteilen sind, dass alle Beteiligten ein Interesse an einem Miteinander haben (Allokationsproblem).