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Cian Waterman liegt tot in seinem Pub Merman's Song, gleichzeitig vergiftet, erstochen und mit eingeschlagenem Schädel. Die Tat einer einzelnen Person oder mehrerer? Denn viele haben ein Mordmotiv. Sein Schwager, der den Verkauf des Pubs verhindern wollte. Seine junge Geliebte, die den Pub erbt. Drei Männer, mit denen er Streit hatte. Und ein alter Kumpel, den er erpresste. Oder ist der geheimnisvolle Mann, der unmittelbar nach der Tat in der Nähe des Pubs gesehen wurde, der Mörder? Ein schwieriger Fall für Inspector Cathal O'Donovan, denn je tiefer er in Watermans Leben eintaucht, desto mehr Abgründe offenbaren sich ihm – und ein Geheimnis, das ihm vielleicht zum Verhängnis wurde. Ein klassischer Ermittlungskrimi im irischen Limerick mit erlesenem Whiskey, Limericks und "Irish Flair".
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Seitenzahl: 328
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Alle Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Menschen oder Begebenheiten wären Zufall. Auch der Pub „Merman’s Song“ sowie die Destillerie „Merman O’Rourke’s“ sind erfunden und existieren real (leider) nicht. Real ist jedoch der Whiskey „Merman’s Reserve“, der speziell für dieses Buch komponiert wurde. Eine Bezugsadresse finden Sie unter „Wissenswertes“ im Anschluss an den Roman. Authentisch sind ebenfalls alle genannten Straßen und öffentlichen Gebäude. Bei nicht öffentlichen Adressen wurden die Gebäude und Hausnummern aus rechtlichen Gründen ebenfalls frei erfunden.
Ein Glossar der irischen Ausdrücke und Namen mit ihrer Übersetzung und Aussprache finden Sie am Ende des Buches.
„Das kannst du nicht tun!“ Alan ballte die Fäuste.
Sein Schwager grinste ihn spöttisch an. „Wem gehört dieser Pub doch gleich?“ Er deutete mit dem Daumen auf seine Brust. „Mir. Er ist mein rechtmäßiges Erbe von meiner Frau, ich bin der alleinige Eigentümer, und ich kann mit meinem Pub machen, was ich will. Auch ihn verkaufen, wann und an wen ich will.“
Alan schüttelte den Kopf. „Cian, bitte! Merman’s Song ist seit Generationen in unserer Familie, mit den O’Rourkes untrennbar verbunden. Du bist Teil der Familie, da kannst du doch nicht einfach ...“
„Hört, hört!“ Cians Stimme triefte vor Hohn. „Das sind ja mal ganz neue Töne. Eure ganze Familie war gegen mich, als ich Róisín heiraten wollte. Ihr habt ihr sogar mit Enterbung gedroht und keinen Hehl daraus gemacht, dass ich euch nicht willkommen bin. Aber jetzt, ganz plötzlich“, er breitete theatralisch die Arme aus, „bin ich Teil der Familie.“ Er schnaubte. „Aber nur weil euch der Arsch auf Grundeis geht und ihr mich mit dieser Schleimerei daran hindern wollt, den Pub zu verkaufen.“
Alan seufzte und schüttelte erneut den Kopf. „Die ursprünglichen Ressentiments gegen dich gingen ausschließlich von unserem Vater aus, und das weißt du. Du kannst wohl kaum behaupten, dass auch nur ein einziges Familienmitglied außer ihm dich unangemessen behandelt hat. Und sogar der Alte hatte schon lange vor seinem Tod eingesehen, dass er sich in dir getäuscht hat und dich als Schwiegersohn akzeptiert. Also, wenn du den Pub unbedingt verkaufen willst, dann verkauf ihn uns.“
Cian tippte sich mit dem Finger ans Kinn. „Mal überlegen.“
Die Tür seines Büros wurde geöffnet, und Cassidy McCabe trat ein. Sie arbeitete im Pub, war aber wohl mehr als nur eine einfache Bedienung, denn sie und Cian gingen sehr vertraut miteinander um.
„Raus!“, schnauzte Cian sie an.
Sie blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn herausfordernd an. „In dem Ton ganz bestimmt nicht. Außerdem brauche ich Wechselgeld. Der Vorrat ist aufgebraucht.“
Cian zog ein Schlüsselbund aus der Hosentasche und warf es ihr zu. Sie fing es auf, ging zum Safe hinüber, der in einer Ecke als zweiter Tisch diente, schloss ihn auf und tippte die zusätzlich erforderliche Codenummer ein.
„Also“, Cian wandte sich Alan wieder zu und grinste ihn an, „nach reiflicher Überlegung: nein. Ich verkaufe den Pub nicht an euch.“
„Cian ...“
„Und das ist mein letztes Wort. Raus!“
Alan schluckte seine Wut hinunter; vorerst. Denn wenn sein Schwager in dieser Stimmung war, konnte man sowieso nicht mit ihm reden. Alan fragte sich nicht zum ersten Mal, was Róisín an ihm gefunden hatte, war aber immer bereit gewesen, ihn zu akzeptieren. Aber dass er jetzt Merman’s Song an Fremde verkaufen wollte – das ging zu weit. Ja, Róisín hatte Cian den Pub testamentarisch ausdrücklich hinterlassen, vermutlich, um ihn auch nach ihrem Tod an die O’Rourkes zu binden. Gerade deshalb konnten sie nicht zulassen – würden sie nicht zulassen, dass er an Fremde verkauft wurde. Aber im Moment konnte Alan hier nichts ausrichten. Er trat den Rückzug an.
„Ich hoffe, du überlegst es dir noch anders. Welchen Preis du auch für den Pub verlangst, wir bezahlen ihn.“
Cian grinste wieder. „Nicht für alles Geld der Welt. Und nicht mal für eure Destille gratis obendrein. Einen schönen Abend noch, Al.“
Alan verließ das Büro und musste an sich halten, um weder die Tür zuzuknallen noch Cian im Vorbeigehen in die Eier zu treten oder ihm Schlimmeres anzutun. Wonach ihn mit aller Macht gelüstete. Aber dafür war hier weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Schon gar nicht mit Cassidy als Zeugin, die ihn wachsam beobachtete. Aber das letzte Wort in dieser Angelegenheit war noch nicht gesprochen. Noch lange nicht! Wenigstens ließ sich die Außentür des Pubs zuknallen, und das tat Alan mit Genuss.
