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Die bewegendste Australien-Saga seit »Land der Dornen«!
Traurig und gedemütigt verlässt Rosemary die Stadt, um sich in der Abgeschiedenheit des australischen Farmlands auf sich selbst zu besinnen. In Farmhelfer Jim findet sie eine starke Schulter. Sie beide wissen, dass ihre Liebe keine Zukunft hat, und doch gehen sie das Wagnis ein. Sie sind glücklich – bis das Schicksal erneut mit aller Macht zuschlägt …
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Seitenzahl: 494
Der Junge hörte das Muhen der Kühe, die in den schlammigen Pferchen bei den Docks nach ihren Kälbern riefen. Er atmete ihren Duft und die schneidende Meeresbrise ein, als wäre es Gottes schönstes Parfüm. Jack schnaufte in einem tiefen Seufzer aus. Dann rannte er auf die Docks zu, duckte sich dabei unter den Mäulern der Zugpferde weg und schlängelte sich zwischen Ponys und Karren durch, die sich auf der breiten Straße vorbeischoben. An den Höfen kletterte Jack auf den Lattenzaun, um das Vieh zu begutachten, das nervös in den Pferchen herumlief.
»Also, wenn das nicht mein junger Viehtreiber-Lehrling Jack Gleeson ist«, begrüßte ihn der alte Albert vom Pferch her, während sein kleiner Terrier aufgeregt die schlammigen Stiefel umtanzte. Hinter ihm stand Mark Tully. Jack konnte nicht anders, er beneidete Mark zutiefst. Mark musste kaum je zur Schule und brachte die Tage meistens damit zu, unten am Hafen auszuhelfen.
»Hallo ihr zwei«, rief Jack zurück.
Albert hustete kratzend.
»Maria, Joseph und heiliger Jesus. Ich muss heute bei Gott schwer für meinen Whisky arbeiten«, keuchte er. »Einen Penny für deine Gedanken. Was hältst du von diesen Tieren, Junge?«
Jack ließ den Blick über die Rinder wandern.
»Die meisten sehen gut aus, aber die da , die da würde ich nicht nehmen.« Jack deutete auf eine kleine Färse dicht am Zaun. »Die hat einen Kopf wie ein Sumpftroll, und ihre Zitzen sitzen ganz falsch am Euter.«
»Ah, gut gesprochen. Ich bin ganz und gar deiner Meinung. Und die hier? Was sagst du zu der?« Er deutete mit dem abgewetzten Treiberstock auf eine kleine schwarze Färse mit glänzenden, hochgedrehten Hörnern.
»Die ist in Ordnung.«
»Von wegen in Ordnung.« Albert ließ den Stock auf den Rumpf der Kuh knallen. »Mit diesen schmalen Stelzen wird sie sich beim Kalben verflucht schwer tun. Vor solchen wie ihr musst du dich in Acht nehmen, Jack. Das ist so, wie wenn du eine Frau anschaust – du brauchst die Gabe, unter ihre Kleider zu schauen oder noch besser unter ihre Haut, um zu sehen, ob sie wirklich gut für dich ist.«
Jack wusste nicht genau, wie Albert das meinte, aber er sah sich die Färse noch mal genauer an und nickte.
»Wo gehen die hin?«
»Die gehen überhaupt nicht – die kommen. Die sind den ganzen Weg über die sieben Weltmeere gesegelt und werden jetzt noch Hunderte von Meilen über die Straße bis nach Glenelg getrieben. Wenn du mich fragst – was die meisten Leute nicht tun – würde ich solche Rinder wie die hier nicht um die halbe Welt schicken, jedenfalls nicht so eine zusammengewürfelte Herde wie diese. Es ist eine echte Kunst, Gottes Vieh auszulesen, Jack, und manche von diesen Fatzkes daheim im Mutterland passen einfach nicht auf, was uns der Herr da alles zusammengepackt hat. Die sind viel zu beschäftigt mit ihren Papieren, ihren Stammbäumen und Rassen, als dass sie mit bloßem Auge ein gutes Rind erkennen könnten. Das ist eine Kunst, die ihr beide erlernen müsst, du und Mark, wenn ihr tatsächlich Viehtreiber werden wollt, so wie ihr immer sagt.«
Jack bemerkte zwei Männer, die auf sie zugeritten kamen. Es waren große, breitschultrige Männer, die locker auf ihren trabenden Pferden saßen. Ihre Satteltaschen waren prall gepackt, und jeder der vielen Sattelringe war behängt. Mit einer Bettrolle, einem Trinkbecher, einem kleinen Henkelmann mit Tee und Mehl. Für den langen Viehtrieb bepackt. Jack spürte, wie sein Herz schneller schlug. Arthur tippte mit dem Stock gegen Jacks Knie und nickte zu den Männern hin.
»Die beiden Burschen haben diese Gabe – sieh sie dir an. Schau dir ihre Pferde an, sieh dir die Hunde an. Schau zu, wie ruhig sie die Herde über die volle Straße treiben.«
Der Hund des Treibers jagte herbei, um Alberts Terrier zu inspizieren. Neugierig umkreiste der große schwarze Hirtenhund den Kleinen mit dem drahtigen Fell. Beide beschnüffelten das Hinterteil des anderen. Der schwarze Hund hatte die Rute hoch nach oben gereckt, während Alberts Hund seine flach und schnell hin und her wedelte.
»Siehst du die Hunde, Bursche? Siehst du, wie sie sich gegenseitig am Arsch schnüffeln? Weißt du, warum sie das machen?«
»Nein«, sagte Jack, leicht vorgebeugt und begierig, mehr von dem alten Mann zu lernen.
»Vor langer, langer Zeit, als Gott genau diese Erde erschaffen hat, auf der ich jetzt stehe.«
Albert rückte näher an Jack heran und senkte die Stimme.
»Also«, begann er. »Gott war schon tagelang am Arbeiten. Immerzu am Erschaffen und Erschaffen. Am zehnten Tag wurde ihm die ganze Sache allmählich langweilig, und so dachte Er bei sich, Er könnte sich ein kleines Späßchen machen… nur um ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen. Also nahm Er allen Hunden die Arschlöcher weg.« Albert zupfte mit Daumen und Zeigefinger an der Luft. »Dann warf Er sie alle in einen großen Sack und schüttelte ihn gehörig durch.« Albert schüttelte seinen imaginären Sack. »Oh, Gott lachte sich halb tot, als Er das tat – Er fand, das war ein prächtiger Scherz. Also, nachdem Er alle Arschlöcher durcheinander geschüttelt hatte, setzte Er sie den Hunden wieder hinten dran. Und seither, mein Junge, beschnüffeln die Hunde gegenseitig ihre Arschlöcher, wenn sie sich begegnen, weil sie hoffen, dass sie irgendwann ihr eigenes wiederfinden…«
Albert sah Jack stirnrunzelnd an, dann schlug er ihm aufs Bein und begann gleichzeitig zu keuchen, zu husten und zu lachen.
»Ha! Kapiert, Bursche? Von mir kannst du alles lernen, was du über Tiere wissen musst, glaub mir! Ha ha!«
Albert humpelte fort, um den Pferch zu öffnen. Der berittene Treiber pfiff, der schwarze Hund vergaß, weiter nach seinem Hinterteil zu suchen, und kreiste die Färsen ein, um sie durch das Tor zu treiben. Jack schaute zu, wie Mensch und Tier in wortlosem Einklang aus dem Ort abzogen in jenes Land, nach dem sich Jack so sehnte. Dann drehte er sich um, denn der Wind trug die Stimme seiner Tante Margaret heran, die auf dem mit Vorräten beladenen Karren saß, bereit für die Heimfahrt nach Codrington. Jack stieg vom Zaun und rannte zu seiner Tante, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben und das Gesicht in grimmige Falten gelegt.
»Suchen nach ihrem Arschloch, leck mich doch«, brummelte er in dem breitesten irischen Akzent, den er zustande brachte.
Rosemary Highgrove-Jones visierte den Hund durch den Sucher ihrer Kamera an. Sie lachte leise und drückte dann auf den Auslöser. Klick. In der drückenden Hitze, inmitten der Eukalyptusbäume und betrunkenen Zuschauer beim Pferderennen hatte sie das Bild eines vorwitzigen Jack Russells eingefangen, der an Prudence Beatons stämmiges Bein pinkelte. Gelber Urin durchtränkte Prues beige Strumpfhose, während sie höflich und ahnungslos an ihrem ebenso gelben Chardonnay nippte.
