Tanz der Riesen - Karl Pilny - E-Book

Tanz der Riesen E-Book

Karl Pilny

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Beschreibung

Der Schwerpunkt der globalen Wirtschaft verschiebt sich immer mehr auf den asiatischen Raum, vor allem auf Indien und China. Dieses Buch analysiert erstmals Wirtschaft, Politik und Kultur der beiden Länder sowie deren Beziehungen zueinander und leitet daraus Szenarien für die Weltwirtschaft und die globale Politik ab.

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Pilny, Karl H.

Tanz der Riesen

Indien und China prägen die Welt

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40246-8

|4|Für meine drei Herzdamen Hildegard, Connie, Sophia – und für Lucius.

|9|Prolog

Seit dem Erscheinen meines letzten Buches Das asiatische Jahrhundert. China und Japan auf dem Weg zur neuen Weltmacht ist nichts geschehen, was dessen Ausgangsthese widerspräche: Im 21. Jahrhundert wird eine Verschiebung des wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen globalen Epizentrums nach Asien erfolgen.

Chinas schier unaufhaltsamer Aufstieg zur Weltmacht dominiert nach wie vor die Schlagzeilen. Die Volksrepublik China hat nicht nur wirtschaftlich, sondern auch außenpolitisch und militärisch viel an Gewicht gewonnen. Sie präsentiert sich immer mehr als Herausforderer der globalen Führungsrolle der USA. Der friedliche Aufstieg zu einer globalen Großmacht, die weder »ganz stark« noch »ganz schwach« sein will, wird sich trotz kleinerer Rückschläge in den nächsten 20 Jahren fortsetzen.

Asien als Ganzes ist in seiner Größe und Vielfalt kaum zu erfassen, es lässt sich jedoch vereinfacht in drei große Teile untergliedern: Ost-, Südost- und Südasien.

Ostasien führt mit China, Taiwan, Japan und Korea wirtschaftlich seit Jahren die Entwicklung in Asien mit Wachstumsraten von durchschnittlich 6,5 Prozent pro Jahr an. Der Fokus meines ersten Bandes Das asiatische Jahrhundert liegt auf dieser Region und beleuchtet das komplexe Verhältnis der – zumindest vormaligen – ökonomischen Supermacht Japan und des kommenden wirtschaftlichen Riesen China.

Südostasien wird erst seit dem Vietnam-Krieg als einheitlicher historischer Raum betrachtet. Zu dem Festlandsteil mit den heutigen Staaten Vietnam, Laos, Kambodscha, Thailand, Myanmar (Burma) sowie einen Teil Malaysias und Singapur – der als Indochina oder |10|mit einem älteren Begriff als Hinterindien bezeichnet wird – kommen noch die Inselgruppen Indonesiens, Osttimors, Brunei und die Philippinen.

Südasien besteht im Wesentlichen aus dem indischen Subkontinent und seinen Anrainern Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Bhutan, Nepal und den Malediven.

Aufgrund der verblüffenden Parallelität in der Entwicklung der künftigen Weltwirtschaftssupermächte Indien und China bis zur Mitte dieses Jahrhunderts liegt im vorliegenden Buch der Schwerpunkt auf dem Direktvergleich der beiden Giganten.

Ausgangspunkt ist eine ausführliche Betrachtung Indiens. Daneben ergibt sich die Möglichkeit, die Analyse Chinas aus dem letzten Band zu ergänzen, zu aktualisieren und auf den Vergleich mit Indien hin fortzuschreiben.

Wieder steht eine holistische Betrachtungsweise im Zentrum, und zwar in mehrerlei Hinsicht: Durch den Versuch, verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und praktische Erfahrungen aus verschiedenen Lebensbereichen zu einem homogenen Ganzen zusammenzufügen, hat das letzte Buch eine sehr positive öffentliche Resonanz ausgelöst. Komplexe Sachverhalte farbig und spannend zu erzählen und dabei zugleich für das Verständnis größerer Zusammenhänge notwendiges Faktenwissen unter Betonung des Wesentlichen zu vermitteln, ist auch diesmal mein Ziel. Bei diesem »Global-Makro-Ansatz« sollen durch die Auswahl der Fakten Zusammenhänge hergestellt und die Länder sowie verschiedene wissenschaftliche Disziplinen in ihrem Kontext gesehen werden.

