Süß - Ann-Kristin Tlusty - E-Book

Süß E-Book

Ann-Kristin Tlusty

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Beschreibung

Ein Buch, das unsere Annahmen über Gleichberechtigung erschüttern wird. „Souverän, scharfsinnig, lustig und analytisch“ Theresia Enzensberger

Plötzlich sind alle Feminist*innen. Bloß kann von echter Gleichberechtigung keine Rede sein. Warum wirken überholte Strukturen fort? Wie lassen sie sich abwracken? Ann-Kristin Tlusty betrachtet die inneren und äußeren Zwänge, die das Leben von Frauen auch heute prägen: Noch immer wird ihnen abverlangt, „sanft“ die Sorgen und Bedürfnisse der Gesellschaft aufzufangen. Jederzeit sollen sie dabei auf „süße“ Weise sexuell verfügbar erscheinen, gern auch unter feministischem Vorzeichen. Und bei alldem angenehm „zart“ niemals zu viel Mündigkeit beanspruchen. Klug und persönlich, befreiend und neu: Diese Streitschrift wirbelt die Geschlechterordnung für immer durcheinander. Enjoy, Sweethearts!

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Über das Buch

Ein Buch, das unsere Annahmen über Gleichberechtigung erschüttern wird. »Souverän, scharfsinnig, lustig und analytisch« Theresia EnzensbergerPlötzlich sind alle Feminist*innen. Bloß kann von echter Gleichberechtigung keine Rede sein. Warum wirken überholte Strukturen fort? Wie lassen sie sich abwracken? Ann-Kristin Tlusty betrachtet die inneren und äußeren Zwänge, die das Leben von Frauen auch heute prägen: Noch immer wird ihnen abverlangt, »sanft« die Sorgen und Bedürfnisse der Gesellschaft aufzufangen. Jederzeit sollen sie dabei auf »süße« Weise sexuell verfügbar erscheinen, gern auch unter feministischem Vorzeichen. Und bei alldem angenehm »zart« niemals zu viel Mündigkeit beanspruchen. Klug und persönlich, befreiend und neu: Diese Streitschrift wirbelt die Geschlechterordnung für immer durcheinander. Enjoy, Sweethearts!

ANN-KRISTIN TLUSTY

SÜSS

EINE FEMINISTISCHE KRITIK

Carl Hanser Verlag

Für V.B.

Einleitung

Is one half of the human species to be subject to prejudices that brutalise them, only to sweeten the cup of man?

Mary Wollstonecraft (1792): A Vindication of the Rights of Women1

Ich bin Feministin. Ich bin wütend darüber, dass Frauen2 im Alter wie selbstverständlich stärker unter Armut leiden als Männer. Ich bin es leid, dass man Menschen mit Uterus nicht zutraut, Informationen zum Thema Schwangerschaftsabbruch handhaben zu können. Ich finde es erschütternd, dass all jene, die keine heteromännliche Norm verkörpern, weltweit Angst haben müssen, nachts allein das Haus zu verlassen. Bezeichnet mich ein Kollege süffisant als Femnazi oder wirft mir eine Bekannte an den Kopf, mit einer feministischen Hardlinerin wie mir könne man sich über bestimmte Themen ja gar nicht unterhalten, schlucke ich kurz und sage mir dann: Lieber zu viel als zu wenig. Das hat mir meine Mutter beigebracht.

Ich bin Feministin. Und doch gibt es manchmal Momente, in denen es sich nicht so anfühlt. Manchmal sitze ich beispielsweise irgendwo, in einem Zug, auf einer Parkbank, und spüre plötzlich einen Blick auf mir. Dieser Blick begutachtet meine Sitzhaltung, das Buch, das ich lese, die Art, wie ich einer fremden Person eine Frage beantworte. Der Blick urteilt über mich. Er denkt: Welch nette, zuvorkommende Frau! Oder: Warum sitzt die denn mit derart gefällig überkreuzten Beinen da? Dieser Blick, das bin ich.

Offiziell ist Feminismus um mich herum längst Konsens. In seiner soften Variante lässt er sich als Yogastunde oder Aktienberatung kaufen, kommt auf glänzenden Buchcovern sehr zeitgeistig daher und ist das unabdingbare Thema jeder Wochenzeitung. Im liberalen Diskurs ist Feminismus ein Accessoire, mit dem sich alle schmücken.

Doch womit man sich schmückt, das hat man noch lange nicht verinnerlicht. Wo sind die Jahrhunderte des Patriarchats3 so abrupt hin, wenn Feminismus plötzlich fast überall ist? In diesem Buch werde ich mich auf die Spurensuche begeben — denn es gibt wesentlich mehr Rudimente in und um uns herum, als uns unsere vermeintlich progressive Gegenwart glauben lässt. Und auch wenn ich dabei möglichst viel zu beleuchten versuche, schreibe ich natürlich aus einer beschränkten Perspektive heraus: aus meiner persönlichen, die in diesem Buch immer wieder durchscheinen wird.

