Gunar M. Michael
Tacheles aus der Chefetage
50 wahre Storys für mehr Durchblick im Führungsalltag
Illustrationen von Oliver Weiss
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Führung beginnt da, wo Konsens aufhört. So lautet Gunar M. Michaels Credo aus über 20 Jahren Führungserfahrung. Gegen die Konflikte des Führungsalltags schien kein Kraut gewachsen. Bis heute!
Erleben Sie in 50 authentischen, absurden und unterhaltsamen Storys, wie Führungskräfte eingefahrene Bahnen verließen, um den täglichen Wahnsinn zu bezwingen und endlich mit dem Führen zu beginnen. Jeder Chef sollte wissen, warum Pizza das ultimative Problemlösungstool ist und wie man einen Dinosaurier zähmt.
Über den Autor
Als Vorstand, Geschäftsführer, Niederlassungsleiter, Projektleiter und Stahlbetonbauer hat Gunar M. Michael aus verschiedenen Perspektiven Führung gelebt und erlebt. Denkstrukturen im Mittelstand sind ihm ebenso vertraut wie die in Konzernen. Am meisten hat er aus eigenen Führungsfehlern gelernt. Früher haben seine Mitarbeiter und Gesellschafter davon profitiert – heute seine Kunden.
Gunar M. Michael ist Diplom-Ingenieur und Diplom-Wirtschaftsingenieur, hat sich unter anderem in St. Gallen bei Prof. Dr. Fredmund Malik in Management und an der Universität Hamburg bei Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun in Psychologie weitergebildet. Er ist Systemischer Management-Coach, Redner, Wirtschaftsmediator sowie Trainer für Verhalten und Kommunikation. 1972 in Essen geboren, aufgewachsen in den Niederlanden und Brasilien, lebt Gunar M. Michael heute mit seiner Frau und seinen Kindern in der Lüneburger Heide. Mehr unter www.managersparring.de.
Für Nina
»No man is an island entire of itself, every man is a piece of the continent a part of the main …« (John Donne, 1572–1631)
Kein Mensch ist eine Insel, ganz für sich allein, in der Tat. Beim Führen bewahrheitet sich das Tag für Tag auf besondere Weise. Wie man führt, lernt man beim Führen – und von großartigen Lehrern: weitsichtigen Chefs, kompetenten Kollegen, herausfordernden Mitarbeitern, die einem auch mal die Stirn bieten. Und von Vordenkern wie Fredmund Malik, der entscheidende Impulse gab, oder Klaus Kobjoll, dessen energischer Pragmatismus mich beeindruckte. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank! Gunar M. Michael
|1||2||3|
|4||5||6|
Inhalt
Was mir wichtig ist
TEIL I DER BLICK IN DEN SPIEGEL – ERKENNTNISSE
Wer ist der wichtigste Mensch in Ihrem Leben?
1Gruß aus dem NeandertalUnser Steinzeit-Autopilot
2Da bin ich mir absolut sicher!Drei Menschen – drei Wahrheiten
3Die Weihnachtsfeier am WochenendeKleine Signale, große Wirkung
4Sind Sie Napoleon?Selbstbild/Fremdbild
5Schlechte Laune ist ein DenkfehlerWie Gefühle entstehen
6Potemkinsche DörferDie Kontrollillusion
7Tit for TatVertrauen ist keine Einbahnstraße|7|
8Das Smartphone im UrlaubDie eigene Unentbehrlichkeit
9»Sie sind doch hier der Chef!«Was heißt »Führen«? (1)
10Es kann nur einen geben!Was heißt »Führen« (2)?
11Jetzt wird abgerechnet!MitarbeiterSELBSTentwicklung
12Schluss mit dem »Chefrabatt«Siege gehören dem Mitarbeiter
13»Der Druck endet hier!«Niederlagen gehören dem Chef
14Der starke SchwachePrivate Probleme
TEIL II MACHEN ODER LASSEN? – ENTSCHEIDUNGEN
Warum Entscheidungen leicht sind. Alle!
15Abschied vom Pro-&-Kontra-PingpongDenken in Voraussetzungen
16Konflikte: Wie fange ich Maulwürfe?Echte Führung beginnt dort, wo Konsens aufhört
17Verbrannte ErdeKampfrhetorik
18Mit wem könnte ich über dem Dschungel abstürzen?|8|Die richtigen Mitarbeiter gewinnen
19Lob des DissensVom Nutzen des Widerspruchs
20Junge, komm bald wieder!Warum »Heimkehrer« so wertvoll sind
21Der Felsbrocken im VorgartenAuf Fachleute hören
22Das Boot und der Gorilla im KäfigBetroffenheit erzeugen
23»Chef, ›wir‹ haben ein Problem!«Müssen SIE als Chef da einsteigen?
24Der (fast) leere PrämientopfMüssen SIE das entscheiden?
25»Wenn ich das nicht schaffe, bin ich hier falsch!«Echte Ziele haben echte Konsequenzen
26Auf dem Ziele-BasarWarum Ziel-»Vereinbarungen« oft nur Show sind
27»Ich will Ihren Stuhl!«Selbstbewusstsein
28Besser später um Entschuldigung bitten, als vorher um Erlaubnis fragenCourage
TEIL III IM DILEMMA – AUSWEGE
Gäbe es keine Risiken, könnte es jeder Zwölfjährige.
