Tage der Freuden - Marcel Proust - E-Book

Tage der Freuden E-Book

Marcel Proust

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Beschreibung

Marcel Prousts Buch 'Tage der Freuden' entführt den Leser in eine Welt voller reicher und detaillierter Beschreibungen. Das Werk zeichnet sich durch seinen introspektiven Charakter und seine tiefen Einblicke in die Psyche der Charaktere aus. Proust nutzt eine fließende und poetische Sprache, um die Emotionen und Gedanken seiner Figuren zum Leben zu erwecken. Das Buch ist ein Meisterwerk der modernen Literatur und steht im Kontext des literarischen Impressionismus des frühen 20. Jahrhunderts. Marcel Proust, ein bekannter französischer Schriftsteller, war für seine tiefgründigen Romane und sein feines Gespür für Menschlichkeit bekannt. Proust selbst war ein Mann, der die menschliche Natur intensiv studierte und großen Wert auf die Darstellung von Emotionen und Beziehungen in seinen Werken legte. 'Tage der Freuden' ist das Ergebnis seiner langjährigen Beobachtungen und Reflexionen über das menschliche Dasein. Für Leser, die an tiefsinniger Literatur interessiert sind und sich für die inneren Gedanken und Gefühle von Charakteren begeistern, ist 'Tage der Freuden' von Marcel Proust ein absolutes Muss. Dieses Buch bietet eine faszinierende Reise in die Psyche und die Emotionen der Charaktere und regt zum Nachdenken über die Komplexität des menschlichen Geistes an.

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Marcel Proust

Tage der Freuden

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Inhaltsverzeichnis

Der Tod des Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie
Violante oder die Weltlichkeit
Fragmente einer italienischen Komödie
Weltlichkeit und Melomanie
Trauriger Landaufenthalt der Madame de Breyves
Die Beichte eines jungen Mädchens
Das große Diner
Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben
Das Ende der Eifersucht

Der Tod des Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie

Inhaltsverzeichnis

I
II
III
IV
V

I

Inhaltsverzeichnis

Apoll, so melden die Poeten, hütete jeden Tag die Herden des Admet; jeder Mensch ist auch ein verkleideter Gott, der den Narren spielt.

»Herr Alexis, weinen Sie doch nicht so! Vielleicht bekommen Sie vom Herrn Baron von Sylvandre ein Pferd geschenkt.«

»Ein ganz großes, Beppo, oder ein Pony?«

»Vielleicht wird es ein großes Pferd wie das des Herrn Cardenio. Aber weinen Sie doch nicht so ... an Ihrem dreizehnten Geburtstag!«

Die Aussicht, ein Pferd zu bekommen, und der Gedanke, daß er dreizehn Jahre alt war, machten Alexis' Augen durch die Tränen aufleuchten. Aber er war noch nicht getröstet, denn er mußte seinen Onkel Baldassar Sylvandre, Freiherrn von Sylvanie, besuchen. Er hatte ihn allerdings schon öfter gesehen seit dem Tage, an dem er gehört hatte, die Krankheit seines Onkels sei unheilbar. Aber wie hatte sich alles seitdem geändert!

Baldassar hatte sich über seine Krankheit völlige Klarheit verschafft und wußte, daß er höchstens noch drei Jahre zu leben hatte. Alexis konnte natürlich nicht begreifen, daß diese kummervolle Gewißheit seinen Onkel nicht getötet oder in den Wahnsinn getrieben hatte. Er fühlte sich nicht stark genug, den Schmerz zu ertragen, wenn er ihn sah. Er war durchaus überzeugt, daß er dann mit ihm von seinem nahen Ende sprechen müsse. Wie sollte er sich die Stärke zutrauen, den Onkel zu trösten oder wenigstens das Schluchzen in seiner Kehle zu unterdrücken? Er hatte seinen Onkel immer verehrt, fast angebetet. Für ihn war er der größte, der schönste, der jüngste, der feurigste und gütigste von allen Verwandten. Er liebte seine grauen Augen, seinen blonden Schnurrbart, seine Knie; dies war für den Knaben der tiefe und wonnige Zufluchtsort, solange er noch ganz klein war. Damals waren die Knie ihm uneinnehmbar erschienen wie eine Festung, von der einen Seite belustigend wie Holzpferde, von der andern unverletzlich wie ein Tempel. Alexis, der an seinem Vater die dunkle, strenge Kleidung offenkundig mißbilligte und von einer Zeit der Zukunft träumte, in welcher er, stets zu Pferde, eine Eleganz wie eine Dame und eine Pracht wie ein König entfalten wollte, sah in Baldassar das höchste Ideal, das er sich von einem Manne bilden konnte. Sein Onkel war schön, das wußte Alexis, und er selbst sah ihm ähnlich. Und dann war sein Onkel klug, großherzig, seine Macht war mindestens ebensogroß wie die eines Bischofs oder eines Generals. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er zwar aus dem Urteil seiner Eltern auch herausgehört, daß der Freiherr nicht ganz ohne Fehler war. Er hatte noch nicht vergessen, wie furchtbar zornig der Onkel hatte werden können, als sein Vetter Jean Galéas sich über ihn lustig gemacht hatte, und er dachte daran, wie das Aufflackern seiner Augen den Triumph seiner befriedigten Eitelkeit verraten hatte, als der Herzog von Parma ihm die Hand seiner Schwester anbieten ließ. (Der Oheim hatte damals, um nur ja seine Freude nicht offen zu zeigen, die Zähne zusammengebissen und eine Grimasse geschnitten, die ihm zur Gewohnheit geworden war und die Alexis mißfiel.) Er erinnerte sich noch des Tons der Verachtung, mit dem er zu Lucretia sprach, als sie eingestand, seine Musik nicht zu lieben.

