Systemische Therapie - Christina Hunger-Schoppe - E-Book

Systemische Therapie E-Book

Christina Hunger-Schoppe

0,0

Beschreibung

Die Systemische Therapie ist geprägt von einem fundamentalen Vertrauen in eine demokratische (Psychotherapie-)Kultur, bei der Gesundheit als Gemeinschaftsleistung verstanden wird und Störung als die kontextbezogen für den Moment beste Möglichkeit zu sozialer Interaktion, um den kollektiven sowie individuellen Bewegungen und intimen Zuständen eines betroffenen sozialen Systems Ausdruck zu verleihen. Stets auf Augenhöhe und in mitmenschlicher Verbundenheit ermöglicht sie eine (Neu-)Kontextualisierung der sozialen Rollen und Interaktionen der Systemmitglieder in multipersonalen und dyadischen Settings, was durch zirkuläre, an den Symptomen orientierte Interventionen erreicht wird. Das Buch verschafft einen kompakten, fachlich fundierten und an der systemtherapeutischen Praxis sowie evidenzbasierten Forschung orientierten Überblick zum Verfahren, veranschaulicht durch ein klinisches Fallbeispiel.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 234

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Christina Hunger-Schoppe ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Witten/Herdecke. Studium der Psychologie (Dipl.-Psych.), Universität Koblenz-Landau (2000–2006); Studium der Psychologischen und Psychiatrischen Anthropologie (M.Sc.), Brunel University West London, England (2006–2008). Binationale Promotion im Deutsch-Chilenischen Graduiertenkolleg, Universität Heidelberg, Pontificia Universidad Católica de Chile, Universidad de Chile (2007–2010): Religiosität und Spiritualität bei Depression im interkulturellen Vergleich. Akademische Mitarbeiterin (Post-Doc), Universitätsklinikum Heidelberg (2010–2020). Habilitation in Medizinischer Psychologie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Heidelberg (2018): Wirksamkeit Systemischer Therapie und Entwicklung systemtherapeutischer Diagnostik. Mitglied Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie (WBP), Vorstandmitglied Systemische Gesellschaft (SG), Mitherausgeberin »Familiendynamik«.

Forschungsschwerpunkte: Klinische Psychologie und Psychotherapieforschung; Prävention; Diagnostik: Patienten-, System- und Therapeutenperspektive; Moderatoren und Mediatoren: Persönlichkeit, Bindung, soziale Netzwerke, linguistische Marker, Kultur; Meta-Analysen: mehrpersonale Psychotherapien; Qualitätssicherung: therapeutische Adhärenz.

Psychologische Psychotherapeutin (Schwerpunkt Verhaltenstherapie; Zusatzbezeichnung Systemische Therapie), Systemische Beraterin und Therapeutin (Systemische Gesellschaft, SG; Deutsche Gesellschaft für Therapie, Beratung und Familientherapie, DGSF), Lehrende für Systemische Therapie (SG, DGSF).

Christina Hunger-Schoppe

Systemische Therapie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036837-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-036838-5

epub:     ISBN 978-3-17-036839-2

mobi:     ISBN 978-3-17-036840-8

 

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Nina Heinrichs (Bremen)Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)Carsten Spitzer (Rostock)Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)Bernhard Strauß (Jena)

Die Buchreihe wurde begründet von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß

 

Geleitwort

 

 

 

Wie jedes Buch, so spiegelt auch dieses die historische Konstellation seines Entstehungszeitpunkts wider. Die Systemische Therapie blickt im Jahr 2021 auf zwei im Rückblick unterscheidbare Entwicklungsphasen zurück. Die erste lässt sich beschreiben als eine ca. 30-jährige Pionierphase bis etwa 1990. Wichtig war ihr die Abweichung vom damaligen psychotherapeutischen Mainstream. Ihr Ergebnis waren sehr vielfältige Innovationen in System- und Erkenntnistheorie, therapeutischer Haltung, Gesprächsführung und Interventions-Methodik. An deren Ende schrieben Arist von Schlippe und ich die erste Version (1996) unseres Lehrbuchs, um all diese bis dahin verstreuten Innovationen zusammenzuführen. Ab da begann eine weitere, bis heute ebenfalls etwa 30 Jahre dauernde Durchsetzungs- und Verankerungsphase. In den Fokus rückten nun die Qualität systemtherapeutischer Weiterbildungen, die empirische Demonstration der Wirksamkeit Systemischer Therapie und das verbands- und berufspolitische Ringen um ihre langfristige, auch institutionelle Verankerung vor allem in der Jugendhilfe und in der Psychotherapie. Die Jahre 2018 bis 2020 markieren (in Deutschland) ihre endgültige Etablierung im Kreis der »mit Brief und Siegel« sozialrechtlich anerkannten und zu finanzierenden Psychotherapieverfahren im Gesundheitswesen. Zu diesem Zeitpunkt schreibt Christina Hunger-Schoppe nun dieses Buch, das wiederum viele Entwicklungen kompakt zusammenführt.

