Talisker Blues - Mara Laue - E-Book + Hörbuch

Talisker Blues E-Book und Hörbuch

Mara Laue

4,6

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Kieran MacKinnon saß zwanzig Jahre im Gefängnis wegen Mordes an seiner Freundin. Völlig betrunken soll er sie eines Nachts am Strand erstochen haben, die Beweise sprechen dafür, er kann sich an nichts erinnern. Jetzt kehrt er zurück in seine Heimat auf die Insel Skye und versucht, sich ein neues Leben aufzubauen. Doch bald darauf wird wieder eine Frauenleiche gefunden. Und wie damals liegt eine Whiskyflasche mit Kierans Fingerabdrücken neben ihr ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:9 Std. 24 min

Sprecher:Adrian Tauss
Bewertungen
4,6 (62 Bewertungen)
46
8
8
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Mara Laue

Talisker Blues

Ein Schottland-Krimi

Vorbemerkung

Alle in diesem Roman genannten Orte sind authentisch. Alle Personen und Handlungen sind dagegen völlig frei erfunden. Dies gilt besonders für die Mitglieder der Clans MacKinnon, MacDonald und MacLeod sowie die Mitarbeiter der Talisker Destillerie. Sie stellen weder reale Personen der auf Skye beheimateten Clans dar noch bildete eine reale Person die Vorlage für eine der Romanfiguren. Jede Ähnlichkeit wäre rein zufällig.

Ein Glossar der im Buch verwendeten gälischen Ausdrücke befindet sich am Ende des Buches.

“Oh! the blues aint nothing, But a good man feeling bad.” Oh, der Blues ist nichts anderes als ein guter Mann, der sich schlecht fühlt.

Lee Roy „Lasses“ White (1888–1949)

1

Donnerstag, 25. August 2011

Die Fähre von Mallaig nach Armadale pflügte durch das graue Wasser des Sound of Sleat, „over the sea to Skye“. Der Regen, der heute Morgen eingesetzt hatte, ließ die Passagiere sich in der Fährkabine zusammendrängen. Nur Kieran stand im Freien an der Reling und hielt das Gesicht dem Regen und dem Wind entgegen, während sein Blick sich an der Weite des Wassers festsaugte. Durch das trübe Wetter war nirgends Land in Sicht. Das vermittelte ihm ein berauschendes Gefühl von Grenzenlosigkeit und Freiheit.

Der Geruch des Meeres belebte seine Sinne ebenso wie der Regen, und er fühlte sich großartig. Wahrscheinlich war er gerade dabei, sich eine Erkältung zuzuziehen, aber das war es wert. Während der gesamten halbstündigen Überfahrt blieb er im Regen stehen und hielt Ausschau nach der Insel.

Als sie aus dem nassen Schleier auftauchte, fühlte er einen Kloß im Hals und im Herzen einen Stich wie beim Anblick eines geliebten Menschen. Er kehrte heim. Endlich.

Er fragte sich, was ihn erwartete.

Skye hatte sich verändert.

Kierans Erinnerung an die Insel bestand aus Bildern von urigen Häusern mit teilweise bröckelnden Fassaden und schmalen, schlecht geteerten Straßen. Schmal waren die Straßen immer noch, sogar die um die Insel führende Hauptstraße, die als A851 von Armadale ostwärts und danach nordwärts an der Küste entlanglief. Aber sie war irgendwann in den vergangenen Jahren ebenso instand gesetzt worden wie die meisten Häuser.

Kieran stieg an der Anlegestelle in den Skyeways Bus nach Broadford und setzte sich in der letzten Bank ans Fenster. Der Bus war ein dunkelblaues, hochmodernes Ungetüm, das sich drastisch von den klapperigen Coaches unterschied, die er noch aus seiner Jugendzeit kannte. Nicht verändert hatte sich dagegen die Landschaft jenseits der Straße. Zumindest nicht sehr. Die Wälder auf der linken Seite waren etwas dichter geworden, aber die Ufer des Sound of Sleat, der teilweise rechts zu sehen war, boten dasselbe Bild, das er in Erinnerung hatte. Und auf alles andere hatte er sich bestmöglich vorbereitet.

Durch das Abonnement der „West Highland Free Press“, die Wochenzeitung, die jeden Freitag erschien und die lokalen Neuigkeiten von Skye und den anderen westlichen Inseln in englischer wie in gälischer Sprache brachte, war er auf dem Laufenden geblieben. Er las den gälischen Teil und hatte auch über die Sprache seine Verbundenheit mit seiner Heimat aufrechterhalten.

Armadale Castle glitt am Busfenster vorbei. Wenige Minuten später hielt der Bus an den wenigen Häusern von Drochaid a’ Mhulinn, um einen Fahrgast einsteigen zu lassen, einen alten Mann mit schlohweißem Haar und wettergegerbtem Gesicht, der sich erstaunlich aufrecht hielt. Kierans Magen zog sich zusammen, als er ihn erkannte. Mr Drew war schon alt gewesen, als Kieran noch ein Teenager war. Jetzt musste er weit über neunzig sein. Als er sich auf der Suche nach dem besten Platz im Bus umsah, blieb sein Blick an Kieran hängen. Vages Erkennen spiegelte sich in seinem Gesicht. Kieran wandte hastig den Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster in der Hoffnung, dass das Vogel-Strauß-Prinzip dieses eine Mal funktionieren würde: Wenn ich dich nicht ansehe, kannst du mich auch nicht sehen.

Vergeblich. Mr Drew nahm neben ihm Platz. Kieran spürte, dass der alte Mann ihn unverwandt ansah. Ihm wurde flau.

„Verzeihen Sie, junger Mann, Sie kommen mir bekannt vor. Helfen Sie dem Gedächtnis eines alten Fischers auf die Sprünge. Woher kennen wir uns?“

Kieran sah sich gezwungen, ihn anzusehen. Er tat, als versuche er sich zu erinnern. „Es tut mir leid, Sir, aber ich glaube nicht, dass wir uns kennen. Ich bin Tourist.“

Mr Drew grinste breit, wobei er seine lückenhaften Zähne entblößte, und drohte Kieran scherzhaft mit dem Finger. „Ah bah! Sie sind ein Skyeman. Das höre ich doch an Ihrer Aussprache.“

Verdammt!

„Ich lebe schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier und bin jetzt nur Tourist.“

Doch so leicht ließ sich der Alte nicht abwimmeln. „Sagen Sie mir, woher Sie kommen. Ich bin sicher, wir kennen uns. Wie heißen Sie, Junge?“

„MacAskill.“

„Ah, dann sind Sie aus dem Westen.“

Um genau diesen Eindruck zu erwecken, hatte Kieran den Namen genannt.

„Trotzdem kenne ich Sie irgendwoher.“

Kieran zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bedauere, Sir. Und glauben Sie mir, an einen so netten Gentleman wie Sie würde ich mich erinnern.“

Der Alte lachte und drohe ihm erneut mit dem Finger. „Heben Sie sich die Schmeicheleien lieber für die bonnie lasses auf.“

Kieran blickte wieder aus dem Fenster und betete stumm, dass Mr Drew die Sache endlich auf sich beruhen ließe und ihn vor allem nicht weiter beachtete. Noch inniger betete er dafür, dass er sich nicht daran erinnern würde, wer Kieran wirklich war.

Offenbar wurden seine Gebete erhört, denn Mr Drew, der Anstrengung des Nachdenkens müde, nickte ein. Kieran atmete auf.

Der Bus passierte Kilbeg. Kilmore. Ferrindonald. Teangue. Vorbei am Loch nan Dùbhrachan zur Rechten – das Ufer bedeckt mit der Wasserkresse, die dem See seinen Namen gegeben hatte – und dem Wald von Bealach nan Cas zur Linken. Dazwischen am Straßenrand aufgeschichtete Torfballen. Es gab ein paar unbeabsichtigte Zwischenstopps, weil Schafe die Straße kreuzten oder als Wanderweg benutzten. Auf Skye genossen sie überall Vorfahrt. Isleornsay. Skulamus. Mit jedem Dorf, durch das der Bus fuhr, wurde Kieran die Insel trotz aller Veränderungen wieder vertrauter.

Nach einer knappen Stunde stieg er in Harrapool aus.

Mr Drew erwachte aus seinem Schlummer, als er sich an ihm vorbeidrängte. „Schönen Urlaub, junger Mann.“ Er winkte Kieran zu.