29Nur die Toten schwimmen mit dem Strom!|9|Cholerische Chefs
30»Schaff die Kanthölzer da hoch!«Über den Nutzen von Fragen
31Klarheit schafft FreundschaftDen besten Freund entlassen
32Rauchen oder nicht rauchen?Die gespaltene Abteilung oder Meetings ohne Chef
33»Dann hänge ich mich auf!«Wann Sie sich erpressen lassen sollten – und wann nicht
34Wenn das Wort Ihres Chefs nichts wert istDie Loyalitätsfrage
35Sicheres Auftreten trotz absoluter Ahnungslosigkeit… und warum Sie nur im Notfall bluffen sollten
36Lassen Sie Ihre Mitarbeiterin im Regen stehenTechtelmechtel im Büro?
37Was sind Sie: Anführer – oder Richter?Probleme werden da gelöst, wo sie entstehen
38Nur Esel lockt man mit MöhrenDas Geheimnis echter Motivation
TEIL IV IM ALLTAG – KLEINE KNIFFE MIT GROSSER WIRKUNG
Ist es hilfreich, sich das Leben schwer zu machen?
39»Chef, wie weit sind Sie mit meinem Problem?!«Rückdelegationen vermeiden
40»Wer einen Furz lässt, muss ertragen, dass es stinkt!«|10|Umgang mit Beschwerden
41Fußball verbindetTeambildung ganz ohne Workshop
42TeamintelligenzDie strengsten Chefs sind die eigenen Kollegen
43Von Loriot lernen, heißt siegen lernenKleine rhetorische Wunderwaffe
44Es tut Ihnen leid? Quatsch!Erklärung versus Rechtfertigung
45Wollen Sie Recht haben oder ein Geschäft machen?Ärger vermeiden
46Logorrhö – SprechdurchfallVielredner elegant stoppen
47Gut begonnen, halb gewonnenVerzichten Sie auf den Heimvorteil!
48Und wieder grüßt das MurmeltierMacht durch Einigkeit
49Sind Sie Rettungssanitäter?Helfen entmündigt
50Falsches Lob und echte AnerkennungWertschätzung
Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es …
Die Story(s) zu Ihrem Thema
Anmerkungen|11||12|
Leseprobe
Was mir wichtig ist
Dieses Buch ist anders, das haben Sie schon beim ersten Durchblättern registriert: kurze Geschichten und knappe Informationen statt seitenweiser Ausführungen und langer Theorien. Es enthält eine Sammlung von Führungserlebnissen. Manche Storys sind lustig, manche traurig, manche machen nachdenklich oder betroffen. Einige sind mir peinlich, auf andere bin ich stolz. Erkenntnisreich sind sie hoffentlich alle. In vielen der erlebten Situationen habe ich mich seinerzeit aufgemacht, um in Büchern Lösungsangebote zu finden oder bei Erfahrenen Rat zu suchen. In den wenigsten Fällen wurde ich fündig. Das soll Ihnen nach der Lektüre anders ergehen, denn dieses Buch ist praxisnah. Sortiert. Bequem zum Nachschlagen. Eben einfach. Einfach, aber nicht leicht, wie Sie sehen werden.
Warum Storys? In den letzten Jahren bemerkte ich in meinen Seminaren, Coachings oder Vorträgen, dass die Teilnehmer bei Erzählungen aus der Praxis jedes Mal aufhorchten, gleichgültig, ob es sich um Studenten, junge Manager oder um Vorstandsvorsitzende handelte. Gute Geschichten erleichtern Aha-Erlebnisse. Immer wieder regten Seminarteilnehmer an, diese Geschichten aufzuschreiben. Für mich war dieses Aufschreiben eine Zeitreise in die Vergangenheit. Ohne die Unterstützung und Erinnerungen vieler ehemaliger Mitarbeiter, Kollegen und auch Chefs wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Manche Storys hatte ich (glücklicherweise) bereits vergessen oder verdrängt. Gerne hätte ich nur Heldenstorys aufgeschrieben, musste jedoch |13|feststellen, dass die Situationen, in denen ich gescheitert bin, offensichtlich lehrreicher sind. Manche kurze Geschichte sagt mehr als Dutzende Buchseiten. Gelegentlich bekomme ich allerdings auch zu hören: »Sie machen es sich ja ganz schön einfach!« Ja! Richtig! Ist es etwa klug, sich das Leben unnötig schwer zu machen? Es war dieses Lebensmotto, das mich mit 36 Jahren vom Lehrling auf dem Bau zum Vorstand mit über Tausend Mitarbeitern geführt hat – ohne dabei als degenerierter Managerzombie zu enden.1 Wenn Sie sich Ihr Leben erleichtern wollen, lesen Sie unbedingt weiter. Falls nicht, verschenken Sie dieses Buch. Jetzt! Sofort!
Ich möchte Sie also nicht mit angelesenem Wissen langweilen, sondern an meiner praktischen Erfahrung teilhaben lassen. In 20 Jahren »an der Front« habe ich viel über Führen gelernt, einiges leider auch zum Nachteil meines Umfelds, durch Versuch und Irrtum. Die erste wertvolle Lektion erteilte mir als Azubi ein weitsichtiger Meister. Anschließend habe ich immer wieder von Kollegen gelernt, von Mitarbeitern, von beeindruckenden Chefs und nicht zuletzt von katastrophalen Führungskräften, die zeigten, wie man es nicht macht. Diese Menschenschinder haben schon sehr früh in mir ein »Das kann ich besser!« geweckt. Ihnen gehört heute mein größter Dank. Es ist (auch) der Widerstand, der einen wachsen lässt.