Der Jack Russell sah zufrieden aus, reckte den Stummelschwanz zum Himmel und wirbelte mit seinen festen Beinchen vertrocknetes Gras und Staub auf. Danach wandte er seine Aufmerksamkeit Prues Malteser zu. Die beiden kleinen Hunde standen Schnauze an Schwanz beieinander, fast wie Yin und Yang, und begannen sich langsam im Kreis zu drehen, ohne sich um den Trubel über ihren Köpfen zu scheren. Rosemary hatte schon wieder die Kamera erhoben, um ihre Hinternschnüffelei auf den Film zu bannen, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte.
»Rosemary Highgrove-Jones! Was in Gottes Namen tust du da?«, zischte Margaret und drückte die Kamera energisch nach unten. »Du bist zum Arbeiten hier! Duncan verlässt sich auf dich! Du wirst ihn doch nicht wieder enttäuschen, oder?«
»Warum machen sie das wohl, Mum?«
»Was?« Margaret legte die Stirn in Falten.
Rosemary nickte zu den Hunden hin. »Sich gegenseitig am Hintern beschnüffeln.«
»Aber Rosemary!« Margaret Highgrove-Jones umklammerte den Ellbogen ihrer Tochter wie mit einer Schraubzwinge und schob Rosemary auf das VIP-Zelt zu. »Jetzt komm, da drin gibt es ein paar Gäste, die es kaum erwarten können, ihr Gesicht in der Gesellschaftskolumne zu sehen.«
Margaret stand groß, schlank und aufrecht auf ihren Keilabsätzen und schien ihre Tochter weit zu überragen. Rosemary kniff die Augen zusammen, weil die Sonne so im rostfarbenen Organzakleid ihrer Mutter gleißte, und sang leise vor sich hin: »Wer die Gesellschaftsseite macht, darf nicht ungesellig sein, wer die Gesellschaftsseite macht, darf nicht ungesellig sein.«
»Und jetzt stellen wir uns alle für ein hübsches Foto im Chronicle auf«, kommandierte Margaret, die gleich darauf eine Gruppe älterer Damen zusammengetrieben hatte, die in ihren eleganten Blazern schwitzten.
Rosemary hob die Kamera und ließ ihr Auge über die Frauen wandern. Ihre Mutter posierte vorn in der Mitte der Gruppe wie eine blonde Jackie Onassis. Klick. Rosemary griff zu Stift und Notizblock, um sich hastig zu notieren, wer auf dem Foto war. Wie die Namen geschrieben wurden, brauchte sie nicht zu erfragen. Die Viehzüchter-Gattinnen gehörten bei allen Feiern ihrer Mutter zum festen Inventar.
»Hättest du trotz deiner gesellschaftlichen Verpflichtungen Zeit für ein Gläschen Schampus?« Margaret schwenkte eine Sektflöte in ihre Richtung.
»Geht leider nicht«, sagte Rosemary. »Ich muss Sam beim nächsten Rennen zuschauen.«
Rosemary schlenderte durch die Menschenmenge zur Rennbahn hinüber. Die Männer, die auf einem schmuddeligen Teppich von wertlosen Wettscheinen standen, wandten kurz den Blick von den Schiefertafeln mit den Wettquoten über den Kabinen der Buchmacher ab, um dem hübschen Mädchen nachzuschauen. Manche von ihnen trugen nur Shorts und die liebevoll »Blunnies« genannten Blundstone-Lederstiefel zu ihren Sonntagsjacketts. Andere hatten zwar einen vollständigen Anzug angelegt, dafür aber die Ärmel hochgekrempelt und die Krawatten gelockert. Etwas entfernt von den Buchmachern und Glücksrittern hockten auf einem Sofa, das auf der Pritsche eines Lieferwagens montiert war, ein paar Bier trinkende Jungs in Jeans, blauen Trägerhemden und schwarzen Hüten. Sie umklammerten Dosen, die in kühlenden Schutzhüllen aus Neopren steckten, während aus den Boxen des Pick-ups Lee Kernaghans Lieder schepperten. Einer von ihnen pfiff Rosemary nach, als sie an ihnen vorbeiging. Verlegen wandte sie sich ab und kam ins Stolpern, weil eine grüne Mülltonne auf Rädern an ihr vorbeirollte. Ein untersetzter Bursche stand aufrecht in der Tonne wie Russell Crowe in seinem Gladiator-Streitwagen. Er reckte seine Bierdose empor und brüllte: »Attacke!«, woraufhin ihn sein Kumpel im Galopp über den holprigen Boden und durch die auseinander stiebende Menge schob. Rosemary schaute den beiden nach, bis sie außer Sichtweite waren. Als sie sich wieder umdrehte, blickte sie in das ernste Gesicht ihres Vaters.
Gerald Highgrove-Jones stand erhaben wie ein hoch gewachsener grauer Eukalyptus bei mehreren anderen Herren aus der »Tweedmantel-Brigade«. Dies waren die Männer aus dem Bezirk, die nie die Krawatte lockerten, so heiß es auch werden mochte und so viel sie auch getrunken hatten. An den dicken wollenen Aufschlägen ihrer Jacketts prangten gut sichtbar die Aufnäher der Landwirtschaftsausstellung. Unter ihnen stand auch, die langen schlanken Beine von einer ledernen Hose umhüllt, ihr Bruder Julian. Wie üblich wirkte er mürrisch und gelangweilt. Genau wie Gerald überragte er alle anderen Männer, aber statt aufrecht zu stehen, schien er in sich zusammenzusinken, so als wollte er sich verstecken.
Rosemary winkte ihm im Vorbeigehen zu, und Julian winkte zurück, nicht ohne die Augen zu verdrehen, um ihr zu zeigen, wie öde er das alles fand. An der Abtrennung zur Rennbahn ließ sie den Blick über die vertrauten Gesichter in der Menge wandern. Genau wie Julian hatte sie sich bemüht, sich anzupassen. Jedes Jahr versuchte sie aufs Neue, sich auf die anstehenden Rennen zu freuen. Schon Wochen im Voraus setzte unter den Damen im Distrikt ein Trommelfeuer von Telefonaten ein. Wer sollte die Vorspeisen zubereiten? Lachs oder Shrimps in den Blätterteigpasteten? Torte im Karamellmantel oder Kokoseis? Sie versuchte, sich für die Kleider im neuesten Katalog von Maddison Et Rose zu begeistern und sich ausgiebig und euphorisch zu den Ausflügen zu äußern, die ihre Mutter dafür nach Melbourne zu Laura Ashley oder Country Road unternahm. Margaret strebte danach, ihr ganzes Leben perfekt nach dem Country Style-Magazin zu modellieren. Aber Rosemary und »perfekt« passten einfach nicht zusammen.
Sie schaute an ihrem frisch geplätteten weißen Leinenkleid hinab, das mit Kornblumen und Margeriten bedruckt war. Es war extra aus Melbourne geliefert worden und hatte eine Stange Geld gekostet. Immerhin hatte Sam gesagt, dass sie nett aussah. Jetzt hielt sie auf dem abgesperrten Sattelplatz nach ihm Ausschau. Hübsche Mädchen in engen Jeans, Cowboyhüten und Trägerhemden beschäftigten sich konzentriert mit ihren Pferden, trugen Eimer herum, rückten das Zaumzeug zurecht oder rieben ihre Tiere mit groben Bürsten ab. Es waren Mädchen ihres Alters. Ein paar davon kannte sie noch aus dem Ponyclub, aber ihre Mutter hatte ihr das Reiten verboten, als sie ins Internat geschickt wurde. Seit sie wieder heimgekommen war, hatten die Mädchen praktisch nicht mit ihr gesprochen. Außer wenn sie mit Sam zusammen war.
Sie sah ihn am anderen Ende der Rennstrecke. Er ritt gerade mit einer ganzen Gruppe von Reitern auf die Startlinie zu. Die kurz gehaltenen Pferde hielten den Kopf gesenkt und peitschten nervös mit dem Schweif. Sams schwarzer Wallach Oakwood tänzelte im Kreis. Sam ritt wie ein Viehtreiber, nicht wie ein Jockey, und hatte wie immer, wenn er ein Buschrennen ritt, die Steigbügel länger geschnallt als die anderen Reiter. Rosemarys Blick kam auf Sams kräftigen, gebräunten Händen zu liegen, die lässig die Zügel hielten. Unter der braunen Haut wölbten sich die Adern. Auch bei Oakwood konnte man unter dem glänzenden Fell das Delta der Adern erkennen. Auf dem dunklen Fell leuchtete das für alle australischen Treiberpferde typische Kaltbrandzeichen. Rosemary spürte ein Kribbeln, sobald sie darüber nachsann, wie phantastisch Sam und Oakwood zusammen aussahen. Es war, als würden Mensch und Pferd das gleiche Blut teilen, als würden ihre Adern im Gleichklang pulsieren. Als die beiden näher kamen, stöckelte sie in ihren Highheels ans Gatter und rief ihm winkend zu:
»Viel Glück, Sam!«
Sam und Oakwood machten eine Drehung und kamen auf sie zugesprungen.