Des öfteren spielten seine Eltern auf andere Handlungen seines Onkels an, die er nicht kannte, aber die er heftig tadeln hörte.

Aber jetzt waren alle Fehler Baldassars und seine banale Grimasse verschwunden. Wie sehr mußten die Spötteleien von Jean Galéas, die Freundschaft des Herzogs von Parma und seine eigene Musik einem Manne gleichgültig geworden sein, der sich dessen bewußt war, daß er in zwei Jahren vielleicht schon unter der Erde sein würde. Alexis stellte sich ihn vor, genauso schön, aber viel feierlicher und noch vollkommener, als er es vorher gewesen. Ja, feierlich und nicht mehr ganz von dieser Welt. Daher kam zu seinem trostlosen Leid noch ein wenig Unruhe und Schaudern. Die Pferde waren seit langem angeschirrt, man mußte aufbrechen; so stieg er denn in den Wagen. Aber er verließ ihn wieder, um seinen Erzieher um einen allerletzten Rat zu fragen. Kaum hatte er begonnen zu reden, als er tief errötete.

»Herr Legrand, darf mein Onkel merken oder nicht, daß ich weiß, daß er sterben muß?«

»Nein, er soll nichts merken, Alexis!«

»Aber wenn er davon spricht?«

»Er wird nicht davon sprechen.«

»Er wird nicht davon sprechen?« sagte Alexis betroffen. Das war die einzige Möglichkeit, die er nicht vorausgesehen hatte. Denn sooft er sich den Besuch bei seinem Onkel in der Phantasie ausgemalt hatte, hatte er ihn über den Tod mit der Sanftheit eines Priesters sprechen gehört.

»Ja, aber wenn er doch davon spricht?«

»Dann sagen Sie ihm, daß er sich täuscht.«

»Und wenn ich weine?«

»Sie haben heute morgen schon zu viel geweint, Sie werden in seiner Gegenwart nicht weinen.«

»Ich werde nicht weinen?« rief Alexis verzweifelt aus. »Dann muß er ja glauben, daß ich keinen Kummer fühle, daß ich ihn nicht mag... mein lieber armer Onkel...« Und er brach in Tränen aus. Seine Mutter mochte nicht länger geduldig warten, sie kam, um ihn zu holen, und die Reise ging los.

Alexis traf im Vorraum einen grün- und weißlivrierten Diener, der auf den Knöpfen der Livree das Wappen von Sylvanien trug, und übergab ihm seinen kleinen Mantel. Nun blieb er mit seiner Mutter einen Augenblick stehen und lauschte dem Geigenklang, der aus einem Nachbarzimmer drang. Dann führte man sie in einen sehr großen, runden Saal, der ganz verglast war und in dem der Freiherr sich oft aufhielt. Man sah gleich beim Eintritt das Meer vor sich; man mußte nur den Kopf wenden, um Rasenplätze, Wiesen und Wälder zu erblicken. In der Tiefe des Gemaches gab es zwei Katzen, ferner Rosen, Mohnblumen und viele Musikinstrumente.

Sie warteten einen Augenblick.

Alexis stürzte sich auf seine Mutter, sie dachte, er wolle sie küssen, aber er flüsterte ihr zu, seinen Mund an ihr Ohr gepreßt: »Wie alt ist mein Onkel?«

»Er wird im Juni sechsunddreißig Jahre alt.«

Er wollte fragen: »Glaubst du, daß er jemals sechsunddreißig Jahre alt wird?«, aber er wagte es nicht.

Eine Tür ging auf, Alexis zitterte, ein Diener sagte: »Der Herr Baron erscheint sofort.«

Bald kam der Diener wieder und ließ zwei Pfauen und ein Zicklein herein, die der Freiherr immer bei sich hatte. Dann hörte man wieder Schritte, die Tür öffnete sich noch einmal. Es ist nichts, sagte sich Alexis. Sein Herz schlug jedesmal höher, sooft er ein Geräusch hörte. Es ist wahrscheinlich nur ein Diener, ja, es kann nichts anderes sein als ein Diener. Aber in diesem Augenblick hörte er eine sanfte Stimme: »Guten Tag, mein kleiner Alexis, ich wünsche dir Glück zum Geburtstag.« Aber sein Onkel machte ihm angst, als er ihn umarmte, was unvermeidlich war. Nachher beschäftigte er sich nicht weiter mit dem Knaben, er wollte ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen, und begann nun lustig mit Alexis' Mutter, seiner Schwägerin, zu plaudern. Seit dem Tode seiner Mutter war sie der Mensch, den er am meisten auf der Welt liebte.