Der lächelte gezwungen und winkte zurück. Als er den Bus verlassen hatte und wieder im sintflutartigen Regen stand, atmete er auf. Er hoffte, dass er Mr Drew nicht noch einmal über den Weg lief. Mit schnellen Schritten suchte er seinen Weg zum Hebridean Hotel. Als er dort ankam, war er bis auf die Haut durchnässt und hinterließ bei jedem Schritt eine kleine Pfütze auf dem Boden im Eingangsbereich. Er konnte nur hoffen, dass der Stoff seiner Reisetasche den Inhalt ausreichend vor der Nässe geschützt hatte.

Er trat an die Rezeption und stellte seine Tasche ab.

Der Mann hinter dem Tresen musterte ihn mitfühlend. „Ist ein echtes Sauwetter heute. So war es schon fast die ganze Woche. Zum Glück geht es vorbei.“ Er zwinkerte Kieran zu. „John MacLean. Was können wir für Sie tun, Sir?“

Kieran konnte sich nicht erinnern, dass man ihn jemals mit „Sir“ angeredet hatte. Ein seltsames Gefühl.

„MacKinnon. Ich hatte ein Zimmer reserviert.“

„Ah ja. Einzelzimmer auf unbestimmte Zeit, nicht wahr?“ MacLean schob ihm das Gästebuch hin. „Wenn Sie sich hier bitte eintragen wollen, Sir.“ Er blickte Kieran prüfend an. „Wenn Sie MacKinnon heißen, sind Sie wohl ein Skyeman?“

Kieran nickte. Die Vermutung lag auf der Hand, da die MacKinnons nach den MacDonalds und den MacLeods den drittgrößten Clan auf Skye bildeten und sich über die halbe Südostküste verteilten. Er trug sich ins Buch ein und schrieb von seinem Vornamen nur die Initiale. Kieran war ein seltener Name auf Skye. Er wollte unangenehme Fragen vermeiden und erst recht keine schlafenden Hunde wecken. Irgendwann würde sowieso herauskommen, wer er war. Er hoffte, dass er den Zeitpunkt möglichst lange hinauszögern könnte.

„Auf Urlaub oder Heimkehrer?“

„Heimkehrer.“ Zumindest hoffte er das. Er war lange fort gewesen. Zu lange vielleicht.

MacLean lächelte verständnisvoll. „Einmal Skyeman, immer Skyeman, nicht wahr?“

„Ja.“ Es gab für ihn keinen anderen Ort auf der Welt, an den er hätte gehen können. Oder freiwillig gegangen wäre.

MacLean reichte ihm den Zimmerschlüssel. „Erster Stock rechts. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt. Wenn Sie Fragen oder Wünsche haben, Sir, ich bin jederzeit für Sie da.“

Kieran bedankte sich, stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf und öffnete gleich darauf die Tür zu seinem eigenen Reich. Es war sehr klein, genau genommen winzig. Aber mehr als die achtundzwanzig Pfund, die es pro Nacht kostete, konnte er sich nicht leisten. Selbst die waren schon zu viel für seinen schmalen Geldbeutel. Insgeheim hoffte er zwar, dass er schon morgen wieder ausziehen könnte, aber das war nicht sehr wahrscheinlich.

Bis er irgendwo eine Arbeit und eine Wohnung gefunden hatte, würde er sich mit den weißen Wänden, dem winzigen Schrank, dem altrosa Bodenbelag und den Gardinen im gleichen Farbton ebenso anfreunden müssen wie mit dem Gemeinschaftsbad auf der Etage. Aber das war er gewohnt. Wenigstens gab es ein winziges Waschbecken, einen winzigen Fernseher und einen Wasserkocher für Tee. Und auf dem kleinen Tisch mit Stuhl gegenüber dem Fußende des Bettes standen frische Blumen. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass dieses Accessoire als Standard in jedem Zimmer zu finden war, fühlte er sich doch persönlich willkommen geheißen. Er stellte seine Tasche auf den Stuhl und trat ans Fenster. Das Zimmer ging auf die Straße hinaus. Jenseits der Fahrbahn lag etwas weiter entfernt die Broadford Bay. Er öffnete das Fenster und sog eine Weile die frische Luft tief in seine Lungen, als hätte er sie nicht schon während der letzten Viertelstunde genug genossen.

Schließlich wandte er sich den praktischen Dingen zu und öffnete seine Tasche. Die Wäsche darin war zum Glück trocken geblieben. Er nahm Jeans, Hemd, Unterwäsche, Handtuch und Seife, ging ins Gemeinschaftsbad und gönnte sich zwanzig Minuten lang eine heiße Dusche. Danach fühlte er sich besser und in der Lage, sich dem zu stellen, was ihm heute noch bevorstand.

Ein Blick ins Telefonbuch, das er in einer Schublade des Nachttisches fand, zeigte ihm, dass seine Eltern immer noch im selben Haus in Broadford wohnten. Er überlegte, ob er sie anrufen und seinen Besuch ankündigen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie würden ihn am Telefon bloß abweisen. Wenn er leibhaftig vor ihnen stand, hätte er vielleicht eine Chance. Zumindest bei seiner Mutter.

Er sah auf die Uhr. Wenn er in einer Stunde aufbrach, würde er ankommen, wenn sie das Abendessen beendet hatten. Falls sich in den vergangenen Jahren daran nichts geändert hatte, war sein Vater danach in relativ milder Laune. Falls nicht ...

Kieran stellte sich ans Fenster und schaute hinaus auf die vertraute Landschaft der Broadford Bay. Er war wieder zu Hause.

Doch er fühlte sich vollkommen fremd.

Der Regen hatte aufgehört, als Kieran eine gute Stunde später das Hotel verließ und die knappe Meile nach Broadford zu Fuß ging. Die Bewegung tat ihm gut, ebenso die Weite um ihn herum. Seltsam, dass er die schmalen Straßen früher als eng empfunden hatte. Nun, damals hatte er noch nicht die Enge gekannt, die sich in wenigen Schritten abmessen ließ und in der er die vergangenen Jahre gelebt hatte. Existiert hatte. Leben war etwas anderes.

Auch Broadford hatte sich verändert. Neue Häuser, renovierte Häuser, neue Geschäfte, in denen Touristen alles fanden, was ihr Herz begehrte. Nicht das Bild, das er in seinem Herzen trug. Das Gefühl der Fremdheit verstärkte sich unangenehm.

Als er von der A87 in die Ford Road einbog, stellte er eine weitere Veränderung fest. Es gab neue Straßenschilder, die im Gegensatz zu denen aus seiner Jugendzeit zweisprachig waren und die Ford Road für die Skyemen als „Rathad na h-Atha“ auswies. Immerhin existierte die Broadford Pharmacy gleich am Anfang auf der linken Seite der Straße noch, aber auch sie war modernisiert und hatte garantiert neue Besitzer. Ob seine Mutter hier noch als Verkäuferin arbeitete? Wahrscheinlich nicht. Sie musste jetzt vierundsechzig sein und bezog wohl schon Rente.

Kieran blieb stehen, als er die Einmündung der Bruach na h-Aibhne, der Riverbank, erreichte, an deren Ende seine Eltern wohnten. Wäre nicht das Straßenschild gewesen, er hätte sie nicht erkannt. Der ungepflasterte Weg, auf dem er als Junge mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Paddy barfuß gelaufen war, hatte einer asphaltierten Straße mit schmalem Bürgersteig Platz gemacht. An der Ecke war ein Café-Restaurant, „Beinn na Caillich“, weiß und blau gestrichen, vor dem einige Touristen sich ihr Abendessen schmecken ließen. Nicht mehr im Entferntesten die heimatlichen Gefilde, an die er sich erinnerte. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging er weiter. Dieses Gefühl wurde zu einem kalten Klumpen, als er am Ziel angekommen war und feststellen musste, dass sein Elternhaus nicht mehr existierte. Das alte Haus, das sein Großvater eigenhändig erbaut hatte, war einem piekfeinen, weiß getünchten Neubau gewichen. Kieran hätte geglaubt, dass seine Familie längst weggezogen war, wenn sie nicht immer noch unter dieser Adresse im neuesten Telefonbuch gestanden hätte. Auch auf dem Briefkasten an der Grundstücksgrenze prangte der Name MacKinnon. Von drinnen erklangen gedämpfte Stimmen durch das gekippte Fenster.