»Pass auf, dass du ein Siegesfoto von uns bekommst, Pooky!«, rief Sam. Seine dunkelbraunen Augen funkelten, und er zwinkerte ihr grinsend zu.
»Bestimmt!« Sie zwinkerte zurück. Sie konnte es nicht leiden, wenn er sie Pooky nannte, aber so war er eben. Sam der Unglaubliche. Eine einzige Augenweide bis runter zu den Boxershorts.
Hinter ihm auf der Bahn kam Jillian Rogers angeritten, deren langer, dunkler Pferdeschwanz hinter ihr her flog. Sie donnerte auf ihrer langbeinigen braunen Stute vorbei und rief Sam dabei zu: »Kommst du jetzt, um den Arsch voll zu kriegen, oder nicht?«
»Das wirst du bereuen, Rogers!«, rief Sam ihr lachend hinterher. »Bis später, Pooks.«
Rosemary konnte sehen, wie sich Oakwoods muskulöse Hinterhand unter Sam zusammenzog, als er Jillian Rogers nachsetzte.
»Viel Glück«, rief sie ihm hinterher, aber ihre Stimme wurde vom Wind verweht.
Rosemary fasste nach dem Verlobungsring an ihrem Finger und drehte ihn versonnen. Während sie den Saphir und das glatte Gold betastete, fragte sie sich wie so oft, wie es kam, dass von allen Mädchen im Distrikt ausgerechnet sie Sam Chillcott-Clark heiraten sollte.
Aus dem Lautsprecher knisterte die Stimme von Rosemarys Chef beim Chronicle. Duncan Pellmet hielt sich für einen begnadeten Ansager. Für den einen Tag im Jahr, an dem die Glenelg Bush Races stattfanden, hatte er sich eine ganz eigene nasale Stimme zugelegt.
»Nun denn, Ladys und Gents, ich heiße Sie nochmals willkommen zur Fortsetzung unseres sonntäglichen Buschrennens«, tönte Duncan. »Jetzt ist die Zeit gekommen für das Hauptevent des Tages — den Glenelg Stockman’s Cup — gestiftet von unserer hiesigen Zeitung, dem Chronicle. Dieses Rennen steht allen ortsansässigen Treibern und ihren Pferden offen. Und heutzutage, verehrtes Publikum, sind unter den ›Stockmen‹ auch Ladys – ganz recht, Jungs … also aufgepasst! Eine junge Dame, die in diesem Jahr nur schwer zu schlagen sein wird, ist Jillian Rogers auf ihrer Stute Victory. Allerdings tritt sie gegen den dreimaligen Gewinner Sam Chillcott-Clark auf seinem großartigen Wallach Oakwood an. Oakwood ist kein Unbekannter auf dieser Strecke oder bei den anderen Buschrennen. Er ist außerdem ein Champ beim Polocross, er war Zweiter beim National Stockman’s Challenge und hält sich ausgezeichnet bei den Viehtreiber-Wettbewerben überall im Land. Es ist kein Geheimnis, wen die Buchmacher als Favoriten führen …«
Das Lautsprechersystem begann zu pfeifen, als wollte es sich über Duncans Geschwafel beschweren. Aber kurz darauf schallte seine Stimme wieder durch die Lüfte und über ein Publikum hinweg, das ihm schon längst nicht mehr zuhörte.
»Äh … also, während sich die Reiter startbereit machen, noch eine private Durchsage … falls jemand meinen Jack Russell gesehen hat, soll er ihn bitte bei der Rennleitung abgeben … danke. Er hört auf den Namen Derek.«
Die Zuschauer verstummten gespannt, während sie darauf warteten, dass der berittene Rennleiter die Startflagge fallen ließ. Als die weiße Flagge unten war, jagten die Pferde am anderen Ende der Rennstrecke aus dem Stand los. Eine Gänsehaut lief über Rosemarys Rücken, und Duncan Pellmets aufgeregter Kommentar schien in ihrem Bauch zu vibrieren. Sie sah die Pferde in einer engen Gruppe durch den sommerlichen Hitzedunst galoppieren, den Staub aufwirbelnd und dahinfliegend wie ein einziges riesiges Ungetüm. Bis die Reiter um die Kurve und besser ins Blickfeld kamen, waren die langsameren Tiere zurückgefallen, Victory hatte sich gemeinsam mit Oakwood aus der Gruppe gelöst, und der Rappe und die braune Stute lieferten sich ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen. Sam beugte sich vor und zischte seinem Pferd etwas ins Ohr. Jilian, auf ihren kurzen Steigbügeln kauernd, spornte ihr Pferd mit kehligen Lauten an. Dann, nur ein paar Längen vor dem Ziel, schoss Duncans Jack Russell auf die Strecke und kläffte wie besessen die Pferde an. Oakwood hatte als erfahrenes Treiberpferd für den kleinen Hund kaum einen Blick übrig. Aber Jillians Vollblutstute, die eher ans Hindernisspringen als ans Viehtreiben gewöhnt war, warf den Kopf zurück und machte genau vor der Ziellinie einen Satz zur Seite. Sam hatte gewonnen. Die Menge brach in Jubel aus, und die Jungs mit der Mülltonne rannten auf die Rennstrecke, um den Hund wie einen Rugbyspieler zu Boden zu werfen.
Rosemary eilte zum Sattelplatz, wo Sam, das gebräunte Gesicht in Schweiß gebadet und den Helm unter den Arm geklemmt, den schwer atmenden Oakwood im Kreis führte. Er rief Rosemary zu sich.
»Hier! Jetzt mach dein Siegerbild für deine Zeitung!«
Sie visierte ihn durch den Sucher an. Da stand er, der sensationelle Sam mit seinem staubigen, verschwitzten Gesicht, dem breiten, blendenden Grinsen und den Augen, die bei jedem Lächeln kleine Fältchen legten. Und daneben sein Pferd mit hoch erhobenem Kopf, bebenden Nüstern und aufgestellten Ohren. Klick.
Sam machte einen Schritt auf Rosemary zu. »Kannst du ihn ganz kurz halten?«, fragte er.
Ehe sich Rosemary versah, jonglierte sie mit ihrer Handtasche, der Kamera und den schweißbedeckten Zügeln. Oakwood warf ängstlich den Kopf herum und kickte dabei Rosemarys Hut zur Seite. Dann spielte er mit der Gebissstange, sodass sie gegen seine Zähne klapperte. Ein langer Speichelstrang tropfte auf Rosemarys Arm. Der Wallach rollte wild mit den Augen und tänzelte auf seinen schwarzen Hufen.
»Ruhig, Junge.« Rosemary kam ins Straucheln, weil ihre Absätze in dem weichen Boden einsanken. Dann senkte Oakwood, als wollte er sie zum Schweigen bringen, den Kopf und rieb sein schweißiges, staubiges Gesicht an ihrem weißen Kleid. Sie schaute auf, suchte nach Sam und sah ihn in einer Ecke des Pferdebereichs stehen, eine Hand auf Jillians Schulter gelegt, die sich eben die Tränen vom Gesicht wischte. Sie hatte den Hut abgesetzt, und ihre dunklen Haare hatten sich gelöst, sodass sie über ihre kräftigen Schultern fielen. Sam beugte sich leicht vor, um ihr in die Augen zu sehen, und lächelte sie freundlich an. Dann sah er kurz zu Rosemary herüber, sagte noch etwas zu Jillian und kam zu ihr zurückstolziert, wieder mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht. Er nahm ihr die Zügel ab.
»Danke.« Dann machte er eine Kopfbewegung zu Jillian hin. »Eine schlechte Verliererin, die Kleine, aber es war wirklich nicht ganz fair. Duncans blöde Töle. Jedenfalls sollte ich den Jungen lieber abspritzen.« Ein schneller Kuss auf ihre Wange, und schon führte er sein Pferd weg.
»Wann sehen wir uns?«, rief Rosemary ihm nach.
Sam drehte sich um. »Die Jungs erwarten, dass ich einen auf meinen Sieg ausgebe. Es wird nicht lang dauern. Versprochen. Nur ein paar Bier im Pub.«
Rosemarys Gesicht fiel in sich zusammen. Sam kam zurück und nahm ihre beiden Hände.
»Also gut, nur ein Bier«, sagte er.
»Kann ich nicht mitkommen?«, bettelte Rosemary. »Du nimmst mich nie mit in den Pub.«
»Deine Mum würde mich in der Luft zerreißen, wenn ich dich mitnehmen würde. Du weißt, was sie davon hält. Außerdem habe ich mitbekommen, wie deine Mum ein paar von den Mädels auf einen Drink zu euch nach Hause eingeladen hat. Du kannst mit meiner Mum ein paar Chardonnays kippen und Hochzeitspläne schmieden, ein paar Sachen für deinen Einzug klären.« Er fuhr mit der Hand über ihre schlanke Taille. Rosemary rümpfte die Nase.