Für Asien, aber auch für Europa ist von zentraler Bedeutung, wie sich das rasant wachsende Indien im Verhältnis zu China positioniert. Eine umfassende Analyse der historischen, gegenwärtigen und künftigen Beziehungen dieser Giganten ist unabdingbar, wenn man das 21., das asiatische Jahrhundert, ein Zeitalter im Zeichen von Multipolarität und Multilateralismus verstehen will. Auch die Beziehungen zu den anderen wichtigen Nationen wie Japan, den USA und Russland dürfen nicht unberücksichtigt bleiben.

»Nach zwei Jahrhunderten der Weltherrschaft des Westens beginnen China und Indien, sich unter die führenden Länder der zukünftigen |11|Welt einzureihen«, stellte die Peking-Rundschau nach der Rückkehr des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao von seiner historischen Indienreise im April 2005 fest.

In Indien und China lebt bereits heute ein Drittel der Weltbevölkerung. Mit 1,3 Milliarden Einwohnern in China und knapp 1,1 Milliarden Menschen in Indien sind es die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde, die mit der Gebirgskette des Himalaja eine gemeinsame Grenze haben.

Indien und China sind für die Geschichte der Menschheit von großer Bedeutung. Von den vier großen Weltreligionen Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus wurden zwei in Indien geboren, und China steuerte den nach wie vor bedeutsamen Konfuzianismus bei. Von den vier frühesten Hochkulturen der Erde, die in Ägypten, Mesopotamien, im Indusdelta und in den großen Deltagebieten Chinas entstanden waren, haben nur die letzten beiden überlebt. China wie Indien standen zivilisatorisch und kulturell jahrtausendelang im Zentrum einer eigenen Welt. Zum größten Teil war die Beziehung des konfuzianistisch geprägten Chinas und des hinduistischen Indiens durch freundschaftliche Zusammenarbeit und kulturellen Austausch charakterisiert. Indien gab China den Buddhismus, der sich von dort aus weiter in die chinesische und südostasiatische Welt ausbreitete. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts gehörten sie zu den reichsten und mächtigsten Nationen der Erde, die dann zeitgleich durch das Erstarken der europäischen Kolonialreiche zur Bedeutungslosigkeit verdammt beziehungsweise zur Kolonie herabgewürdigt wurden.

Beide Reiche litten stark unter dem Imperialismus der Westmächte. Während China nach den verlorenen Opiumkriegen Anfang des 19. Jahrhunderts den Status einer aufgeteilten, aber dennoch autonomen Nation, also einer Halbkolonie hatte, gerieten große Teile Indiens direkt unter englische Kolonialherrschaft. Etwa zur gleichen Zeit, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, betraten beide Nationen erneut die Bühne der Weltpolitik. 1949 wurde die Volksrepublik China ausgerufen und Indien erlangte 1947 seine politische Unabhängigkeit.

Hatten sie noch Anfang der fünfziger Jahre mehr oder minder gleiche Ausgangsbedingungen, so erlangte China vor dem Hintergrund |12|wachsender Rivalität in den letzten Jahrzehnten einen großen Vorsprung gegenüber Indien. Seit Anfang der neunziger Jahre ist Indien jedoch dabei, diesen wieder aufzuholen. Nach einer vorsichtigen Annäherung in den vergangenen sechs Jahren kam es im April 2005 nach dem Besuch von Ministerpräsident Manmohan Singh in Peking zu einer historischen Wende in der Beziehung der beiden Länder. Singh und Wen begrüßten das Zusammengehen der Brüder Indien und China als den ersten Schritt zu einer Veränderung der Weltordnung. Das asiatische Jahrhundert, das vor allem ein indisch-chinesisches sein soll, werde eingeleitet durch die Brücke der Freundschaft. Diesen Worten folgten Taten. Erstmals wurden ernsthafte Schritte zur Beilegung des langjährigen Grenzkonfliktes unternommen. Im Bereich der Informationstechnologie stellen sich erste Synergien ein: China ist inzwischen der größte Hersteller von Computern, während Indien auf dem Weg ist, zum wichtigsten Software-Produzenten aufzusteigen. Durch weitere umfassende Kooperationen wie zum Beispiel dem Energiesektor soll das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern, das sich in den letzten fünf Jahren schon auf über 18 Milliarden US-Dollar erhöht hat, bis zum Jahre 2010 nochmals verdoppelt werden.