Jetzt hatte sich Alexis gefaßt und fühlte nur noch eine große Zärtlichkeit für diesen jungen Mann, der immer noch so bezaubernd war, der kaum blasser schien als zuvor und der sein Leiden so heldenhaft trug, daß er in dieser tragischen Minute eine Komödie der Lustigkeit spielen konnte. Er hätte sich ihm gern an den Hals geworfen, aber er wagte es nicht. Denn er fürchtete, er könne die Energie seines Onkels lähmen, und wie sollte er sich dann noch beherrschen? Vor allem war es der traurige, sanfte Blick des Freiherrn, der ihm Sehnsucht nach Tränen gab. Alexis wußte, diese Augen waren nie anders als traurig, und selbst in den glücklichsten Augenblicken schienen sie um einen Trost zu flehen für Schmerzen, die lange schon vergangen waren. Aber in diesem Augenblick war sich Alexis bewußt, die Traurigkeit seines Onkels (mit aller Tapferkeit aus dem Gespräch verbannt) habe sich in die Augen geflüchtet, die mit seinen abgemagerten Wangen allein die Wahrheit sprachen.

»Ich weiß, daß du gern einen Wagen mit zwei Pferden fahren würdest, mein kleiner Alexis«, sagte Baldassar, »man wird dir morgen ein Pferd bringen. Zum nächsten Jahr werde ich das Paar vervollständigen, und in zwei Jahren werde ich dir den Wagen schenken. Aber vielleicht könntest du dieses Jahr immerhin das Pferd reiten, wir werden es nach meiner Rückkehr ausprobieren. Denn ich bin entschlossen, morgen zu reisen«, sagte er, »aber nicht auf lange. In kaum einem Monat will ich zurück sein, und wir werden zusammen in die Vormittagsaufführung gehen, weißt du, und das Schauspiel ansehen, wie ich es dir versprochen habe.«

Alexis wußte, daß sein Onkel einige Wochen bei einem Freunde verbringen wollte, auch wußte er, daß es jenem noch erlaubt war, ins Theater zu gehen; aber wenn er vor diesem Besuch bei dem Onkel von niederschmetternden Todesgedanken durchdrungen war, so empfand er doch jetzt bei seinen Worten ein tiefes und schmerzliches Erstaunen.

Ich will nicht hingehen, sagte er sich. Denn nur unter Qualen würde sein Onkel das Witzereißen der Schauspieler und das Lachen der Zuschauer anhören können.

»Was war denn das für eine hübsche Melodie, die du spieltest, als wir hereinkamen?« fragte Alexis' Mutter.

»Ah, findest du sie hübsch?« sagte Baldassar freudig erregt. »Es ist die Romanze, von der ich dir sprach.«

Ist das echt? fragte sich Alexis. Kann der Beifall, den man seiner Musik zollt, ihm noch Freude machen?

In diesem Augenblick nahm das Gesicht des Freiherrn den Ausdruck tiefen Schmerzes an; seine Wangen erblaßten, er zog die Lippen und Brauen zusammen, seine Augen füllten sich mit Tränen.

Mein Gott, schrie es in Alexis, diese Rolle geht über seine Kraft. Mein armer Onkel! Aber warum hat er solche Angst, uns traurig zu machen? Warum bezwingt er sich so sehr?

Aber schon war der Anfall der allgemeinen Lähmung verflogen. Manchmal konnten diese Schmerzen Baldassar mit einer eisernen Rüstung von derartiger Gewalt zusammenpressen, daß sein Körper Wundmale trug und daß unter ihrer Wucht sein Gesicht sich unwillkürlich zur Fratze verzerrte, wie eben jetzt.

Trotzdem trocknete er die Augen und begann sich von neuem gutgelaunt zu unterhalten.

»Es scheint, der Herzog von Parma ist seit einiger Zeit nicht mehr so liebenswürdig gegen dich«, bemerkte Alexis' Mutter ungeschickt genug.

»Der Herzog von Parma«, rief Baldassar wütend aus, »der Herzog von Parma und weniger liebenswürdig als vorher? Aber, meine Liebste, wohin versteigen sich deine Gedanken? Noch heute morgen hat er mir geschrieben und mir sein Schloß in Illyrien zur Verfügung gestellt, falls die Gebirgsluft mir wohltun sollte.« Er erhob sich schnell, aber damit erweckte er von neuem den schauderhaften Schmerz und mußte einen Augenblick stehenbleiben; kaum hatte sich der Schmerz beruhigt, als er rief: »Bringen Sie mir den Brief, der neben meinem Bette liegt.« Nun las er eilig und voller Leben: »Mein lieber Baldassar, ich kann gar nicht sagen, wie sehr Sie mir fehlen usw. usw.« In dem Maße, als sich dann die Liebenswürdigkeit des Prinzen strahlender enthüllte, wurde auch Baldassars Gesicht friedlich, und es begann sogar aufzuleuchten in glücklicher Zuversicht. Plötzlich fiel es ihm offenbar ein, es sei besser, eine Freude zu verbergen, die ihm nicht viel Ehre machte, deshalb preßte er die Zähne zusammen und machte die hübsche, banale, kleine Grimasse, die Alexis für immer aus diesem todbeschatteten Antlitz verbannt glaubte.

Diese kleine Grimasse, die ganz so wie früher den Mund Baldassars kräuselte, diese Grimasse öffnete Alexis' Augen. Denn er hatte, seit er bei seinem Onkel war, geglaubt (und er wollte es auch so), er werde das Gesicht eines Sterbenden vor sich sehen, das aller vulgären Wirklichkeit entrückt war und dessen Mund nur noch ein Lächeln hätte umschweben dürfen, ein Lächeln, heldenhaft sich selbst abgezwungen, traurig und liebevoll, himmlisch und entzaubert zugleich. Jetzt zweifelte Alexis nicht mehr daran, daß die Neckereien eines Jean Galéas seinen Onkel ganz ebenso wie früher in Wut bringen konnten, er war überzeugt, daß in der Heiterkeit des Kranken, in seinem Wunsch, ins Theater zu gehen, weder Heuchelei noch Heroismus zum Ausdruck kamen und daß selbst in der unmittelbaren Nähe des Todes Baldassar nicht einen Augenblick aufgehört hatte, an das Leben zu denken.