Vor einigen Tagen loggte ich mich in mein altes Profil auf Couchsurfing ein, einer globalen Bettenbörse, die in den zehner Jahren unter Menschen ohne Geld und Rückenprobleme sehr beliebt war. Mit neunzehn hatte ich dort einmal ein Profil angelegt, das mir neben einer sorgfältig kuratierten Bücherauswahl auch das Benennen einiger origineller Hobbys und Interessen abverlangte. Ich klickte es an. Neben arts, architecture and philosophy (das schrieben damals alle) hatte ich, ich konnte es kaum fassen, eingetragen: eating chocolate.

Warum hatte ich Schokolade essen als mein Hobby angegeben, als ich acht Jahre zuvor meine postpubertäre Couchsurfing-Karriere antrat? Weshalb hatte ich meine südfranzösischen Hosts unbedingt wissen lassen müssen, was für eine vernaschte Besucherin sie beherbergen würden? Beschämt betrachtete ich das Foto meines neunzehnjährigen Ichs, das dieses Profil mit viel Mühe erstellt hatte. Unbeschwert smilte es zurück.

Ich behaupte, dass diese Geschichte viel darüber erzählt, wie wir uns Geschlecht imaginieren. Sie zeugt von einer relativ simplen Idee, Formen sogenannter Weiblichkeit4 zu performen — und ist Teil eines Codes, der auf etwas viel Größeres verweist. Nämlich auf sehr genaue Vorstellungen darüber, wie diese Weiblichkeit aussehen sollte.

Und das ist: süß.

In einer Spielart des Feminismus, die ich in diesem Buch Potenzfeminismus nennen werde5, scheint die Lösung für sämtliche Missstände unserer Gegenwart recht simpel: Frauen sollten sich bemühen, ihre Potenz zu finden — und mit etwas Anstrengung und Achtsamkeit sei das Patriarchat dann schon irgendwann überwunden. Selbstverständlich könnten sie alles sein, alles haben, alles erreichen, alles vereinbaren, was sie nur wollten, solange sie sich nur dafür entschieden: guter Sex? Kluge Fonds? Strikter Karriereplan? Täglich Bauchworkout, weil: strong is the new skinny? Alles stünde ihnen offen, solange sie sich gegenseitig empowern.6

Der Potenzfeminismus feiert den Erfolg einer jeden Frau als feministische Errungenschaft. Reiche Unternehmerinnen und Erbinnen gelten demnach nicht etwa als Symptom dafür, wie ungerecht Vermögen in unserer Gesellschaft verteilt sind — sondern als Versprechen, dass unsere Welt stetig gerechter werde. Ihr Wohlstand, so die Annahme, sickere allmählich zu allen anderen Frauen hinunter.7

Auf den folgenden Seiten werde ich zeigen, warum ein so argumentierender Feminismus auf beiden Augen blind ist. Zu behaupten, dass allein der eigene Wille entscheidend für den Lebensweg sei, ignoriert zum einen all die ökonomischen, sozialen, rechtlichen, kulturellen, kurzum: strukturellen Zwänge, denen Frauen ebenso wie intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen noch immer ausgesetzt sind. Kategorisch schließt er jene aus, deren Kontostand sie schlicht nicht in der Liga der Erfolgsfeministinnen mitspielen lässt — und ist nur für jene ein Indiz der Gleichberechtigung, die Feminismus in einem Atemzug mit Karriere hauchen. Zum anderen übersieht dieser Ansatz auch, dass Jahrtausende patriarchaler Herrschaft keinesfalls spurlos an unserer Gesellschaft vorbeigegangen sind. Selbst die reflektierteste Feministin wird in den Winkeln ihres Denkens gelegentlich auf etwas stoßen, das sich eben nicht sonderlich feministisch anfühlt. Liebe Grüße, dein inneres Patriarchat.

Wenn Feministinnen8 von der gläsernen Decke sprechen, meinen sie damit eine unsichtbare Grenze, die Frauen daran hindert, in die Sphären der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Macht aufzusteigen.9 Was jedoch wäre, wenn Frauen nicht nur eine (für die meisten recht tief hängende) gläserne Decke über sich, sondern auch lauter gläserne Wände um sich herum hätten? Unsichtbare Wände, die den sozialen Handlungsbereich einschränken? Zuckrige Fassaden, zusammengehalten von klebriger Ideologie?