Am wichtigsten ist jedoch das neue beziehungsweise alte Selbstverständnis der beiden Länder. Indien und China betrachten sich nun eher als Partner, die eine wichtige Rolle beim Aufbau einer neuen internationalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung spielen wollen. Zwar waren und sind die beiden Länder Rivalen im Kampf um Märkte, Ressourcen und Einfluss in Asien, jedoch erkennen beide die Notwendigkeit einer – zumindest – vorübergehenden Kooperation an.

Vielleicht ist es möglich, durch die Schaffung einer historischen Partnerschaft fortan gemeinsam die globalen Umwälzungen des asiatischen Jahrhunderts zu gestalten. Wenn die beiden Riesen zusammen tanzen, wird dies die Welt, so wie wir sie kennen, erschüttern. Ob diese beiden gemeinsam tanzen werden oder jeder nur für sich allein, ist eine Frage, die in Europa und Deutschland – die den Zenit ihrer Bedeutung wohl schon überschritten haben – niemanden kalt lassen kann. Welche Auswirkungen hat dieser Tanz auf uns? Kann |13|man nur tatenlos zusehen oder sich auf die neuen Verhältnisse einstellen? Im asiatischen Jahrhundert ist die Einschätzung der wichtigsten Protagonisten in Asien Conditio sine qua non, um epochale Umwälzungen zu begreifen und das eigene Verhalten auszurichten. Im Sog der tanzenden Riesen können sich auch bei den restlichen Staaten und den multilateralen Strukturen Asiens schon bald gravierende Zentrifugalkräfte ergeben.

|15|Indien – Callcenter der Welt

|16|Der 15. August 2017 ist ein sonniger Tag. Heute vor 60 Jahren ist Indien unabhängig geworden.

Nachdenklich sitzt Rahul Gandhi, der Sohn von Sonia Gandhi, die im Jahre 2004 mit einem überraschenden Wahlsieg die Rückkehr der Gandhi-Dynastie an die Macht eingeleitet hatte, auf dem Balkon des Präsidentenpalastes in Neu Neu-Delhi. Die kluge Wirtschaftspolitik des Ministerpräsidenten Manmohan Singh hatte Indien zu einer alle Erwartungen übertreffenden wirtschaftlichen Blüte verholfen. Seit den 1991 begonnenen Wirtschaftsreformen, an denen Manmohan Singh schon als Finanzminister beteiligt war, wurden ungeahnte Kräfte freigesetzt: India unbound. Mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 8 Prozent lag Indien nun seit einigen Jahren sogar vor China.

Fast alle Reformprojekte der letzten Jahre hatten gegriffen. Am wichtigsten war die Sanierung der Infrastruktur gewesen. Hunderte Milliarden Dollar wurden mithilfe privater Investitionen in neue Flugplätze, Staudämme und Häfen investiert. Die ausländischen Direkinvestitionen wuchsen daraufhin von Jahr zu Jahr an und erreichten inzwischen über 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Während die Umweltzerstörung Chinas dramatische Ausmaße angenommen hatte und nach der gewaltigen Explosion einer Chemiefabrik in der Nähe Shanghais das gesamte Jangtsedelta für Jahre toxisch verseucht worden war, siedelten ausländische Investoren ihre Projekte nun vor allem in Indien an. Indische Unternehmen hingegen hatten im IT-Bereich und der Pharmabranche den Weltmarkt erobert. In ihren Forschungseinrichtungen in den USA, in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie den Versuchslaboren in Osteuropa wurde günstig das Know-how geschaffen, um von Indien aus die Welt zu beherrschen. Das weltgrößte Stahlunternehmen, die größten Medizintechnik- und Pharmazie-Unternehmen, die größten IT-Outsourcing-Unternehmen – alle kamen aus Indien. Immer mehr Asiaten gingen in die Privatkliniken Nordindiens, um sich neue, in Indien mit modernster Gentechnik gezüchtete Organe einpflanzen zu lassen. Die Kombination des jahrtausendealten Ayurveda mit der weltweit führenden indischen Laser- und Genforschung hatte dafür gesorgt, dass sich Indien als weltweit wichtigster Standort für |17|medizinische Leistungen wie chirurgische Eingriffe und Heilkuren etabliert hatte.