Auf dem Heimweg war Alexis tief betroffen bei dem Gedanken, auch er würde eines Tages sterben; und wenn er persönlich auch sehr viel mehr Zeit vor sich hatte als sein Onkel, so würden doch keinesfalls der alte Gärtner Baldassars und seine Base, die Herzogin von Aléncourt, diesen lange überleben. Und doch: obwohl Rocco, der Gärtner, reich genug war, um sich zurückzuziehen, arbeitete er doch ununterbrochen weiter, um noch mehr Geld zu verdienen, und bemühte sich, einen Preis in der Ausstellung für seine Rosen zu gewinnen. Die Herzogin (trotz ihrer siebzig Jahre) gab sich große Mühe, sich zu schminken, und bezahlte den Zeitungen Artikel, worin man die Jugendlichkeit ihres Ganges, die Eleganz ihrer Empfänge und die Gepflegtheit ihres Tisches und ihres Geistes in den höchsten Tönen feierte.

Diese Beispiele waren nicht dazu angetan, das Staunen zu mindern, in das die Haltung seines Onkels ihn versetzt hatte: sie ließen ihn vielmehr noch viel tiefer betroffen sein, dies Staunen griff immer weiter um sich, steigerte sich zur massiven Verblüffung über den allgemeinen Skandal all dieser Existenzen (wobei er seine eigene nicht ausnahm), denn es waren Existenzen, die im Krebsgang dem Tode näherrückten, ohne das Leben aus den Augen zu lassen. Er war entschlossen, eine so empörende Verirrung nicht nachzuahmen, und entschied sich dahin, nach dem Beispiel der alten Propheten, von deren Ruhm man ihm erzählt hatte, sich mit einigen seiner kleinen Freunde in die Wüste zurückzuziehen. Bald machte er hiervon seinen Eltern gebührende Mitteilung. Doch zu seinem großen Glück bot ihm das Leben, dessen kräftige und milde Milch stärker war als aller Spott, die Brust, um ihn davon abzubringen. Er sog in vollen Zügen, mit freudenvoller Gier, während seine leichtgläubige und reiche Phantasie naiv die Klagen anhörte und großzügig den schlechten Nachgeschmack wieder abzuschwächen strebte.

II

Inhaltsverzeichnis

Am Tage nach Alexis' Besuch war der Freiherr von Sylvanie nach einem Nachbarschloß verreist, in welchem er drei Wochen verbringen wollte und wo die Anwesenheit zahlreicher Gäste die Traurigkeit, die seinen Krisen folgte, zerstreuen konnte.

Bald erschienen ihm alle Freuden des Lebens vereinigt in der Gesellschaft einer jungen Frau, die sie ihn doppelt tief empfinden ließ, indem sie diese mit ihm teilte. Es war ihm, als empfände er etwas wie Liebe für sie, doch blieb er ihr gegenüber zurückhaltend. Er kannte sie als vollkommen tugendhaft, und im übrigen erwartete sie ungeduldig die Ankunft ihres Gatten; und dann war er nicht sicher, ob er sie wahrhaft liebe, er ahnte in der Tiefe seines Herzens, wie sündhaft es wäre, sie zum Bösen zu verführen. Von wann an ihre Beziehungen zueinander sich gewandelt hatten, konnte er sich niemals entsinnen. Doch jetzt küßte er ihr wie nach einer gemeinsamen Übereinkunft (deren Ursprung er nicht feststellen konnte) die Handgelenke und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie schien so glücklich, daß er eines Abends mehr tat: er begann sie zu küssen, dann streichelte er sie lange, um sie dann von neuem zu küssen, ihre Augen, ihre Wange, ihre Lippen, ihren Hals und die Flügel ihrer Nase. Der Mund der jungen Frau kam seinen Küssen lächelnd entgegen, und ihre Augen leuchteten in den Tiefen wie stilles Wasser in der Sonne. Die Liebkosungen Baldassars wurden kühner: nun blickte er sie einen Augenblick an; er erschrak vor ihrer Blässe, vor der grenzenlosen Verzweiflung, die ihre tote Stirn ausdrückte, vor ihren herzzerreißenden, müden Augen, vor den Blicken, die trauriger als Tränen weinten, denn es war, als wenn sie die Tortur der Kreuzigung erlitte oder unwiderruflich ein geliebtes Wesen verlieren sollte. Er betrachtete sie einen Augenblick; und da, in der höchsten Anspannung, erhob sie ihre flehenden Augen zu ihm, während gleichzeitig ihr gieriger Mund in einer unbewußten, krampfhaften Bewegung nach neuen Küssen wieder verlangte. Beide wurden von der Woge der Lust fortgerissen, die zwischen ihnen, in dem Duft ihrer Küsse und der Erinnerung ihrer Liebkosungen schwebte, nun stürzten sie sich aufeinander, von jetzt an schlossen sie die Augen, die die Verzweiflung ihrer Seelen enthüllten: sie wollten einander nicht sehen. Er war der erste, der die Augen schloß, mit aller Kraft, wie ein Henker, der von der Reue gepackt wird und der fühlt, daß sein Arm mitten im Schlage zittern müßte, wenn er seinem Opfer (statt es in seiner Wut noch aufreizender sich zu denken und dann mit aller Gewalt diese Wut an ihm zu befriedigen), wenn er seinem Opfer einen Augenblick ins Antlitz blicken und einen Augenblick lang den Schmerz dieses Wesens teilen müßte.