Cassidy schloss den Safe, warf Cian die Schlüssel zu und schüttelte den Kopf. „Musste das sein?“
„Geht dich das irgendwas an?“, knurrte er.
Sie nickte. „Schließlich arbeite ich hier, und wenn du den Pub verkaufst, betrifft das auch mich.“
Cian winkte ab. „Hab ich nicht vor. Ich wollte meinen lieben Schwager nur ein bisschen ärgern und ihm und seiner Familie ein paar schlaflose Nächte verschaffen.“
Sie schüttelte erneut den Kopf. „Du musst sie ja mächtig hassen für solche Niedertracht.“
„Niedertracht?“ Er schnaubte. „Du hast keine Ahnung, wie die mich behandelt haben. Dafür haben sie erheblich mehr verdient als nur ein paar schlaflose Nächte.“
„Man sollte die Vergangenheit auch irgendwann mal ruhen lassen, Cian. Wie ich verstanden habe, ist die Zeit der Anfeindung durch die O’Rourkes lange vorbei. Und kleinliche Rache hat noch nie was Gutes bewirkt.“
Er blickte sie nachdenklich an. „Du hältst doch auch an deiner Vergangenheit fest. Gewissermaßen.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin bereit loszulassen. Jederzeit. Denn ich habe mit ihr abgeschlossen, als ich dich kennenlernte.“
Er hob die Augenbrauen. „Ein Kompliment?“
Sie grinste flüchtig. „Träum weiter.“
Er lachte, wurde aber gleich wieder ernst. „Komm mal her, Cassie.“
Sie gehorchte.
Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. „Ich werde Merman’s Song nicht verkaufen. Weil ich will, dass du ihn bekommst, wenn ich irgendwann mal sterbe.“
„Was?“ Sie schob seine Hände von ihren Schultern und starrte ihn perplex an. „Das …“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum?“
„Blöde Frage“, schnaubte er. „Warum wohl? Du bedeutest mir was.“ Er räusperte sich. „Eine Menge, um genau zu sein. Ich kann das nur nicht immer richtig zeigen. Kennst mich ja.“ Ein flüchtiges Lächeln.
Sie runzelte die Stirn. „‚Nicht immer richtig zeigen’ ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, beschwerte sie sich. „Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, dass du“, sie schluckte, „mich hasst.“
„Aber nein!“ Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. „Nein. Im Gegenteil. Bin eben einfach nicht der sentimentale Typ. Und außerdem …“ Er seufzte.
„Ja.“ Cassidy machte sich von ihm los. Dieses „Außerdem“ würde trotz allem immer zwischen ihnen stehen; das war ihr klar. „Deswegen musst du mir aber nicht den Pub vermachen. Der ist verdammt viel wert und eine Goldgrube.“
„Eben deshalb. Du kannst ihn führen, hast du gut gelernt während der letzten zwei Jahre, und bist perfekt für den Job. Bist ja sowieso schon die Geschäftsführerin. Außerdem habe ich schon ein Testament gemacht, das die Sache regelt. Nur für alle Fälle, damit die O’Rourkes ihn nicht bekommen.“ Er hob die Hand, als Cassidy etwas sagen wollte. „So will ich es, und so wird es gemacht. Und jetzt scher dich wieder an die Arbeit.“ Ein Augenzwinkern nahm der Barschheit den Stachel.
Sie schüttelte den Kopf und kehrte in den Schankraum zurück. Ronny, ein Stammgast, winkte ihr mit seinem leeren Bierglas zu. Sie verstaute das Wechselgeld in der Kasse, zapfte ein neues Guinness und brachte es ihm. Er schob ihr einen Zehn-Euro-Schein hin.
„Stimmt so.“
„Danke.“
Wenn alle Gäste drei Euro Trinkgeld gäben, wäre Cassidy schnell reich, denn Cian bestand darauf, dass alles Trinkgeld, das seine Angestellten ausgehändigt bekamen, auch ihnen allein gehörte. Sie buchten den Rechnungsbetrag in die Kasse ein und das Wechselgeld aus und steckten das Trinkgeld gleich in die eigene Tasche. Cassidy hatte sich zu dem Zweck eine Gürteltasche besorgt, die zumindest an den Wochenenden immer sehr gut gefüllt war; manchmal mit bis zu zweihundert Euro.
Und nun war sie auch noch die Erbin des Pubs. Kaum zu fassen. Sie sah sich um. Das Merman’s Song strahlte außen wie innen den Charme des alten Irlands aus und stand inzwischen unter Denkmalschutz. Die Fassade war meerblau gestrichen mit aufgemalten schaumgekrönten Wellen, in denen sich Nixen tummelten. Über der Fensterfront – außen wie innen – lag der langhaarige, vollbärtige Nixenkönig, der Merman, in der Hand eine Harfe, den Kopf zurückgelegt und den Mund geöffnet, dem dunkelblaue Notensymbole entwichen. Zufällig hatte sein Gesicht eine frappierende Ähnlichkeit mit „Aquaman“ Jason Momoa. Seit dem Erfolg des Films war die Beliebtheit des Pubs besonders bei den Touristen sprunghaft gestiegen.
Das Mobiliar bestand größtenteils noch aus den alten, ursprünglich handgeschreinerten Tischen und Stühlen. Wegen der Auflagen des Denkmalschutzes und auch, um den Charme des alten Flairs zu erhalten, wurden erforderliche Ersatzmöbel originalgetreu nachgebildet. Die Wände waren holzvertäfelt und ebenfalls mit Bemalungen verziert, die dem Namen des Pubs gerecht wurden.
Und weil Merman’s Song in Limerick stand, der Stadt der Limericks, wurde an jedem letzten Samstag eines Monats ein Gedichtwettbewerb ausgerichtet und in den Medien sowie den Touristikinformationszentren kräftig beworben. Mit dem Ergebnis, dass der Pub an Limerick-Samstagen aus allen Nähten platzte. Allein die Einnahmen dieses Tages machten ein Drittel des monatlichen Gesamtumsatzes aus. Zwar hatte auch Merman’s Song unter der Corona-Pandemie gelitten und erhebliche Einbußen gehabt, aber weil Cian von Anfang an für „Notzeiten“ und unvorhergesehene Ausgaben ein dickes Polster angespart hatte, war der Pub nicht einmal entfernt in die Nähe einer Insolvenz geraten.