Die Schaffung einer ganz Südasien umspannenden Freihandelszone 2010 war ein großer wirtschaftlicher Erfolg gewesen und Indien war wirtschaftlich und politisch eng mit seinen Nachbarstaaten zusammengewachsen. Die Versöhnungspolitik mit Pakistan und Bangladesch sorgte für Stabilität. Indische U-Boote patrouillierten den Indischen Ozean und beschützten die Öltanker aus dem Nahen Osten auf ihrem Weg nach Ost- und Südostasien vor Piraten. Indien arbeitete militärisch eng mit Vietnam, Malaysia und anderen vormaligen ASEAN-Mitgliedstaaten zusammen. Die ASEAN gab es nicht mehr; sie war erweitert worden zur Asian Union (AU, »Gemeinschaft der Asiatischen Staaten«), einer pan-asiatischen Wirtschafts- und Währungsunion, der auch die südasiatischen Staaten beigetreten waren. Der AU-Ratsvorsitz wechselte turnusmäßig alle zwei Jahre. Gerade befand sich Indien im letzten Jahr seiner Ratspräsidentschaft und würde im nächsten Jahr durch das von inneren Unruhen erschütterte China abgelöst werden.

In Ostasien prägte die Vergreisung der Bevölkerung mittlerweile sichtbar die Gesellschaft. Indien – nach wie vor ein Land von immenser Vielfalt und pittoresker Intensität – war zum jungen und dynamischen Zentrum Asiens geworden.

Fiktion, Vision oder indisches wishful thinking? Der schnelle Aufstieg Indiens zum Liebling der Medien überrascht einige, aber nicht alle. Die Substanz dieses 5000 Jahre alten Reiches ist in vielerlei Hinsicht der von China ebenbürtig. Obwohl die Aufholjagd gegenüber China mit zwölf Jahren Verspätung begann, hat Indien das Potenzial, in einigen Jahren weltweit wirtschaftlich, politisch und kulturell eine bedeutende Rolle zu spielen.

|18|Indien gestern

Indien ist ein riesiger Subkontinent, der im Westen von der Arabischen See, im Osten vom Golf von Bengalen, im Norden durch den Himalaja und im Süden durch die Inselgruppen Ceylons, der Malediven und der Andamanen begrenzt wird. Das historische Indien zerfällt in die heutige Indische Union sowie die Staaten Pakistan und Bangladesch. Auch Nepal und Bhutan im Norden und Sri Lanka im Süden sind dazuzurechnen.

Der indische Subkontinent ist auf dem Landweg nur von Nordwesten her zugänglich, was dazu führte, dass die indische Geschichte im Wesentlichen im Norden des Subkontinentes geprägt wurde. Über den Pass des Hindukusch und Baktrien fielen immer wieder fremde Völker und Dynastien ein, die die weiten Tiefebenen des Indus und des Ganges besetzten. Im Süden dieser Ebenen bildet das Vindhya-Gebirge gleichsam einen Sperrriegel zwischen Nord- und Südindien, der eine Kulturgrenze zwischen dem indo-äryanischen und dem dravidischen Sprachraum darstellt.

1. Vom Altertum zur frühen Neuzeit

Zwischen den Jahren 2600 und 1500 vor unserer Zeitrechnung entstanden während der so genannten Harappa- oder Indus-Zivilisation zahlreiche sorgfältig geplante Städte im Norden Indiens. Die Induskultur fällt zeitlich mit dem Erblühen der großen Kulturen in Ägypten, Mesopotamien und im Jangtse-Delta Chinas zusammen. Sie ist die beeindruckendste und fortschrittlichste dieser Kulturen und |19|wirkt mit der Vereinheitlichung von Gewichten, Maßen, der schachbrettartigen Anlage von großen Städten, die an Manhattan erinnern, und auch in der Bauweise riesiger Gebäude, die eher Wolkenkratzer als Tempel scheinen, wie eine äußerst moderne Gesellschaft.

Ihre Macht beruhte vor allem auf fünf großstädtischen Metropolen, die sich zum Teil im heutigen Pakistan befanden. Zudem gab es über 1000 weitere Städte. Die einflussreiche Kaufmannsgilde stand in einem gut organisierten und regelmäßigen Überseehandel mit Mesopotamien und verkehrte auf dem Landwege mit den chinesischen Großstädten. Der überregionale Stil der Harappa-Zivilisation breitete sich sehr schnell über Pakistan und die benachbarten heutigen indischen Staaten Punjab und Harjana, Rajasthan und Gujarat aus und deckte schließlich mit fast einer Million Quadratkilometern einen Bereich ab, der mehr als doppelt so groß war wie jener der mesopotamischen oder ägyptischen Kultur.