Die Nacht war gekommen, und noch war die Geliebte in seinem Zimmer, die Augen traurig und tränenlos. Wortlos ging sie, seine Hand mit leidenschaftlicher Traurigkeit küssend.

Doch er konnte nicht schlafen. Hatte er sich auf einen Augenblick beruhigt, dann faßte ihn ein neuer Schauer, wenn er die flehenden, verzweifelten Augen des sanften Opfers auf sich gerichtet fühlte. Plötzlich sah er sie vor sich, wie sie schlaflos dalag und sich unsagbar einsam fühlte. Er kleidete sich an, ging leise bis zu ihrem Zimmer, wagte kein Geräusch zu machen, um sie nicht zu wecken, wenn sie schliefe; aber ebensowenig fand er den Mut, in sein eigenes Zimmer zurückzukehren, wo Himmel und Erde und seine Seele ihn mit ihrem Gewicht erdrückten. Er blieb da, an der Schwelle des Zimmers der jungen Frau, und fühlte in jedem Augenblick, nun sei seine Kraft am Ende, und er müsse zu ihr. Dann erschreckte ihn der Gedanke, daß er dieses sanfte Vergessen zerstören sollte (denn sie schlief mit tiefem Atmen, dessen sanftes Gleichmaß er fühlte). Weshalb sie grausam der Reue und Verzweiflung ausliefern, während sie jetzt sich in den Schlaf geflüchtet hatte? So blieb er denn an der Schwelle, er saß, er kniete, manchmal lag er da. Am Morgen kehrte er in sein Zimmer zurück, verfroren und beruhigt; schlief lange und erwachte ausgeruht und voller Wohlbefinden.

Sie sannen beide auf Mittel, um ihr Gewissen zu beruhigen, sie gewöhnten sich an die Reue, die schwächer und schwächer wurde, an die Freude, die auch an Glanz abnahm, und als er nach Sylvanien zurückkehrte, blieb ihm wie ihr von diesen brennenden und grausamen Augenblicken nur noch ein sanftes, etwas kühles Gedenken.

III

Inhaltsverzeichnis

Seine Jugend macht so viel Lärm; er hört nichts.

Mme. de Sévigné

Als Alexis an seinem vierzehnten Geburtstag seinen Onkel Baldassar besuchte, fühlte er nicht, wie erwartet, noch einmal das heftige Ergriffensein des vergangenen Jahres.

Die vielen langen Ritte auf dem Pferd, welches der Onkel ihm geschenkt hatte, hatten seine Körperkräfte straff entwickelt, seine Schlaffheit überwunden. Jetzt durchströmte ihn die ununterbrochene Empfindung von Gesundsein, die sich der Jugend hinzugesellt als das unklare Bewußtsein der unermeßlichen Tiefe ihrer tausend Quellen und der Macht ihrer frischen Freude. Er fühlt im Winde, den sein Galopp erweckt, die Brust einem Segel gleich sich spannen, sich ausweiten, er fühlt den Körper aufglühen, gleich einem Winterfeuer. Wie kühl streicht es um die Stirn, wie sanft berühren die fliehenden Blätter den Vorbeijagenden! Er fühlt, wie dieser Körper dann daheim unter dem kalten Wasser stramm wird – um dann zu schlafen, lange, in genießerischem Verdauen. So steigerte er in sich die lebendigen Kräfte des Daseins, die einst auch Baldassars unruhvoller Stolz gewesen waren. Nun aber hatten sie sich von jenem auf immer geschieden, um jüngere Seelen zu erfreuen, welche sie doch auch eines Tages verlassen mußten.

Keine Faser in Alexis konnte mit der Schwäche seines Onkels zugrunde gehen, nichts in ihm konnte mitsterben bei Baldassars baldigem Tod. Das Blut sauste zu freudevoll in seinen Adern, seine Wünsche brausten zu jugendfroh in seinem Kopfe. Wie sollte er das Klagen, das Verlöschen des Kranken hören? Alexis war mitten in der glutvollen Periode, wo der Leib mit so kräftiger Energie daran arbeitet, seine Paläste zwischen dem Ich und der Seele aufzubauen, bis diese Seele endlich ganz verschwunden zu sein scheint. Aber verschwunden bloß bis zu dem Augenblick, da Krankheit oder Leid in langsamer Arbeit die schmerzhafte Spalte gebohrt haben, an dessen Ende sie wiedererscheint. Er hatte sich an die tödliche Krankheit seines Onkels gewöhnt, wie an alles, was rings um uns dauert. Obwohl Baldassar noch lebte, hatte er Alexis einmal zu Tränen gerührt, wie uns die Toten weinen lassen. So spielte er in Alexis' Dasein nur die Rolle eines Abgeschiedenen, denn Alexis begann ihn zu vergessen.