Es gibt diese Wände. Sie illustrieren die äußeren und inneren Zwänge, die Frauen trotz der Omnipräsenz feministischer Gesten noch immer verspüren. Zuckrig kann bedeuten, eating chocolate als Hobby zu bezeichnen. Zuckrig kann aber auch bedeuten, unbezahlt immens viel liebliche Arbeit zu verrichten, ohne jemals von staatlicher oder irgendeiner Seite unterstützt zu werden. Oder zwar dafür bezahlt zu werden, aber trotzdem niemals Anerkennung zu bekommen. In diesem Buch geht es um verschiedene Formen derartiger süßlicher Entfremdung, die Frauen in Rollen drängt, die sie selbst nicht geschaffen haben. Was verzuckert ist, ist für andere da, dient dem Genießen und Verbrauchen. Es ist ein Geschenk. »Fürs Süße sind die Frauen zuständig«, behaupten auch im 21. Jahrhundert aufstrebende Jungpolitiker.10 Dieses Buch will nicht beantworten, warum sich ein Mann unter hundert heute noch zu solchen Aussagen hinreißen lässt. Sondern sich der Frage widmen, inwiefern ein solcher Satz brauchbar für die feministische Analyse sein kann.

Die Vorstellung, dass Frauen fürs Versüßen, Geben, Kompensieren da seien, offenbart ideologische Schimären. Genauso manifestieren sich patriarchale Denkweisen: Ein Mann behauptet beiläufig etwas über Frauen — sie sind fürs Süße zuständig —, grinst dabei womöglich süffisant und hat damit ein Stück weit festgelegt, wie die Geschlechterordnung auszusehen habe. Das hat lange Zeit gut funktioniert. Und funktioniert zu einem gravierenden Teil noch immer bestens.

Denn gerade während ihr ursprünglicher Sinn zunehmend infrage gestellt wird, bieten Geschlechterrollen offensichtlich Orientierung — und schränken dabei alle ein. Männlichkeit gilt innerhalb unserer binären Ordnung weiterhin als Norm. Der Mann stünde für das Positive, das Neutrale, schrieb Simone de Beauvoir 1949 in ihrem berühmten Essay Das andere Geschlecht. »Die Frau dagegen erscheint als das Negative, sodass jede Bestimmung ihr zur Einschränkung gereicht«, heißt es weiter.11 Beauvoir hat diese These zwar vor siebzig Jahren aufgestellt. Aber gilt nicht noch immer in vielen Zusammenhängen: Der Mann ist Mensch, die Frau primär Frau?

Wobei es mir schwerfällt, von Frauen und Männern zu schreiben, als seien diese Kategorien biologische Gegebenheiten. Für Simone de Beauvoir waren sie das noch. Doch spätestens in den neunziger Jahren geriet diese im Westen tradierte Binarität12 bekanntlich ins Wanken, als Judith Butler nicht nur das soziale Geschlecht, sondern auch das biologische für konstruiert erklärte. Die Wahrnehmung von Geschlecht ist in den vergangenen Jahren stetig fluider geworden, die Vorstellung eines Spektrums, das zwischen männlich und weiblich noch viel mehr kennt, populärer. Immer mehr Menschen beanspruchen für sich, nicht-binär zu sein, und sogar das deutsche Personenstandsgesetz kennt seit 2019 für intergeschlechtliche Personen den Eintrag divers.

Trotzdem wäre es irreführend, über patriarchale Denkmuster und Verhaltensweisen zu schreiben, ohne von Männern und Frauen zu sprechen. Ein strukturelles Ungleichgewicht lässt sich am schärfsten verdeutlichen, wenn man die Binarität der ungleichgewichtigen Struktur möglichst genau beschreibt, wenn man sie »als Verkörperungen eingeschliffener Praktiken der Medizin, Biologie, Pädagogik, des Familienlebens, des Sprechens«13 begreift, wie es die Philosophin Luise Meier formuliert — um solche Binarität im nächsten Schritt wieder zu verwerfen. Auch wenn wir die engen Pfade zweier Geschlechter gern verlassen würden, können wir eben noch nicht leugnen, dass es ein symbolisches Vorstellungsrepertoire von Männlichkeit und Weiblichkeit gibt. Um diesen binären Ballast durch die Luft zu wirbeln, müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie er sich fortwährend zementschwer niederschlägt: politisch, ökonomisch, kulturell, sozial.

Doch was ist das überhaupt, Weiblichkeit? Man kann sagen, dass Weiblichkeit das ist, was bei der biologischen Kombination zweier X-Chromosome herauskommt. Das tut letztlich selbst die katholische Kirche, wenn sie Männer und Frauen strikt unterscheidet. Man kann Weiblichkeit aber auch, und das scheint im 21. Jahrhundert angebrachter, als psychologische Disposition begreifen. In ihrem 2019 erschienenen Essay Females beschreibt etwa die US-amerikanische Schriftstellerin Andrea Long Chu Weiblichkeit als »jeden psychischen Vorgang, bei dem das Selbst geopfert wird, um den Bedürfnissen anderer Platz zu machen«. Diese Bedürfnisse könnten real sein oder imaginiert, vage oder greifbar, könnten ganz allgemeine kulturelle oder auch sehr konkrete Erwartungen wie die sexuellen Ansprüche einer Partnerin umfassen. »Weiblich zu sein«, schreibt Long Chu und spricht dabei auch aus ihrer Position als trans Frau, »bedeutet, jemand anderen an deiner Stelle begehren zu lassen, auf deine eigenen Kosten.«14 Das ist eine äußerst weite Definition — die alle Menschen einlädt, sich von ihr gemeint zu fühlen.