Was der Systemischen Therapie bevorsteht, ist naturgemäß ungewiss. Ganz aktuell ist es der Aufbau neuer Approbationsaus- und (künftig) -weiterbildungen. Als Herausforderung stellt sich dabei, den unglaublichen Mehrwert der bislang berufsgruppenübergreifenden Weiterbildungen mit diesen leider rein berufsständisch zu organisierenden Lehrgängen irgendwie zu verknüpfen. Möglicherweise werden sich nun (allmählich) universitäre Forschung und Lehre in Systemischer Therapie und Beratung intensivieren. Beide sind an den Hochschulen für Angewandte Forschung bereits weiter fortgeschritten. Vorhersagbar scheint mir, dass der Dialog zwischen psychotherapeutischen Schulen »auf Augenhöhe« sich weiter intensivieren wird. Dazu müssen m. E. die humanistischen Therapien als »Vierte im Bunde« noch hinzugeladen werden, nicht nur deren Bestandteile »ausgeschlachtet« werden. Insbesondere hoffe ich, dass auch die zahlreichen wertvollen Beiträge der Systemischen Therapie aus ihrer Frühphase – besonders zu den Mehrpersonensettings der Paar- und Familientherapie und zur Erkenntnistheorie – mitgenutzt werden für die allmähliche Entwicklung einer integrativen Psychotherapie auf systemtheoretischer Grundlage. Der Weg dahin scheint mir noch weit.

Christina Hunger-Schoppe ist eine dynamische, kluge, hellwache Kollegin der »Generation X«. Ich hatte das Glück, zehn Jahre lang mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie hat das Feld der Systemischen Therapie in vielen eigenen Zugängen erforscht, sich deren Errungenschaften gedanklich und in ihrer persönlichen Haltung intensiv angeeignet und vermag nun in sehr kompakter Weise dieses Feld synoptisch darzustellen. Ihre vielen eigenen Zugänge und Fähigkeiten spiegeln sich in diesem Buch wider. Als Forscherin hat sie in kontrollierten Studien zu Systemaufstellungen und zur Systemischen Therapie sozialer Ängste deren Wirksamkeit erforscht. Als Entwicklerin von Diagnostica hat sie mit dem Fragebogen zum Erleben in Sozialen System (EXIS), der Burden Assessment Scale (BAS) und der Sozialen Netzwerkdiagnostik (SozNet) Neues geschaffen. Als Therapeutin hat sie sich parallel in Systemischer Therapie und in kognitiver Verhaltenstherapie ausgebildet und auch die Entwicklung in anderen Psychotherapieverfahren sorgsam verfolgt. Ihre Weiterbildungspraxis am Wieslocher Institut für Systemische Lösungen und ihre dortige Zusammenarbeit mit genialen Praktizierenden wie Diana Drexler und Andreas Kannicht sind in diesem Buch vielerorts spürbar. Auch die Überblicke, die sie sich im Herausgebergremium der »Familiendynamik« gemeinsam mit Hans Rudi Fischer, Ulrike Borst und Arist von Schlippe, im Vorstand der Systemischen Gesellschaft und im Wissenschaftlichen Beitrat Psychotherapie fortlaufend über viele aktuelle Facetten der Entwicklung der Systemischen Therapie verschafft, tragen zur hohen Informations-Sättigung dieses Buches bei.

Der Autorin gelingt es, in beeindruckender Vollständigkeit die wichtigsten Wissensbestände der Systemischen Therapie aus den beschriebenen ca. 60 Jahren sehr kompakt und gut verständlich zusammenzufassen und diese Synopsis zugleich mit ihren persönlichen Beiträgen einschließlich einer eigenen Kasuistik anzureichern. Das Buch ist gut lesbar, sogfältig ausgewählte »Leitgedanken« und kursive Textteile ermöglichen auch den schnellen Durchgang durch den Text. Ich glaube es wird insbesondere »Neulingen« in der Systemischen Therapie eine prima Übersichtslandkarte anbieten.

Jochen Schweitzer, Herbst 2020

 

Inhalt

 

 

 