Im Gegenteil hatte sich seit dem Ende der Pandemie der tägliche Besucherstrom fast verdoppelt, weil die Menschen nach dem Lockdown, erzwungener „Pub-Abstinenz“ und lästiger Maskenpflicht endlich wieder grenzenlos ausgehen und unmaskiert feiern durften. War Merman’s Song vorher schon ein Magnet gewesen, zog er nun erst recht die Menschen an. Auch wegen des Flairs und des werbeträchtigen Zufalls, dass der Eigentümer den Nachnamen Waterman trug. Was Cian weidlich ausnutzte und sich sogar zum „Aquaman“ stilisierte, indem er sich einen Vollbart stehen und die Haare lang wachsen ließ. Die Fototermine, die nicht nur Touristen und vor allem Touristinnen mit ihm buchten, ließ er sich gut bezahlen. Zehn Euro pro Bild und an den Wochenenden manchmal bis zu zweihundert Fotos pro Tag …
Ja, der Pub war eine Goldgrube. Allein das Haus mit seiner günstigen Lage am Ufer des Shannon und Blick auf King John’s Castle am anderen Ufer war gute zwei Millionen wert. Dazu die Innenausstattung mit ihrer größtenteils noch antiquarischen Einrichtung, machte drei Millionen. Und die O’Rourkes würden sich ganz bestimmt noch eine weitere Million aus dem Kreuz leiern lassen, damit der Pub in der Familie blieb, vielmehr nach Cians Tod wieder in ihre Hände fiel. Für satte vier Millionen Euro lohnte sich durchaus, Cians ruppiges Benehmen ihr gegenüber noch eine Weile auszuhalten, entschied Cassidy. Er lebte ja nicht ewig. Und vielleicht sogar kürzer, als er sich das vorstellen konnte.
„Der Typ vorhin ist ja ganz schön sauer aus Cians Büro gestürmt“, riss Ronny sie aus ihren Gedanken. „Probleme?“
„Familienangelegenheiten“, wich Cassidy aus. „Streit ums Erbe.“
Ronny trank einen Schluck von seinem Guinness und nickte. „Darüber lässt sich immer trefflich streiten. Aber Cians Frau ist doch schon seit etwa zwei Jahren tot.“
Und Gerüchte wollten wissen, dass sie Selbstmord begangen hatte, nachdem Cassidy in sein Leben getreten war und er sich geweigert hatte, seiner jungen Geliebten den Laufpass zu geben. Sie fragte sich, wie die Gerüchteköche auf solche Ideen kamen.
Sie zuckte mit den Schultern. „Geht mich nichts an. Und dich auch nicht.“
Er grinste. „Hätte ja sein können.“
Sie kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Die Tür zum Pub wurde aufgestoßen. Finn Sweeney stürmte herein, die Miene finster, eine Faust geballt, die ganze Körperhaltung auf Krieg gebürstet. Er baute sich vor Cassidy auf.
„Ist er da?“
Sie deutete mit dem Kopf auf die Bürotür. Er rannte hin, riss sie auf und knallte sie hinter sich zu. Sekunden später ertönte lautes Gebrüll, dessen Worte aber über den Lärm der Gäste im Schankraum nicht zu verstehen waren. Cassidy legte Ronnys zehn Euro in die Kasse, nahm sich ihr Trinkgeld heraus und ging in den Lagerraum neben dem Büro. Nicht weil sie dort etwas zu tun hatte, sondern um zu lauschen. Lagerraum und Büro waren praktischerweise ursprünglich mit einer Durchreiche verbunden. Die war zwar schon lange mit einer Schiebetür geschlossen worden, aber deren Holz war dünn genug, dass man Gespräche auf der jeweils anderen Seite selbst dann verstehen konnte, wenn relativ leise gesprochen wurde. Was weder Cian noch Finn taten.
„Du kannst nicht einfach die Vereinbarungen ignorieren!“, schnauzte Finn.
„Klar kann ich das“, konterte Cian in gewohnt höhnischem Ton, mit dem er den Leuten zu verstehen geben wollte, dass er das Sagen hatte und sie ihm den Buckel runterrutschen konnten. „Ich stelle den Lagerraum zur Verfügung. Ich organisiere den Transport. Und ich trage das größte Vertriebsrisiko. Du lieferst doch nur aus. Das macht bei vier Positionen“, Cassidy hörte das Grinsen in Cians Stimme, „für einen von vier Arbeitsschritten fünfundzwanzig Prozent. Die bekommst du. Der Rest gebührt dem, der die anderen drei Schritte organisiert: mir. Und jetzt scher dich raus.“
„Ich denke nicht dran. Wir machen halbe-halbe wie bisher, andernfalls …“
Cassidy hörte jemanden ein paar heftige Schritte machen, vermutlich Cian.
„Andernfalls – was, Finn? Willst du mir etwa drohen? Das würde ich dir nicht raten. Ich könnte sonst ganz schnell vergessen, dass wir Freunde sind.“
„Sind wir das?“, knurrte Finn. „Du benimmst dich aber gerade so, als wärst du ein Arsch, der mich übers Ohr hauen will. Und wenn du unsere Freundschaft vergisst, vielmehr unsere Kameradschaft und vor allem unsere Sache, dann tue ich das auch. Und dann bist du genauso dran wie ich.“
Cian lachte. „Wenn du dich da mal nur nicht täuschst! Ich habe vorgesorgt, sodass es keine Spur gibt, die zu mir führt. Und du kannst viel behaupten, aber nichts beweisen. Also rate ich dir, dich mit den neuen Gegebenheiten abzufinden und mir nie wieder zu drohen. Und jetzt raus!“
Schweigen. Mehrere Sekunden lang. Dann heftige Schritte. Die Bürotür knallte zu, und Cassidy hörte noch Finns Fluch und Cians Lachen, ehe die Bürotür ein zweites Mal klappte, diesmal erheblich leiser. Sie schnappte sich eine neue Packung Bierdeckel und kehrte in den Barraum zurück.