Welchen Nutzen haben Sie? Alles, was ich Ihnen in diesem Buch empfehle, habe ich selbst erlebt, ausprobiert und für gut befunden. Es hat mich erfolgreich gemacht – nicht nur im Beruf: Es hat mein Leben im Umgang mit anderen Menschen bereichert. Viele Seminarteilnehmer aus allen Branchen, Konzernen wie kleinen mittelständischen Unternehmen, haben mir in den letzten Jahren bestätigt, dass »es« funktioniert. Das heißt nicht, dass es immer und in jeder Situation funktionieren muss. Die ultimative Führungsformel gibt es nicht! Es bedeutet jedoch, dass die empfohlene Handlungsalternative in sehr vielen Fällen funktioniert hat und daher gute Erfolgschancen bietet. Probie|14|ren Sie es aus, wenden Sie an, was zu Ihnen passt! Dieses Buch ist ein Angebot, ein Supermarkt der Ideen: Sie können sich herauspicken, was Sie reizt, und anderes erst einmal beiseitelassen. Vielleicht kommen Sie ja später noch auf den Geschmack. Sie haben eine bessere Idee? Prima – her damit. Ich freue mich über jede Anregung. Vielleicht gibt es bald einen zweiten Band mit Ihrer Geschichte.
Wie Sie dieses Buch am besten lesen Lesen Sie einfach, wie Sie am liebsten lesen. Ob konsequent von vorn nach hinten oder punktuell und nach dem Zufallsprinzip – dieses Buch funktioniert in beide Richtungen. Wenn Sie eine bestimmte Frage haben, zu der Sie eine Anregung suchen, nutzen Sie einfach das Themenverzeichnis am Ende des Buches. Es verrät, wo Sie die passende Story dazu finden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen … sind nicht völlig zu vermeiden, denn hier ist nichts erfunden oder zurechtgebogen. Allerdings lasse ich manchmal ein paar Details aus oder verändere äußere Eckdaten, um diejenigen zu schützen, von denen ich im Lauf der Jahre viel lernen durfte. Die Storys sind also echt, auch wenn sie nicht in der Ich-Form geschrieben sind. Auch dafür gibt es einen einfachen Grund: Es geht hier nicht um mich, sondern darum, wie sich das Führen etwas leichter (und nebenbei auch erfolgreicher) gestalten lässt.
Risiken und Nebenwirkungen Nicht alles, was Sie lesen, wird Ihnen gefallen. Manchmal werde ich Sie irritieren, vielleicht sogar ein wenig ärgern. Gut so! Dann wird es richtig interessant, so meine Erfahrung. Wenn der »Lernschmerz« am größten ist, ist es auch der Lerneffekt. Hin und wieder werden Sie denken: Das ist doch selbstverständlich! Oder: Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand! Da haben Sie Recht. Vieles, was er uns sagt, ist einfach, aber eben nicht leicht – einfach zu verstehen, aber alles andere als leicht umzusetzen. Wenn Ih|15|nen auch nur eine einzige Story bei der Umsetzung in Ihrem Führungsalltag hilft, hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt und war das Geld wert, oder? Legen wir los!
Viel Vergnügen,
Ihr Gunar M. Michael
Schneverdingen, im März 2014
P.S.: Am stärksten profitieren Sie beim Lesen, wenn Sie sich konsequent zum Mitautor machen. Legen Sie Stift und Textmarker bereit und notieren Sie, was Ihnen durch den Kopf geht: Fragen, Anmerkungen und hoffentlich auch das eine oder andere Aha-Erlebnis. |16||17|
TEIL I
DER BLICK IN DEN SPIEGEL – ERKENNTNISSE
[Bild vergrößern]
Wer ist der wichtigste Mensch in Ihrem Leben?
Wenn ich diese Frage im Seminar stelle, antworten nahezu alle Teilnehmer »mein Partner«, »meine Frau«, »meine Kinder«.
Wer wollte bezweifeln, dass diese Menschen enorm wichtig sind im Leben eines jeden? Doch der allerwichtigste Mensch in Ihrem Leben sind: Sie selbst!
Sie selbst haben es in der Hand, wie Ihr Leben verläuft, wie andere Menschen Ihnen begegnen, ob es Ihnen gelingt zu begeistern, zu inspirieren und gemeinsam mit ihnen erfolgreich zu sein. Der einzige Mensch, der Sie weiterentwickeln kann, sind Sie selbst.