Geleitwort zur Reihe

Geleitwort

Vorwort

Begriffswahl

1  Ursprung und Entwicklung des Verfahrens

1.1 Frühe Modelle: Familientherapie und Mehrgenerationenperspektive (ca. 1950–1980)

1.1.1 Unsichtbare Bindungen und Kontenausgleich

1.1.2 Delegation und Bezogene Individuation

1.1.3 Mehrgenerationalität

1.1.4 Selbstwerterleben und Freiheit

1.2 Kybernetik 1. Ordnung: Kommunikation (ca. 1960–1980)

1.2.1 Reziprozität

1.2.2 Strukturen und Grenzen

1.2.3 Hierarchien und Macht

1.2.4 (Gegen-)Paradoxon

1.3 Kybernetik 2. Ordnung: Reflexion von Wirklichkeitskonstruktionen (ca. 1980–1990)

1.3.1 Metakommunikation und Expertise des Nicht-Wissens

1.3.2 Autopoiese

1.3.3 Potential und Lösung

1.3.4 Herrschende und unterdrückte Geschichten

1.4 Nachfolgende Modelle: Bindung, größere Systeme und Ordnungen (ab ca. 1990)

1.4.1 Bindung und Emotion

1.4.2 Ökosystemik und größere Systeme

1.4.3 Ordnungen

2  Verwandtschaft mit anderen Verfahren

2.1 Historisches

2.2 Gemeinsamkeiten

2.2.1 Transdisziplinarität in systemtherapeutischen Ansätzen

2.2.2 Psychologische Ansätze in Systemaufstellungen

2.3 Abgrenzungen

2.4 Allgemeine Wirkfaktoren

3  Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen

3.1 Soziale Systeme

3.2 Grundprinzipien der Systemischen Therapie

3.2.1 Wahrheit @ Sozial verhandelte Realitäten

3.2.2 Expertentum @ Therapeutische Beziehung auf Augenhöhe

3.2.3 Ursache-Wirkung @ Zirkularität

3.2.4 Steuerbarkeit @ Selbstorganisation

3.2.5 Defizitdenken @ Ressourcendenken

3.2.6 Eigenschaften @ Kontextbezug

3.2.7 Fakten @ Denkkollektive

3.3 Synergetik

3.4 Soziologie

3.4.1 Systemtheorie

3.4.2 Kontextsensibilität

3.5 Anthropologie

3.5.1 Strukturfunktionalismus

3.5.2 Teilnehmende Beobachtung

3.6 Philosophie

3.6.1 Radikaler Konstruktivismus und KybernEthik

3.6.2 (Nicht-)Störungsorientierung

4  Kernelemente der Diagnostik

4.1 Besonderheiten

4.2 Diagnostik und Intervention

4.3 Soziale Interaktionsstörungen

4.4 Erhebungsverfahren

4.4.1 3-Ebenen-Modell

4.4.2 Fragebogen

4.4.3 Interview und szenische Methoden

4.4.4 Rating

5  Kernelemente der Systemischen Therapie

5.1 Transparenz: Reflektierendes Team

5.2 Systemtherapeutische Grundhaltung

5.2.1 Vielgerichtete Parteilichkeit (Allparteilichkeit)

5.2.2 Neutralität

5.3 Gesprächssteuerung

5.3.1 Fokussieren

5.3.2 Zuhören

5.3.3 Positionieren

5.4 Auftragskonstruktion

5.4.1 Leitideen

5.4.2 Telefonischer Erstkontakt

5.4.3 Perspektiven: Anlass, Anliegen, Auftrag, Übereinstimmung

5.5 Prozesssteuerung: Bühnenmodell

5.5.1 Hintergrund: Transgenerationalität

5.5.2 Gegenwart: Zirkularität

5.5.3 Lösung: Wunder und Ausnahmen

5.6 Experimente: Arbeiten mit Symptomen und Ambivalenzen

5.6.1 Positive Konnotierung

5.6.2 Lösung-Problem-Zirkel

5.6.3 Symptomverschreibung (Paradoxe Intervention)

5.6.4 Externalisierung

5.6.5 Systemaufstellung

5.7 Abschlüsse

5.7.1 Erfolgreicher Abschluss und Nicht-Beginn von Therapien

5.7.2 Abbruch in Therapien

5.7.3 Beendigung im Konsens

5.7.4 Konsolidierung

6  Klinisches Fallbeispiel

6.1 Konstruktion von Aufträgen, Therapiesystem und Hypothesen (Phase 1)

6.2 Systemtherapeutisches Intervenieren (Phase 2)

6.3 Abschied in ein Leben ohne Therapie (Phase 3)

6.4 Konsolidierung und Nachsorge (Phase 4)

7  Hauptanwendungsgebiete

7.1 Indikationen

7.2 Kontraindikationen

8  Settings

8.1 Einzel-, Paar- und Familientherapie

8.1.1 Einzeltherapie

8.1.2 Paar- und Familientherapie

8.1.3 Welches Setting wann mit wem?

8.2 Gruppentherapie

8.3 Aufsuchende Therapie

8.4 Multifamilientherapie

8.5 Co-Therapie

9  Therapeutische Beziehung

9.1 Therapeutisches Bündnis (Allianz)

9.2 Kommunikative Beziehungs(!)angebote