Aus bislang ungeklärten Gründen – die Sprache der Harappa-Zivilisation lässt sich noch nicht entziffern – kam es um 1800 vor Christus zu einer Krise, die zu einem schnellen Erlöschen der Städte und Ansiedlungen führte. Damit war der Weg frei für eine neue Zivilisation, die sich in der nun folgenden so genannten vedischen Zeit zwischen 1500–500 vor Christus entfaltete. Es handelte sich hierbei um die aus Zentralasien stammende Arya-Kultur, von der unter anderem der berühmte Rigveda, eine Sammlung religiöser Texte, die zwischen 1200 und 1000 vor Christus entstand, berichtet.

Das Aufeinandertreffen der langsam schwindenden urbanen Hochkultur der Harappa mit der von kleinen Stammesverbänden und Viehzüchtern geprägten semi-nomadischen Arya-Kultur führte unter anderem zur Herausbildung des Kastenwesens, das bis zum heutigen Tag eine wichtige Rolle in Kultur und Wirtschaftsleben Indiens spielt.

Die Arya wanderten sehr wahrscheinlich über den Hindukusch nach Nordwestindien ein und brachten eine überlegene Kriegstechnologie in Gestalt von zweirädrigen Streitwagen sowie ausgefeilten Pferdezuchtkenntnissen mit.

Seit neuestem mehren sich Stimmen, die eine umfassende Volkswanderung in Frage stellen. Aufgrund kultureller Ähnlichkeiten |20|zwischen Zentral-, West- und Südasien und der Tatsache, dass sich in der Literatur keine Belege für eine derartige Völkerwanderung finden lassen, gehen Forscher davon aus, dass einzelne Stämme der aryanischen Kultur sich in der zweiten Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrtausends von nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres nach Iran und Mesopotamien verlagerten und schließlich über den Bolan-Pass, der Balutschistan mit dem südlichen Industal verbindet, nach Indien vordrangen.

In der frühvedischen Zeit vollzogen die Arya im Punjab langsam den Übergang von einer halbnomadischen Lebensform zur Sesshaftigkeit. Dadurch intensivierten sich – wie schon der Rigveda schildert – die sozialen Abgrenzungsprozesse zwischen den hochgewachsenen blonden aryanischen Eindringlingen und den meist als dunkelhäutig beschriebenen, militärisch unterlegenen Dasyu. Die Dasyu sind dem dravidischen Kulturkreis zuzurechnen, der vor allem südlich des Vindhya-Gebirges angesiedelt war.

In der spätvedischen Zeit wurden die Weichen für die politischen und sozialen Strukturen des künftigen indischen Subkontinentes gestellt. Der damals begonnene soziale Differenzierungsprozess führte in der Folge zu Tausenden von Kasten, die das soziale Leben Indiens bis in die Gegenwart prägen. Zwischen dem 9. und 7. vorchristlichen Jahrhundert dehnte sich die Arya-Kultur ostwärts entlang des Ganges und danach etwas zögerlicher in den Süden aus. Im 5. Jahrhundert vor Christus kam es zu einer weiteren Verdichtung der Machtstrukturen, und das im heutigen Bihar gelegene Magadha wurde zur führenden Macht auf dem indischen Subkontinent.

In diesen Zeitraum fällt auch der Indienfeldzug von Alexander dem Großen (327–325 vor Christus). Dieser Einfall, der in der westlichen Geschichtsschreibung als grandiose Aktion geschildert wird, war aus indischer Sicht nur eine weitere, kurze Attacke von »Barbaren« aus den Bergen Afghanistans, die in der indischen Literatur kaum beachtet wurde. Ohnehin war Alexander nur bis nach Lahore im heutigen Pakistan vorgedrungen, bis er durch seine kriegsmüden Soldaten zur Umkehr gezwungen wurde.