Als sein Onkel ihm an diesem Tage sagte: »Mein kleiner Alexis, ich schenke dir den Wagen gleichzeitig mit dem zweiten Pferd«, hatte er verstanden, daß sein Onkel dachte: »Denn sonst kann es so werden, daß du den Wagen niemals bekommst«, und er wußte, daß es ein sehr trauriger Gedanke war. Aber er empfand ihn nicht so, denn im gegebenen Augenblick gab es in ihm keinen Raum für tiefen Schmerz.

Einige Tage danach machte beim Lesen folgende Szene großen Eindruck auf ihn: Es war die Schilderung eines Bösewichts, den auch die ergreifendsten Zärtlichkeiten eines Sterbenden, der anbetend zu ihm emporsah, nicht rühren konnten.

Am Abend hatte er Angst, er selbst sei der Bösewicht, in dessen Gestalt er sich wiederzuerkennen glaubte; diese Angst ließ ihn nicht einschlafen. – –

Der Freiherr von Sylvanie konnte nun nur noch mit Mühe gehen, er entfernte sich gar nicht mehr aus dem Schloß. Seine Freunde und Verwandten verbrachten den ganzen Tag mit ihm; nun konnte er die tadelnswertesten Tollheiten bekennen, die dümmste Verschwendung gestehen, die widersprechendsten Paradoxien loslassen, das abscheulichste Laster aufweisen, ohne daß seine Verwandten ihm Vorwürfe zu machen oder seine Freunde sich einen Witz, einen Widerspruch zu erlauben wagten. Es schien, als sei man stillschweigend übereingekommen, ihn von jeder Verantwortlichkeit für seine Handlungen zu entbinden. Vor allem machte es den Eindruck, als wollte man ihn verhindern, das letzte Knarren und Ächzen seines sterbenden Körpers mit eigenen Ohren zu vernehmen, und deshalb hüllte man ihn fast mit Gewalt in Watte oder versuchte durch Liebkosungen dies Schwere zu überwinden.

Er durfte jetzt lange und reizvolle Stunden tête-à-tête mit sich selbst verbringen, mit dem einzigen Gast, den er während seines Lebens zum Abendessen einzuladen vergessen hatte. Er fand seine melancholische Freude daran, seinen leidenden Körper aufzuputzen, seine Ergebung an das Fenster zu lehnen und das Meer zu betrachten. Rings um seine Todesszene setzte er einen Kreis von Bildern dieser Welt, von der er noch ganz erfüllt war, welche ihm aber die Entfernung (die ihren Scheidestrich dazwischen gesetzt hatte) schon mit unbestimmter Schönheit schmückte; und so glich diese Todesszene, im voraus ausgedacht, aber andauernd weiter retuschiert, einem Kunstwerk, ganz erfüllt von der heißesten Trauer. Schon erstand in seiner Phantasie sein Abschied von der Herzogin von Oliviane, seiner großen platonischen Freundin, deren Salon er beherrschte, obwohl die größten Herren, die berühmtesten Künstler und Literaten Europas dort versammelt waren. Es war ihm, als läse er schon die Beschreibung ihrer letzten Unterhaltung: »... Die Sonne war schon untergegangen, und das Meer, das man durch die Zweige der Apfelbäume erblickte, war malvenfarbig. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen schwebten am Horizont, so zart wie lichte welke Kränze, immer wechselvoll wie Klagen. Eine melancholische Reihe von Pappeln tauchte im Dunkel unter, ihre ergebenen Wipfel versanken, in einem Rosa leuchtend, wie es die Scheiben alter Kirchen haben. Die letzten Strahlen konnten nicht bis zu ihren Stämmen durchdringen und färbten bloß ihre Äste, die schattenhaften Balustraden mit Lichtgirlanden behängend. Die Brise vereinte den Duft von Meer, von feuchtem Blattwerk und von Milch. Nie war die Landschaft von Sylvanien tiefer mit wollüstiger Glut und mit der Wehmut des sanften Abends durchtränkt.«

»Ich habe Sie sehr geliebt, aber ich habe Ihnen wenig gegeben, mein armer Freund«, sagt sie zu ihm.

»Was sagen Sie, Oliviane? Sie mir wenig gegeben? Sie haben mir tausendmal mehr gegeben, als ich je erbeten habe, und wahrhaftig unvergleichlich mehr, als wenn die niederen Sinne ihren Anteil an unserer Zuneigung gehabt hätten. Sie waren nicht von dieser Welt, waren hoch wie eine Madonna, sanft wie eine Amme, so habe ich Sie angebetet, so haben Sie mich auf Ihren Armen gewiegt. Ich habe Sie mit einer Zuneigung geliebt, deren zartfühlende Klarheit durch keine Hoffnung auf Sinnenfreude getrübt wurde. Sie brachten mir dafür eine unvergleichliche Freundschaft, einen auserwählten Tee, ein Gespräch voll natürlicher Schönheit und frische Rosen – weiß ich noch, wieviel? ... Sie allein haben mit mütterlich beredten Händen meine im Fieber brennende Stirn kühlen können, haben Honig zwischen meine vertrockneten Lippen geflößt und schöne, edle Bilder in mein Leben gebracht.