Selbsterkenntnis ist also tatsächlich der erste Weg zur Besserung. Ich weiß: Binsenalarm! Doch warum ist Selbstreflexion tatsächlich so wichtig, wie geht das und wie profitieren Sie wirklich davon? Da endet das Reich der Binse.|18||19||20|
Kapitel 1
Gruß aus dem Neandertal
Unser Steinzeit-Autopilot
Einer der ersten Arbeitstage des ambitionierten Trainees auf der Baustelle. Der frisch diplomierte Ingenieur ist bis an die Zähne bewaffnet mit Fachwissen. Nach Aussage seines Arbeitgebers zählt er zum »Goldfischteich« des Unternehmens, zum exklusiven Kreis der High Potentials, in die man große Erwartungen setzt. Da reckt man die Nase schon selbstbewusst in den böigen Ostwind. Und nun das: Ein großer Baukran soll aufgestellt werden. Dafür muss der Untergrund entsprechend vorbereitet sein. Auftritt: Chef der Verleihfirma. Kompakte 1,70 Meter entsteigen dem Führerhaus. Nach einem flüchtigen Blick auf die Örtlichkeit entlädt sich ein verbales Donnerwetter, das man sich in keinem Hörsaal träumen lässt: »WAS IST DENN HIER LOS?! SOLL DAS ETWA DIE KRANSTANDFLÄCHE SEIN?!« Der Mann beginnt im Kreis herumzutigern wie ein Raubtier im Käfig. Das hindert ihn nicht, ohne Punkt und Komma weiterzubrüllen: »MANN, MANN, MANN, DAS IST JA NICHT ZU FASSEN! BIN ICH EIGENTLICH NUR VON IDIOTEN UMGEBEN? ICH WERDE NOCH WAHNSINNIG!« [Hier folgen noch etliche nicht jugendfreie und justiziable Beleidigungen.] Die Umstehenden – darunter gestandene Familienväter – stehen da wie begossene Pudel, mit hängenden Schultern, den Blick gesenkt. Niemand war in der Lage oder willens, dem Mann zu sagen, dass er schlicht einen Tag zu früh dran war. 2|21|
Ich weiß nicht, was mich damals mehr erschreckt hat: Der Ausbruch, der an Unflätigkeit alles noch übertraf, was ich zuvor erlebt hatte, oder die Reaktion der erfahrenen Mitarbeiter, die sich wie gelähmt beschimpfen ließen. Falls Sie gerade geneigt sind, weiterzublättern, weil »so etwas« ja wohl nur auf dem Bau vorkommt: Kürzlich wurde mir von einem renommierten Chefarzt berichtet, der wegen seiner Ausbrüche klinikweit gefürchtet ist. Erzählenswert war dies, weil er beim letzten Anfall die Tür seines Chefbüros so heftig zuschlug, dass sie buchstäblich aus ihren Angeln brach. Der Neandertaler steckt noch in uns allen, im Kranführer wie im Chefarzt. In mir. In Ihnen. Oder wann haben Sie das letzte Mal auf der Autobahn die Jagd auf den trödelnden Kleinwagenfahrer vor Ihnen eröffnet?
Vielleicht kennen Sie den Cartoon, der die menschliche Evolution im Zeitraffer darstellt – vom affenähnlichen Urahn über den aufrechten Jäger und Sammler bis zum modernen Büromenschen vor dem PC, dessen Sitzhaltung wieder fatal an den Urzeitaffen erinnert. Von einer größeren Gehirnleistung des Menschen gehen Forscher seit etwa 1,8 Millionen Jahren aus, seit der Entstehung des Homo erectus. Das heutige Schädelvolumen lässt sich seit etwa 100 000 Jahren nachweisen.3 Wenn Sie eine Menschenkette bilden könnten, in der Ihre Mutter oder Ihr Vater die Hand ihrer Mutter/ihres Vaters hielte und so immer weiter durch die Generationen, wären Sie in nur fünf Kilometern bei Ihren ersten Vorfahren mit vermutlich heutiger Gehirnleistung angekommen. Das ist ein Sonntagsspaziergang. Eine Autofahrt von einer Stunde entlang der Menschenkette brächte Sie nach 90 Kilometern zum Homo erectus. Erdgeschichtlich gesehen trennt uns nur ein Wimpernschlag von urzeitlichen Ahnen, und unsere archaischen Reflexe sind nach wie vor wirksam: In bedrohlichen Situationen reagieren wir mit Erstarrung, Unterwerfung, Angriff, Flucht oder Verteidigung. Die Mitarbeiter auf der Baustelle verhalten sich also ähnlich wie der Steinzeitmensch, der hofft, dass der Säbelzahntiger ihn übersieht, wenn er wie gelähmt stehen bleibt. Der tobende Chef dagegen ist voll |22|im Angriffsmodus, ebenfalls eine typische Stressreaktion. Möglicherweise steht er unter enormem Zeitdruck oder sein Unternehmen kurz vor der Pleite. Beide Seiten sind nicht ganz auf der Höhe ihrer evolutionären Möglichkeiten, »nicht bei Sinnen«, wie es im Volksmund treffend heißt.
Als Führungskraft tun Sie gut daran, Ihre Reflexe im Griff zu haben und nicht in den tobenden Angriffsmodus zu verfallen. Mitarbeiter, die Angst haben, können nicht klar denken und nicht erfolgreich arbeiten. Natürlich ist das leichter gesagt als getan. Wenn Sie zu unkontrollierten Ausbrüchen neigen, ist schon ein erster Schritt getan, wenn Sie erkennen, dass weniger »die Umstände« als Ihr Umgang mit den Umständen, Ihr persönliches Stressempfinden, dafür verantwortlich ist. Wenn Sie zu kontrollierten Ausbrüchen neigen – getreu dem Motto eines meiner Chefs: »Bei uns regiert Zuckerbrot und Peitsche. Zucker ist alle« –, wenn Sie also die Peitsche schwingen, weil Sie das für zielführend halten, hoffe ich für Sie, dass Sie in einem Bereich tätig sind, in dem Sie auf denkende Mitarbeiter verzichten können. Die werden allerdings immer seltener. Der Chefarzt mit der zerdepperten Bürotür hat mittlerweile echte Probleme, die laufend frei werdenden Arztstellen in seinem Bereich neu zu besetzen.