Durch die zurückgelassenen griechischen Söldner und die Neugründung von Städten in den eroberten Gebieten bewirkte Alexander |21|jedoch einen langanhaltenden Einfluss der griechischen Kultur. So wurde in der Gandhara-Kunst Indiens, die vor allem in Kaschmir intensiv wirkte, neben griechischer Architektur auch griechische Astronomie und verschiedenste Lehnworte der griechischen Sprache aufgenommen – abgesehen davon, dass es noch heute blonde und blauäugige Inder in diesen Regionen gibt.

Kurz nach Alexanders Einfall wurde im Jahre 321 vor Christus der letzte König der Nanda-Dynastie von Maghada durch Candra Gupta Maurya entthront. Durch ein umfangreiches Kooperationsabkommen mit Alexanders Nachfolger in Syrien, Persien und dem iranischen Osten, Seleukos Nikator, wurde der seit der Perserzeit bestehende Austausch zwischen Indien und dem Mittelmeerraum noch deutlich ausgeweitet.

Die neugegründete Maurya-Dynastie war die wichtigste Dynastie der Magadha-Hegemonialmacht. Ihr bedeutendster Herrscher war Ashoka (268–232 vor Christus). Unter ihm wurde der Buddhismus zur Staatsreligion, und die Expansion von Magadha erreichte ihre größte Ausdehnung. Die Hauptstadt des Großreiches war Pataliputra, heute Patna, mit einer doppelt so großen Grundfläche wie das antike Rom zur Zeit Kaiser Aurelians (214–275 nach Christus). Es war damit die größte Stadt der damals bekannten eurasischen Welt.

Der allmähliche Niedergang des Reiches von Magadha führte im 1. vorchristlichen Jahrhundert zu einer Fragmentierung Nordindiens. Durch den wachsenden Einfluss west- und zentralasiatischer Völker und die Tatsache, dass sich militärische und wirtschaftliche Zentren nicht mehr auf den Norden beschränkten, kam es zu einer umfassenden Öffnung Indiens.

In dieser Zeit »zwischen den Reichen« wird auch die Entstehung der beiden großen Epen Mahabharata und Ramayana angesetzt. Für viele Inder ist das über 100000 Verse umfassende Mahabharata eine religiöse oder heilige Schrift, die bisweilen als fünfter Teil des Veda, der ältesteten erhaltenen religiösen Literatur Indiens, angesehen wird. Ähnlich wie in der Illias von Homer und dem Nibelungenlied wird der epische Kampf verschiedener Dynastien um die Macht geschildert. Neue Machtfaktoren und Völker wie die Griechen (Yavana), die Parther, die von den Chinesen geschlagenen |22|Hunnen sowie China selbst, aber auch Rom und Antiochia finden ausführlich Erwähnung.

Reger Handel zwischen Europa, Indien und Südostasien setzte ein. Insbesondere der Seehandel, der schon zur Harappa-Zeit gut entwickelt war, erlebte eine große Blüte. Mit dem Römischen Reich kam es auf dem Land- und Seeweg zu einem intensiven Austausch. Seide, sowohl aus China als auch aus Indien, sowie Perlen, Elfenbein, Diamanten und Pfeffer fanden ihren Weg nach Europa. Ebenso der Pfirsich, dessen Name sich von der lateinischen Bezeichnung für den persischen Apfel (malum persicum) ableitet, wie auch der Reis wurden nach Europa eingeführt.

Nach Jahrhunderten der Zersplitterung und eines Machtvakuums etablierte sich schließlich das Gupta-Reich (320–500 nach Christus), in dem der weiterhin einflussreiche Buddhismus durch eine Stärkung des Brahmanentums ergänzt wird. Das Gupta-Reich endete mit dem Einfall verschiedener Nomadenstämme der Hunnen (Huna), was den endgültigen Niedergang der städtischen nordindischen Hochzivilisation bedeutete.

Die Einfälle der Hunnen im 5. und 6. Jahrhundert ähnelten ihren Feldzügen in Europa. Durch eine taktisch geschickte Vorgehensweise, überlegene Ausrüstung sowie furchterregende Grausamkeit und eine Politik der verbrannten Erde erreichten die Hunnen im 5. und 6. Jahrhundert, dass der gesamte Nordwesten Indiens in einem einheitlichen Reich vereinigt wurde. Der Buddhismus wurde ausgerottet, und der Hunnenherrscher Mihirakula benutzte geschickt den Hinduismus für seine politischen Zwecke.