Kieran, dessen Beine plötzlich aus Beton zu bestehen schienen, nahm seinen ganzen Mut zusammen, ging die paar Schritte über den schmalen Gartenweg und klingelte an der Haustür. Wenige Sekunden später wurde ihm von einer alten Frau geöffnet, die ihn erstaunt ansah.

„Sie wünschen?“

Er musste zweimal hinsehen, ehe er in der grauhaarigen, verhärmten Frau seine Mutter erkannte. Er streckte die Hand nach ihr aus. „A mhàthair.“ Mutter.

Ihre Augen wurden groß. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und stolperte zurück.

„A mhàthair!“

Er wollte sie halten, damit sie nicht fiel. Doch sie schlug seine Hand beiseite, wimmerte entsetzt und wich noch weiter zurück. In der Tür zum Wohnzimmer tauchte sein Vater auf. Auch er sah unglaublich alt aus. Hinter ihm kam Paddy.

„Fiona, dè ...“ Die Frage, was los sei, erstarb ihm auf den Lippen. Die Augen seines Vaters wurden ebenso groß wie Paddys, als er Kieran sah.

Kieran trat noch einen Schritt vor. „Athair.“ Vater. Seine Stimme war nur ein Flüstern, das kaum das laute Poltern seines Herzschlags übertönte. Wie lange hatte er sich danach gesehnt, seine Familie wiederzusehen, hatte sich überlegt, wie er sie begrüßen, was er ihnen sagen wollte. Nun, da es so weit war, fehlten ihm die Worte.

Seinem Vater dagegen nicht. Er stach anklagend einen Finger in seine Richtung. „Mortair!“

Mörder. Kieran schloss die Augen. Das Wort schmerzte schlimmer als ein Schlag.

„Dass du es wagst, hierher zu kommen. Verlass auf der Stelle mein Haus!“

Sean MacKinnon sprach niemals Englisch. Außer mit Touristen und Leuten, die er verachtete. Dass er jetzt Kieran gegenüber Englisch gebrauchte, zeigte deutlich, was er von seinem jüngeren Sohn hielt. Und dass er ihm niemals verzeihen würde.

Kieran blickte seine Mutter an, die sich die Hände vor den Mund hielt, gebeugt an der Wand lehnte und aussah, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Tränen rannen über ihr Gesicht. „A mhàthair?“

Sie schüttelte den Kopf. „Theirig, Kieran.“ Wenigstens sie sprach noch Gälisch mit ihm.

„Ja, verschwinde“, bekräftigte sein Vater und deutete zur Tür. „Kommst hierher, nach allem, was du getan hast. Das Gesicht feige hinter einem Bart versteckt wie der Verbrecher, der du bist. Hinaus! In meinem Haus ist kein Platz für dich. Und wage es niemals wieder herzukommen! Wenn du noch mal einen Fuß auf mein Grundstück setzt, erschieße ich dich. Raus!“

Kieran warf einen Blick auf Paddy. Der war kreidebleich, hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah zu Boden. Kieran drehte sich wortlos um und ging. Es war ein Fehler gewesen, seine Eltern aufzusuchen. Aber er hatte es versuchen müssen. Sie waren schließlich seine Familie. Auch wenn sie das anders empfanden, was ihm zu all den Veränderungen endgültig das Gefühl gab, völlig fehl am Platz zu sein. Wenn er blieb, würde er sich seinen Platz hart erkämpfen müssen. Allein. Doch daran war er gewöhnt.

Skye war seine Heimat. Er würde sie niemals freiwillig aufgeben.

Er hatte die Ford Road fast erreicht, als er unregelmäßige Schritte hinter sich hörte. Paddy. Diese Schritte würde er unter allen anderen überall erkennen. Er drehte sich um und wappnete sich innerlich gegen alles – von Beschimpfungen bis zum Kinnhaken. Paddy humpelte noch zwei Schritte mit seinem steifen Bein auf ihn zu, ehe er stehen blieb und ihn reserviert ansah. Kieran traute sich nicht, etwas zu sagen. Auch Paddy sah älter aus, als er war, und wirkte wie ein Mann Anfang fünfzig, nicht wie vierzig.

„Vater hat recht. Du hättest nicht kommen sollen. Oder wenigstens ankündigen, dass du kommst.“

Kieran zuckte mit den Schultern. „Ich habe befürchtet, wenn ich das tue, empfängt er mich mit dem Gewehr in der Hand.“

„Mit Sicherheit.“ Paddy steckte die Hände in die Taschen, blickte zu Boden und bewegte die Fußspitze seines steifen Beins im Halbkreis vor und zurück auf dem Straßenpflaster.

Diese Geste war Kieran schmerzhaft vertraut. „Wie geht es dir, Paddy? Du wohnst immer noch bei den Eltern?“

„Wo denkst du hin? Ich wohne in Carbost. Ich arbeite bei Talisker im internationalen Verkauf.“

Die Talisker Destillerie war der größte Arbeitgeber auf Skye und stellte jenen erstklassigen Malt Whisky her, den schon Robert Louis Stevenson in einem Gedicht als „the king o’ drinks“ bezeichnet hatte. Kieran hatte den Talisker in keiner allzu guten Erinnerung, obwohl er ihn auf eine gewisse Weise immer noch liebte.

„Die haben auch Wohnungen für ihre Angestellten.“

„Hast du“, Kieran räusperte sich verlegen, „Familie?“

Paddy schüttelte den Kopf. „Hat sich nicht ergeben.“

Kieran blickte zu Boden. „Es tut mir leid, Paddy. Ich ...“

„Schon gut.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist nicht zu ändern. Was hast du jetzt vor?“

„Arbeit suchen, Wohnung suchen. Oder erst die Wohnung und dann die Arbeit.“

„Hier auf Skye?“

„Wo sonst?“

Paddys runzelte die Stirn. „Kann dir dein Bewährungshelfer nicht irgendwo was besorgen?“

„Ich bin nicht auf Bewährung draußen, sondern habe meine volle Strafe abgesessen und wurde regulär entlassen. Aber mein Sozialarbeiter hört sich schon seit einiger Zeit für mich um. Bis jetzt erfolglos. Außerdem ...“ Kieran hob abwehrend die Hände. „Keine Sorge. Da ihr keinen Wert darauf legt, mit mir verwandt zu sein, werde ich euch nicht belästigen und jede Verwandtschaft leugnen, sollten wir uns zufällig über den Weg laufen. Also, tioraidh an-dràsda.“ Er ging die Straße hinunter und hatte es mit einem Mal eilig, von Paddy und der Riverbank wegzukommen.

„Wo wohnst du denn jetzt?“ Paddy humpelte ihm ein paar Schritte hinterher.

„Hebridean Hotel, Harrapool. Aber ich bin da weg, sobald ich kann.“

Kieran bog in die Ford Road ein. Er spürte, dass Paddy ihm nachsah, aber er drehte sich nicht noch einmal zu ihm um.

Seine Eltern aufzusuchen, war eine Schnapsidee gewesen. Er hätte wissen müssen, wie das ausging. Sie würden ihm nie verzeihen.

Er sich selbst auch nicht.

1991

Montag, 3. Juli 1991

Kieran erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen und einem Geschmack im Mund, als hätte er den Boden aufgeleckt, auf den ein Hund uriniert hatte. Das Erste, was er sah, war eine weiße Fläche und darauf die gelblichen Ausläufer eines Lichtkegels. Seit wann hatte der Strand eine beleuchtete Zimmerdecke?

Er brauchte eine Weile, bis er begriff, dass er sich nicht am Strand befand. Ihm war übel. Mit jedem Moment, den er auf dem Rücken lag, verstärkte sich die Übelkeit. Er wollte sich zur Seite drehen, doch etwas Hartes und Kaltes an seinem Handgelenk hielt ihn fest. Er versuchte sich aufzurichten. Abgesehen davon, dass sein Magen heftig dagegen protestierte und gegen die Rippen drückte, hinderten ihn stählerne Manschetten daran, mit denen seine Handgelenke zu beiden Seiten an die Schienen des Bettes gefesselt waren, auf dem er lag. Handschellen.