9.2.1 Beschwichtigungen, Anklagen, Rationalisierungen, Ablenkungen

9.2.2 Besuchende, Klagende, Kundige

10 Evidenz

10.1 Systemische Forschung

10.2 Evidenzbasierte Medizin

10.2.1 Mehrere RCT-Studien (Stufe Ia)

10.2.2 Eine RCT und eine naturalistische Studie (Stufe Ib, II, III)

10.2.3 Qualitative Studien und Expertenmeinungen (Stufen IV, V)

11 Ausblick auf Weiterentwicklungen

11.1 Integrative Systemische Therapie

11.2 Systemorientierte Psychotherapie

11.3 Systemtherapeutische Gemeinschaftsleistungen

11.3.1 Psychiatrische Akutversorgung (SYMPA)

11.3.2 Bedürfnisangepasste Behandlung (Offener Dialog)

12 Institutionelle Verankerung

12.1 Deutschland

12.1.1 Private Institute und Dachverbände

12.1.2 Universitäten

12.1.3 Wissenschaftliche und sozialrechtliche Anerkennung

12.2 Europa

12.3 Amerika

12.4 Systemtherapeutische Zeitschriften

13 Infos zu Aus-, Fort- und Weiterbildung

13.1 Approbation Systemische Therapie

13.1.1 Rahmenbedingungen bis 2020

13.1.2 Rahmenbedingungen ab 2020

13.2 Zusatzbezeichnung Systemische Therapie

13.3 Weiterbildung Systemische Therapie

13.4 Weiterbildung Lehrende Systemische Therapie

Literatur

Stichwortverzeichnis

 

Vorwort

 

 

 

»Symptome drücken aus, wie es in Beziehungen geht: zu anderen, zur Welt, zu mir!« Dies ist sicherlich nur eine der Quintessenzen der Systemischen Therapie, die mich in meiner ersten Begegnung mit ihr faszinierten. Von früh an erlebte ich mich am kraftvollsten, wenn ich mich mit anderen vernetzt und mit mir selbst gut im Kontakt fühlte, inkl. meiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Den Menschen als genuin soziales Wesen, und damit Gesundheit als Gemeinschaftsleistung zu verstehen, fiel mir stets leichter, als Menschen losgelöst von ihrem sozialen Kontext, und damit Krankheit als individuelle Herausforderung, zu denken. »Symptome verkörpern Sinnkonstruktionen und ›eigen-artige‹ Qualitäten eines sozialen Feldes!« Dies wurde sehr schnell eine weitere Quintessenz, die mich in meinem professionellen Verständnis grundständig beseelte. Es ist bis heute die unbedingte Wertschätzung gegenüber den engagierten Lösungsversuchen von als existenziell erlebten Herausforderungen an bedeutsamen Schwellenphasen im Leben betroffener sozialer Systeme, die mir die Systemische Therapie zu einer Herzensangelegenheit werden ließen. Ihre Grundhaltung ist geprägt von einem fundamentalen Vertrauen in eine demokratische (Psychotherapie-)Kultur, in der Gesundheit als Gemeinschaftsleistung und Störung als die kontextbezogen für den Moment beste Möglichkeit verstanden wird, individuellen sowie kollektiven (Seelen-)Bewegungen eines betroffenen sozialen Systems und seiner konstituierenden Mitglieder Ausdruck zu verleihen. Stets auf Augenhöhe und in mitmenschlicher Verbundenheit ermöglicht sie v. a. durch zirkuläre und mit den Symptomen sich ausprobierenden Interventionen eine (Neu-)Kontextualisierung der sozialen Rollen und Interaktionen der bedeutsamen Systemmitglieder in mehrpersonalen bis Einzelsettings.

Die Anfrage der Herausgebenden dieser Reihe Psychotherapie kompakt zu einem fachlich fundierten, praxisnahen sowie evidenzbasierten und damit grundlegenden Überblick zur Systemischen Therapie hat mich daher besonders gefreut. So gibt dieses Buch Einblicke in die Geschichte, Erkenntnistheorie, Kernelemente der Diagnostik, Therapie sowie therapeutischen Beziehung, Anwendungsgebiete und Settings der Systemischen Therapie, veranschaulicht durch ein Fallbeispiel und abgerundet durch Informationen zur Aus- und Weiterbildung sowie ihrer institutionellen Verankerung. Das Buch ist mit großer Begeisterung entstanden und ich hoffe, es begeistert auch die einen oder anderen, die es lesen werden!