Cian stand mit dem Rücken zur Lagertür bei Ronny, der eine Schachtel Zigaretten in der Hand hielt, eine noch nicht angezündete Kippe zwischen den Lippen hatte und Cian schief angrinste.
„Ich weiß, ich rauche viel zu viel“, stellte er wohl als Antwort auf eine Bemerkung von Cian fest. „Aber was soll ich machen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Sucht ist nun mal stärker als ich. Ganz ehrlich: Wenn ich den Konsum nicht mal langsam reduziere, bringen mich die Kosten noch um. Aber das billige Zeug schmeckt mir einfach nicht. Selbstgedrehte auch nicht.“ Er blickte Cian Mitleid heischend an.
„Der einzige Rat, den ich dir geben kann, mein Freund, ist, dir einen Job in einem Tabakwarenladen zu besorgen und dir einen Teil deines Gehalts in Naturalien, sprich: Zigaretten auszahlen zu lassen.“ Cian lachte über seinen eigenen Witz.
„Wäre eine Möglichkeit“, stimmte Ronny ihm zu. „Aber ich mag meinen Job und suche lieber nach einer anderen Möglichkeit, gute Zigaretten billig zu bekommen. Gibt ja manchmal Leute, die billig an die Dinger rankommen.“ Er winkte ab und ging nach draußen, um seine Sucht vor der Tür zu befriedigen.
Cian warf Cassidy einen kurzen Blick zu. „Ich frage mich, von welchem Job der redet. So oft und lange, wie er sich hier aufhält, hat er entweder keinen oder verdient so viel Geld, dass er nur halbtags arbeiten muss.“
„Ich glaube, er ist Künstler oder so was“, fühlte sie sich bemüßigt zu sagen, weil Cian offenbar auf eine Antwort wartete. „Vielleicht hat er auch geerbt und kann sich den Müßiggang leisten.“
Cian ließ das so stehen. Ein Pärchen bat um ein Foto mit ihm. Er stellte sich in Positur, lächelte in die Kamera, kassierte das Geld für drei Fotos und plauderte noch eine Weile mit den Leuten. Ronny kehrte zurück und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Cian gesellte sich wieder zu ihm. „Cassie meint, du bist Künstler“, klopfte er auf den Busch.
Ronny nickte. „So was in der Art. Schriftsteller. Aber ich schreibe unter einem weiblichen Pseudonym.“
Cian lachte. „Warum das denn?“
Ronny zuckte mit den Schultern. „Kannst du dir das nicht denken? Ich schreibe Liebesromane.“
Cian brüllte vor Lachen und Ronny stimmte darin ein.
Cian schüttelte den Kopf. „Kaum zu glauben. Bringt aber wohl gutes Geld?“
Ronny nickte. „Könnte mehr sein. Und wenn ich endlich den Göttern etwas weniger Rauchopfer darbringe“, er klopfte auf die Zigarettenschachtel, von der ein Stück aus der Brusttasche seiner Jeansjacke lugte, „hätte ich mehr davon.“
Cian nickte. „Ich höre mich mal um. Vielleicht kennt jemand eine günstige Bezugsquelle.“ Er wandte sich einem anderen Gast zu.
Das tat auch Cassidy. Doch ihre Gedanken waren bei anderen Dingen. Was hatte der Streit zwischen Finn und Cian zu bedeuten? Nichts Gutes, das war ihr klar. Finn war aufbrausend und neigte dazu, die Fäuste sprechen zu lassen, wenn ihm was nicht passte. Dass er das vorhin nicht getan hatte, konnte nur bedeuten, dass Cian ein Druckmittel gegen ihn in der Hand hatte, das, wenn er es benutzte, Finn gewaltig in Schwierigkeiten brachte. Aber sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was das sein könnte, erst recht nicht, was es mit „unserer Sache“ auf sich hatte, die Finn erwähnte. Das ging sie auch nichts an.
Ein anderer Gedanke drängte sich immer wieder in den Vordergrund. Hatte Cian wirklich ein Testament gemacht, in dem er ihr Merman’s Song vererbte? Wenn ja, dann wäre sie eine gemachte Frau, sobald sie das Erbe antreten konnte. Wenn sie eine Geschäftsführerin einsetzte, so wie Cian sie auf diesen Posten gesetzt hatte, bräuchte sie selbst gar nicht mehr zu arbeiten und könnte das Leben genießen. Reisen, ein bisschen Luxus (oder auch ein bisschen mehr) und nie mehr finanzielle Sorgen. Erst recht müsste sie sich dann nicht länger die halben Nächte um die Ohren schlagen, um nach der Schließung des Pubs um ein Uhr morgens noch abzurechnen, aufzuräumen und was sonst noch zu tun war, bevor sie Feierabend machen konnte. Paradiesisch! Und für die miese Art, wie Cian sie allzu oft behandelte, hätte sie sich den Pub als Schmerzensgeld redlich verdient. Dem er im Weg stand, solange er noch lebte.
Cassidy verbot sich, diesen Gedanken fortzusetzen. Das führte sowieso zu nichts. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass sie noch mindestens vier Stunden durchhalten musste. Sie seufzte und zapfte für den nächsten Gast ein Bier.
Merman’s Song brummte, was nicht nur an der Geräuschkulisse der sich unterhaltenden Stimmen lag. Heute war Limerick-Wettbewerb, und der Pub platzte aus allen Nähten. Obwohl das Wetter noch kühl war, standen die Leute, die drinnen keinen Platz mehr gefunden hatten, im Pulk vor der Tür. Nicht das Schlechteste, denn dadurch fühlten sich die Gäste bemüßigt, sich von innen zu wärmen. „Merman’s Reserve“, der pubeigene Single Malt Whiskey, wurde fleißig konsumiert. Cassidy kam mit dem Ausschenken kaum nach, obwohl wie an jedem Wochenende und besonders an Limerick-Tagen eine Horde von Aushilfen das Team verstärkte.