»Du bist so süß, wenn du den Pooky spielst, Pooky.« Er schob ihren Hut nach oben und gab ihr einen Schmatz auf die Stirn. Sie senkte den Blick auf ihre eingestaubten Highheels von Diana Ferrari.
»Na schön. Also verpiss dich«, schmollte sie.
»Wie bitte?«
»Ich sagte, verpiss dich!«
»Oh! Wie damenhaft!«, sagte Sam. »Ich habe gerade den Stockman’s Cup für dich gewonnen, und du lässt mich nicht mal mit meinen Kumpels in den Pub gehen! Willst du mir etwa einen Vorgeschmack darauf geben, wie es sein wird, wenn wir verheiratet sind? Ich dachte, du wolltest mit den Mädels heimfahren. Sie freuen sich schon darauf. Bist du dir vielleicht zu gut dafür?«
»Darum geht es nicht, Sam.«
»Worum dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das weißt du nie. Das ist dein Problem. Genau darum brauchst du mich!«
Er zog sie an seine Brust und sah ihr in die Augen.
»Warte nur, bis wir verheiratet sind. Wenn Mum und Dad erst in die Wohnung in South Yarra gezogen sind, hast du die ganze Homestead, um die du dich kümmern musst. Dann hast du gar keine Zeit mehr fürs ›Nichtwissen‹. Das wird perfekt. Du wirst schon sehen. Okay?« Damit küsste er sie zärtlich auf die Nase.
Sie nickte und lächelte zaghaft, aber glücklich war sie nicht. Sie seufzte. Er konnte jedes Mädchen haben, so sah es jedenfalls ihre Mutter, und er hatte sie auserwählt. Sie sah ihn in seinen engen Blue Jeans und seinem schweißfleckigen Hemd davonschlendern.
Froh, endlich allein zu sein, saß Rosemary in ihrem schmutzigen Kleid am Glenelg River und lauschte Duncans weit entferntem, monotonem Kommentar. Wütend wischte sie eine unerwartete Träne von ihrer Wange und fragte sich, warum sie wohl weinte. Alle Freundinnen ihrer Mutter predigten ihr, was für ein Glück sie hatte, mit Sam verlobt zu sein. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass ihrem Leben etwas fehlte. Sie träumte davon, ein einziges Mal selbst auf einer halben Tonne Muskeln über die Rennstrecke zu donnern, statt nur hinter der Absperrung zu stehen und zuzuschauen. Sie knickte einen Stock entzwei und warf ihn in den olivgrünen Fluss. Warum konnte sie nicht wie die anderen Mädchen sein, die heute Abend im Pub mit Sam zusammen sein würden, fragte sie sich. Warum wollte er sie nicht mitnehmen?
Sie drehte den Kopf in den Wind. Sie wünschte, er würde ihr eine Ahnung davon zutragen, wie ihre Zukunft aussehen würde. Aber der Wind hob nur die glatten, kurzen blonden Haare aus ihrem verschwitzten Nacken und kühlte die Tränen auf ihren Wangen. Bestimmt suchte ihre Mutter schon nach ihr. Sie schlug die Hände vor die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Plötzlich spürte sie etwas Warmes, Nasses auf ihrer Wange.
Erschrocken sah sie auf. Ein rotbrauner Kelpie saß neben ihr und versuchte, ihr die Tränen vom Gesicht zu lecken.
»Verzieh dich!«, sagte sie und schob den Hund behutsam zur Seite.
»Er meint es nur gut«, hörte sie eine Stimme in ihrem Rücken.
Sie drehte sich um und blickte auf die Silhouette eines Mannes, der ein Pferd am Zügel hielt. Im nächsten Moment trat er in den Schatten eines Eukalyptusbaumes, wo sie ihn besser erkennen konnte. Es war Billy O’Rourke.
»Magst du keine Hunde?«, fragte er.
»Nein! Doch. Ich meine schon, aber ich …«
»Du solltest Hunde mögen.«
Rosie schaute in Billies wettergegerbtes Gesicht auf. Er lächelte sie freundlich unter seinem breitkrempigen Hut hervor an. Die Zügel hielt er locker in den sonnengebräunten Fingern. Sie hatte Billy oft in Casterton am Fluss gesehen, wo er nervöse, noch unerfahrene Pferde einritt. Und jede Woche kam er in die Redaktion des Chronicle geschlendert, um den neuesten Bericht über den Viehmarkt einzureichen.
»Ich mag Hunde«, sagte sie.
»Das trifft sich gut, denn ich habe einen Job für dich. Bist du morgen in der Arbeit?«
»Ja.« Rosemary nickte. Leider, dachte sie bei sich.
»Gut. Bis dann.« Damit führte er sein Pferd weg.
»Moment! Was für ein Job soll das sein?«
Er drehte sich noch mal um und zwinkerte ihr zu. »Du wirst schon sehen.« Dann machte er sich auf den Rückweg zur Rennstrecke, leicht o-beinig und mit eingefallenen Schultern, die von jahrelangem Schafescheren in gebückter Haltung zeugten.
Der rotbraune Kelpie sah ihm nach, blieb aber an Rosemarys Seite sitzen. Er schob seine warme Schnauze unter ihre Hand, damit sie ihn streichelte. Sobald Rosemary seine samtigen Ohren kraulte, legte er das Kinn auf ihre Knie, blickte mit schokoladebraunen Augen zu ihr auf und seufzte.
»Was willst du denn?«, fragte Rosemary.
Dann pfiff Billy, und der Hund war weg.
Der Konvoi von eingestaubten Geländewagen ratterte über den Viehrost und durch die weißen Holzgatter der Highgrove Station. Rosemary saß neben Prudence Beaton eingeklemmt in Margarets neuem Pajero. Während der vierzigminütigen Fahrt nach Hause hatte sie versucht, das dezente Aroma von Hundeurin zu ignorieren, das von Prue ausging. Jetzt lehnte sie die Stirn gegen das Seitenfenster und schaute in die Sonne, die über den hohen, goldenen Hügeln jenseits des Tales unterging. Schafe wanderten im Gänsemarsch über die trockene Weide auf den Fluss zu, um sich einen Abendschoppen zu genehmigen. Sie hielten die Köpfe gesenkt, und das Vlies auf ihren Rücken glänzte golden in der Sonne.
Noch vor zehn Jahren hatten fünfzehntausend Merinoschafe auf den viertausend Hektar der Highgrove Station geweidet. Die Station war eine der ältesten Zuchten für Merinos und Hereford-Rinder in Australien. Die Merinos hatten sich wie ein endloser Fluss durch den aus grauem Sandstein erbauten Scherstall geschoben und ein Gebirge aus heller, wunderschön gelockter Wolle zurückgelassen, das sich bis zu den dunklen Dachbalken türmte. Doch im Lauf der Jahre hatte das Geschäft nachgelassen. Inzwischen waren die Herden nicht einmal mehr halb so groß wie während Highgroves Blütezeit.
Mit einem stillen Seufzen dachte Rosemary an die aufregenden Zeiten zurück, als der Ruf ihrer Familie als Merinozüchter im Zenit gestanden hatte. Damals heimste ihr Vater für seine Zuchthammel einen Preis nach dem anderen ein, und die Frauen liebten ihn dafür. Sie drängten sich in ihren Röcken mit Black-Watch-Tartanmuster und ihren mit Goldschnallen besetzten blauen Schuhen um ihn, befingerten den fransigen Saum des Siegesbandes und gurrten ihm zu, wie schlau er sei. Ihre in Tweed gewandeten Ehemänner buhlten um einen festen Händedruck von Gerald und boten lächerlich hohe Geldsummen für seine Hammel. Und mittendrin, stets an Geralds Seite, war Julian. Er war der ewige Stallbursche und hielt die unwilligen Schafe an der Wamme, während die Preisrichter stundenlang über die endgültige Platzierung berieten. Rosemary hatte jedes Mal darum gebettelt, aushelfen zu dürfen, aber ihr Vater hatte immer abgelehnt.