Meine Begeisterung für die Systemische Therapie dauert nun seit mehr als zehn Jahren an. Seither fühle ich mich ihr und ihren Akteuren von Grund auf verbunden, sowohl in meinen Forschungen, der Lehre als auch meiner therapeutischen Praxis. Dabei bin ich vielen Menschen begegnet, die die Gestaltung dieses Buchs in hohem Maße mit beeinflusst haben! Insbesondere möchte an dieser Stelle Jochen Schweitzer-Rothers nennen, der mich mit der Systemischen Therapie am Universitätsklinikum Heidelberg nicht nur bekannt, sondern vielfach in gemeinsamer Reflexion vertraut machte und der mich alle Jahre sowohl mit fachlichem Input als auch einem wohlwollenden Maß an Freiheit zur Forschung begleitete. Seiner Förderung und Wertschätzung ist es zu verdanken, dass ich zur Wirksamkeit Systemischer Therapie und ihrer Interventionen, und damit zu meiner Herzensangelegenheit, habilitieren konnte. Ein großer Teil dieses Buches wurde in stiller Kommunikation mit ihm geschrieben! Die Forschung brachte mich in Kontakt mit Diana Drexler als Inhaberin des Wieslocher Instituts für Systemische Lösungen, die mich eines Tages zu meiner großen Freude fragte, ob ich mir eine Weiterbildung zur Lehrenden in Systemischer Therapie an ihrem Institut vorstellen könnte. Ihrer Offenheit und ihrem unermüdlichen Zuspruch ist es zu verdanken, dass ich sowohl mein erkenntnistheoretisches Wissen als auch meine didaktischen Konzepte zur Vermittlung systemtherapeutischer Inhalte und Methoden grundlegend erweitern konnte. Bis heute bietet sie mir eine reichhaltige Plattform zu Lehrangeboten in Systemischer Therapie, gestaltet für sowohl Berufserfahrene als auch Studierende und Berufseinsteigende. Über sie lernte ich Andreas Kannicht kennen, der schließlich mein weiterbildender Lehrtherapeut sowie Supervisor wurde und dem sicherlich der größte Anteil in der Konzeption dieses Buches zukommt. In der Begegnung mit ihm konnte ich das, was ich bereist in meiner grundständigen Weiterbildung als Systemische Therapeutin durch v. a. Rüdiger Retzlaff, Liz Nicolai und Mechthild Reinhardt erfahren hatte, erkenntnistheoretisch sowie lehrdidaktisch und -praktisch fundamental erweitern. Was zuvor ein fasziniertes Hören und erste Schritte in der Umsetzung systemtherapeutischer Praxis betraf, wurde in den Jahren mit ihm zu einer nochmal verstärkt identitätsstiftenden Erfahrung. Offensichtlich wird dies in der konzeptionellen sowie sprachgebundenen Darstellung v. a. der Grundprinzipien und Kernelemente der Systemischen Therapie. Sie sind dem von Andreas Kannicht, Rudolf Klein und Kordula Richelshagen am Wieslocher Institut für Systemische Lösungen entwickelten Curriculum zur Vermittlung der Theorien und Methoden entlang der Rahmenrichtlinien zur Weiterbildung Systemische Therapie, wie von den beiden deutschen Dachverbänden der Systemischen Gesellschaft (SG) und Deutschen Gesellschaft für Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) formuliert, in vielen Teilen entnommen. Daher seien an dieser Stelle zwei Publikationen genannt, die ebenfalls kompakt und fundiert Einblicke in die Systemische Therapie geben. Sie erweitern die genannten Aspekte v. a. in den Kapiteln 3 und 5 um spezifische Inhalte, folgen jedoch einem alternativen Aufbau:

•  Kannicht A & Schmid B (2015) Einführung in systemische Konzept der Selbststeuerung. Heidelberg: Carl-Auer.

•  Klein R & Kannicht A (2011) Einführung in die Praxis der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer.

Eine kompakte Reihe hat den Vorteil, Bedeutsames überblicksartig darzustellen. Sie impliziert gleichfalls die Notwendigkeit, weiteres Bedeutsames außen vor zu lassen. Daher sei an dieser Stelle auf drei große Lehrbücher sowie das Lexikon Systemischer Therapie, ein Praxislehrbuch und die Reihe Störungsspezifische Systemtherapie für die weiter interessierten Leserinnen und Lesern verwiesen:

Lehrbücher

•  Schweitzer J & v. Schlippe A (2016) Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen (3. Ed.). Göttingen: V & R.

•  v. Schlippe A & Schweitzer J (2016) Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen (3. Ed.). Göttingen: V & R.

•  Wirth J & Kleve H (Hrsg.) (2012) Lexikon des systemischen Arbeitens: Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie. Heidelberg: Carl-Auer.

Lexikon

•  Levold T & Wirsching M (Hrsg.) (2016) Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl-Auer.

Praxislehrbuch

•  v. Sydow K & Borst U (Hrsg.) (2018) Systemische Therapie in der Praxis. Weinheim: Beltz.

Reihe Störungsspezifische Systemtherapie

•  Lieb H (2013) Störungsspezifische Systemtherapie. Konzepte und Lösungen. Heidelberg: Carl-Auer.

Abschließend sei betont, dass mit diesem Buch die große Hoffnung verbunden ist, die Systemische Therapie fruchtbar und konsistent in ihren Grundzügen darzustellen. Fruchtbar insofern als es mich freuen würde, wenn für den einen oder anderen Leser etwas Überraschendes und Neues erfahren wird. Konsistent insofern, als es sich um ein kompaktes Buch handelt, welches mit einem Minimum an Grundbegriffen agiert. Das Buch richtet sich an Ärztliche und Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Ausbildung und Praxis, Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und Dozentinnen und Dozenten, sowie jeden darüber hinaus interessierten Leser1. Damit es ein im systemtheoretischen Sinne »Super-Buch« wird, braucht es die Möglichkeit, reflexiv über sich nachzudenken, die Leserschaft im Kontakt mit der Autorin einzubeziehen und Kritiken so zu behandeln, wie wir es uns im Diskurs voneinander und mit unseren Mitmenschen wünschen. Insofern freue ich mich über jede kritische Rückmeldung und Anregung zum weiteren Denken und Verändern!