Trotzdem hatte Cian miserable Laune. Vermutlich lag das daran, dass Finn vorhin wieder da gewesen war und die beiden wieder einmal hinter der geschlossenen Tür von Cians Büro lautstarke Differenzen ausgetragen hatten. Leider hatte Cassidy die wegen des immensen Arbeitsaufkommens nicht belauschen können. Und beide hatten sich nicht laut genug angebrüllt, dass sie das Gespräch oder Teile davon durch die Lärmkulisse bis an die Theke hatte hören können. Finn war wieder wütend bis in Haarspitzen abgedampft, und Cian ließ seinen Unmut an den Angestellten aus. Besonders an Cassidy. Was sie auch tat, er meckerte sie ständig an.
Den Kerl nicht nur symbolisch in den Arsch zu treten, ihn in den Wind zu schießen und ihm auf Nimmerwiedersehen den Rücken zu kehren, wurde immer verlockender.
Ronny, der sich frühzeitig seinen Stammplatz an der Theke gesichert hatte, bevor die Gästewelle hereinschwappte, winkte Cassidy zu sich, um sich sein Glas mit Guinness nachfüllen zu lassen.
Cian schubste sie zur Seite. „Das mach ich“, entschied er.
Der Schubs ließ ihre Hüfte schmerzhaft mit dem Thekentisch kollidieren. Sie rieb sich die Stelle, was den Schmerz noch verstärkte.
„Deswegen musst du mich nicht gleich schubsen!“, protestierte sie und wandte sich einem anderen Gast zu.
„Da hat sie Recht“, ergriff Ronny ihre Partei. „Du solltest Cassidy ein bisschen besser behandeln. Besonders vor so viel Publikum. Macht keinen guten Eindruck, wenn sich der personifizierte Merman-Aquaman dermaßen daneben benimmt.“
„Kümmre dich um deinen eigenen Scheiß!“, knurrte Cian ihn an. „Du willst noch ein Guinness?“
Ronny nickte.
Cian füllte das Glas bis zum Rand und stellte es vor ihn hin, eine Miene wie das personifizierte Unwetter im Gesicht.
„Hey, du siehst mich an, als hätte ich dir was getan. Du nimmst mir meine Bemerkung wegen Cassidy doch nicht übel, oder?“
„Nein. Ich hab nur was dagegen, verarscht zu werden.“
Ronny schüttelte den Kopf. „Wann hätte ich dich denn verarscht?“
„Denk mal scharf nach. Ganz scharf, dann kommst du drauf.“
Ronny schüttelte erneut den Kopf. „Tut mir leid, da muss ich passen.“ Er sah Cian auffordernd an. „Erleuchtest du mich? Dann können wir dieses offensichtliche Missverständnis aus der Welt schaffen.“
Cian starrte ihn mit einem Blick an, als wollte er Ronny auf der Stelle erwürgen oder Schlimmeres tun. Ein Gast verlangte seine Aufmerksamkeit, und Cian wandte sich ihm zu.
Ronny winkte Cassidy zu sich. „Hast du eine Ahnung, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich sein Streit mit Finn vorhin.“
Er schüttelte den Kopf. „Was hat der mit mir zu tun?“ Er beugte sich dichter zu ihr hin. „Er weiß doch nicht etwa über uns Bescheid?“, fragte er gerade laut genug, dass sie ihn verstehen konnte, Cian aber nicht.
„Das wohl kaum“, war sie ebenso leise überzeugt. „Ich wüsste zumindest nicht, wie er das hätte rausfinden können. Du bist Gast, und ich beschäftige mich nicht intensiver oder häufiger mit dir, als mit allen anderen Gästen.“
Ein neuer Gast schob sich durch das Menschengewühl an den Tresen: Alan O’Rourke. Damit war neuer Ärger vorprogrammiert. Alan nickte ihr lächelnd zu. Sie deutete leicht mit dem Kopf auf Cian und schüttelte warnend den Kopf. Aber entweder verstand Alan die Warnung nicht, oder er ignorierte sie. Er zupfte Cian am Ärmel. Der fuhr zu ihm herum, und Alan zuckte zurück.
„Verschwinde, Al. Erst recht, wenn du mich wieder nerven willst.“
„Ich will dich nicht nerven, sondern dir ein Angebot unterbreiten. Fünf …“
Cians Faust schoss vor und krachte Alan vor die Brust. Die Wucht des Schlages schleuderte ihn nach hinten. Er fiel gegen andere Gäste, die ebenfalls aus dem Gleichgewicht gerieten und mit ihm zu Boden gingen. Die Getränke, die sie in ihren Händen gehalten hatten, ergossen sich auf den Boden, über Kleidung, in Gesichter.
„Hey!“, protestierten mehrere Stimmen vorwurfsvoll.
Cian kam um den Tresen herum, packte Alan am Hemd und riss ihn hoch. Das Hemd riss. Alan schlug nach Cian, mehr um ihn abzuwehren, der schlug zurück. Die Umstehenden beeilten sich, aus der Reichweite der Prügelnden zu kommen, was nicht so einfach war, denn der Pub war so voll, dass kaum Platz zum Ausweichen blieb. Aber wenn es um die eigene Unversehrtheit ging, quetschte man sich gerne so eng wie nötig zusammen. In Sekunden hatte sich ein Kreis um die beiden Männer gebildet, und die ersten Anfeuerungsrufe ertönten.
Cassidy griff zum Smartphone, um 999 zu wählen und die Polizei zu rufen.
Ronny legte ihr die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das müssen die beiden jetzt mal austragen“, meinte er.
Sie zögerte, zuckte mit den Schultern und steckte das Phone ein. Alan ging zum zweiten Mal zu Boden und schützte sein Gesicht mit den Armen.
Cian stellte sich breitbeinig über ihn. „Genug?“
„Ich hab nicht angefangen, Arschloch“, stellte Alan klar. „Und das hier wird noch ein Nachspiel haben, verlass dich drauf. Ich sorge dafür, dass du das bereust! Das hast du nicht umsonst getan!“
Er rappelte sich auf und drehte dabei Cian den Rücken zu. Der verpasste ihm einen Tritt in den Hintern, dass Alan wieder gegen die Umstehenden fiel und einen Teil mit sich zu Boden riss. Protestrufe wurden laut, und einige Gäste traten den Rückzug an und verließen den Pub.
Alan kam hoch und funkelte Cian mörderisch an. Seine Lippe blutete. „Das hast du nicht umsonst getan“, wiederholte er, drehte sich um und bahnte sich rüde den Weg durch die Gäste nach draußen.