»Du bist einfach noch zu klein, um die Widder zu halten«, hatte ihr Gerald einmal erklärt. »Stell dir nur vor, was für einen Aufruhr es geben würde, wenn dir einer entkäme – das könnte uns den ersten Platz kosten.«
Stattdessen wurde sie von Margaret in Laura-Ashley-Kleidchen gezwängt und Jahr für Jahr dazu verdonnert, sich an der Handarbeits- und Gartenausstellung zu beteiligen. Hier explodierten die Blumen ihrer Mutter in strahlenden, üppigen Blüten, die kein Preisrichter übersehen konnte. Die geschmeidige Konsistenz von Margarets Schokoladekuchen und ihre goldenen Scones sicherten ihr Jahr für Jahr ein blaues Band in beiden Kategorien, Preisgelder in Höhe von fünfzig Cent und die Lobeshymnen der anderen Frauen im Distrikt. Aber dann begannen die Wollpreise zu fallen. Immer weniger Käufer lockten Gerald in eine stille Ecke des Pavillons, um ihm einen Handel vorzuschlagen. In den einst so geschäftigen Schurhütten auf Highgrove wurde es still, und die Hammel wurden allesamt auf die Weide geschickt, wo sie für sich selbst sorgen mussten. Die Helfer, »Jackaroos« genannt, zogen auf andere Farmen weiter, neue wurden nicht eingestellt, der Stallmeister erhielt seine Entlassungspapiere, und über die Siegesbänder aus Filz, die von den Dachsparren des Hammelstalls hingen, webten die Spinnen ihre silbernen Netze. Inzwischen huschten nur noch Mäuse und Ratten auf und über die Gitterroste, denen heute nur noch ein leichter Hauch von Lanolin anhaftete.
Ohne den Verfall der Farm zur Kenntnis zu nehmen, strebte der Konvoi schnatternder Ladys aus der Flussniederung dem großen alten Haupthaus auf der Hügelkuppe entgegen. Der zweistöckige Backsteinbau badete in der Abendsonne, und die breite Veranda legte einen fast streng wirkenden Schatten rund um das Gebäude. Mächtige Eukalyptusbäume reckten ihre Glieder elegant über die hohe schmiedeeiserne Einfahrt, die von Prestige und hohem Ansehen zu künden schienen. Es war eine hohle Geste, dachte Rosemary, als die Autos über den Viehrost darunter holperten. Sie hatte ihren Vater gebeugt in seinem Arbeitszimmer stehen und über den Kontoauszügen brüten sehen. Trotzdem kochte ihre Mutter immer noch kesselweise Gourmetspeisen und organisierte eine Party nach der anderen, so als wäre alles wie immer.
Fette Geländewagenreifen knirschten auf die runde Kiesauffahrt, die von einem perfekt gemähten englischen Rasen eingefasst war. Hier purzelten die Ladys beduselt, verknittert und verkatert aus den Autos. Alle konnten es kaum erwarten, in die kühlen Mauern des Haupthauses zu gelangen und Margarets Gastfreundschaft zu genießen.
Rosemary hing zusammengesunken in dem mit Chintz bezogenen Lieblingssessel ihrer Mutter im Salon und rieb an den Flecken, die Oakwood auf ihrem Kleid hinterlassen hatte. Während sie zuschaute, wie die Frauen Wein trinkend und kichernd herumschwirrten, fragte sie sich, was Sam wohl gerade trieb und wann er heute Abend anrufen würde.
»Wie steht es mit dir, Rosemary? Noch etwas Chardonnay?«, fragte Prue Beaton, die jede Sekunde ihr nachtblau und knallrosa Seidenkostüm von Anna Middleton zu sprengen drohte. Prue senkte ihren ausladenden Allerwertesten auf die Armlehne von Rosemarys Sessel und goss noch mehr Wein in ihr schon volles Glas. Sie beugte sich so weit vor, dass Rosemary die winzigen Schweißperlen auf ihrer Oberlippe sehen konnte. Erst begann Prue zu kichern, dann sagte sie:
»Hast du vor, deinen Namen zu behalten, wenn du Sam Chillcott-Clark heiratest, so wie es inzwischen modern ist?«
»Warum nehmt ihr nicht einfach einen Doppelnamen?«, zwitscherte eine andere Lady.
»Au ja!«, quiekte Prue. »Perfekt! Rosemary Chillcott-Clark-Highgrove-Jones! Oder Rosemary Highgrove-Jones-Chillcott-Clark! Klingt das nicht bedeutend?«
Margaret servierte lächelnd ein Tablett mit Atlantiklachs und Kapern auf knusprigem, selbst gebackenem Brot.
»Der Name ist fast so lang, wie es die Zäune sein werden, wenn die beiden Güter erst zusammengelegt werden«, sagte Prue, und die Ladys kippten vor Lachen fast vom Stuhl.
Nicht lang danach entschuldigte sich Rosemary leise. Mit einem stillen Seufzen stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Rosemarys Zimmer war ihr Zufluchtsort, obwohl es ihr zeitweise eher wie ein Gefängnis erschien. Auf der einen Seite führten hohe Glastüren auf einen breiten Balkon mit Blick auf den Vordergarten und darüber hinaus bis ins Flusstal. Der Ausblick von der Veranda schien sie zu verhöhnen und führte ihr vor Augen, wie gefangen sie sich in diesem Haus fühlte, in dem sie von der herrischen Stimme ihrer Mutter hierhin und dahin gezerrt wurde, als wäre sie an der Leine. Weil Rosemary spürte, wie sich schon wieder tiefe Melancholie breit zu machen drohte, durchquerte sie den Raum und trat an das tiefe Erkerfenster auf der anderen Seite. Das breite hölzerne Fensterbrett war der perfekte Fleck, um auf den gepflasterten Hof zu schauen. Von hier sah sie auf das steinerne Bogentor, wo früher die Landarbeiter in ihren rostigen Wagen angekommen und abgefahren waren, und auf die wunderschönen alten Ställe aus dunklem, narbigem Sandstein. Die Quartiere für die Arbeiter waren aus dem gleichen Stein erbaut. Manchmal hatte Rosemary, wenn sie nicht schlafen konnte, in der Dunkelheit gehockt und versucht, die aufsteigenden Fetzen der Männergespräche und die tiefen Lachsalven aufzuschnappen, die ihr die Einsamkeit erträglich machten. Am liebsten mochte sie die Geräusche während der Schur. Hinter dem Dach der Ställe konnte sie den Scherstall ausmachen. Sie liebte es, wenn die Musik aus dem kleinen Fenster des Stalles schepperte und mit dem Sirren der Maschinen mitzuhalten versuchte. Von ihrem Ausguck am Fenster konnte sie zuschauen, wie die Schafe mit dichtem Wollkleid in die Pferche getrieben wurden und wenig später leichtfüßig und verschreckt aus dem Tor stürmten, nachdem sie den Scherstall reinweiß und kurz geschoren verlassen hatten.
Heute Nacht beleuchteten die Strahler im Hof nur die alten, von Hand behauenen Steine der Gebäude. Die Geranien ihrer Mutter leuchteten, in riesigen Töpfen stehend, in Rosa und Grün. Julian und ihr Vater waren eben auf den Hof gefahren. Auch nach dem anstrengenden Tag bei den Rennen hatten sie noch bis spät abends gearbeitet. Am Knallen der zuschlagenden Wagentüren konnte Rosemary hören, dass sie schlechter Laune waren. Sie hörte ihren Vater fluchen, als er über ein altertümliches Fass voller Margeriten im Hof stolperte. Er beschwerte sich oft, dass seine Frau sogar den Arbeitsbereich, wo ihre Rosen und das Terrakotta eindeutig fehl am Platz waren, countrymäßig gestylt hatte. Früher hatten auch die Landarbeiter und Jackaroos gebibbert, wenn sie Margaret kommen sahen. Denn dann wollte sie bestimmt einen tonnenschweren Sandstein umgesetzt, eine Hecke beschnitten oder eine Lastwagenladung Schotter geharkt und auf der Auffahrt verteilt haben. Es interessierte sie nicht, dass die Schafe Pflege brauchten, die Tröge repariert oder die Wagen gewartet werden mussten. Irgendwann hatte Rosemary aufgehört zu zählen, wie viele Landarbeiter wegen der ständigen Anforderungen ihrer Mutter und der abweisenden Behandlung durch ihren Vater gegangen waren. Schließlich war nur noch Julian als Prügelknabe geblieben.
Rosemary konnte hören, wie ihr Bruder jetzt geräuschvoll die Schaufeln und die anderen Zaunreparaturwerkzeuge von dem verbeulten Toyota zog, der als Farmfahrzeug diente. Julian war nur ein Jahr jünger als sie und sehnig wie ein Windhund. Seine Arbeitskleider hingen schlotternd an ihm herab, und sein beschlagener Gürtel aus Känguruleder sah aus, als hätte er ihn wieder und wieder um den Bauch geschlungen. Das Haar fiel in braunen Wellen über seine Augen und fast bis auf die feinen Wangenknochen. Margarets unausgesetzten Nörgeleien zum Trotz trug er es seit Jahren länger als die meisten Männer im Distrikt.