Christina Hunger-Schoppe, im Dezember 2020E-Mail: [email protected]

1     Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird an manchen Stellen des Buchs die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

Familie ist das Ein- und Ausatmen einer zu lebenden Geschichte

Für meinen Ehemann Gunther und meine Tochter Asmin Lisa Melek

 

Begriffswahl

 

 

 

Betroffenes soziales System, Therapeutensystem, Therapiesystem, Reflektierendes Team

Die Begriffswahl in der Systemischen Therapie ist manchmal etwas komplex. Daher sei bereits an dieser Stelle auf vier zentrale Begriffe eingegangen. Betroffene soziale Systeme bezeichnen Klientensysteme, in der Sprache der Krankenkassen sogenannte Patientinnen und Patienten. Dabei kann ein betroffenes soziales System ein mehrere Mitglieder umfassendes soziales System mit seinen interpersonalen Beziehungen bezeichnen, ebenso wie eine einzelne Person mit ihrer intrapersonalen sozio-psycho-biologischen Systemkonfiguration (Kap. 11.2). Soziale Systeme werden als intimes (Bezugspersonen-)System durch Einschluss aller für die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Veränderung einer beschriebenen Symptomatik bedeutsamen Elemente (Mitglieder) definiert (Kap. 3.1). Das Therapeutensystem bezeichnet gleichfalls eine einzelne Person ebenso wie ein Team aus mehreren Therapeutinnen und/oder Therapeuten (Co-Therapie). Das Therapiesystem verkörpert den interaktionalen Raum, der sich in der Kommunikation von betroffenem sozialem System und Therapeutensystem aufspannt. Unter Berücksichtigung des Reflektierenden Teams komplettiert sich der Aufbau eines systemtherapeutischen Settings (Abb. 5.1).

 

1          Ursprung und Entwicklung des Verfahrens

 

 

 

»Die Feststellung, dass Patienten Familien haben, ist wie die Feststellung, dass ein krankes Organ Teil eines Menschen ist. Beides scheint zu offensichtlich zu sein, als dass es diskutiert würde, doch wurde lange keine dieser Feststellungen durch medizinische Berufe anerkannt.« (Richardson 1945)

Mit diesem Zitat machte Henry B. Richardson als Direktor der Joshia Macy Jr. Foundation in New York, der ersten US-amerikanischen Stiftung zur Aus- und Weiterbildung im Gesundheitswesen, die Bedeutung des familiären Systems in der gesundheitlichen Versorgung deutlich (Richardson 1945). In einer ersten Kooperationsstudie arbeiteten multiprofessionelle Teams mit dem Ziel zusammen, die gesundheitsbezogene Versorgung von Patientinnen und Patienten und ihren Familien als betroffene soziale Systeme zu verbessern. Gesundheit und Krankheit wurde erstmalig explizit als Teil komplexer Wechselwirkungen zwischen einzelnen Menschen und familiären sowie gesellschaftlichen (Sub-)Systemen verstanden. In diese Zeit fallen auch die frühen Modelle der Familientherapie. Sie orientieren sich stark an psychoanalytischen, humanistischen und kognitiv-verhaltensbezogenen Strömungen. Das heutige Verständnis der Systemischen Therapie entwickelte sich etwas später in den 1960/70er Jahren. Die Systemische Therapie grenzte sich dabei zunehmend von der z. T. Teil stark pathologisierenden Haltung der frühen Familientherapeutinnen und -therapeuten ab, öffnete sich verstärkt der Frage der Sinngebung und damit der Funktion spezifischer Interaktionsmuster in betroffenen sozialen Systemen i. S. systemtheoretischer sowie konstruktivistischer Ansätze und kybernetischer Modelle.

1.1       Frühe Modelle: Familientherapie und Mehrgenerationenperspektive (ca. 1950–1980)

Leitidee: Das Individuum wird ergänzt um seine Familie.

In der ersten Hälfte der 1950er Jahre dominierte in den US-amerikanischen und europäischen Ländern die Psychoanalyse. Jedoch gab es auch immer wieder Personen, denen nicht ausreichend geholfen werden konnte. Erste alternative Veränderungen zeigten sich im Einbezug des Herkunftssystems, um über den bis dato stark individuumszentrierten Ansatz hinaus bedeutsame Unterschied in der Erklärung und Behandlung dysfunktionaler Dynamiken zu setzen.