Wenn ich hier von Frauen schreibe, werde ich dieser Auffassung folgen und Weiblichkeit zunächst einmal als den erlernten und oft sicherlich unbewussten Impuls auffassen, eigene Bedürfnisse zu verleugnen und denen anderer Raum zu geben, den Impuls also, zu antizipieren, was gewünscht ist — oder auch schlichtweg keine andere Wahl zu haben. Die Frauen gibt es dabei natürlich nicht. Während sich Feministinnen in den sechziger und siebziger Jahren noch überaus selbstverständlich auf ein Subjekt Frau bezogen, erscheint es heute fast altmodisch, von Frauen zu sprechen, als seien sie eine homogene Gruppe. Dass Erfahrungen nicht nur durch Geschlechtszugehörigkeit, sondern mindestens genauso stark durch soziale Herkunft, rassifizierte Zuschreibungen, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und viele weitere Parameter bestimmt sind, ist im 21. Jahrhundert selbstverständlich. Manche weibliche Identitäten sind in besonders brutaler Weise von Zuschreibungen betroffen. Während asiatisch gelesene Frauen beispielsweise in kolonialistischer Tradition seit Jahrhunderten hypersexualisiert werden15, werden Schwarze Frauen oft sowohl sexualisiert16 als auch für aggressiv und furchterregend erklärt17 — oder aber ihnen wird ihr Frausein nur bedingt zugestanden.18 Die Bilder weißer Frauen sind oftmals mit dem Kult um ein »wahres« Frauensein verbunden — die Bilder Schwarzer Frauen hingegen »so einheitlich negativ, dass sie förmlich nach Widerstand schreien«, wie es die US-amerikanische Soziologin Patricia Hill Collins formuliert.19

Es ist also schwierig, von Frauen als einer Gruppe zu schreiben. Und dennoch bin ich davon überzeugt, dass süßliche Erzählungen viele Frauen betreffen. Um das zu veranschaulichen, nähere ich mich in diesem Buch drei Figuren. Von Figuren spreche ich, weil sie irgendwo zwischen Fiktion und Realität stehen, weil sie wirklich und unwirklich zugleich sind — und sich bei aller Vagheit brutal in unseren gesellschaftlichen Erfahrungswelten niederschlagen. Ich kenne diese Figuren von mir selbst, von Freundinnen und Frauen um mich herum, kenne sie aus öffentlichen wie privaten Kontroversen um Sex, Macht, Arbeit und Gewalt, kenne sie aus Zeitungsartikeln, Romanen und Serien der Gegenwart. Alle drei Figuren stellen verschiedene Facetten dessen dar, was ich insgesamt süß nenne.

Die sanfte Frau verzuckert eine erschöpfte, lohnarbeitende Welt. Sie verhält sich fürsorglich, ist aufmerksam, stets um das Wohlergehen anderer bemüht — und bildet, weniger als abstrakte Figur denn als seit Jahrhunderten hart beschäftigte Sorgearbeiterin, die Grundlage unseres Wirtschaftssystems. Die sanfte Frau ist quasi unsichtbar: Dass Frauen sich fortwährend um alles kümmern, ist so normal, wie dass Männer es weniger tun. Und natürlich werden Frauen dafür gar nicht oder schlecht bezahlt.

Die süße Frau betrachtet sich durch die Augen eines anderen, als sei sie eine Ware: verfügbar und konsumierbar. Sie begegnet uns in vielen Erzählungen gegenwärtiger Popkultur, in denen Frauen einfach immerzu Lust auf Sex zu haben scheinen, in Clubs, in denen sich Mädchen gegen ihren Willen anfassen lassen — aber auch in einer vermeintlich progressiven Sexualpolitik, die genau diese Umstände bekämpfen möchte.

Im Gegensatz dazu ist die zarte Frau sehr unschuldig. Sie ist dieses fragile Wesen, das uns auf Modefotografien aus ihren großen Wollpullovern fröstelnd anguckt. Die zarte Frau ist eine Hälfte, ein Schatten, ein Komplement; unvollständig. Sie findet sich in Biopics, die das Leben der Protagonistinnen lediglich anhand ihrer Liebhaber erzählen, in der verniedlichenden Berichterstattung über Politikerinnen, Künstlerinnen oder Straftäterinnen — und immer dann, wenn es ein Argument für die Unzurechnungsfähigkeit weiblicher Subjekte braucht.