Er würgte und übergab sich. Jemand hielt ihm eine Nierenschale vor den Mund und stützte seinen Kopf, bis der Brechreiz aufhörte. Außer Schleim und Galle kam nichts aus ihm heraus. Doch die Anstrengung ließ seinen Kopf beinahe zerspringen. Tränen rannen ihm über das Gesicht. Seine Sicht verschwamm. Jemand wischte ihm mit einem feuchten Tuch über Mund und Stirn.

„Verdammt, Junge, was hast du da nur getan?“

Kieran blinzelte. „O-Onkel Angus?“ Seine Stimme klang so rau, dass er sie kaum erkannte. „Wo ... wo bin ich? W-was ist passiert?“

Angus zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. „Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.“

Kieran sah ihn verständnislos an. Er wollte sich über das Gesicht wischen. Die Handschellen klirrten gegen das metallene Bettgestänge. Das Geräusch machte ihm Angst; vielmehr das, was es bedeutete. „Warum bin ich gefesselt? Was soll das?“ Er versuchte sich zu erinnern. Doch in seinem Kopf war ein großes schwarzes Loch. Er sah Angus an und flehte stumm um eine Erklärung.

Sein Onkel schüttelte den Kopf. „Kieran, Junge, du weißt, ich habe immer auf deiner Seite gestanden. Egal was du angestellt hast. Jungs müssen ab und zu mal über die Stränge schlagen und sich austoben. Auch wenn du das zuweilen ein bisschen übertrieben hast und für so manche gebrochene Nase verantwortlich bist, ist bei allen deinen Eskapaden und Prügeleien nie jemand ernsthaft zu Schaden gekommen. Außer damals Paddy, aber das war ein Unfall, der jedem hätte passieren können. Du warst nie übermäßig gewalttätig. Schon gar nicht gegenüber Frauen.“ Angus schüttelte erneut den Kopf. „Darum verstehe ich es nicht. Also, was ist passiert, dass du derart ausgerastet bist?“

Kieran hörte die Worte, aber er begriff ihren Sinn nicht. Vielleicht würde er sich erinnern, wenn sein Kopf endlich aufhörte, so elend wehzutun. Das Einzige, was er realisierte, war, dass er sich in ernsten Schwierigkeiten befand, sonst wäre er wohl kaum mit Handschellen ans Bett gefesselt worden. Er hatte genug Krimis gelesen und im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass man so nur mit gefährlichen Verbrechern verfuhr, um sie an weiteren Gewalttätigkeiten und vor allem an der Flucht zu hindern. Aber er war doch nicht gewalttätig! Noch nie gewesen, wie Onkel Angus völlig richtig gesagt hatte. Er hatte im Grunde genommen immer nur Paddys und die Familienehre verteidigt. Und mit dem Schlagen hatten meistens die anderen angefangen, selten er selbst. Erst recht war er kein Verbrecher.

„Ich ... ich weiß es doch nicht.“ Alles drehte sich um ihn. Was war nur mit ihm los?

Angus legte ihm die Hand auf die Schulter. „Kieran, Junge, du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst. Erzähl mir, was passiert ist. Bis zum Beweis des Gegenteils weigere ich mich nämlich zu glauben, dass du das tatsächlich getan hast.“

Kieran hätte den Kopf geschüttelt, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass es ihm dadurch nur noch schlechter gegangen wäre. „Wieso? W-was ist denn passiert, Onkel Angus?“

Angus starrte ihn mit seinem Schlangenblick an, wie Kieran den nannte, weil er sich unter diesem Blick jedes Mal wie ein Kaninchen fühlte, das von einer Schlange fixiert wird. Dieser Blick war Angus’ probate Methode zu erkennen, wenn jemand ihn anlog. Niemand hielt diesem Blick stand, der kein reines Gewissen hatte.

Kieran hielt ihm stand. Angus’ Gesichtsausdruck wechselte von gequälter Härte zu Misstrauen, dann zu ungläubigem Erstaunen. „Das weißt du wirklich nicht mehr?“

Kieran bewegte vorsichtig den Kopf von einer Seite zur anderen. Schon das war zu viel. Er musste erneut würgen. Angus hielt ihm wieder die Nierenschale vor den Mund, doch Kierans Magen war vollkommen leer. „W-warum ist mir so übel?“

„Weil du dich buchstäblich bis zur Bewusstlosigkeit mit Whisky vollgesoffen hast. Die Übelkeit ist die ganz normale Begleiterscheinung eines Katers. Außerdem hast du eine Beule am Kopf und eine leichte Gehirnerschütterung. Es gibt allerdings eine Menge Leute, die zutiefst bedauern, dass du wieder aufgewacht bist.“

Jetzt begriff Kieran – reichlich verspätet –, wo er sich befand: in der Broadford-Klinik, die seit ihrer Gründung als „Dr. MacKinnon Memorial Hospital“ nicht nur von den MacKinnons geleitet wurde, sondern in der jedes vierte Clanmitglied arbeitete. Angus war leitender Arzt in der Notaufnahme. In Kierans Zweig der Familie war es Tradition, dass mindestens ein Sohn oder eine Tochter Medizin studierte und in der Klinik arbeitete. Für Kieran stand schon lange fest, dass er nach dem Schulabschluss in Angus’ Fußstapfen treten würde. Aber das war im Moment vollkommen nebensächlich.

„Bitte, Onkel Angus. Sag mir doch endlich, was los ist.“

Angus fixierte ihn noch einmal mit seinem Schlangenblick und schüttelte schließlich den Kopf, als Kieran ihm wieder standhielt. „Ich komme langsam zu dem Schluss, dass du dich wirklich nicht mehr erinnern kannst.“

„Woran denn? Bei der Liebe Gottes: Was soll ich denn getan haben?“

Angus räusperte sich und schluckte ein paar Mal. „Allison ist tot. Und du stehst unter dringendem Tatverdacht.“

Kieran glaubte, sich verhört zu haben. Allison – tot? Unmöglich! Er schüttelte den Kopf und ignorierte die Schmerzen. „Nein.“ Es klang wie das entsetzte Wimmern eines Kindes.

„Doch. Du hattest das blutige Messer in der Hand, ihr Blut von oben bis unten an deiner Kleidung und hast besinnungslos betrunken halb auf ihr gelegen, die leere Whiskyflasche neben dir. Jeder im Ort glaubt an deine Schuld, und die Polizei scheint auch schon davon überzeugt zu sein.“ Angus schüttelte den Kopf. „Aber du hast Allison doch nicht umgebracht. Du doch nicht, Kieran.“

Wieder starrte Angus ihn an, doch Kieran konnte nur den Kopf schütteln. Dies war ein schrecklicher, ein entsetzlicher Albtraum, aus dem er gleich erwachen würde. Erwachen musste. Allison war nicht tot. Sie lebte, und es ging ihr gut. Er war kein Mörder. Erst recht nicht Allisons. Er blickte Angus an und erwartete, dass dessen Gesicht jeden Moment vor seinen Augen verschwamm und er nach einem Augenblick der Dunkelheit und Orientierungslosigkeit in seinem Bett erwachte; wie immer, wenn er schlecht geträumt hatte.

Doch alles blieb, wie es war – die Handschellen, die Kopfschmerzen, die Übelkeit, Angus’ ernstes Gesicht.

„Nein.“ Nur ein Flüstern. „Nein!“ Ein wimmernder Ausruf. „Nein!“ Ein langgezogener Schrei, der die Wände erzittern ließ und abrupt abbrach, als Kierans Stimme versagte. Er brach in Tränen aus.

Angus zog eine Spritze auf, stach sie ihm in die Vene und injizierte ihm die Flüssigkeit. „Beruhige dich, Junge. Komm erst mal wieder auf die Beine. Danach sehen wir weiter. Ein Freund von mir ist Anwalt in Edinburgh. Ich frage ihn, ob er deine Verteidigung übernimmt.“

Kieran hörte ihn kaum. Er versuchte, sich durch den Schleier des Entsetzens hindurch daran zu erinnern, was passiert war. Das schwarze Loch blieb. In dem verschwand auch Angus, als das Mittel, das er Kieran gespritzt hatte, seine Wirkung tat und ihn einschlafen ließ.