1.1.1     Unsichtbare Bindungen und Kontenausgleich

Der ungarische Arzt und Psychotherapeut Iván Böszörményi-Nagy (1920–2007) beschäftigte sich zusammen mit Geraldine Spark und Barbara R. Krasner (Böszörményi-Nagy und Krasner 1986; Böszörményi-Nagy und Spark 2015) v. a. mit dem (transgenerationalen) Konzept der unsichtbaren Bindungen i. S. familiärer Loyalitäten und dem Konzept des Kontenausgleich i. S. eines ausgewogenen Gebens und Nehmens. Unsichtbare Bindungen werden als Beziehungsexistenzialitäten verstanden, in denen es darum geht, wer was für wen bereit ist zu tun. Daraus resultieren sogenannten Beziehungskonten, auf denen (imaginär) verbucht wird, wer wem was gegeben hat und wer wem was schuldet. Ein ausgewogenes Geben und Nehmen, d. h. eine gleichwertige und altersangemessene Verteilung von Verantwortlichkeiten, und damit wiederum Loyalitäten, lässt ein soziales System in Balance bleiben und spricht für dessen salutogenetische Beziehungsgestaltung. Symptome entstehen in der eher unbewussten Weitergabe nicht gelöster familiärer Entwicklungsaufgaben. Wenn das Geben dauerhaft überfordert, Kinder dauerhaft Parentifizierungen unterliegen oder Anerkennung für Geleistetes ausbleibt häufen sich Ungerechtigkeiten, auch über Generationen hinweg, und streben nach Ausgleich und Entschädigung (Emlein 2017).

1.1.2     Delegation und Bezogene Individuation

In enger Auseinandersetzung mit Böszörményi-Nagy und vielen anderen systemtherapeutischen Theoretikerinnen und Theoretikern sowie Praktizierenden entwickelte der deutsche Psychiater und Psychoanalytiker Helm Stierlin (*1926) das Konzept der Delegation und Bezogenen Individuation (Stierlin 1976, 2007). Delegationen dienen einerseits der Orientierung und Sinngebung, indem sie Familienmitglieder (transgenerational) über Loyalitätsbande miteinander verbinden (z. B. Lineage, Kinship). Sie können entgleisen, wenn Eltern ihre Lebensziele nicht verwirklichen konnten und ihre Kinder (unbewusst) beauftragen, ihre Lebensziele stellvertretend für sie zu verwirklichen. Dabei zeigen sich gebunden Delegierte in einer Dynamik, die dem Leitsatz »Kind, bleib bei uns und versorge uns!« folgt. Ausgestoßen Delegierte sind eingebunden in eine Dynamik, die mit dem Leitsatz »Kind, geh hinaus und bewirke, was wir nicht bewirken konnten!« beschrieben wird. Delegationen wirken umso pathologischer, je größer die Diskrepanz ist zwischen den für die Erfüllung der Lebensziele notwendigen und den von der zu erfüllenden Person mitgebrachten Bedürfnissen und Fähigkeiten. Die Verhandlungen von Delegationen und bezogener Individuation stehen dabei in enger Verbindung. Eine erfolgreiche bezogene Individuation ermächtigt, das Eigene zu wagen und gleichfalls der Familie verbunden zu bleiben. Bezogenheit sowie Individuation stehen in ausgeglichener Wechselwirkung und beziehen sich auch auf die Familie als Ganzes. Ihre Verhandlung und Ausbalancierung wird an jeder familiären Schwellenphase erneut bedeutsam. Zu unterscheiden sind dabei eine zu starke Individuation mit, und damit einhergehend eine zu starke Bezogenheit, von einer zu starken Individuation gegen und damit einhergehend eine zu starke Abgrenzung von wichtigen Systemmitgliedern oder einem sozialen System als Ganzem.

1.1.3     Mehrgenerationalität

Um über mehrgenerationale Beziehungen nicht nur sprechen, sondern sie auch visualisieren zu können, entwickelten die irisch-US-amerikanische Psychotherapeutin Monica McGoldrick (*1943) und der US-amerikanische Psychotherapeut Randy Gerson (1950–1994) die Genogrammarbeit (McGoldrick et al. 2016) (Kap. 5.5.1). Sie ermöglicht die Darstellung von Beziehungsmustern über mehrere Generationen in der Annahme, dass die Bindung an die eigene Familie Menschen ein Leben lang mitbestimmt. Je mehr eine Person über ihre Geschichte weiß, desto mehr Freiheiten gewinnt sie für die Wagnisse ihres Lebens. Die Genogrammarbeit schließt die guten wie auch die weniger guten Gestalten einer Familie ein. Jede Einzelheit einer Familienbiografie gilt als Teil eines vielschichtigen Musters, welches die Identität der Familie als Ganzes und jedes einzelnen Familienmitglieds mitbestimmt. Dabei wird die Vergangenheit zum Prolog. Das Aussperren und die Nicht-Beschäftigung mit der familiären Geschichte bindet Energie im negativen Sinne, kann zu vielfachem Verlusterleben führen und steigert die Wahrscheinlichkeit dysfunktionaler Wiederholungen in der zu gründenden Gegenwartsfamilie. Die Genogrammarbeit dient der Darstellung familiärer Kommunikations- sowie Interaktionsmuster und der Hypothesenbildung darüber, welche Einflüsse an dem Lebensentwurf rund um die aktuelle Problematik beteiligt waren und (noch) sind. Sie dient ebenso der Analyse der Konstellationen, die ein Fortwirken dieser Einflüsse in aktuellen und zukünftigen Lebensentwürfen bedingen.