„Nein!“, brüllte Cian hinter ihm her. „Nicht ‚umsonst’, sondern weil’s Spaß gemacht hat!“ Er lachte, breitete in Siegerpose die Arme aus und drehte sich um seine eigene Achse.
Einige Anwesende klatschten Beifall. Cian wandte sich dem Tresen zu. Er erstarrte für eine Sekunde, brüllte und stürzte sich auf einen Mann, der die Finger in der Kasse hatte. Weil alle, auch Cassidy, sich auf den Kampf konzentriert hatten, wollte der Kerl die Gunst der Stunde nutzen, um das Geld aus der Kasse abzugreifen. Zwei Männer, offenbar Kumpels des Diebes, verstellten Cian den Weg. Sie hatten jedoch seine Kraft unterschätzt, wenn er wütend war. Er brüllte und drosch einem der Männer die Faust ins Gesicht. Dessen Nase brach. Dem anderen verpasste er einen so heftigen Schlag in den Magen, dass der zusammenklappte und sich übergab. Ein Tritt in die Seite schickte ihn zu Boden. Dabei stolperte der Mann so unglücklich, dass er sich das Fußgelenk verrenkte und aufheulte.
Danach war der Dieb dran, der vergeblich sein Heil in der Flucht suchte, wegen des Gedränges aber nicht weit kam. Cian packte ihn am Jackenkragen, riss ihn zu sich heran und gab ihm mehrere schallende Ohrfeigen mit der flachen Hand. Der Dieb kam nicht zur Gegenwehr. Er konnte nach dem dritten Schlag das Gleichgewicht nicht mehr halten, was darauf hindeutete, dass durch Cians Schläge mindestens eins seiner Trommelfelle geplatzt war. Cian schleifte ihn zur Tür und beförderte ihn schwungvoll nach draußen, wobei er sich nicht nehmen ließ, dem Kerl einen kräftigen Tritt in den Hintern zu verpassen, dass der mit dem Gesicht voran auf der Straße landete. Dasselbe tat er mit dessen beiden Kumpeln, die sich von seiner Attacke auch noch nicht erholt hatten.
„Lasst euch hier nie wieder blicken!“, schickte er denen noch hinterher.
„Das wirst du bereuen, du Wichser!“, brüllte der Mann, der sich übergeben hatte.
„Ich mach dich kalt!“, drohte der verhinderte Dieb.
Cian tanzte mit ausgebreiteten Armen in Siegerpose zum Tresen zurück. „Es war ein Besoffner in Limerick, der versuchte sich an ’nem ganz miesen Trick“, dichtete er einen Limerick aus dem Stegreif. „Wollt’ den Merman beklauen, der hat ihn verhauen und rausgeworfen mit ’nem gewaltigen Kick!“
Er lachte dröhnend, und fast alle Anwesenden stimmten darin ein. Auch wenn das Versmaß nicht hundertprozentig stimmte, so hatte dieser Limerick doch gute Chancen, den heutigen Wettbewerb zu gewinnen, falls Cian nicht darauf bestand, dass sein Gedicht außer Konkurrenz lief. Was er vermutlich tun würde, denn dass der Eigentümer des auslobenden Pubs den Preis mitsamt Preisgeld selbst einstrich, käme nicht gut beim Publikum an.
Cassidy sah durch die offene Tür, dass Cians drei Opfer offenbar schwerer verletzt waren, als es den Anschein gehabt hatte. Sie rief über 112 eine Ambulanz.
„Eine Runde Merman’s Reserve für alle auf Kosten des Merman’s!“, entschied Cian großzügig.
Sein Angebot wurde mit lautem Jubel und einem Run auf die Bar begrüßt.
Er stieß Cassidy grob an der Schulter. „Putz die Kotze weg“, befahl er. „Ist sowieso deine Schuld, weil du nicht aufgepasst hast.“ Ein weiterer, heftigerer Stoß folgte. „Wozu taugst du eigentlich?“ Er hob die Hand zum nächsten Stoß.
Cassidy schubste ihn mit beiden Händen zurück. „Hast du sie noch alle?“, fauchte sie ihn an. „Ich kann meine Augen nicht überall haben. Du benimmst dich heute widerlich. Was ist denn los mit dir? Im Interesse deines Merman-Aquaman-Images solltest du dich endlich mal zusammenreißen.“
Er blickte an ihr vorbei mit einem mörderischen Blick auf Ronny, drehte sich abrupt um und widmete sich dem Ausschank des Whiskeys. Cassidy holte Putzzeug und einen Wassereimer und beseitigte das Malheur auf dem Fußboden. Anschließend half sie beim Ausschenken und ignorierte Cian. Am liebsten hätte sie ihm hier und jetzt die Meinung gegeigt über sein unmögliches Benehmen ihr gegenüber, den Job hingeschmissen, Cian in den Wind geschossen und das Ganze mit einem gemeinen Tritt in seine Weichteile garniert. Oder Schlimmeres getan. Sie beherrschte sich und warf ihrerseits Ronny einen finsteren Blick zu. Er war das Einzige, was sie hier noch hielt. Aber auch das hatte irgendwann ein Ende. Bald.
Cian stellte ein Whiskeyglas vor Ronny hin und klemmte einen zusammengefalteten Zettel darunter.
Ronny nahm ihn, faltete ihn auseinander, las und zog die Augenbrauen hoch. „Was ist das?“
„Angeblich eine Anlaufstelle, wo du günstig Rauchopfer für die Götter bekommen kannst.“
„Beim Mungret Monastery?“ Ronny schüttelte den Kopf. „Und soweit ich weiß, steht rund um die alte Ruine nirgends ein amerikanischer Briefkasten.“
Cian zuckte mit den Schultern und grinste flüchtig. „Ich bin nur der Bote. Was es damit auf sich hat, erfährst du wohl, wenn du hinfährst.“
„Hm.“ Ronny steckte den Zettel ein. Er leerte sein Whiskeyglas auf einen Zug und stand auf. „Dann lass ich mich mal überraschen.“ Er nickte Cian zu und verließ den Pub.