Der Blick in die Menschheitsgeschichte wirft eine weitere interessante Frage auf: Wie entstand Führung? »Alle gesellschaftsbildenden Lebewesen benötigen Anführer; in jedem Rudel gibt es ein Leittier«, schreibt der Psychoanalytiker und Leiter des Global Leadership Centre der Elite Business School INSEAD Manfred F. R. Kets de Vries.4 Fachliteratur zur Führung setzt in der Regel im mittelalterlichen Ständestaat an5, doch Führung ist natürlich viele Tausend Jahre älter. Schon die ersten Menschengruppen wurden von Häuptlingen und Schamanen geführt, von kriegerischen und religiösen Führern. Es ist möglicherweise kein Zufall, dass bis heute viele Führungsansätze und -instrumente im Militär oder in der Kirche wurzeln, vom streng hierarchischen Aufbau von Organisationen bis zu Auswahlinstrumenten wie dem Assessment-Center. Doch wer wurde von den Höhlen|23|menschen zum Führer erkoren: der Klügste? Der Stärkste? Auf jeden Fall derjenige, der es verstand, das Überleben der Gruppe zu sichern. Wer bei dieser Aufgabe versagte, wurde, so die Anthropologen, von seinen Stammesgenossen vermutlich im Schlaf erschlagen. Glücklicherweise haben sich die Zeiten in diesem Punkt geändert, und man setzt inzwischen auf Aufhebungsverträge und Abfindungen. Im Urkeim der Führung steckt jedoch eine wichtige und zeitlose Botschaft: Führung bedarf der Legitimation durch die Geführten – ohne Gefolgschaft keine Führung. Und Menschen folgen da, wo sie für sich einen Vorteil darin sehen: Schutz, Orientierung, gemeinsamen Erfolg. Das wäre dann die zweite Lehre aus dem Neandertal: Ihre Daseinsberechtigung als Führungskraft besteht darin, dass Ihre Mitarbeiter im Arbeitsalltag von Ihnen profitieren. Kurz gesagt: Was haben die anderen davon, dass es Sie gibt?
Diese Perspektive rückt gleichzeitig das Dauerthema »Mitarbeitermotivation« zurecht: Sie müssen »Motivation« nicht künstlich erzeugen (etwa durch Boni oder andere Anreize), wenn Sie Ihre Mitarbeiter für ein gemeinsames Ziel gewinnen und einen glaubwürdigen Vorschlag zu bieten haben, wie dieses Ziel erfolgreich zu erreichen ist. Das gilt für die Mammutjagd wie für den modernen Geschäftsalltag.
Führung ist kein Selbstzweck: Was haben die anderen davon, dass es Sie gibt?|24|
Kapitel 2
Da bin ich mir absolut sicher!
Drei Menschen – drei Wahrheiten
Vor kurzem saß ich drei Vorständen gegenüber, die ich von meiner Qualität als Seminarleiter und Mediator überzeugen sollte. Statt Qualifikationen herunterzubeten, fragte ich sie: »Was ist aus Ihrer Sicht das aktuell wichtigste Ziel Ihres Unternehmens?« »Das ist doch völlig klar!«, behauptete einer wie aus der Pistole geschossen. Seine Kollegen nickten zustimmend. »Dann notieren Sie das Ziel doch bitte mal für Ihre Kollegen nicht sichtbar auf einem DIN-A4-Blatt«, forderte ich die Herren auf. Ich erntete mürrische Blicke: »Wozu soll das denn gut sein?!« und »Das ist doch läppisch«. »Wenn es so leicht ist, tun Sie’s doch einfach.« Widerwillig begannen die drei zu schreiben. Als wir anschließend die drei Blätter nebeneinanderlegten, ergab sich folgendes Bild:
Wir wollen dieses Jahr mindestens 10 % Umsatzplus machen.
1 Mio. € mehr Umsatz in 2014
2014 keine Verluste mehr!|25|
Sogar im selben Unternehmen kann man offenbar auf verschiedenen Planeten leben und um ein paar Milliönchen aneinander vorbeireden. Viele Konflikte wurzeln in dem Irrglauben, die eigene Wahrheit wäre ganz selbstverständlich auch die Wahrheit des Gegenübers. »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« heißt ein bekanntes Buch des 2007 verstorbenen Philosophen Paul Watzlawick.6 Watzlawick ist ein Vertreter des radikalen Konstruktivismus. Dessen Kernthese: »Die« Wirklichkeit gibt es nicht. Unser Weltbild ist eine individuelle Konstruktion, die auf Kommunikation beruht. Indem wir uns mit anderen austauschen, erzielen wir Übereinkünfte, was »wahr« und »wirklich« ist. An diesem Austausch haperte es offenbar bei den drei Vorständen. Wer hat Recht? Aus der Sicht eines Konstruktivisten ist diese Frage absurd und ungefähr so sinnvoll wie die Frage, wie die Welt »in Wahrheit« aussieht: So, wie Sie oder ich sie sehen? Oder so, wie ein Insekt mit einem völlig anders gebauten Facettenauge sie sieht? Für den Konstruktivisten hat jeder Recht, jeweils in seinem System.