1.1.4     Selbstwerterleben und Freiheit

Das Streben nach Freiheit ist ebenfalls eines der Kernkonzepte der US-amerikanischen Sozialarbeiterin und Psychoanalytikerin Virginia Satir (1916–1988) (Satir 2018). Sie versteht Störung bzw. Ver-rücktheit als Hilferuf eines gekränkten Menschen. In Vertretung eines grundlegend humanistischen Menschenbildes, in dem der Mensch von Grund auf gut erscheint, nach Wachstum und einem gesunden Selbstwert strebt, war ihr die Ermächtigung von Menschen zur Entfaltung ihres Grundpotenzials und gesteigerter Freiheit ein besonderes Anliegen. Die von ihr beschriebenen fünf Freiheiten bilden dabei die Grundlage einer kongruenten Kommunikation und stehen im Zentrum ihres Kommunikationsmodells rund um die vier Beziehungsangebote inkongruenter Kommunikation zum Schutz des Selbstwerts, wenn dieser als bedroht erlebt wird (Kap. 9.2.1).

Die fünf Freiheiten menschlicher Kommunikation

1.  Die Freiheit zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist, anstatt das, was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird.

2.  Die Freiheit, das auszusprechen, was gefühlt und gedacht wird, und nicht das, was scheinbar erwartet wird.

3.  Die Freiheit, zu den eigenen Gefühlen zu stehen, und nicht etwas anderes vorzutäuschen.

4.  Die Freiheit, um das zu bitten, was gebraucht wird, anstatt immer auf die Erlaubnis durch andere zu warten.

5.  Die Freiheit, in eigener Verantwortung Risiken einzugehen, anstatt immer auf Nummer sicher zu gehen und nichts Neues zu wagen.

1.2       Kybernetik 1. Ordnung: Kommunikation (ca. 1960–1980)

Leitidee: Die Systemische Therapie wird systemischer und direktiver.

Mit der erstmaligen Verwendung des Adjektivs systemisch in der deutschsprachigen Zeitschrift der Familiendynamik (Selvini Palazzoli et al. 1977) offenbarte sich der bereits begonnene Paradigmenwechsel. Dass die Arbeit mit der ganzen Familie eine bedeutsame Neuerung darstellte, erschien geklärt. Nun ging es verstärkt um die Verdeutlichung der Teilhabe der Systemmitglieder an der Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung der beschriebenen Symptomatik. Dazu wurden reziproke Kommunikations- und Interaktionsmuster innerhalb und zwischen Subsystemen (z. B. Eltern, Geschwister) beobachtet und mit direktiven Interventionen zu verbessern versucht. Die Kybernetik 1. Ordnung (Synonym: Beobachtung 1. Ordnung) als Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Maschinen und ihre Analogiebildung auf Verhaltensweisen lebender Organismen in sozialen Systemen galt als handlungsleitend. Ziel war es, Stabilität i. S. des Gleichgewichts innerhalb eines sozialen Systems wiederherzustellen.

1.2.1     Reziprozität

Der österreichische sowie US-amerikanische Kommunikationstheoretiker, Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick (1921–2007) veröffentlichte zusammen mit seinen Kollegen des Mental Research Instituts (MRI; Palo Alto, Kalifornien) die Idee, dass es zwar gestörte Beziehungen, jedoch keine gestörten Individuen gibt (Watzlawick et al. 2011). Ähnlich physikalischen Regelkreisläufen kann menschliche Kommunikation als Rückkoppelungskreislauf im Dienste der Stabilisierung des Gleichgewichts eines sozialen Systems verstanden werden. Vorlage zur Analogiebildung ist z. B. das Heizthermostat, welches für einen Ausgleich bei Diskrepanz zwischen einem Ist-Zustand (z. B. 18° Raumtemperatur) und einem Sollzustand (z. B. 22° Raumtemperatur) sorgt (Kypbernetik 1. Ordnung). Vielfach bekannt wurde die Beschreibung des schmollenden Mannes und der nörgelnden Ehefrau, die sich gegenseitig in ihrer Symptomatik hochspielen, je mehr der eine oder die andere das tut, was sie oder er tut, nämlich nörgeln und schmollen. So wird die scheinbare Reaktion (Wirkung) einer Interaktion zum Auslöser (Ursache) einer weiteren Interaktion innerhalb des sozialen Systems (Zirkularität) (Abb. 1.1