Cian blickte ihm finster nach. Kaum war er draußen, griff er zum Smartphone und wählte eine Nummer. Bevor die Verbindung zustande kam, ging er in sein Büro. Als er fünf Minuten später in den Barraum zurückkehrte, hatte sein Gesicht den zufriedenen Ausdruck einer Katze, die soeben eine Sahneschüssel ausgeschleckt hatte.
*
Ronny stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz gegenüber der Ruine ab. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Als Kind hatte er viele Stunden hier verbracht. Er war in der Ard Thomain aufgewachsen, und die Straße lag nur wenige Hundert Meter von der Ruine entfernt. Mit seinen Freunden und seiner Schwester hatte er das verfallene Kloster und den angrenzenden alten Friedhof oft verbotenerweise als Abenteuerspielplatz benutzt. Sie hatten so manches gruselige Halloween hier gefeiert, Lagerfeuer entzündet und spekuliert, was die verfallenen Mauern wohl zu erzählen hätten, wenn sie reden könnten. Schließlich gehörte das Kloster zu den ersten christlichen Zentren Irlands und war schon im sechsten Jahrhundert gegründet worden.
Gerade weil die Dunkelheit längst hereingebrochen war und der fahle Dreiviertelmond die Mauern als schwarze Silhouette gegen den Himmel abhob, fühlte Ronny sich wieder an die damalige Zeit erinnert. Sie hatte ihn inspiriert, so manche Gruselgeschichte zu schreiben.
Aber er war nicht hier, um in Erinnerungen zu schwelgen. Er nahm die Taschenlampe, die er immer im Auto hatte, und leuchtete die Straße entlang in der Richtung, in die er gefahren war. Denn im Vorbeifahren hatte er gesehen, dass an der Straße zum Kloster, in die er von der R859 eingebogen war, kein amerikanischer Briefkasten stand. Das hätte ihn auch gewundert, denn Wohnhäuser, zu denen ein solcher Kasten hätte gehören können, gab es an dieser Straße nicht. Einige wenige lagen in Seitenstraßen. Aber Ronny schloss nicht aus, dass jemand, der eine „Anlaufstelle“ für günstige Zigaretten anbot, einen solchen hier aufgestellt hatte.
Er ging ein Stück die Straße hoch, die zum Mungret Park gehörte, an Feldern vorbei zu einer kleinen Siedlung führte und an einem Feldrand endete. Ein Wagen kam und parkte neben seinem. Drei Männer stiegen aus und kamen auf Ronny zu. Einer hatte einen Baseballschläger in der Hand, einer eine dicke Kette. Der Dritte streifte sich einen Schlagring über die Finger. Eine Falle, denn die drei waren ganz sicher nicht zufällig hier, nachdem Cian ihn hergeschickt hatte. Dazu lag die Ruine zu weit abseits der Stadt.
Ronny ging den Männern entgegen. Er musste zu seinem Auto kommen. „Was immer ihr vorhabt, lasst es“, riet er ihnen. Natürlich vergeblich.
„Schönen Gruß von Cian“, sagte der mit dem Schlagring. „Er hat was dagegen, wenn man ihn verarscht.“ Er holte aus und schlug nach Ronny.
Ronny duckte sich unter dem Schlag hinweg und drosch dem Kerl die Faust in den Magen, riss ihn zu sich heran und herum, dass sein Körper dem Mann mit der Kette im Weg war. Gleichzeitig trat er dem Mann in die Eier, der mit dem Baseballschläger nach ihm schlug. Der klappte zusammen, aber der Schlag streifte schmerzhaft Ronnys Schulter. Er schnappte den Schläger, riss ihn dem Mann aus der Hand und schlug nach dem Kerl mit der Kette, der erneut ausholte. Die Kette wickelte sich um den Schläger, und der Mann riss sie zu sich heran.
Ronny gab nach, womit der Kerl nicht gerechnet hatte. Schläger und Kette trafen ihn ihm Gesicht, und er ging aufschreiend zu Boden. Ronny verpasste dem Typen mit dem Schlagring noch einen Tritt in die Seite, der ihn zu Boden schickte, und tat dasselbe mit dem, der den Schläger gehabt hatte. Alle drei lagen am Boden. Ronny rannte zu seinem Wagen, sprang hinein und fuhr davon.
Dass Cian ihm gleich drei Schläger auf den Hals gehetzt hatte, die ihren Waffen nach zu urteilen Ronny nicht nur ein bisschen zusammenschlagen, sondern richtig schwer verletzen, ihn vielleicht sogar erschlagen sollten, ließ tief blicken. Offenbar hatte Cian rausgefunden, was er nicht hatte rausfinden sollen. Der Teufel mochte wissen, woher, denn Ronny und auch Cassidy waren immer extrem vorsichtig gewesen. Und nun war Cassidy auch in Gefahr. Dafür sprach, dass Cian sie heute besonders mies behandelt hatte.
Solange der Pub geöffnet hatte, würde er ihr nichts tun, denn eine Horde Zeugen konnte er sich ebenso wenig leisten wie den Ruin seines Images, wenn er in aller Öffentlichkeit eine Frau schlug. Aber danach … Ronny musste Cassidy warnen. Und sie am besten aus dem Pub holen, bevor Cian nach dessen Schließung Gelegenheit hatte, mit ihr allein zu sein. Was nicht viel nützen würde, denn Cassidy hatte eine Wohnung im ersten Stock über dem Pub neben der von Cian.
Er fuhr an die Seite, schaltete den Motor aus und rief Cassidy auf dem Smartphone an. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie das Gespräch entgegennahm.
„Ich bin’s, Ronny. Ich fürchte, Cian weiß Bescheid. Er hat mir eben ein paar Schläger auf den Hals gehetzt. Du solltest ihm unbedingt aus dem Weg gehen. Wenn du kannst, pack ein paar Sachen zusammen. Ich hole dich ab, und du kannst heute Nacht bei mir schlafen.“
Eine Weile hörte er nur die Geräusche im Pub. Dann: „Bist du sicher? Das mit dem ‚Bescheid’.“
„Ziemlich sicher. Ich wüsste nicht, warum er mir sonst diese regelrechte Falle gestellt hat und mir von den Schlägern ausrichten ließ, er lässt sich nicht gern verarschen.“
„Das heißt doch aber nicht …“ Als Frage formuliert.