Bruder und Schwester schienen aus einer längst vergangenen Welt zu stammen. Keiner von ihnen hatte viel für Punkrock oder für Singletreffen übrig, und keiner schickte SMS an seine Freunde, ob sie nicht einen Tag zum Melbourne Cricket Ground fahren sollten, um sich ein Spiel anzuschauen und sich volllaufen zu lassen. Die Kinder der Highgrove-Joneses wurden von ihrer Mutter dazu erzogen, die Tradition des ›niederen Landadels‹ am Leben zu erhalten. Rosemary seufzte. Sie träumte davon, über die weiten Ebenen und felsigen Höhen zu reiten, die zu den weitläufigen Ländereien der Highgrove Station gehörten. Aber bislang waren ihre Träume genau das geblieben, nämlich Träume, und das Leben tröpfelte weiterhin an ihr vorbei. Jahr für Jahr die gleichen Termine, säuberlich auf einem Rosenkalender von David Austin vermerkt. Weihnachtsempfänge, Spendengalas für das Krankenhaus, Gartenfeiern, Kirchenfeste – das war die Domäne ihrer Mutter, und bei jedem dieser Anlässe musste Rosemary dabei sein.
Die Arbeitstermine, die wirklich zählten – die Schur, die Madenkontrolle, das Drenchen, um die Klauen zu desinfizieren, und das Kennzeichnen der Lämmer — waren auf dem Weekly Times-Kalender ihres Vaters vermerkt. Rosemary durfte immer nur von weitem zuschauen. Als sie sich mit Sam verlobt hatte, hatte sie im Stillen gehofft, dass sich dadurch eine Welt neuer Möglichkeiten auftun würde. Er besaß die besten australischen Treiberpferde im ganzen Distrikt und eine ganze Meute von schlanken Kelpies, wie man keine besseren finden konnte. Stundenlang hatte sich Rosemary ihr neues gemeinsames Leben auf dem Gut der Chillcott-Clarks ausgemalt. Sam würde ihr beibringen, ein Schaf zu Boden zu werfen und im Galopp in einen eiskalten Winterfluss zu reiten; einen gehorsamen, spitzohrigen Kelpie mit einem gellenden Pfiff in einem weiten Bogen um die frisch geschorenen Schafe zu lenken; andere Pferde im Gedränge eines Polocrosse-Matches aus dem Spiel zu drängen; kurz, das Farmgirl zu werden, das sie immer sein wollte.
Aber im ganzen letzten Jahr war nichts dergleichen passiert. Stattdessen merkte sie, wie sie in den Fängen von Mrs Chillcott-Clark gelandet war, die genau wie ihre Mutter in einem Country-Style- um-jeden-Preis-Wahn lebte. Rosemary biss sich auf die Lippe und rollte sich auf ihrem Bett zusammen. Gerade als sie die Augen schloss, hörte sie, wie das scharfe Schrillen des Telefons durchs Haus und über den Hof hallte. Ihr Vater war inzwischen im Haus und sprach deutlich vernehmbar.
»Highgrove Station. Gerald am Apparat.«
Rosemary war schon vom Bett gesprungen. Die Stimme ihres Vaters schallte die Treppe empor.
»Sam, mein Junge! Du musst lauter sprechen. Bei euch herrscht ein rechter Lärm. Nein, mein Junge. Das ist sie. Sie …«
Rosemary rannte die Treppe hinunter.
»Ja, ich glaube, sie ist schon zu Bett gegangen. Ich werde es ihr gleich morgen früh sagen. Adieu einstweilen.« Und dann legte er auf.
»Ach Dad!«, beklagte sich Rosemary. »Ich war doch gar nicht im Bett! Wo ist er denn? Kann ich ihn zurückrufen?«
»Sam sagt, dass er dich morgen Nachmittag nach der Arbeit abholen wird, damit ihr zusammen zum Quizabend des Rotarierclubs fahren könnt. Heute kann er leider nicht mehr vorbeikommen, weil er Oakwood heimfahren muss.«
»Aber Dad!«
»Lass gut sein, Rosemary«, befahl ihr Gerald. Dann drehte er ihr den Rücken zu und ging davon.
Wieder in ihrem Bett liegend kniff Rosemary die Augen zu und dachte an Sam. Er war ihr erster richtiger Freund. Sie meinte, immer noch den Bieratem in seinem Mund zu schmecken und seine Hände auf ihren Schultern zu spüren, als er sie das erste Mal geküsst hatte. Sie waren in der Küche gewesen, um ein paar Drinks für die Gäste auf der Tennisparty ihrer Mutter zu mixen, und er war dicht neben ihr stehen geblieben, als sie einen Krug selbst gemachter Limonade aus dem Kühlschrank geholt hatte. Er hatte sie mit seinen schmelzenden dunkelbraunen Augen angesehen und ihr versichert, sie sei »der Fang des ganzen Distrikts«. Dann hatte er sie geküsst. Rosemarys Knie waren so abrupt eingeknickt, dass sie befürchtet hatte, den Limonadekrug fallen zu lassen.
»Huch! Mum wird toben, wenn ich den kaputt mache«, war alles, was ihr noch einfiel, aber gleichzeitig schien sich alles um sie zu drehen, und ein Lächeln sprang auf ihre Lippen, als sie zu Sam aufsah.
Rosemary wälzte sich in ihrem Bett herum und erweckte noch einmal jenen Tag zum Leben, an dem Sam ihre Knie zum Einknicken gebracht hatte.
Währenddessen knickten hinter dem Glenelg Hotel zwischen Stapeln von leeren Bierfässern und Kartons einem ganz anderen Mädchen die Knie ein.
Jillian Rogers hatte den Kopf in den Nacken gelegt, mit beiden Händen Sams muskulöses Hinterteil umfasst und ihr Becken mit aller Kraft gegen seines gedrängt. Sams Hände waren unter ihrem Top, wo sie ihre kleinen, festen Brüste kneteten, und seine Zunge hatte sich tief in ihren warmen, nach Jim Beam schmeckenden Mund geschoben. Genau in diesem Augenblick jagte ein Pick-up um die Ecke des Pubs, und beide verharrten, auf frischer Tat ertappt, im Scheinwerferstrahl wie zwei kopulierende Karnickel auf der Landstraße. Dann trompetete die Hupe die Erkennungsmelodie von »Ein Duke kommt selten allein«.
»Dubbo, du Arschloch!«, beschwerte sich Sam. »Ich dachte schon, ich wäre aufgeflogen.«
Jillian warf das dunkle Haar zurück und lachte.
Dubbo beugte sich aus dem Seitenfenster. In der Dunkelheit waren sein rundliches, rotes Gesicht, der sandblonde Schopf und sein gutmütiges Grinsen nur mit Mühe auszumachen.
»Los, steigt schon ein. Die Party findet bei mir zu Hause statt. Dann kann ich endlich auch mit dem Schnaps anfangen.« Dann hupte er um des Hupens willen noch mal.
Sam nahm Jill bei der Hand und führte sie zum Pick-up.
»Aber die Pferde, Sam«, protestierte sie.
»Die sind im Rennstall gut aufgehoben. Dubbo muss mich nur vor dem Morgengrauen aufwecken, dann fahre ich sofort los und hole sie ab.«
Er rannte hinten an Dubbos glänzenden schwarzen Holden Pick-up und begann, die Leine um die Persenning zu lösen.
»Was machst du da?«, fragte Jillian unsicher.
»Bis zu Dubbo nach Hause sind es gute vierzig Minuten. Mein Schlafsack liegt schon hinten. Wie wär’s, wenn wir im Liegen rausfahren?« Sam lächelte sie frech an.
Dubbo verdrehte die Augen. Er war den ganzen Abend nüchtern geblieben, und jetzt durfte er heimfahren, während es sich sein Kumpel hinten gut gehen ließ.
»Typisch«, brummelte er und tastete nach seinen Zigarettenpapieren. Manchmal konnte er nicht anders, als sauer auf Sam zu sein. Wie konnte ein Typ nur so viel Glück im Leben haben? Die besten Pferde, das beste Land, die besten Hunde, die besten Frauen… und noch dazu mehrere gleichzeitig. Er besaß sogar den besten Pick-up. Dubbo ließ sein Feuerzeug aufflammen und paffte seine Selbstgedrehte, während er aus der Stadt fuhr. Er war mit Sam aufgewachsen, er war mit ihm aufs Internat gegangen, und er würde seinen Freund nie hintergehen. Aber Sams Verlobte tat ihm dennoch Leid. Ein so wahnsinnig hübsches und nettes Mädchen. Sehr ruhig, aber sie hatte eindeutig was Besseres verdient als das hier.
Trotzdem schaute Dubbo, während er durch die Nacht raste, immer wieder in den Rückspiegel, um zu beobachten, wie sich die Abdeckung rhythmisch hob und senkte.