Die Figuren der sanften, der süßen und der zarten Frau reagieren auf drei der wichtigsten Themenkomplexe, die feministische Kämpfe schon seit weit über einem Jahrhundert bestimmen: den Kampf um die Anerkennung von Sorgearbeit, den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung und den Kampf um weibliche Mündigkeit und Souveränität. Durch alle diese Kämpfe wurde viel gewonnen, wenn auch lange nicht genug. Denn selbst wenn Frauen nicht mehr überall selbstverständlich für Kinder und Herd verantwortlich sind, wenn Vergewaltigung zumindest in den deutschsprachigen Ländern auch in der Ehe strafbar ist und wenn Frauen in Deutschland seit mittlerweile mehr als einem Jahrhundert wählen dürfen: Herrschaft bleibt auch dann bestehen, wenn sie rechtlich schon lange abgeschafft ist.

Die Philosophin Eva von Redecker bezeichnet dieses Phänomen als Phantombesitz. »Phantombesitz ist ein Grundbaustein moderner Identitäten«, schreibt sie in ihrem Buch Revolution für das Leben. »Er besteht einerseits im Anspruch, über bestimmte andere zu verfügen, und andererseits darin, auf bestimmte Weisen als verfügbar zu erscheinen. Phantombesitz kann man also haben — oder sein.«20 Auf genau diese doppelte Wirkmächtigkeit — haben oder sein — möchte ich hinaus: Der Glaube, sich über die Arbeit, die Körper und den Verstand von Frauen hinwegsetzen zu können, betrifft schließlich nicht allein frustrierte Incels und Männerrechtler. Er betrifft potenziell uns alle. Er betrifft jene, die sich der Rudimente eines längst überholten Besitzanspruchs auf Frauen vielleicht gar nicht bewusst sind. Und er betrifft ebenso jene, die nicht allein gegen die Zuschreibungen und Zwänge des Außen ankämpfen — sondern sich auch gegen all das verwehren müssen, was in ihr eigenes Verhalten und Denken diffundiert ist.

Dass unsere Vorstellungen von Weiblichkeit noch immer ausgesprochen einschränkend sind, ist kein Wunder: Über Tausende von Jahren dienten Frauen als Musen, Partnerinnen und Projektionsflächen, wurden als selbst wirkmächtig imaginierende Subjekte jedoch wenig bis gar nicht wahrgenommen. Es lag in der Hand von Männern, Frauentypen zu erfinden und zu reproduzieren. Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen sprach von einem auf diese Weise entstandenen »gigantischen Figurenpanoptikum«, das in einem krassen Gegensatz zur historischen Wirklichkeit von Frauen steht: »Die Geschichte der Bilder, der Entwürfe, der metaphorischen Ausstattungen des Weiblichen ist ebenso materialreich, wie die Geschichte der realen Frauen arm an überlieferten Fakten ist.«21 Wobei für diesen unerwünschten Reichtum von Figuren nicht ausschließlich Künstler verantwortlich sind, sondern ebenso, wie Virginia Woolf bereits 1928 entnervt feststellte, »Ärzte und Biologen […], Professoren, Schulmeister, Soziologen, Geistliche, […] Essayisten, Journalisten, Männer, die keinerlei Qualifikation haben außer der, keine Frau zu sein«.22 Dass es all diesen Männern überhaupt in den Sinn kam, sich in deutungshoheitlicher Manier diese Figuren auszudenken, ist wiederum unter anderem unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung anzulasten, die auf der Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft beruht — und bis heute notorisch Frauen in die materiell schlechtere Position katapultiert.

Wenn ich auf den kommenden Seiten von Figuren spreche, bedeutet das nicht, dass ich die ihnen zugrunde liegenden Phänomene als individuelle Herausforderungen begreife — im Gegenteil, sie sind Strukturen entwachsen, und wir alle sind Teil dieser Strukturen. Ich weigere mich, an die weibliche Eigenverantwortung zu appellieren und zum fröhlichen Empowerment aufzurufen. Ich werde vielmehr sichtbar machen, wie historisch gewachsene Erzählungen süßliche Figuren hervorbringen — und wie sich eine Gesellschaft imaginieren lässt, in der Frauen nicht die Glasur darstellen, sondern alle gleich viel von jedem nur möglichen Kuchen haben.

Sanft

Ihnen [den Männern] gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen. Geht man nicht bis auf dieses Grundprinzip zurück, so entfernt man sich vom Ziel, und alle Vorschriften, die man ihnen macht, können weder zu ihrem noch zu unserem Glück dienen.