„Nicht zwangsläufig“, stimmte Ronny ihr zu. „Aber so wie er dich heute den ganzen Abend behandelt hat – was sollte das wohl sonst bedeuten?“
Sie zögerte. Dann: „Selbst wenn er Bescheid weiß, wird er mir wohl kaum mehr antun, als mich rauszuschmeißen. Und das kann ich verschmerzen.“
Sie hatte die Verbindung unterbrochen, bevor er darauf antworten konnte. Er fluchte, denn er teilte ihre Ansicht ganz und gar nicht. Cian konnte gefährlich sein, was er mit der Falle deutlich unter Beweis gestellt hatte. Ronny beschloss, ihn sich zur Brust zu nehmen, sobald alle Gäste weg waren. Aber ganz und gar nicht nur, um Cassidys zu schützen. Nein, Cian Waterman hatte eine Abreibung verdient, die sich gewaschen hatte. Und zwar kräftig!
*
Colm O’Dowd saß auf der Bank gegenüber dem Merman’s Song am Ufer des Shannon und sah dem Fluss beim Fließen zu. Die Nacht war kalt, und zwei Uhr morgens Ende April nicht die beste Zeit, um sich im Freien aufzuhalten. Aber er hatte keine Lust, schon nach Hause zu gehen. Am liebsten wollte er überhaupt nicht wieder nach Hause. Zu groß war die vorhin erlittene Blamage. Er hatte seiner Familie gegenüber angegeben, dass er den besten Limerick ever verfasst hatte und garantiert den heutigen – gestrigen Limerickwettbewerb im Pub gewinnen werde.
Bisher hatte er immer bedauert, dass seine Familie kein Interesse an seiner Dichtkunst hatte und sie allenfalls milde belächelte, meistens aber nur genervt abwinkte, wenn er ihnen seine neueste Kreation vortragen wollte. Deshalb begleitete ihn niemand zu den Wettbewerben. Heute war er froh darüber, denn wäre die Familie Zeuge seiner Blamage – seines Versagens geworden, hätte er das nicht verkraftet. Erst recht nicht, dass sie danach seine Kunst nicht mehr nur belächelt, sondern wohl verachtet hätte. Nicht nur, dass er den Preis nicht gewonnen hatte; das hätte er noch verschmerzen können. Auch dass er nicht einen der ersten fünf Plätze belegt hatte, wäre nicht so schlimm gewesen. Aber sein wunderbarer Limerick war auf dem vorletzten Platz gelandet. Was Colm sich nicht erklären konnte, denn die anderen Gedichte konnten seinem nicht das Wasser reichen.
Aber das undankbare Publikum hatte anders entschieden. Sicherlich lag es an dem Merman’s Reserve, mit dem er das Desaster zu ertränken versucht hatte, dass er sich nicht nach Hause traute und am Ufer des Shannon auf und ab gegangen war, nachdem der Pub geschlossen wurde. Doch wie das Licht des Mondes leuchtete in diesem Moment die Lösung seines Problems in seinem Geist auf: Er musste der Familie gar nicht den vorletzten Platz beichten, sondern konnte einfach behaupten, sein Gedicht habe den dritten Platz belegt. Das konnte niemand nachprüfen, denn notiert und in ein Buch eingetragen wurden nur die Namen der Siegerinnen und Sieger und ihre Gedichte. Warum war er nicht schon eher auf diesen Gedanken gekommen, statt hier in der Nacht zu frieren?
Er stand auf, streckte die Glieder und wandte sich in die Richtung, wo er seinen Wagen abgestellt hatte.
Die Tür des Pubs wurde geöffnet. Eine Frau kam heraus und trat sichtbar wütend die Tür zu. War das nicht die rothaarige Barfrau Cassidy? Ja, das war sie ohne Zweifel. Das Licht der Lampe über dem Eingang beleuchtete ihr Gesicht. Lief da Blut aus ihrem Mundwinkel? Offensichtlich, denn sie wischte es mit der Hand ab und zuckte dabei zusammen, weil das wohl wehtat. Bevor Colm zu ihr gehen und fragen konnte, ob sie Hilfe brauchte, tauchte ein Mann auf, fasste sie an den Schultern und redete leise auf sie ein. Colm verstand kein Wort, dazu sprachen die beiden zu leise, aber der Mann war sichtbar wütend.
„Das hat der Kerl nicht umsonst getan!“, stieß er schließlich hervor.
„Lass es! Das ist es nicht wert“, versuchte Cassidy ihn zu beschwichtigen. Vergeblich.
„Cian soll sich bloß nicht einbilden, dass er damit durchkommt.“ Er riss die Tür des Pubs auf und ging hinein.
Cassidy zuckte mit den Schultern, schloss die Haustür neben dem Pub auf und betrat den Flur dahinter.
Das erinnerte Colm wieder an seinen Plan, auch endlich nach Hause zu fahren. Er ging zu seinem Wagen und setzten den Vorsatz in die Tat um.
Cathal O’Donovan konnte sich des fast blasphemischen Gedankens nicht erwehren, dass dem Tod nichts heilig war, auch nicht der Sonntag. Erst recht nahm er keine Rücksicht auf alle Leute der Garda Síochána, die am Sonntag Bereitschaftsdienst hatten. Allerdings war in diesem Fall der Tod nicht freiwillig aktiv geworden, denn die Leiche, die ausgestreckt auf dem Fußboden des Merman’s Song lag, war keiner natürlichen Todesursache zum Opfer gefallen. Sein hellblaues T-Shirt mit dem Logo des Pubs wies einen großen Blutfleck im Bauchbereich auf, und eine Verletzung am Hinterkopf hatte eine große Blutlache auf dem Boden gebildet. Wenige Schritte neben ihm war ein Haufen Erbrochenes, das unangenehm stank.
Die Belegschaft des Pubs, drei Frauen und zwei Männer, saß sichtbar bedrückt an einem Tisch in der am weitesten davon entfernten Nische. Sie vermieden, den Toten anzusehen, bei dem es sich um Cian Waterman, den Eigentümer des Pubs handelte. Cathal machte ein paar Aufnahmen des Toten mit seinem Smartphone, ging zu ihnen hinüber und setzte sich zu ihnen.