Rosemary bog langsam mit dem alten Volvo ihrer Mutter auf die breite Hauptstraße von Casterton. Nach den Exzessen vom Vortag wirkte der ganze Ort verkatert, und die Straße war ungewöhnlich leer. Bob stellte gerade erst die Schilder auf den Gehweg vor seinem Zeitungsladen. Er starrte Rosemary nach, als sie vorbeifuhr, und klappte dann den Ständer auf, auf dem Nicole heiratet wieder zu lesen war und darunter, in winzigen Buchstaben: behauptet Wahrsagerin.
Beim Imbiss hängte Johnno eben die Eisflaggen heraus, während seine Frau Doreen lethargisch den Staub vom Gehweg fegte. Als Rosemary vorbeifuhr, hielt sie inne und stützte sich auf ihren Besen.
Rosemary parkte hinter dem Büro des Chronicle neben Duncans schnittigem roten Flitzer. Bevor sie die wacklige Hintertreppe hochstieg, drehte sie sich noch einmal um und schaute auf den Glenelg River. Dort, auf der ebenen Fläche unter den großen roten Eukalyptusbäumen am Fluss, arbeitete Billy O’Rourke mit einer jungen Vollblutstute. Die junge Stute tänzelte und schnaubte in der Morgensonne, während er ruhig auf sie einredete. Wie es wohl war, so frei zu sein, fragte sich Rosemary unwillkürlich. Den ganzen Tag mit unverdorbenen, frischen Tieren wie diesem halbwüchsigen Fohlen zu verbringen? Leicht angekatert nach dem Chardonnay und der vielen Sonne vom Vortag beschloss sie, später mit ihm über den Job zu sprechen, den er für sie hatte. Sie drückte die Tür auf und trat in die staubig riechende Redaktion des Chronicle.
Duncan war schon da, zusammen mit Derek, der aufgeregt loskläffte und auf den Hinterbeinen tanzte, um an Rosemarys Bein zu kratzen. Duncan stand an seinem Schreibtisch und schüttelte das klobige Goldarmband an seinem dicken Handgelenk. Schon jetzt verdunkelten Schweißflecken sein lachsrosa Hemd. Er sprach aufgeregt in ein Telefon und fuhr sich mit der Hand durch die drahtigen blonden Haare, die, so vermutete Rosemary, nicht nur getönt, sondern noch dazu in Form gesprayt worden waren. Mit dem Stift in seiner anderen Hand malte Duncan mit hektischen Strichen großbusige Weiber auf den Notizblock auf seinem Schreibtisch.
»Ich dachte, deine Mutter hätte dir Geld für Bücher geschickt? Jepp. Ah-ha. Na gut. Ich schicke dir einen Scheck. Aber gib nicht alles für Gras aus. Oder Schnaps. Nein, bin ich nicht! Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«
Bemüht, Duncans Gespräch mit seiner Tochter nicht zu belauschen, ließ sich Rosemary auf ihren Schreibtischstuhl fallen und fuhr den klobigen Uraltcomputer hoch. Auch er surrte lethargisch, als wäre er verkatert. Sie legte eine neue Datei an und begann, die Texte für ihre Fotos vom Renntag einzutippen.
»Mit zusammengekniffenen Arschbacken, um nicht allzu laut zu furzen, versammelten sich am Renntag v. l. n. r. Mrs Elizabeth Richards von Brookland Park, Susannah Morecroft von der Hillsville Station und Margaret Highgrove-Jones von der Highgrove Station.«
Erst als Duncan den Hörer auf die Gabel knallte und in die Hände klatschte, änderte sie hastig die erste Hälfte des Begleittextes.
»Morgen!« Er strich seine Haare zurück und hüpfte auf der Stelle wie ein Fußballspieler beim Aufwärmtraining. »Alles bereit für eine aufregende Nachrichtenwoche?«
»Ehrlich gesagt nicht«, antwortete Rosemary leise.
Sie wollte gerade dem hüpfenden Duncan ihren Film überreichen, als ihre Mutter in einer Wolke von Moschusparfüm durch die gläserne Eingangstür geschwebt kam. Margarets Gesicht war in sich zusammengefallen und geradezu verzerrt. Rosemary zog beunruhigt die Stirn in Falten. So verängstigt hatte ihre Mutter nicht einmal dreingesehen, als am Freitag vor dem Wochenende des »offenen Gartens« die Schafe in ihre Blumenbeete geraten waren.
»Rosemary.« Margarets Stimme versagte. »Es hat einen Unfall gegeben.«
Duncan war augenblicklich an ihrer Seite.
»Mrs Highgrove-Jones. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Margaret sah zitternd ihre Tochter an und blinzelte die Tränen zurück.
»Mum? Es ist doch nicht Julian? Oder Dad?«, fragte Rosemary, während sich die Angst wie Blei in ihrer Magengrube festsetzte.
»Sam. Es ist Sam«, flüsterte ihre Mutter. »Er ist tot.«
Die Knie an die Brust gezogen, saß Rosemary seit Stunden auf dem Fensterbrett in ihrem Zimmer und wiegte sich vor und zurück. Seit drei Tagen hockte sie inzwischen in ihrem Zimmer. Heute aber musste sie es verlassen. Heute wurde Sam beerdigt.
Wieder und wieder hatte sie im Geist die Stunden durchlebt, seit sie von Sams Unfall erfahren hatte. Der Schock. Die plötzlich einsetzende Angst. Sie erinnerte sich, von ihrem Stuhl in der Redaktion gerutscht und auf den Boden gefallen zu sein, wo sie am ganzen Leib zu zittern begann. Dann spürte sie Duncans Hand auf ihrer Schulter und die Finger ihrer Mutter, die ihr übers Haar strichen. Behutsam halfen die beiden ihr auf und führten sie nach draußen. Bob kam neugierig aus seinem Zeitungsladen gelaufen, und Doreen, Johnno und ihre Tochter Janine schauten betroffen von ihrem Imbiss zu ihr herüber. Sie wurde in den Geländewagen ihrer Mutter gesteckt. Ihr Vater saß mit versteinerter Miene auf dem Fahrersitz und wartete auf sie. Sie wurde auf direktem Weg nach Hause gefahren und auf ihr Zimmer gebracht. Sie wusste nicht genau, was ihr der Arzt gegeben hatte, aber sie wusste sehr wohl, dass die Vorhänge in ihrem Zimmer seit Tagen nicht aufgezogen worden waren. Auch in ihrem Kopf schienen sich schwere, dunkle Vorhänge geschlossen zu haben wie ein dichter Nebel. Jedes Mal, wenn sich der Nebel ein wenig lichtete, holte die Wirklichkeit sie ein, und sie weinte in ihr Kissen, bis sie Kopfschmerzen bekam. Sie wünschte sich so sehr, dass Sam in seinem glänzenden roten Holden Pick-up vors Haus gefahren kam. Sie stellte sich vor, wie er sie anlachte, ihr erklärte, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Sie wartete auf ihn. Aber er kam nicht mehr. Er würde nie wiederkommen. Die Nachricht, dass auch Jillian gestorben war, war ebenfalls zu ihr durchgedrungen. Aber irgendwie hatte Rosemary diesen Gedanken immer wieder weggeschoben. Bis jetzt.
Jetzt musste sie zu Sams Beerdigung. Sie konnte ihre Mutter unten hören.
»Doch nicht diese Krawatte, Julian! Hast du den Kranz? Pass doch auf damit! Glaubst du, man kann sehen, dass die Blumen aus unserem Garten sind? Sollte ich das auf die Karte schreiben? Bestimmt würde es den Angehörigen etwas bedeuten, wenn sie wüssten, dass die Blumen aus meinem eigenen Garten sind. Gerald, hilf mir, die Schnalle zuzumachen, ja?«
Die dröhnende, autoritäre Stimme ihrer Mutter erinnerte Rosemary an damals, als ihr Großvater gestorben war. Ihre Familie hatte der Trauer praktisch keinen Platz gelassen.
»Er hatte ein gutes Innings«, war alles, was ihr Vater dazu gesagt hatte. Außerdem hatte man sowieso den Eindruck, dass ihr Großvater das Haus nie verlassen hatte. Seine Porträts und seine Besitztümer waren immer noch da, wo sie seit jeher gewesen waren. Die Gemälde von Rosemarys Ururgroßvater und seiner Frau hingen immer noch an der Bilderschiene, die durch den ganzen Flur verlief, ihre Spazierstöcke standen immer noch in dem eleganten Schirmständer, und ihr Porzellan wurde immer noch in hohen Stapeln in dem schweren Sideboard aufbewahrt. Bleich und ernst starrten die Gesichter ihrer Ururgroßeltern aus den dunklen Holzrahmen.