Schützenhilfe bekommen die Konstruktivisten von der modernen Gehirnforschung: »Sie sehen nicht, was Sie vor Augen haben. Sie sehen, was Ihnen Ihr Gehirn sagt. Es trifft Annahmen und sieht die Welt so gut, wie es eben muss, um sich zu orientieren und zu überleben. Unsere Wahrnehmung ist nicht nur eine unvollständige bis falsche Rekonstruktion der Welt, sie gibt auch noch vor, ein vollständiges Bild zu sein. Egal, welche Daten das Gehirn bekommt, es wird sie verstehen«, sagt der Hirnforscher David Eagleman im Interview mit dem Magazin Der Spiegel.7 Wahrnehmungsphänomene wie die bekannten Kippfiguren sind ein einfacher Beleg dafür, dass wir unsere Umgebung »konstruieren«. Was sehen Sie zum Beispiel hier:|26|
[Bild vergrößern]
»Ganz klar« einen Hasen? Oder eine Ente, natürlich ebenso eindeutig? Was ist es »wirklich«? Neben diesem bekannten Beispiel Ludwig Wittgensteins kennen Sie möglicherweise auch die Zeichnung, die man wahlweise als steinalte oder junge Frau sehen kann, oder die Silhouetten, die entweder zwei Profile oder eine Vase darstellen. Wenn nicht, googeln Sie einfach »Kippfigur«. Wirklichkeitskonstruktionen sind nicht nur durch unsere höchst selektive und erwartungsgesteuerte Wahrnehmung bedingt. Zeugen widersprechen sich radikal und haben wahlweise »ganz sicher« ein blaues, ein schwarzes oder dunkelgrünes Auto am Tatort gesehen, einen Lieferwagen oder einen SUV. Oder doch einen Kombi? Auch kulturelle Prägungen und persönliche Erfahrungen spielen eine Rolle bei der Herstellung der Wahrheit. Was ein Nordeuropäer schon als »aufdringlich« empfindet, ist in Südamerika der ganz normale Gesprächsabstand zwischen Fremden, und was für einen deutschen Manager weitschweifig erscheint, ist für seinen französischen Kollegen schlicht Eloquenz und Zeichen von Bildung.
Solange wir ähnliche Konstrukte pflegen, wird uns die Begrenztheit unseres Wirklichkeitsbildes nicht bewusst. Optische Täuschungen oder interkulturelle Unterschiede säen erste Zweifel. Doch auch im Alltag tun wir gut daran, weniger als selbstverständlich und »wahr« vorauszusetzen. Was für Sie »sachlich« ist, könnte für Ihr Gegenüber »barsch« klingen. Was für Sie »klar« ist, muss für einen anderen noch lange nicht eindeutig sein. In meinen Seminaren gibt es einen wichtigen Punkt am Ende des ersten Tages. Während einer praktischen Übung fallen nach wenigen Minuten die Seminarteilnehmer übereinander her. Jeder hat seine Wahrheit und verteidigt diese vehement – ohne zu wissen, ob sie wirklich stimmt. Ergebnis der Übung: eine bittere Erkenntnis, auch »Lernschmerz« genannt.
Bewertungen sind ein anderes Feld, auf dem die Subjektivität sich fröhlich austoben kann. So werden im jährlichen Mitarbeitergespräch munter Kreuzchen auf einer Zehnerskala verteilt, und der engagierte Mitarbeiter verbessert sich natürlich jedes |27|Jahr, schon aus Gründen der »Motivation«. Im fünften Jahr stagnierten die Bewertungen in meiner ersten Leitungsfunktion plötzlich bei 9 (»sehr gut«). Auf meine Frage, ob denn keine Verbesserung eingetreten sei oder was für 10 fehle, antwortete der Geschäftsführer: »Eine 10 gibt’s nicht. Niemals!« – »Niemals??«, fragte ich nach. »Nein. 10 ist Gott!« Nur: Was soll eine Pseudogenauigkeit, wenn sich die Messlatte dafür nicht bestimmen lässt? Für den nächsten Chef beginnt »Gott« vielleicht erst bei 150, und durchschnittliche Mitarbeiter werden mit 9 und 10 beglückt. Vielleicht kennen Sie Fälle, in denen ein Mitarbeiter unter einem neuen Chef aufblüht, weil der ihm positiv begegnet, und umgekehrt Abteilungsstars, die nach einem Vorgesetztenwechsel plötzlich als »Niete« gehandelt werden. Ich habe daraus zweierlei gelernt: Nichts ist sicher. Und der eigene Standpunkt ist nur eine Möglichkeit. Wir alle vermessen »die« Wirklichkeit ein wenig unterschiedlich und tun gut daran, unsere individuellen Landkarten gelegentlich miteinander abzugleichen. Gerade als Führungskräfte.