Jean-Jacques Rousseau (1762): Émile oder Über die Erziehung1

Was ich an Nicole liebe: Sie nimmt einem jede Befangenheit, selbst in peinlichen Momenten. Sie hört wirklich zu, wenn jemand mit ihr redet. Manchmal hört sie zu gut zu, und zu lange. Sie ist eine gute Bürgerin. Sie findet immer den richtigen Weg, wenn es um komplizierten Familienkram geht. Wenn ich im Hamsterrad feststecke, weiß sie, wann sie mich drängen muss — oder mich in Ruhe lässt. Sie schneidet uns allen die Haare. […] Nicole macht tolle Geschenke. Sie ist eine Mutter, die spielt, also: richtig spielt. Sie drückt sich nie vor dem Spielen oder sagt, es wird ihr zu viel. Und es muss manchmal zu viel sein. […] Sie sorgt dafür, dass der Kühlschrank aus allen Nähten platzt. Bei uns muss keiner hungern.

Charlie in Noah Baumbach (2019): Marriage Story

Zwanzig ist ein Alter, in dem es den meisten Menschen entweder sehr gut oder sehr schlecht geht. Alle glücklichen Zwanzigjährigen gleichen einander, jede unglückliche Zwanzigjährige ist auf ihre eigene Weise unglücklich, würde Leo Tolstoi vielleicht sagen. Ich gehörte zu den eher unglücklichen Zwanzigjährigen, was sich vor allem darin ausdrückte, dass ich enorm schlecht schlief. Eigentlich kaum. Monatelang. Ein miserabler Zustand, der mich irgendwann dazu brachte, für einige Wochen in eine Klinik zu gehen. Der Himmel und der Chiemsee waren so azurblau wie auf den Fotos im Internet, und mit ihrem riesigen Garten und dem Blick in die Berge glich die Klinik einer traumhaften Hotelanlage, in der sich neben ausgebrannten CEOs aus dem Großraum München auch schlaflose Krankenkassenpatientinnen wie ich aufhielten. Die meisten waren zwischen vierzig und sechzig Jahre alt, Gleichaltrige gab es leider kaum. Ich vermutete sie in der Klinik für Magersucht und Bulimie auf der anderen Seeseite.

Fünf Wochen sind eine lange Zeit, wenn sich die Freizeitgestaltung auf einen See, einen Fernseher und einige Bücher beschränkt, und so musste ich mich notgedrungen mit den CEOs anfreunden. Im Nu kannte ich ihre Biografien: die Geschichte von Kurt, der von seiner Frau verlassen worden war und sich seitdem sozial isolierte. Die Geschichte von Peter, der nach dem Tod seiner Mutter alkoholabhängig geworden war. Die Geschichte von Jochen, der im Alter von fast sechzig Jahren von einem frühkindlichen Trauma heimgesucht wurde. Ich saß wahlweise in der Lobby, auf einer Bank am Seeufer oder in der Sauna, während mir die alten Männer ihre Biografien erzählten. Ich nickte, stellte Nachfragen und zeigte Mitgefühl. Niemandem aber erzählte ich von meinem eigenen Unglück. Meist kürzte ich den Grund meines Aufenthalts damit ab, ich könne eben zur Zeit nicht so gut schlafen. Einmal, als ich gerade in die morgendliche Tagesplanungsrunde gestolpert war, sagte ein Patient zu mir: Ich freue mich jedes Mal, dich zu sehen — du strahlst immer so!

Ich weiß nicht, ob er meine Augenringe, die tiefer lagen als der Grund des Chiemsees, nicht bemerkt hatte. Vielleicht strahlte ich durch seine depressiven Scheuklappen wirklich. Ich gab mir jedenfalls gewaltige Mühe, mir mein Unglück nicht anmerken zu lassen. Man hätte mich für eine Alibi-Patientin halten können, die heimlich von der Klinik angestellt war: eine junge Frau, die sich stets darum bemühte, alle freundlich anzulächeln und sich interessiert die Geschichten der erschöpften Google-Mitarbeiter anzuhören. Als mich Wochen nach meiner Ankunft eine Therapeutin darauf aufmerksam machte, dass es durchaus in Ordnung wäre, wenn ich auch mal schlecht drauf sei, dass darin ja eigentlich der Grund meines Aufenthalts bestand, wurde mir klar, dass ich viel Energie darauf verwandt hatte, eine Rolle auszuüben, so gut es nur ging.

Im Nachhinein erscheinen mir meine Gespräche mit Kurt, Peter und Jochen bizarr. Ich mache diesen Männern nicht zum Vorwurf, dass sie sich mir in solch exorbitanter Weise anvertrauten. Ich frage mich vielmehr selbst: Warum habe ich mir all die Storys dieser Männer fortwährend angehört, anstatt mich mit meiner eigenen Krise zu beschäftigen? In der Zeit, in der ich zuhörte, lächelte und nickte, hätte ich lieber ein kleines Nickerchen probieren können.