*

Freitag, 7. Juli 1991

„Siebter Juli 1991, drei Uhr zweiunddreißig nachmittags. Verhör von Kieran MacKinnon zum Tatvorwurf der Tötung von Allison MacLeod. Anwesend sind Detective Sergeant Gordon McGill, Detective Constable Grace Dennison und der Beschuldigte Kieran MacKinnon. Also Junge, dann erzähl mal.“

McGill blicke Kieran auffordernd an. Der hatte nicht nur das Gefühl, immer noch in einem nicht endenden Albtraum gefangen zu sein; er hatte auch Angst. Nachdem er gestern Morgen aus der Klinik entlassen worden war, hatte man ihn zunächst in eine Zelle auf der kleinen Wache in Broadford gesperrt. Zwei Stunden später war Detective Sergeant McGill gekommen und hatte ihn unter Bewachung nach Fort William ins Northern Constabulary Headquarter gebracht.

Kieran war für die Bewachung dankbar, denn vor der Wache lauerte ein Mob, angeführt von Allisons Vater, der ihn wahrscheinlich umgebracht hätte, wenn McGills Leute ihn nicht daran gehindert hätten. Kieran war in seinem ganzen Leben noch nie mit einem so geballten Hass konfrontiert worden. Nicht einmal Paddy hatte ihn derart gehasst, nachdem er wegen Kieran durch den Unfall zum Krüppel geworden war.

Noch mehr als der Hass der Leute machte ihm aber McGill Angst. Das lag keineswegs nur an seiner Figur, die dem eines Ringers glich, oder daran, dass er bei doppelter Breite Kieran um einen Kopf überragte. Der Mann strahlte eine unbeugsame Härte aus und erweckte den Eindruck, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war und er sich von niemandem etwas gefallen ließ.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe, Junge?“

Kieran zuckte zusammen. Er mochte aus der Klinik entlassen sein, aber er fühlte sich alles andere als gut. Körperlich. Seelisch ging es ihm so beschissen wie seit dem Unfall nicht mehr. Nein, er fühlte sich noch schlimmer. Er hatte sich, seit er wieder in der Lage war, klar zu denken, das Gehirn zermartert, um sich zu erinnern, was passiert war. Vergeblich. Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Zumindest an nichts, was mit dem zu tun hatte, was er getan haben sollte. Sein Verstand weigerte sich hartnäckig, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass er jemanden umgebracht haben könnte. Am allerwenigsten Allison.

McGill und Constable Dennison starrten ihn an und warteten auf seine Antwort. Er nickte zögernd. Ja, er hatte McGills Frage gehört. Doch was sollte er darauf antworten?

„Und?“ Es klang wie ein Peitschenschlag.

„I-ich weiß nicht.“

„Du weißt was nicht? Warum du deine Freundin ermordet hast?“

Kieran schüttelte den Kopf. „Ich ... ich weiß gar nichts mehr. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.“

McGill verzog angewidert das Gesicht. „Das Märchen kennen wir zur Genüge. Das ist die Standardausrede der Feiglinge, die nicht genug Mumm besitzen, zu dem zu stehen, was sie getan haben.“ Er beugte sich vor. „Du bist doch kein Feigling, Junge. Oder?“

Kieran schüttelte den Kopf. Wenn man ihm eins nicht nachsagen konnte, dann, dass er jemals feige gewesen wäre.

„Dann erleichtere mal dein Gewissen. Du fühlst dich hinterher besser. Mein Wort drauf.“

„Ich war’s nicht!“ Er ballte die Fäuste.

McGill schnaufte verächtlich. „Bis jetzt hatte ich von dir den Eindruck, dass du eigentlich ein ganz vernünftiger Junge bist, der unter Alkoholeinfluss ausgerastet ist. Passiert einer Menge Leute, glaub mir. Aber dass du dich angeblich an gar nichts erinnern willst“, er schüttelte den Kopf, „das kaufe ich dir nicht ab.“ McGill beugte sich vor und starrte ihm in die Augen. „Also?“

Diese Geste wirkte durch seine massige Gestalt noch bedrohlicher, als er für Kieran in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter sowieso schon war. Er fühlte seinen Mund trocken werden und schluckte.

„Ich sage dir mal, was wir sicher wissen. Du warst mit Allison MacLeod, deiner Freundin – sie war doch deine Freundin?“

Kieran nickte. Eins der wichtigsten Dinge, die sein Vater ihm und Paddy beigebracht hatte, war, dass ein Mann, der mit einer Frau intim wurde, von dem Moment an selbstverständlich eine feste Beziehung mit ihr hatte und auch in vollem Umfang für alle sich daraus ergebenden Folgen geradestand. Kieran hatte sich allerdings bei Allison keine Gedanken darüber gemacht, dass man in absehbarer Zeit oder überhaupt von ihm erwarten würde, sie zu heiraten. Sie war ein liebes Mädchen, aber sie hatte keinen guten Ruf. Kieran war beileibe nicht ihr erster Freund. Vor ihm hatte es mindestens schon vier oder fünf andere Männer gegeben – unter ihnen Paddy –, mit denen sie gegangen war und auch geschlafen hatte. Kieran wäre ganz sicher nicht der Letzte gewesen. Erst recht nicht der Mann, den sie geheiratet hätte. Allison träumte von London und dem Leben als Frau eines reichen Mannes in der Metropole. Kieran träumte von Skye und einem Leben als Arzt in der Broadford-Klinik. Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis Allison sich von ihm getrennt hätte, um sich den Nächsten zu angeln.

„Also, du warst mit deiner Freundin auf der Geburtstagsfeier ihrer Schwester. Das haben elf Zeugen bestätigt. Gegen zehn Uhr hast du mit ihr das Haus verlassen.“

McGill sah Kieran fragend an und wartete wohl, dass er das bestätigte. Er nickte, denn daran erinnerte er sich tatsächlich noch.

„Du hast eine Flasche Whisky mitgenommen. Guten, achtzehnjährigen Talisker. Dann bist du mit dem Mädchen zum Strand gegangen.“

Auch daran erinnerte er sich und nickte.

„Du wolltest mit ihr schlafen, stimmt’s?“

Selbstverständlich hatten sie beide das gewollt. Darum hatten sie ja die Feier verlassen, um am Strand völlig ungestört zu sein.

„Du wolltest sie betrunken machen, damit du leichtes Spiel mit ihr hast, nicht wahr? Aber sie wollte nicht. Du warst frustriert, aber natürlich wolltest du trotzdem. Dann hat sie sich gewehrt und angefangen zu schreien. War es nicht so?“

Kieran schüttelte den Kopf. Beinahe hätte er trotz der prekären Situation gelacht. McGills Mutmaßungen waren lächerlich. Allison hatte Sex geliebt. Sie hatte nie Nein gesagt. Zu keinem Mann. Die Initiative war fast immer von ihr ausgegangen. An den Strand zu gehen und sich dort zu vergnügen, war ebenfalls ihre Idee gewesen. Sie hatte auch den Whisky mitgenommen.

„Sie wollte auch.“

McGill nickte. „Ich kann verstehen, dass du diesen Eindruck hattest. Frauen sind manchmal nicht ganz eindeutig mit dem, was sie sagen oder tun. Sie sagen Nein und meinen Ja. Sie geben einem Mann das Gefühl, dass sie wollen, aber wenn er das Angebot annimmt, sagen sie plötzlich Nein.“

Constable Dennison warf McGill einen pikierten Blick zu.

„Und in deinem Alter, mein Junge, kennt man sich noch lange nicht genug mit den Frauen aus, um zu wissen, was sie wirklich wollen.“ Er lächelte verständnisvoll. „Glaub mir, ein Leben reicht nicht aus, um die Frauen wirklich kennenzulernen.“

Kieran antwortete nicht. Er hatte das Gefühl, dass McGills Verständnis nicht echt war. Dass er ihn in eine Falle locken wollte. Und das machte ihm eine noch größere Angst, als er sie schon hatte.

„Also, Junge, wie war das nun?“

„Ich“, Kieran holte tief Luft, „ich weiß es nicht mehr. Wirklich nicht. Ich weiß nur noch, dass wir am Strand ...“ Er schluckte und versuchte erneut, sich zu erinnern. Vergeblich.