Paul Watzlawick verdanken wir übrigens den wunderbaren Witz von den beiden Laborratten, die sich über den Versuchsleiter unterhalten. Die eine sagt stolz zur anderen: »Ich habe diesen Mann so trainiert, dass er mir jedes Mal Futter gibt, wenn ich diesen Hebel drücke.«8
Vorsicht: Ihre Landkarte ist nicht das Gebiet! |28|
Kapitel 3
Die Weihnachtsfeier am Wochenende
Kleine Signale, große Wirkung
Die Geschäftsführung hält es für eine grandiose Idee, die anstehende Weihnachtsfeier auf einen Freitagabend zu legen. Gefeiert werden soll in einem schön gelegenen Landhotel mit anschließender Übernachtung. Anreise am frühen Freitagabend, Abreise am Samstag nach einem »späten Frühstück«. Doch je näher der Dezembertermin rückt, desto mehr Absagen hagelt es: Ein Mitarbeiter nach dem anderen ist verhindert, vom Basketballturnier des Jüngsten über ehrenamtliche Verpflichtungen bis zur Konkurrenzweihnachtsfeier bei der Freiwilligen Feuerwehr im Heimatdorf, auf der man als zweiter Vorsitzender auf keinen Fall fehlen darf. Am Ende findet sich nur ein überschaubares Grüppchen im Hotel ein. Die meisten Führungskräfte sind anwesend, die Reihen der Mitarbeiter deutlich gelichtet. »Undankbar« findet die Führungsriege dieses Verhalten. »Unmöglich« finden es dagegen viele Mitarbeiter, und besonders deren Partner, dass sie der Firma »jetzt auch noch das Wochenende opfern sollen«.|29|
Davon, dass jeder seine Welt »konstruiert«, durch persönliche Weltdeutungen selbst erschafft, war bereits in Kapitel 2 die Rede (»Da bin ich mir absolut sicher!«). Die missglückte Weihnachtsfeier ist ein Beispiel dafür. Wo die Geschäftsleitung sich großzügig wähnt, weil sie eine Übernachtung spendiert, sehen die Mitarbeiter vor allem eine Ausdehnung des zeitlichen Zugriffs ihres Arbeitgebers. Spätestens nach Gesprächen mit dem Ehepartner zu Hause (»Wie? Jetzt bist du auch noch am Wochenende weg?!«) kühlte die Begeisterung für die Veranstaltung vollends ab. Ein Austausch unter den Kollegen gab ihr den Rest.
Das Ereignis illustriert: Es ist riskant, eigene Einschätzungen und Wertungen leichtfertig auf andere zu übertragen. Menschen, die die ganze Woche zum Teil sehr lange Arbeitswege in Kauf nehmen, wollen wenigstens am Wochenende Zeit für die Familie haben. Der Freitagstermin sandte in ihren Augen überdies noch eine zweite Arbeitgeberbotschaft: »Es ist mir keinen Arbeitstag wert, dass ihr euch auf meine Kosten vergnügt!« Kurz: Die Feierpläne stifteten nichts als Unzufriedenheit und Missmut. Am Donnerstagabend eine Nummer kleiner vor Ort zu feiern und den Freitag freizugeben hätte dem Betriebsfrieden weit besser getan.
Warum erzähle ich das so ausführlich? Um Ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Ihr Verhalten besonders aufmerksam gedeutet wird, sobald Sie als Führungskraft aus einer Gruppe heraustreten. In Erweiterung eines bekannten Watzlawick-Zitats: Sie können sich ab diesem Moment erst recht »nicht nicht verhalten«.9 Und Sie werden sich häufig kaum ausmalen, was man alles in Ihr Verhalten hineindeutet. Gerade bei Weihnachtsfeiern bin ich ein gebranntes Kind. Als erste größere Führungsaufgabe wurde mir eine Niederlassung anvertraut, deren Zahlen miserabel waren. Erst wenige Wochen im Job, hatte ich angesichts der Ebbe in der Kasse den – wie ich fand – genialen Geistesblitz, die Belegschaft (etwa 150 Mitarbeiter) zur Weihnachtsfeier in ein Zelt zum gemeinsamen Kochen inklusive Schwein am Spieß einzuladen. Ich versprach mir davon neben überschaubaren Kosten |30|ein Gemeinschaftserlebnis: Könnte doch interessant sein, wenn der Baggerfahrer und der Niederlassungsleiter zusammen kochen! Es wurde nicht interessant, sondern peinlich und die schlimmste Weihnachtsfeier meines Lebens. Die Mannschaft sagte unverhohlen: »So weit ist es gekommen, jetzt müssen wir sogar zur Weihnachtsfeier unsere Kartoffeln selber schälen!« Es lohnt sich also, sich bei jeder Maßnahme zu fragen:
Ist das wirklich ein positives Zeichen für die Mitarbeiter?
Wie könnten andere das aus ihrer Perspektive sehen?
Im Nachhinein ist mir selbst ein Rätsel, warum ich nicht vorher jemanden aus dem Kreis der Weihnachtsfeieropfer gefragt habe, wie er meine Pläne findet (zum Nutzen von Fragen siehe auch die Story 30, wo Liebhaber meiner peinlichsten Führungserlebnisse erneut auf ihre Kosten kommen). Später hat sich immer ein freiwilliger Weihnachtsfeier-Verantwortlicher gefunden, der alles gemanagt hat.
Nicht gefragt habe ich auch beim Projekt »Pool statt Klimaanlage« im Jahrhundertsommer 2003. Wir schwitzten in einer Containerburg, es war unerträglich heiß. Die Mitarbeiter forderten hitzefrei und Klimaanlagen. Ich wollte besonders schlau sein und gewann stattdessen einen Pool-Händler dafür, unsere Freifläche am Haupteingang »kostenlos« als Werbefläche zu nutzen. Gesagt, getan: Der Händler baute einen wirklich großen mobilen Swimmingpool auf, das Ganze kostete inklusive Wartung keinen Cent. Deutung meiner Mitarbeiter: »Der will doch nur unsere Azubinen im Bikini sehen!« Sie fühlten sich schlicht veralbert, und die Zahl der Schwimmer hielt sich sehr in Grenzen.