Liebe Freundin, geben Sie mir Ihre Hände, ich möchte sie küssen ...«

Es gab für ihn nichts mehr auf der Welt als die Gleichgültigkeit Pias, einer kleinen Syrakuser Prinzessin, die er mit allen Sinnen und von ganzem Herzen liebte (sie aber war in unversiegbarer, toller Leidenschaft zu Castruccio entbrannt), diese Gleichgültigkeit war es, die ihn von Zeit zu Zeit an eine rauhere Wirklichkeit erinnerte. Er bemühte sich, diese Wirklichkeit schnell zu vergessen. Noch in den letzten Tagen hatte er sich mit ihr auf Festen gezeigt, so glaubte er seinen Rivalen zu demütigen; aber auch dort sah er, wenn sie an seinem Arme ging, in ihren tiefen Augen nur den Widerschein einer Liebe zu dem andern; und wenn sie sie ihm verbarg, so war es nur aus Mitgefühl mit dem Kranken. Und nun konnte er sogar das nicht mehr. Seine Beine gehorchten ihm so wenig, daß er sich nicht mehr öffentlich zeigen konnte. Doch besuchte sie ihn oft, und als sei sie in die große Sanftheitsverschwörung der andern eingeweiht und aufgenommen, wandte sie sich stets zu ihm mit besonderer, sinnreich ausgedachter Zärtlichkeit, die niemals, wie früher sonst, vom Schrei ihrer unwilligen Kälte oder von dem Geständnis ihres Zornes Lügen gestraft wurde. Ihre Sanftheit war anders als die aller übrigen Menschen, er fühlte sie als tiefe Beruhigung über sich dahinströmen, und so wurde er von ihr beglückt.

Als er sich aber eines Tages von seinem Stuhl erhob, um zu Tisch zu gehen, sah sein Diener in höchstem Erstaunen ihn viel besser gehen. Der Kranke ließ den Arzt kommen, der sich noch nicht entscheiden wollte. Am nächsten Tage ging er gut. Nach acht Tagen erlaubte man ihm auszugehen. Grenzenlose Hoffnung erfüllte seine Eltern und Verwandten. Der Arzt glaubte, eine einfache, heilbare Nervenkrankheit habe die Merkmale der allgemeinen Lähmung vorgetäuscht, und nun seien sie im Schwinden begriffen. Er teilte Baldassar seine Ansicht (noch zweifelte er im Grunde) als Gewißheit mit und sagte ihm: »Sie sind gerettet!« Der zum Tode Verurteilte war freudig ergriffen, als man ihm das Leben schenkte. Nach einiger Zeit hatte sich sein Befinden noch mehr gebessert, und eine scharfe Unruhe begann unter seiner Freude durchzubrechen, die durch diese kurze Gewohnheit schon abgeschwächt war.

Er war geschützt gewesen vor den Unbilden des Lebens, er hatte in einer gütigen Atmosphäre von Liebe und Wärme gelebt, von willensstarker Ruhe und frei schweifenden Gedanken, und da war im tiefsten, dunkelsten Seelengrunde die Sehnsucht nach dem Tode emporgekeimt. Noch ahnte er dies nicht, er fühlte nur eine unbestimmte Angst bei dem Gedanken, er müsse wieder zu leben beginnen, er müsse von neuem die Schläge des Schicksals, die er nicht mehr gewöhnt war, auf sich nehmen und müsse auf die Zärtlichkeiten, mit denen man ihn umgeben hatte, verzichten. Auch begriff er unklar, wie schlecht es war, sich in Freude oder in Taten zu verlieren, nun, da er sich kennengelernt hatte, sich, den brüderlichen Fremden. Während er die Boote das Meer durchfurchen sah, hatte er viele unbeschreibliche Stunden mit diesem Ich verplaudert, so weit entfernt, aber immer im Zauberkreise dieses »Ich« befangen. Es war ihm, als fühle er jetzt die Nostalgie, die Heimatsehnsucht nach dem Tode, und doch war der Tod ihm damals als ewige Stätte der Verbannung erschienen, als er sich damals dorthin gerufen fühlte.

Er äußerte bei irgendeiner Gelegenheit einen Gedanken, und Jean Galéas, der ihn als geheilt ansah, widersprach ihm heftig, lachte ihn aus. Seine Schwägerin, die ihn zwei Monate lang morgens und abends besucht hatte, kam zwei Tage lang nicht. Das war zuviel! Er war schon zu sehr des normalen Lebenslaufes entwöhnt, er wollte ihn nicht wiederaufnehmen! Denn dies Leben hatte ihn nicht mit seiner reizvollsten Seite zurückerobert.

Aber seine Kräfte kehrten wieder und mit ihnen alle seine Lebenslust: er ging aus, begann wieder zu leben, und seiner Existenz stand ein zweites Sterben bevor. Nach einem Monat erschienen die Symptome der allgemeinen Lähmung wieder. Nach und nach, wie schon das erstemal, wurde ihm das Gehen erst schwerer und dann unmöglich, und alles schritt so deutlich fort, daß er sich an seine Rückkehr zum Tode gewöhnen und nur Zeit gewinnen konnte, den Kopf zu wenden. Der Rückfall hatte nicht die Wirkung des ersten Anfalles; denn am Ende des ersten Anfalles hatte er begonnen, sich vom Leben zu lösen, nicht, um es in seiner Wirklichkeit zu umfassen, sondern um es anzusehen wie ein Bild. Jetzt war alles ins Gegenteil gewandelt; er zeigte sich immer eitler, aufbrausender, denn unerträglich brannte in ihm das Verzichtenmüssen auf Freuden, die er nicht mehr genießen konnte.

Nur seine Schwägerin, an der er zärtlich hing, brachte seinem Ende etwas Freude. Sie kam mehrmals am Tage und Alexis mit ihr.