In diesem Kapitel wird es um die Figur der sanften Frau gehen. Das Leid, die Sorgen, die Erschöpfung dieser Welt sind ihr Metier. Selbstlos nimmt sie sich all jener an, die dringend eine sanfte Schulter brauchen — und meistert selbstverständlich und mit mildem Lächeln die unzähligen Herausforderungen des Alltags, für die Frauen angeblich nun einmal prädestiniert sind. Die sanfte Frau ist gut im Geben, niemals laut, niemals fordernd. Still leistet sie das, was verschiedene Strömungen des Feminismus mal als Reproduktionsarbeit, mal als Care-Arbeit bezeichnen. Still legt sie auf diese Weise fortwährend das Fundament allen kapitalistischen Wirtschaftens. Doch dazu erst gleich, zunächst die soften Basics.

Sanft zu sein bedeutet, ständig beschäftigt zu sein. Im Gegensatz zur süßen Frau und zur zarten Frau wird die sanfte Frau nicht zur Passivität verdammt, sondern in ihrem emsigen, unterstützenden, sanften Tun idealisiert. Das Patriarchat war schon immer halbwegs einfallsreich darin, mannigfaltige Erklärungen dafür zu finden, warum das Kümmern eine weibliche Aufgabe sein solle. Diese reichen von besonderer Begabung über altruistische Veranlagung bis zu biologisch-natürlichem Schicksal — und gleichen sich darin, dass Sanftheit ihnen zufolge eine Eigenschaft und keine Leistung ist. Dass das nicht mehr als klebrige Ideologie darstellt, haben Anthropologie und Gegenwart längst bewiesen: Kinder, Küche und Kopfkraulen können alle Geschlechter. Dennoch hält sich das Phantasma der sanften Frau in der Realität ausgesprochen hartnäckig.

Es zeigt sich etwa, wenn die Mutter einer Hetero-Familie bemerkt, dass sie letztendlich doch mehr Zeit mit Kümmern und Organisieren verbringt als ihr Partner (macht sie das nicht auch einfach gern?), wenn sich an der schlechten Bezahlung in Care-Berufen trotz globaler Pandemie nichts ändert (haben die hier überdurchschnittlich viel beschäftigten Frauen2 ihren Job etwa nicht auch aus Berufung gewählt?), wenn schwulen Paaren abgesprochen wird, gute Eltern zu sein (da fehlen doch die mütterlichen Qualitäten?), wenn weibliche Rentnerinnen wie selbstverständlich in Altersarmut stürzen (haben die in ihrem Leben denn überhaupt richtig gearbeitet?), wenn Politikerinnen vorgeworfen wird, sie könnten doch nicht Mutter und Bundestagsabgeordnete sein (offenbar eine Rabenmutter?), oder wenn Reinigungskräfte zu ausbeuterischen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden (haben die denn überhaupt eine Ausbildung?). Sanftheit als ein natürlicher Mix aus Kümmern, Helfen, Hinterherwischen wird bei Frauen ebenso vorausgesetzt, wie er bei allen anderen nicht vorausgesetzt wird. Was stets auch damit zu tun hat, in welcher Einkommensklasse man sich bewegt: Je niedriger der sozioökonomische Status einer Frau, umso perfider zeigt sich die Abwertung ihrer Arbeit als sanftes Tun.

Denn Sanftheit ist vor allem: Arbeit. Natürlich kann es schön sein, jemanden zu umsorgen, sei es einen liebeskummerkranken Freund, eine einsame Großmutter, ein frischgeborenes Baby, eine kranke Partnerin, ein überfordertes Schulkind, einen dementen Vater. Zur Sanftheit sozialisierte Frauen finden oftmals Erfüllung darin, zu geben — genauso wie bedeutend weniger Männer, denen allerdings gebende Positionen auch ungleich weniger auferlegt werden. Ob Erfüllung oder nicht: Fortwährendes Geben bedeutet Anstrengung, und unter Umständen ist es äußerst kräftezehrend, jemandem die volle Aufmerksamkeit zu schenken — egal, ob man dafür entlohnt wird oder nicht. Darum war es im Laufe der Geschichte des Patriarchats immer wieder ein genialer Einfall, diese Arbeit zur Nicht-Arbeit, eben zur Sanftheit zu verklären und beispielsweise im europäischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts die Mutterschaft zur größten weiblichen Erfüllung überhaupt zu stilisieren, wodurch die täglichen Anstrengungen vieler Frauen unsichtbar gemacht wurden. Wie konnte es nur dazu kommen?