Wie Sie solche Pannen vermeiden, lernen Sie in keiner Ausbildung. Es ist eine Frage der Lebensklugheit, sich nicht selbst Steine in den Weg zu rollen, indem man andere Menschen unnötig irritiert oder vor den Kopf stößt. Deswegen wird auch gern das hohe Lied »sozialer Kompetenz« oder »emotionaler Intelligenz« gesungen. Nur: Befördert werden Mitarbeiter in der Re|31|gel wegen fachlicher Kompetenzen und Durchsetzungsstärke, kaum wegen ihrer empathischen Fähigkeiten. Wenn Sie nicht so gut darin sind, mögliche Reaktionen und Empfindlichkeiten Ihrer Mitarbeiter einzuschätzen, kann Ihnen eine erfahrene Sekretärin aus der Patsche helfen oder ein anderer Ihnen wohlgesinnter Mitarbeiter. Oder Sie spielen Ihre Überlegungen mit einem Mentor oder Coach durch, der gerade für den Umgang mit Kollegen oder eigenen Chefs ein hilfreicher Sparringspartner ist.
Versäumen Sie das, kann ein falsches Signal zum Ausgangspunkt einer Abwärtsspirale werden. Aus dem »… jetzt müssen wir sogar unsere Kartoffeln schon selber schälen« destillieren die Betroffenen ein »Die Zentrale hat uns schon abgeschrieben«, und mit dieser Negativbrille auf der Nase sehen sie überall weitere Indizien. Frau Müller ist der neue Bürostuhl verweigert worden. Der Kopierer im zweiten Stock ist immer noch nicht repariert. Und jetzt wird sogar schon an der Bepflanzung vor dem Firmeneingang gespart – schon Juni, und da stehen immer noch die Stiefmütterchen vom Frühjahr! Besser, man sucht sich langsam einen neuen Job.
Das mag absurd klingen, aber so ticken wir Menschen. Oder haben Sie noch nie aus der Kurzangebundenheit Ihres Chefs am Telefon die wildesten Spekulationen abgeleitet?
Noch Zweifel? Dann lassen Sie sich Paul Watzlawicks »Geschichte mit dem Hammer« auf YouTube vorlesen. Viel Spaß!10|32|
Kapitel 4
Sind Sie Napoleon?
Selbstbild/Fremdbild
Zwei frühere Kollegen treffen sich nach Jahren zufällig in der Fußgängerzone einer benachbarten Großstadt. Nach dem üblichen »Mensch, was für ein Zufall, wie geht’s?« und »Bist du immer noch bei der Buddel AG?« sagt einer der beiden: »Übrigens, hast du schon gehört: den Holfeld haben Sie kürzlich tot im Hotelzimmer gefunden!« – »Was?!« Die Verblüffung ist berechtigt. Holfeld, früherer Chef der beiden, kann höchstens Mitte 40 gewesen sein. »Herzinfarkt. Das Zimmermädchen hat ihn wohl gefunden. Na, vermissen wird den keiner.« Die zynisch klingende Bemerkung eröffnet einen Erinnerungsreigen. Wie der Holfeld immer sagte: »Ich habe hier im Betrieb 300 Schafe. Und die wollen geführt werden! Und zwar von mir!« Wie er eigene Zusagen mit einem lapidaren »Nee, is nich – wir sind hier doch nicht bei Wünsch-dir-was!« zwei Tage später wieder vom Tisch fegte. Wie er Anträge auf Fahrtkostenerstattung voller Empörung als »illoyales Verhalten« zurückwies. Und wie er aus allen Wolken fiel, als ihm im 360-Grad-Feedback desaströses Führungsverhalten bescheinigt wurde.|33|
Die Überraschung des Chefs war vermutlich echt. Führungskräfte, die ihre eigenen Führungsqualitäten kritisch sehen, sind selten. Ich wette mit Ihnen: In Ihrem Segelklub, auf dem Golfplatz oder im heimischen Wohnzimmer geht es oft – wenn überhaupt – um unfähige Mitarbeiter, Kollegen, die sich nicht durchsetzen können, oder eigene Chefs, die einen zum Wahnsinn treiben. So gesehen ist die Welt voller Super-Chefs und unfähiger »anderer«. Es liegt auf der Hand: In dieser Logik steckt ein fetter Wurm. Akademischer formuliert: Selbstbild und Fremdbild klaffen gelegentlich auseinander.
Wenn ich im Seminar Führungskräfte vom Teamleiter bis zum Vorstandsvorsitzenden frage, was wichtiger ist, Selbstbild oder Fremdbild, entscheiden sich die meisten für das Selbstbild. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass ein positives Selbstbild mit Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und daher mit der Tatkraft assoziiert wird, die man für herausfordernde Aufgaben braucht. Das ist nicht von der Hand zu weisen, doch »Selbstbild« bedeutet zunächst einmal nur: Wie sehe ich mich? Das »Fremdbild« dagegen beantwortet die Frage: Wie sehen mich die anderen? Für Ihre Lebensqualität und Ihren Lebenserfolg ist das Fremdbild wichtiger als Ihr eigenes Selbstbild. Es nützt Ihnen nichts, wenn Sie von Ihrer Führungsstärke überzeugt sind, die anderen Sie jedoch für einen Softie oder Menschenschinder halten. Die psychiatrischen Kliniken auf unserem Planeten sind voll von Menschen, die überzeugt sind, sie seien Napoleon, Einstein oder Jesus. Leider nimmt ihnen der Rest der Menschheit das nicht ab.