Als sie eines Nachmittags zum Freiherrn fuhr, gingen kurz vor dem Ziele ihre Pferde durch: sie wurde heftig zu Boden geschleudert, von einem vorbeigaloppierenden Mann überritten und bewußtlos, mit einer riesigen Schädelwunde, zu Baldassar getragen.

Der Kutscher, der nicht verwundet war, brachte sofort die Nachricht des Unfalles dem Freiherrn, der sie erblassend empfing. Er hatte die Zähne zusammengebissen, seine Augen brannten und traten aus den Höhlen, und in einem fürchterlichen Wutausbruch beschimpfte er den Kutscher lange; doch es schien, als wollten diese brutalen Ausbrüche nur ein schmerzvolles Rufen verbergen, das sich, sobald die Ausbrüche schwiegen, leise vernehmen ließ. Es war, wie wenn ein Müder, ein Kranker neben dem wutentbrannten Vicomte sein Leid klagte. Bald deckte diese Klage, die so schwach begonnen hatte, ihren Mantel über das Schreien seiner Wut, und er brach schluchzend auf einem Stuhl zusammen.

Er wollte sich das Gesicht waschen lassen, um seine Schwägerin nicht durch die Spuren seines Schmerzes zu beunruhigen. Der Diener schüttelte traurig den Kopf; die Kranke hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Der Freiherr verbrachte zwei verzweifelte Tage und Nächte bei seiner Schwägerin. Sie konnte jeden Augenblick sterben. In der zweiten Nacht unternahm man einen äußerst kühnen Eingriff. Am Morgen des dritten Tages war das Fieber gesunken, und die Kranke lächelte Baldassar an, der seine Tränen nicht mehr halten konnte und vor Freude sich ausweinte. Als der Tod nach und nach zu ihm gekommen war, hatte er ihn nicht sehen mögen. Nun war er Angesicht zu Angesicht vor ihm gestanden. Der Tod hatte ihn mit Grauen erfüllt, als er das bedrohte, was Baldassar am teuersten war; doch dieser hatte ihn angefleht und hatte ihn gerührt.

Er fühlte sich stark und frei, stolz in dem Bewußtsein, sein eigenes Leben sei ihm nichts gegen das seiner Schwägerin, und er wußte in sich ebensoviel Verachtung für den Tod wie Mitleid mit der geliebten Frau.

Jetzt war es der Tod, dem er ohne Schleier ins Auge sah, und nicht die Szenen, die sein Ableben umgaben. So wollte er bis zum Ende bleiben, wollte nicht von der Lüge wiederergriffen werden, die ihm für den Preis einer schönen und feierlichen Sterbeszene alles entweiht und in den Staub gezogen hatte, die Geheimnisse seines Todes beschmutzend, wie sie ihn um die Geheimnisse seines Lebens betrogen hatte.

IV

Inhaltsverzeichnis

Morgen, und morgen, und dann wieder morgen, Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt; Und alle unsre Gestern führten Narrn Den Pfad des stäub'gen Tods. – Aus! kleines Licht! – Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht Sein Stündchen auf der Bühn' und dann nicht mehr Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, Das nichts bedeutet. –

Shakespeare, Macbeth

Die Aufregung und die Ermüdung Baldassars während der Krankheit seiner Schwägerin hatten den Lauf seines Leidens beschleunigt. Er hatte soeben von seinem Beichtvater erfahren, daß er nur noch einen Monat zu leben habe; es war zehn Uhr morgens, und es regnete in Strömen. Ein Wagen hielt vor dem Schloß. Es war die Herzogin Oliviane. Einst hatte er sich kunstvoll die Szene seines Todes ausgeschmückt:

»... Es wird ein heller Abend sein. Die Sonne ist gerade untergegangen, und das Meer, welches man durch die Zweige der Apfelbäume erblickt, wird malvenfarben sein. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen werden am Horizont schweben, so zart ...«

Es war zehn Uhr morgens, der Himmel niedrig und schmutzig, der Regen goß in Strömen, als die Herzogin Oliviane kam. Er war ermüdet durch seine Krankheit, bereits einer höheren Welt ganz hingegeben; da fühlte er die Anmut der Dinge nicht, die ihm früher als der höchste Preis, als der Zauber und der feinste Triumph des Lebens erschienen waren. So ließ er der Herzogin sagen, er sei zu schwach. Sie wollte darauf bestehen, aber er mochte sie nicht empfangen. Es geschah nicht einmal aus dem Gefühl der Pflicht; sie bedeutete ihm nichts mehr. Schnell war es dem Tode gelungen, diese Sklavenbande zu lösen, die er vor einigen Wochen noch gefürchtet hatte. Er versuchte an sie zu denken, aber sah nichts vor sich erscheinen; denn die Augen seiner Phantasie und seiner Eitelkeit waren geschlossen.

Trotzdem konnte kurz vor seinem Tode eine Bemerkung über einen Ball bei der Herzogin von Bohême seine wütende Eifersucht erwecken. Denn auf diesem Ball sollte Pia mit Castruccio, der am folgenden Tag nach Dänemark fuhr, den Kotillon führen. Er bat, man möge Pia kommen lassen; seine Schwägerin war nicht ganz dafür. Er glaubte, man wolle ihn verhindern, sie zu sehen, man verfolge ihn, er geriet in Wut, und um ihn nicht zu quälen, ließ man sie sofort holen.