„Ja?“

„Wir haben getrunken und uns geküsst. Und ab da weiß ich nichts mehr. Wirklich nicht. Auf mein Ehrenwort!“

McGill funkelte ihn kalt an. „Wie du willst.“ Er knallte einen Gegenstand in einem durchsichtigen Beutel auf den Tisch. Es klirrte dumpf. Kieran zuckte zusammen. „Ist das dein Messer?“

Er starrte darauf. Am Griff und an der Klinge klebte Blut. War das sein Messer? Der aus Nussbaumholz geschnitzte Griff wies die beiden „Augen“ in der Maserung auf, die Kieran damals veranlasst hatten, sich dieses Messer auszusuchen und kein anderes. Sie wirkten immer noch mystisch auf ihn. Die Kante des Griffes besaß eine Kerbe. Kieran hatte mit dem Messer Wurfübungen veranstaltet. Einmal war es dabei gegen einen scharfkantigen Stein geprallt und trug seitdem diese Delle. Und oberhalb des Hefts sah er das winzige, jetzt mit getrocknetem Blut überzogene K, das er eingeritzt hatte, um es als sein Eigentum zu kennzeichnen. Das war zweifellos sein Messer.

„Ja, aber ...“

„Mit diesem Messer wurde Allison MacLeod umgebracht.“

Eisiger Schrecken durchzuckte ihn. „Aber das war ich nicht! Ich hab das nicht getan!“

McGill fixierte ihn mit einem starren Blick.

Hatte Kieran Onkel Angus’ Blick schon als den einer lauernden Schlange kurz vor dem Zustoßen empfunden, so hatte er jetzt das Gefühl, in einer Schlangengrube zu sitzen und von hundert Giftnattern bedroht zu werden. Ihm brach der Schweiß aus. McGill entging diese Reaktion nicht.

„Also, Junge, wie wäre es endlich mit der Wahrheit?“

Kieran nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Ich kann mich wirklich an nichts erinnern. Und das ist die Wahrheit. Sir.“

„Aber du erinnerst dich, dass du Allison nicht umgebracht hast.“ McGills Stimme klang eisig. „Wie denn, wenn du dich angeblich an nichts erinnerst? Woher willst du wissen, dass du es nicht getan hast?“

„Ich bin kein M-Mörder!“

Wenn er Allison tatsächlich umgebracht hätte, müsste er das doch wissen. Oder? Er ballte die Fäuste und presste sie gegen die Schläfen, als könnte er durch den Druck die Erinnerungen in seinen Schädel zwingen. Doch das schwarze Loch darin blieb.

„Von mir aus kannst du leugnen, so viel du willst. Die Ergebnisse der kriminaltechnischen und rechtsmedizinischen Untersuchungen sind eindeutig. Ein Geständnis ist das Einzige, was deine Lage noch verbessern könnte.“

Kieran blickte ihn verständnislos an.

„Mörder bekommen in diesem Land lebenslänglich. Vielleicht lässt das Gericht in Anbetracht deiner Jugend Milde walten, wenn du gestehst und vor allem Reue zeigst.“

„Aber ... aber ich habe doch nicht ...“ Er schüttelte heftig den Kopf. Keine gute Idee, denn das brachte augenblicklich die Kopfschmerzen zurück, die ihn quälten, seit er im Krankenhaus aufgewacht war. Was nicht nur am Whisky lag. Er hatte eine respektable Beule am Kopf – der Teufel mochte wissen woher – und eine leichte Gehirnerschütterung gehabt.

„Ich kann doch nichts gestehen, an das ich mich nicht er...“

McGill schnitt ihm mit einem heftigen Schlag auf den Tisch das Wort ab. „Du weißt ganz genau, was du getan hast! Und jetzt rede endlich.“

Kieran schüttelte den Kopf. „Ich sag kein Wort mehr.“

Die Tür wurde aufgerissen, ehe er das letzte Wort gesprochen hatte. Ein elegant gekleideter Mann stürmte herein, gefolgt von einem Constable, der vergeblich versuchte, ihn zurückzuhalten.

„Und daran tun Sie gut, Mr MacKinnon. Sie hätten von Anfang an kein einziges Wort sagen sollen, ohne dass wir miteinander gesprochen haben.“ Er legte Kieran die Hand auf die Schulter. „Hat man Ihnen Ihre Rechte verlesen?“

McGill war aufgesprungen. „Wer zum Teufel sind Sie? Und was fällt Ihnen ein, einfach in ein Verhör reinzuplatzen?“

„Mir fällt so einiges ein, wenn ich mir bewusst mache, wie eklatant Sie hier die Rechte meines Mandanten verletzen. Und wer ich bin: Bryce Logan aus Edinburgh. Mr MacKinnons Anwalt.“ Er blickte Kieran kurz an. „Mit einem schönen Gruß von Angus.“

Kieran fühlte sich so erleichtert, dass er beinahe weinen musste. Onkel Angus hatte Wort gehalten. Alles würde gut werden.

„Kann ich Ihre Legitimation sehen und Ihre Vollmacht?“

Logan legte ein Schriftstück vor Kieran auf den Tisch und reichte ihm einen Kugelschreiber. „Unterschreiben. Dann bin ich auch offiziell Ihr Anwalt. Angus zahlt.“

Kieran nahm den Stift und unterschrieb auf der gestrichelten Linie, auf die Logan deutete. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass McGill ihn missbilligend ansah.

Bryce Logan machte eine scheuchende Kopfbewegung zur Tür. „Und jetzt würde ich gern mit meinem Mandanten unter vier Augen reden. Ihr unrechtmäßiges Verhör ist beendet.“

„Ende des Verhörs: drei Uhr siebenundfünfzig“, sprach McGill unbeeindruckt ins Mikrofon des Aufnahmegeräts und schaltete es aus. „Nur zu Ihrer Information, Mr Logan.“ Er hob den Asservatenbeutel mit Kierans Messer hoch. „Die Tatwaffe trägt ausschließlich die Fingerabdrücke Ihres Mandanten und wurde von ihm als sein Eigentum identifiziert. Das Blut des Opfers ist auf der Klinge und war an seiner Kleidung. Seine Fingerabdrücke finden sich auch auf der leeren Whiskyflasche, die neben ihm am Tatort gefunden wurde, auf der ebenfalls Blutspuren des Opfers sind. Ihr Mandant wurde mit der Tatwaffe in der Hand bis zur Besinnungslosigkeit betrunken halb auf dem Opfer liegend gefunden. Das sind die unwiderlegbaren Fakten. Für die Details in den Berichten der Rechtsmedizin und der Kriminaltechnik können Sie nachher die Akte einsehen. Am besten raten Sie ihm zu einem Geständnis. Sein angeblicher Blackout wird ihm bei dieser Beweislage nichts nützen.“

Logan würdigte ihn keiner Antwort. Er wartete, bis McGill und Constable Dennison den Raum verlassen hatten, ehe er sich auf den Platz setzte, den der Sergeant geräumt hatte. Er legte seine Aktentasche auf den Tisch und entnahm ihr einen Notizblock.

„Tja, Mr MacKinnon, Sie stecken ganz schön tief in der Scheiße. Was die gegen Sie in der Hand haben, ist kein Pappenstil. Hat man Ihnen Ihre Rechte verlesen?“

Kieran schüttelte den Kopf. Er versuchte die Anrede „Mr MacKinnon“ auf sich zu beziehen. Es gelang ihm nicht. Mr MacKinnon war sein Vater oder Onkel Angus. Kieran war noch nicht alt genug, um von den Älteren mit Mister angeredet zu werden. Dass es jetzt geschah, ließ in ihm ein dumpfes Gefühl neuer Angst entstehen.

„Dann kann alles, was Sie bereits zugegeben haben, vor Gericht nicht verwendet werden. Gut. Und ab jetzt sagen Sie kein einziges Wort, ohne dass ich dabei bin, verstanden?“

Kieran nickte. „Kann man mich denn verurteilen, wenn ich mich an gar nichts erinnere?“

Logan zog die Augenbrauen hoch. „Mr MacKinnon, ich bin Ihr Anwalt. Ich unterliege der absoluten Schweigepflicht über alles, was wir in vertraulichen Anwalt-Mandanten-Gesprächen miteinander bereden. Mir gegenüber müssen Sie also keine Spielchen spielen. Und wenn Sie mir hundert Morde gestehen, werde ich Sie trotzdem mit – juristischen – Klauen und Zähnen vor Gericht verteidigen.“

Kieran starrte ihn ungläubig an und begriff die Welt nicht mehr. Nicht dass er sie vorher verstanden hätte. „Aber Sie sind doch mein Anwalt. Sie müssen mir glauben!“

„Träumen Sie weiter, Mr MacKinnon. Mein Job ist es, Sie mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln juristisch zu vertreten, ganz gleich ob ich Ihnen glaube oder nicht. Die auf Sie als Täter hinweisenden Tatsachen sind erdrückend. Falls ich nicht noch eine Unstimmigkeit in den Berichten und Protokollen finde oder echtes Entlastungsmaterial auftaucht, sehe ich schwarz. Das Einzige, was ich dann noch für Sie tun könnte, ist zu versuchen, wegen Unzurechnungsfähigkeit durch übermäßigen Alkoholgenuss das Strafmaß so weit wie möglich runterzuhandeln. Um mehrere Jahre Gefängnis kämen Sie in dem Fall aber nicht herum.“

Kalter Schrecken durchzuckte Kieran und formte sich zu einem Übelkeit erregenden Klumpen in seinem Magen. Er konnte nur beten, dass seine Unschuld bewiesen wurde, denn er war doch unschuldig, verdammt! Das musste sich doch beweisen lassen. Denn wenn nicht ...