»Man kann aus ihren Gesichtern ablesen, wie das Blut weitergegeben wurde«, hatte ihr Prudence einmal auf einem Rundgang durchs Haus erklärt. »Die edle schottische Abstammung ist unübersehbar. «
»Zum Glück haben sich die eng zusammenstehenden Augen nicht vererbt«, hatte Rosemary dazu gemeint. »Oder das grässliche Hakennasen-Gen. Oder der Hang zu viel Speck in langweiligen Klamotten.« Nach dem letzten Kommentar hatte sie Prue beklommen angesehen. Prue stand in ihrem langweiligen Kleid im Flur und sah eindeutig fett aus.
»Aber Rosemary!«, schnaufte Prue. »Du weißt die Vergangenheit nicht zu schätzen… Deine Vergangenheit. Das ist dein Erbe. Es ist ein Teil von dir.«
»Ich will es nicht haben. Ich kriege eine Gänsehaut davon. Ein Haus voller miesepetriger Greise.«
»Ach Gott. Ich wäre begeistert, wenn ich in einem so großen Haus wie diesem leben dürfte und einen schicken Bauernburschen zum Heiraten gefunden hätte.«
Während Pruedence immer weiter schwadroniert hatte, hatte Rosemary die Gemälde neben den Familienporträts betrachtet. Es waren größtenteils Stillleben von toten Fasanen und von erschossenen, noch blutenden Hasen neben irgendwelchen Zinnbechern, wobei die Tötungswerkzeuge jeweils sorgfältig in Position gebracht und mit viel Liebe zum Detail abgemalt worden waren. Außerdem gab es Bilder von windgepeitschten schottischen Hochmooren mit wolligen Highland-Rindern, deren Hörner manisch in den sturmgepeitschten Himmel piekten. Auch wenn dies das Gebiet in Schottland war, aus dem die Familie ihres Vaters stammte, gab vor allem ihre Mutter historische Anekdoten aus dem Ahnenstamm der Highgrove-Joneses zum Besten. Rosemary hatte trotzdem nicht das Gefühl, dass all das irgendwas mit ihr zu tun hatte. Ihre Heimat waren die Eukalyptusbäume am Fluss und die rollenden Hügel von Highgrove. Es war ihr unbegreiflich, warum ihre Mutter so stolz auf diese düsteren Schinken und dieses Vermächtnis war.
Ein leises Klopfen an der Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken.
»Rose, Schatz. Zeit zu gehen«, hörte sie die weiche Stimme ihrer Mutter. Sie trat ins Zimmer und ts-ts-te, als sie ihre Tochter so verknautscht auf dem Fenstersims sitzen sah. »Aber so kannst du unmöglich gehen!«
Sie richtete Rosemary auf. Dann zupfte sie ihr Kostüm gerade, zerrte eine Bürste durch Rosemarys Haare und reichte ihr einen kleinen roten Lippenstift.
»Trag den auf.« Rosemary gehorchte. »So. Viel besser. Jetzt komm.«
Widerwillig folgte Rosemary ihrer Mutter die Treppe hinunter, vorbei an den Porträts längst verblichener Familienmitglieder. Als sie an den Bildern vorbeiging, schienen die toten Augen sie zu verfolgen.
In der Kirche starrte Rosemary reglos auf die blauen und weißen Agapanthus, die in einer hohen Urne vor der Kanzel standen. Sie schluckte einen schmerzlichen Kloß in ihrem Hals hinunter. Ihre Mutter saß leise schluchzend neben ihr. Gerald saß neben seiner Frau, das graue Haar mit Gel geglättet und mit Tränen in den Augen. Den ganzen Gottesdienst hindurch starrte er zu dem Buntglasfenster mit Christus am Kreuz empor. Julian hatte die gleiche Position eingenommen wie sein Vater. In der Bank vor ihnen saß Sams Mutter Elizabeth. Normalerweise war sie eine strenge, aufrechte, präzise Frau, aber heute hing sie zusammengesunken im Arm ihres Mannes. Rosemary sah unauffällig auf Marcus, Sams Vater. Er war Sam so ähnlich, dass sie das Bedürfnis spürte, über die Banklehne zu springen und seine kräftigen braunen Hände zu ergreifen. Aber als er sich umdrehte und sie traurig ansah, erkannte sie, dass er keineswegs Sam war. Sam lag tot in dem Sarg, der vor ihnen auf der Rollbahre stand.
Als sie in die Kirche gekommen waren, hatten alle Trauergäste Sams Eltern Trost gespendet, sie in die Arme genommen und ihnen leise ihr Mitgefühl ausgesprochen. In Rosemarys Nähe war niemand gekommen. Ihr hatten die Leute nur traurige Blicke zugeworfen, und dann waren sie weitergegangen. Was wussten die anderen wohl, rätselte Rosemary. Das Bild von Sam und Jillian, die nach dem Rennen auf dem Sattelplatz zusammengestanden hatten, blitzte in ihrem Geist auf. Rosemary schluckte ein Schluchzen hinunter und blickte auf das glänzende Holz von Sams Sarg. Sie wollte bei diesem endgültigen Abschied Liebe für ihn empfinden, aber stattdessen empfand sie nur den Griff der Angst und einen unseligen Verdacht, der jeden Gedanken verdüsterte.
Hinterher hielt sie, wie betäubt vor der Kirche in der Hitze stehend, in der herausströmenden Menge nach Dubbo Ausschau. Aber sie konnte ihn nirgendwo entdecken.
»Wo ist Dubbo?«, fragte sie ihre Mutter.
»Immer noch im Krankenhaus«, war die knappe Erwiderung.
Rosemary rätselte, ob Dubbo wohl zu der Beerdigung gekommen wäre, wenn er gekonnt hätte. Sein bester Freund war tot, und er hatte den Wagen gefahren, in dem er umgekommen war. Hätte er gewagt, hier aufzutauchen? Rosemary spürte, wie ihre Haut vor Zorn auf Dubbo kribbelte, und begann wieder zu weinen. Ihr einzigartiger Sam war tot.
Die Trauergäste blieben nicht lang bei den Clubsandwiches ohne Rinde und dem Tee in den dünnen Porzellantassen, die nach der Beerdigung im Heim der Chillcott-Clarks gereicht wurden. Sie unterhielten sich gedämpft, legten Marcus und Elizabeth beruhigend die Hand auf und verschwanden so bald und so unauffällig wie möglich aus dem riesigen alten Kasten. Rosemary saß aufrecht auf dem Sofa und fuhr mit den Fingern die Mulden und Falten in den braunen Lederpolstern nach. Als ihr Blick auf den kunstvoll geknüpften Teppich zu ihren Füßen fiel, verschwamm das Bild in Tränen. Auf diesem Teppich hatten sie und Sam sich das erste Mal geliebt. Sie hatte die weiche Wolle in ihrem Rücken gespürt, während Sam den Rock über ihre Taille geschoben und ihr die Bluse vom Leib gezogen hatte.
»Keine Angst, Rose. Vertrau mir.« Im nächsten Moment hatte sie gespürt, wie der Gummi des Kondoms an ihrer Haut rieb, und während Sam mit immer kräftigeren Stößen in sie eindrang, hatte sie die Zähne zusammengebissen und nach hinten und oben geschaut. Ihr Blick hatte sich mit dem unbeseelten, glasigen Blick eines Hirsches gekreuzt, dessen Kopf über dem Marmorkamin aufgehängt war.
Nachdem Sam fertig gewesen war, hatte er ihr erklärt: »Pass auf Mums Teppich auf, Pooky. Er ist aus England, verstehst du?« Rosemary hatte sich ein Kichern verkneifen müssen. Ehrlich gesagt hatte sie sich ihr erstes Mal ein wenig anders vorgestellt, aber dafür war Sam hinterher besonders nett zu ihr gewesen und hatte ihr ein selbst gemachtes Eis mit glasiertem Ingwer gebracht. Sie hatten sich auf der Couch zusammengekuschelt, Eis gegessen und einander angelächelt.
Jetzt kam Marcus Chillcott-Clark und setzte sich zu ihr auf die Couch. Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und versucht, den Hirsch wie damals kopfüber zu sehen.
»Wie hältst du dich?«
Die Originaltitel erschien 2004 unter dem Titel »The Stockmen« bei Viking, the Penguin Group (Australia), a division of Pearson Australia Group pty Ltd.
Der Abdruck der Songtexte von »Boots ’N’ All« und »Lasso You« erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Tania Kernaghan, Fiona Kernaghan und Andrew Farriss.
Der Abdruck von Peter Dowsley’s Gedicht »Kelpie«, das diesen Roman inspirierte, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Übersetzung stammt von Christoph Göhler.
1. Auflage
© der Originalausgabe 2004 by Rachael Treasure
© der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Satz: Uhl + Massopust, Aalen
eISBN 978-3-641-08063-1
www.blanvalet-verlag.de
www.randomhouse.de
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