Seit einigen Jahren und spätestens seit einer weltweiten Pandemie steht das Thema Fürsorge immer stärker im Licht der Öffentlichkeit. Ein umfangreiches Vokabular beschreibt derzeit die verschiedenen Facetten von Sanftheit. Begriffe wie Care und Sorgearbeit etwa beziehen sich sowohl auf den privaten als auch den beruflichen Alltag — und verdeutlichen, dass Sanftheit Frauen in allen Lebenszusammenhängen abverlangt wird. Mental Load bezeichnet den gedanklichen Ballast, den das fortwährende Verantwortungsgefühl und Mitdenken für andere, für Kinder, Freundinnen, Mitbewohnerinnen, Kolleginnen, Partnerinnen mit sich bringt. Und emotionale Arbeit beschreibt die berufliche Anforderung, sich stets freundlich und zuvorkommend verhalten zu müssen, was sowieso für feminisierte Berufe gilt, beispielsweise den der Flugbegleiterin3 — aber letztlich für alle Arbeitszusammenhänge, in denen Frauen Geld verdienen.

Dass sich Frauen, ob am Chiemsee oder sonst wo auf der Welt, besonders sanft verhalten, wird oftmals als individuelle Problemlage verstanden. Dieser Gedanke ist typisch für den Potenzfeminismus, wie ich ihn eingangs getauft habe: Ihm zufolge müssten Frauen lediglich ihre Sozialisation über Bord werfen, um dann eine geschlechtergerechte Welt betreten zu können. Seid weniger nett, betreibt mehr Selfcare!, ruft dieser überaus liberale Diskurs all den freundlichen, fürsorglichen, aufmerksamen Frauen zu, die sich daraufhin bemühen, etwas weniger freundlich, fürsorglich und aufmerksam zu sein. Gönnt euch ein Schaumbad, macht Yoga, werft notfalls eine Escitalopram ein! Wenn Frauen weniger sanft sind, so die binäre Rechnung, müssen Männer es eben mehr sein. Problem gelöst.

Und es ist ja auch toll, dass die Aufmerksamkeit für Sorgearbeit in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Junge Väter nehmen stolz Elternzeit in Anspruch (zwei Monate), Journalistinnen veröffentlichen entnervte Pamphlete wider die männliche Zurückhaltung in Haushaltsfragen. Viel zu oft allerdings verbleiben solche Ansätze und Debatten auf der Ebene individueller Verantwortlichkeiten, mit denen sich gutverdienende Hetero-Akademikerpaare auseinandersetzen, sofern sie denn wollen. Wenn ich den Staubsauger nicht länger schwinge, dann musst du ihn schwingen, und wenn du ihn nicht schwingst, dann schwingt ihn notfalls eine Reinigungskraft, die wir zwar an der Steuer vorbei, aber dennoch richtig philanthropisch mit Mindestlohn bezahlen. Die Reinigungskraft ist nahezu immer eine Frau. Wie viel ist bitte erreicht, wenn einige wenige Frauen nicht staubsaugen, weil andere für sie staubsaugen?

Da lohnt der Blick auf feministische Strömungen, die die Chance auf Wandel weniger im Privaten sehen. Bereits ab dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 kämpften Generationen von Feministinnen — ihr Zugriff wird oft materialistisch genannt — gegen die Verklärung weiblicher Arbeit zu dem, was ich Sanftheit nenne. Sie verstanden die stillschweigend geleistete weibliche Arbeit als Fundament, auf dessen Grundlage sich Menschen überhaupt erst von ihrer Erwerbstätigkeit regenerieren und Kinder zu Arbeitskräften heranwachsen konnten. Der Produktionsarbeit stellten sie so die Reproduktionsarbeit als notwendiges Pendant gegenüber. Im Unterschied zum Begriff der Care-Arbeit geht es bei dieser weniger um den Inhalt der Tätigkeiten als um ihre gesellschaftliche Funktion. Diese Betrachtungsweise ist nach wie vor mehr als brauchbar: Auch heute noch liegt die Quelle der Geschlechterungleichheit im Wesen kapitalistischer Gesellschaften, in denen sich depressive CEOs bei schlaflosen Frauen ausheulen.

Das liberale und das materialistische Verständnis von Sanftheit schließen sich nicht aus. Beide Denkweisen verstehen Geschlecht nicht als natürlich, sondern als gemacht. Sie unterscheiden sich bloß in der Tragweite, die sie dieser Gemachtheit zusprechen. Liberale Feministinnen berufen sich oftmals auf konstruktivistische Ansätze, die Geschlecht als performativ begreifen: Doing Gender nannte das die Philosoph_in Judith Butler4 in ihrem 1990 erschienenen Klassiker Das Unbehagen der Geschlechter.5 Geschlecht, so Butlers Kernthese, sei ein Konstrukt. Darüber, was damit genau gemeint ist, wurde und wird viel diskutiert — doch kurz gefasst kann man im Sinne Butlers darauf wetten, dass etwas, das als typisch weiblich oder typisch männlich gilt und vielleicht sogar als biologische Gegebenheit, sich stets zumindest auch