„Ich hab das nicht getan! Ich habe doch gar kein Motiv.“ Er blickte Logan verzweifelt an.

„Das Motiv ergibt sich für die Jury im Zweifelsfall aus Ihrer Trunkenheit. Unter Alkoholeinfluss ist schon so mancher friedliche und bis dahin völlig unbescholtene Mann ausgerastet und gewalttätig geworden.“ Er sah Kieran mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Und bei Ihrem Ruf, keinem Streit aus dem Weg zu gehen und auch schon mal Nasen zu demolieren …“

„Aber doch nur, wenn ich angegriffen werde oder die mal wieder auf Paddy rumhacken, der sich nicht wehren kann!“

Logan schüttelte den Kopf. „Auf dem Hintergrund des jetzigen Tatvorwurfs wirkt das aber ganz anders und wird von der Jury garantiert so interpretiert werden, dass Sie grundsätzlich gewaltbereit sind und es sowieso nur noch eine Frage der Zeit war, bis Sie mal jemanden ernsthaft verletzen. Dazu der Suff … Wie gesagt, falls nicht noch irgendetwas Entlastendes auftaucht, wird kaum jemand an Ihrer Schuld zweifeln.“ Logan beugte sich vor. „Also, Mr MacKinnon, erzählen Sie mir, was passiert ist. Und zwar in allen Einzelheiten.“

„Wo sind meine Eltern?“ Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Eltern und auch Paddy ihn nicht besucht hatten. Nicht im Krankenhaus und hier in Fort William schon gar nicht. „Dürfen sie nicht zu mir?“

Logan blickte ihn mit einer Mischung aus Verlegenheit und Mitgefühl an. Der Blick verursachte Kieran ein Gefühl böser Vorahnung.

„Darf ich sie nicht sehen?“

„Das dürften Sie schon. Aber“, Logan räusperte sich und strich sich über Mund und Kinn, „aber Ihre Eltern wollen Sie nicht sehen. Ich“, er räusperte sich erneut, „ich habe hier einen, eh, einen Brief, den ich Ihnen geben soll.“ Er griff in seine Aktentasche und holte einen zusammengefalteten Zettel heraus, den er Kieran hinschob. „Es tut mir leid.“

Kieran begriff im ersten Moment nicht, dass dieser Zettel der von Logan erwähnte Brief sein sollte. Er war hastig von einem Block abgerissen worden, denn der obere Rand war ausgefranst und eine Ecke fehlte. Kieran faltete ihn mit zitternden Fingern auseinander. Er erkannte die Schrift seines Vaters, die so tief in das Papier gedrückt worden war, dass es an drei Stellen entlang der Linien der Buchstaben eingerissen war. Offenbar hatte sein Vater die wenigen Worte darauf in großer Erregung geschrieben. Sie vernichteten Kieran vollständig.

„Clan MacKinnon hat keinen Sohn Kieran mehr.“

Er brach inTränen aus.

2

Freitag, 26. August 2011

Die Seeluft schmeckte würzig auf seiner Zunge und kitzelte im Rachen. Kieran hielt das Gesicht dem Wind entgegen und hoffte, dass niemand ihn beobachtete, wie er mit offenem Mund die Luft in die Lungen sog, weil er dabei wahrscheinlich nicht sehr intelligent aussah. Er hatte den Duft und den Geschmack seiner Insel so lange vermisst, dass er beides jetzt bis zur Neige auskosten wollte. Ebenso das Spiel des ständig wechselnden Lichts, das durch die Wolken erzeugt wurde, die der Wind über die Insel trieb und deren Schatten die bizarrsten Muster auf Wasser und Land malten.

Obwohl er Wind und Sonne auf seiner Haut tatsächlich ebenso genoss wie die ihm endlos erscheinende Weite um ihn herum, die nicht von Mauern beschnitten und von einem Zellengenossen in mehr als einer Hinsicht verpestet wurde, nutzte er das Bad in der frischen Seeluft in erster Linie als Verzögerungstaktik. Er war von Harrapool den bei Ebbe steinigen Strand entlang nach Broadford gewandert, um eine Reise in die Vergangenheit anzutreten, die ihm hoffentlich ein paar Antworten liefern würde. Wenn er den Ort aufsuchte, an dem Allison damals gestorben war – an dem er sie getötet hatte –, kehrte die Erinnerung vielleicht wieder zurück.

Wie sein Anwalt Bryce Logan damals befürchtet hatte, war kein Detail mehr aufgetaucht, das ihn entlastet hätte. Die Jury war nicht nur anhand der Beweislage von Kierans Schuld überzeugt gewesen, sondern sein Ruf als Raufbold hatte ein Übriges getan. Der Staatsanwalt hatte jeden einzelnen dokumentierten Fall vorgetragen, bei dem Kieran jemanden verletzt hatte, sogar solche Fälle, die noch aus seiner Grundschulzeit stammten. Die Liste war erschreckend lang gewesen und malte selbst für Kieran das Bild eines brutalen Menschen, der er doch gar nicht war. Zumindest damals noch nicht. Später im Knast …

Jedenfalls hatte das belastendste Detail, das Logan zu einem Entlastungsindiz umzubauen versucht hatte, ihm am Ende das Genick gebrochen. Die Stiche, mit denen Allison getötet worden war, waren äußerst präzise gewesen, weshalb der Staatsanwalt in Zweifel gezogen hatte, dass jemand sie ihr zugefügt haben könnte, der so betrunken gewesen war, dass das zu einem vollständigen Blackout geführt hatte. Logans gewagte These, dass das ein Indiz dafür wäre, dass jemand anderes den Mord begangen haben könnte, als Kieran schon besinnungslos betrunken war, hatte nicht nur beim Staatsanwalt für sarkastische Heiterkeit gesorgt, denn es gab dafür nicht den geringsten Beweis und nicht einmal den Hauch eines Indizes.

Stattdessen hatte das Gutachten die Jury davon überzeugt, dass Kieran keinen Totschlag in betrunkenem Zustand begangen hatte, sondern einen kaltblütigen Mord und sich erst nach der Tat betrunken hätte, um auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren zu können und eine mildere Strafe zu bekommen. Das hatte ihn auch noch die letzten, ohnehin nicht nennenswerten Sympathiepunkte bei der Jury gekostet und ihn in ihren Augen zu einem Monster abgestempelt. Sogar seine Eltern hielten ihn für schuldig, und auch Onkel Angus hatte das schließlich geglaubt, obwohl er sich noch am längsten daran geklammert hatte, dass Kieran unschuldig sein könnte.

Logan hatte zwar noch einen Gegengutachter aufgefahren, der eloquent dargelegt hatte, dass Kieran durch die verzögerte Wirkung des Alkohols zwar noch zu einer gewissen Präzision in der Lage gewesen war, spätestens zum Zeitpunkt der Tat aber trotzdem nicht mehr gewusst hatte, was er tat, und der Blackout echt war. Damit hatte er aber auch zugegeben, dass Kieran die Tat begangen hatte, an die er sich immer noch nicht erinnern konnte.

Kieran hatte sich im Gefängnis lange Zeit einzureden versucht, dass er trotzdem unschuldig war, denn zwischen ihm und Allison war doch alles in Ordnung gewesen, und er hatte kein Motiv gehabt, sie umzubringen. Das hatte Dr. Fraser, der Anstaltspsychologe, bei dem Kieran eine Therapie hatte machen müssen – unter anderem, um sein Gewaltpotenzial in den Griff zu bekommen –, jedoch nachhaltig widerlegt.