Schließlich konnten im Jahre 560 mithilfe der Sassaniden im Iran und der Türkei, der immer stärker werdenden neuen Macht in Zentralasien, die Hunnen besiegt werden. Viele von ihnen wurden noch in Rajasthan in die Schicht der Adligen aufgenommen und führten fortan den Klannamen Huna. Doch der späte Sieg der Gupta konnte den Niedergang des Reiches nicht mehr aufhalten. Wie in Europa ist der Einfall der Hunnen das Ende des klassischen Altertums und der Beginn des indischen Mittelalters.

Rückblickend lässt sich feststellen, dass unter den Gupta eine nationale Selbstbesinnung auf das typisch indische Element in der |23|großen Vielfalt der Kulturen stattfand. Dieser kulturelle Reichtum war durch den regen Handelsverkehr und die wiederholten Einfälle von fremden Völkern wie den Griechen und anderen zentralasiatischen Staaten erreicht worden. Ähnlich wie nach der Erlangung der Unabhängigkeit und dem Abschütteln der erst islamischen und dann britischen Oberhoheit wurde eine klassische Hochkultur geschmiedet. Die Inder erschufen mit einer Mischung aus Selbstbesinnung und Synthese in Kunst, Religion und Literatur ein klassisches Kompendium. Die Gupta-Herrscher zogen zwar den Hinduismus dem Buddhismus wieder vor, dennoch zeichnete sich diese Epoche durch allgemeine Toleranz, religiöse Vielfalt und regen Handel aus.

Das bis ungefähr zum Jahr 1200 andauernde frühe indische Mittelalter zeichnet sich durch verschiedene Regionalreiche aus, die sich von Ost nach West und auch in Südindien erstreckten.

Seit in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts arabische Truppen nach Rajasthan und Gujarat eingefallen waren, existierten vielfältige militärische und politische Kontakte zwischen Indien und dem islamisch geprägten Asien. Im Jahr 1192 eroberte der Afghane Mohamed Gari ganz Nordindien und 1193 Neu-Delhi. Die islamische Vorherrschaft in Indien wurde 1206 zementiert, als Qutb-Ud-Din Aibak (1206–1210) das Neu-Delhi-Sultanat gründete, das sich rasch bis nach Bengalen ausbreitete.

Unter den Sultanen von Neu-Delhi entstand erstmals seit dem Altertum wieder ein dauerhaftes Großreich in Südasien, dessen politischer und wirtschaftlicher Mittelpunkt die Stadt Neu-Delhi wurde. 1398 wurde sie durch den Einfall zentralasiatischer Stämme unter Tamerlan, »dem Schlächter«, restlos dem Erdboden gleichgemacht. In der Folge kam es zur Gründung weiterer mächtiger islamischer und hinduistischer Regionalreiche. Sie waren die Zerfallsprodukte des nun gebrochenen Neu-Delhi-Sultanats.

Die Neuzeit in Indien begann mit der Expansion der Moguln, deren ursprüngliche Heimat im zentralasiatischen Samarkand nördlich von Neu-Delhi liegt. Durch den Vorstoß der Usbeken wurde der Timuridenprinz Babur, der das indische Mogulreich Anfang des 16. Jahrhunderts begründete, aus seiner Heimat vertrieben, und nach Afghanistan abgedrängt. Von dort aus unternahm Babur, an die Tradition |24|seines Ahnherrn Timur anknüpfend, immer wieder Vorstöße nach Indien.

Babur beerbte nach seinem Sieg in der entscheidenden Schlacht von Panipat 1526 das Neu-Delhi-Sultanat. Unter seinem Enkel Akbar, der von 1556 bis 1605 regierte, erreichte das Mogulreich seine größte Ausdehnung und umfasste beinahe den ganzen Subkontinent. Akbars Reich zeichnete sich im Inneren durch religiöse Toleranz und eine effiziente Verwaltung aus. Es diente als machtpolitisches Vorbild für ganz Südasien.

Anfang des 18. Jahrhunderts begann, bedingt durch zunehmende Schwachstellen in der politischen und administrativen Struktur und durch Korruption, das riesige Mogulreich zu verfallen. Eine wachsende Steuerlast führte zu immer mehr Unruhen unter Landherren und Bauern, und Indien zersplitterte in zahlreiche starke Regionalreiche.