„Wer, wenn nicht Sie, soll es denn sonst gewesen sein, Mr MacKinnon? Nach der mir vorliegenden Fallakte gab es weit und breit keine Spuren, dass noch jemand anderes am Tatort gewesen sein könnte. Und es gab niemanden, der ein Motiv gehabt hätte, Ihre Freundin zu töten. Bleiben nur noch Sie als Täter übrig. Ihr Motiv: irgendetwas, das zwischen Ihnen und Ihrer Freundin in dem Moment vorgefallen ist und Sie hat ausrasten lassen. Sie haben sie getötet, niemand sonst. Und tief in Ihrem Innern wissen Sie das auch. Sie verdrängen es nur. In unseren Sitzungen werden wir daran arbeiten, diese Erinnerung wieder hervorzuholen. Und danach werden wir an der Bewältigung Ihrer Schuld arbeiten. Je eher Sie aufhören zu leugnen, dass Sie die Tat begangen haben – auch vor sich selbst –, desto eher könnten Sie begnadigt und auf Bewährung entlassen werden.“

Kieran hatte noch eine Zeit lang jedes nur mögliche Argument in die Waagschale geworfen, das auf seine Unschuld hindeutete, auch die absurdesten Theorien. Fraser hatte jedes schlüssig und zweifelsfrei widerlegt. So blieb Kieran am Ende nichts anderes übrig, als seine Schuld zu akzeptieren und dazu zu stehen, dass er Allison getötet hatte. Trotzdem war die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Abend bis heute nicht zurückgekehrt.

Deshalb war er jetzt hier und hoffte, dass eine Konfrontation mit dem Tatort den Schleier des Vergessens endlich lüften würde, denn die Ungewissheit nagte auch nach zwanzig Jahren noch an ihm. Gleichzeitig fürchtete er sich vor dem, was er erfahren könnte.

Die Stelle war keine hundert Yards entfernt. Der Pier, der das Ende der Sraid na h-Atha bildete und an dem die Fischerboote vertäut waren, hatte sich nicht sehr verändert. Wie immer bei Ebbe lagen die wenigen Boote links und rechts auf Grund, und Gras wuchs zwischen den Steinen des Piers. Die alte Ruine hinter dem letzten Haus, das gute fünfzig Yards vom grasbewachsenen Ufer entfernt stand, existierte immer noch.

In der Nische, wo der Pier auf das Ufer traf, hatten er und Allison sich auf dem steinigen Strand niedergelassen. Die Erinnerung an den folgenschweren Abend stieg langsam und dunkel in ihm auf. Die Steine rochen damals wie heute nach Tang und waren teilweise von Schlick überzogen. Kein besonders romantischer Ort, aber Allison war das egal gewesen. Im Gegenteil, sie hatte oft solche ungewöhnlichen Orte ausgesucht, von denen einige eher als Notbehelf für die Arbeit einer Straßenhure taugten. Kieran hatte nie verstanden warum.

Er wandte sich vom Meer ab und ging auf den Pier zu. Wie auf dem letzten Stück des Weges zu seinen Eltern schienen seine Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden, und das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Auf dem Stellplatz neben dem Pier standen zwei Autos. Ein Mann koppelte einen Bootsanhänger ab. Da Kieran Aufmerksamkeit erregen würde, wenn er mitten auf dem Strand stehen blieb und die Nische anstarrte, blickte er nur aus den Augenwinkeln hinüber, während er langsam weiterging.

Vielleicht hätte er sich intensiv mit diesem Ort auseinandersetzen sollen. Vielleicht hätte er stehen bleiben und auf die Ufernische starren müssen, bis die Blockade um sein Gedächtnis sich endlich auflöste. Denn er empfand nur Unbehagen beim Anblick des Schauplatzes und eine zunehmende Enge in der Brust. Und seine Beine weigerten sich, daran vorbeizugehen.

Er blieb stehen, wandte sich wieder dem Meer zu, schloss die Augen und atmete tief die klare Luft ein. Das beruhigte ihn. In ein paar Minuten würde er genug Mut gesammelt haben, um über den Pier auf die Straße zu gehen, ohne einen großen Bogen um die Nische zu machen.

„Wird heute noch Regen geben.“

Kieran zuckte beim Klang der Stimme zusammen. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass jemand sich ihm näherte. Im Gefängnis wäre so eine Unaufmerksamkeit unter Umständen tödlich gewesen. Hier war sie nur unangenehm, denn Mr Drew war der Letzte, den er sehen oder mit dem er sprechen wollte. Hätte er ihn kommen sehen, wäre er weitergegangen, bevor der Alte nahe genug gewesen wäre, um ihm ein Gespräch aufzuzwingen, denn Mr Drew schwatzte gern und viel.

„Schmeckt man in der Luft. Den Regen.“ Der Alte hängte seinen erst spärlich gefüllten Muschelkorb über den Arm, ehe er sich neben Kieran stellte und ebenfalls die Seeluft durch den Mund einatmete. „Diesen leicht metallischen Geschmack. Schmecken Sie ihn?“

Kieran nickte und überlegte, wie er das Weite suchen konnte, ohne unhöflich zu sein.

„Sicher tun Sie das. Sie sind ja ein Skyeman.“ Mr Drew legte den Kopf schief und blickte Kieran aus verengten Augen an. „MacAskill sagten Sie?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, dass wir uns kennen.“

Kieran antwortete nicht.

„Ah, das fällt mir schon noch ein.“ Er sah Kieran durchdringend an. „Sie wissen sicher, was hier passiert ist, junger Mann. Vor zwanzig Jahren. Da drüben.“ Mr Drew deutete auf die Nische.

Kieran erschrak. Hatte er ihn doch erkannt? Da er nicht wusste, wie er reagieren sollte, tat er gar nichts und starrte auf den Boden. Ausdruckslos, wie er hoffte.

„War eine ziemlich üble Geschichte. Ein Junge aus dem Ort hat sein Mädchen ermordet. Genau da drüben hat er sie erstochen. Nur der Teufel weiß, warum er’s getan hat. In der Zeitung haben sie ihn den Broadford-Killer genannt.“

Dieser unrühmliche Titel hatte Kieran unerwarteten Respekt verschafft. Zumindest im Jugendknast, in dem er die ersten zweieinhalb Jahre seiner Strafe verbüßt hatte, bis er mit einundzwanzig in eine Strafanstalt für Erwachsene überstellt worden war. Dort verschaffte einem ein Mord nur dann Respekt, wenn er spektakulär war, in einer Serie gipfelte oder der Ermordete ein Polizist gewesen war. Frauenmörder gab es in Saughton mehrere Dutzend, und sie genossen keinen Respekt. Zumindest nicht wegen ihrer Tat. Ein Mann, der eine Frau tötete, galt als Schwächling. Wollte er Respekt, musste er sich den mit brutaler Gewalt erkämpfen.

„Ja, zwanzig Jahre haben sie ihm gegeben. Kannte den Jungen. Kam aus einem guten Stall. Hätte ich ihm nie zugetraut, so was. Dass ausgerechnet ein MacKinnon ...“

Mr Drew stutzte und runzelte die Stirn. Sein Kopf ruckte zu Kieran herum. Der konnte förmlich sehen, wie dem Alten die Erkenntnis dämmerte, wer er war. Erschrecken malte sich auf Mr Drews Gesicht, wandelte sich zu Entsetzen und wurde zu nackter Angst. Er stolperte zwei Schritte zurück und streckte Kieran eine zitternde Hand entgegen.

„Dein Name ist nicht MacAskill. Du bist Kieran MacKinnon!“

Dass der Alte solche Angst vor ihm hatte, beschämte Kieran zutiefst. „Ja, Mr Drew. Ich bin wieder da.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Aber keine Sorge, ich bringe ganz bestimmt niemanden mehr um.“

Er drehte sich um und ging zum Pier, so schnell er konnte, ohne den Anschein zu erwecken, er würde davonlaufen. Mr Drews Entsetzen verursachte einen dicken Kloß in seinem Hals und schmerzte beinahe so sehr wie die Zurückweisung seiner Eltern und seines Bruders. Zwanzig Jahre – und man sah in ihm immer noch einen Mörder. Ein Monster. Nichts anderes.