2. Die Kolonialisierung des Subkontinents

In diese Zeit fällt die Verfestigung der europäischen Herrschaft in Indien. Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (1469–1524) hatte am 20. Mai 1498 als erster Europäer, vom Kap der Guten Hoffnung kommend, die indische Küste in der Nähe von Kalikut betreten. Die Portugiesen eroberten 1510 Goa, das bis 1961 als ihre Hauptniederlassung in Indien fungierte. 1518 setzten sich die Portugiesen bei Colombo auch auf Sri Lanka fest.

Im 17. Jahrhundert wurde die Macht der Portugiesen durch den wachsenden Einfluss der holländischen Ostindien Company (Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC) gebrochen. Inspiriert durch den niederländischen Erfolg strömten im Laufe des 17. Jahrhunderts weitere europäische Mächte nach Indien. Schon 1620 etablierten sich die Franzosen in Südindien und waren bis zum Ausbruch der napoleonischen Kriege mit verschiedenen Faktoreien vertreten; ab 1672 wurde Pondicherry zur Hauptniederlassung. Dieser Ort blieb sogar bis 1954 in französischem Besitz – bis die indische Union eine Wirtschaftsblockade verhängte.

|25|Trotz der punktuellen Festsetzung der Europäer kann zunächst nicht von einer flächenmäßigen Territorialherrschaft gesprochen werden. Diese sollte sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickeln und ist eng mit der englischen East India Company (EIC) verbunden.

Die erste englische Faktorei entstand 1613 in Surat. Es folgten weitere Niederlassungen, so 1639 der Erwerb von Madras, die Übereignung Bombays 1668 – eine Brautgabe der Katharina von Braganza an Karl II. – und 1690 der Erwerb Kalkuttas. Madras, Bombay und Kalkutta entwickelten sich in den nächsten Jahrhunderten zu den entscheidenden Zentren englischer Kolonialherrschaft.

Die starke Stellung der Holländer beziehungsweise der VOC im gesamten südostasiatischen Raum führte zwangsläufig dazu, dass die als Gegengewicht gegründete, aber deutlich kleinere englische EIC sich auf Indien fokussierte und dort versuchte, das durch den Rückgang des portugiesischen Einflusses entstandene Vakuum zu nutzen. So kam es immer mehr zu Auseinandersetzungen zwischen den Engländern und den Franzosen, die im Rahmen verschiedener europäischer Kriege, wie etwa dem österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) oder auch dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), in Indien ausgefochten wurden.

Nachdem der englische Abenteurer Robert Clive (1725–1774) im Jahre 1757 in der Schlacht von Plassey das zahlenmäßig überlegene bengalische Heer vernichtend geschlagen hatte, erfolgte ab 1765 der Aufstieg der Briten zu den eigentlichen Herrschern Bengalens, eines der größten und auch wirtschaftlich mächtigsten indischen Regionalreiche. In den folgenden Jahrzehnten dehnten die Briten ihren Machteinfluss stetig aus, sodass bis Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch wenige Gebiete von der Expansion der EIC verschont blieben. Durch das immer größer werdende Territorium und die steigenden Einnahmen aus Grundsteuern wurde die EIC von einer Handelsgesellschaft immer mehr zu einem Territorialherren. Den Briten spielte dabei die Zerrissenheit der nordindischen Fürsten in die Hände.

Die Regierungszeit des Mogulkaisers Shahjahan (1628–1658), bekannt als Erbauer des Taj Mahal, markiert die letzte Blüte der |26|Mogulherrschaft. Als dessen Sohn Aurangzeb 1658 die Herrschaft an sich riss, die er letztendlich bis 1707 innehatte, kam es zu einem Bürgerkrieg. Als othodoxer Sunnit ging Aurangzeb mit großer Gewalt und Grausamkeit gegen die Hindus und Sikhs vor. Die Hindus organisierten ihren Widerstand und formierten sich unter Marhthen Shivaji (1627–1680) zu einer schlagkräftigen Truppe. Ebenso schlossen sich die verfolgten Sikhs zusammen.

Das Mogulreich ging schließlich 1734 zugrunde, als der persische Herrscher Nadir Shal die alte Kaiserstadt Neu-Delhi plünderte und als Beute auch den berühmten Pfauenthron nach Persien entführte. Die wachsende Zersplitterung in kleine und kleinste Territorien, der Verfall der Zentralmacht und auch das Unterliegen der europäischen Rivalen führte zu einer immer stärkeren Konsolidierung der Macht Englands auf dem indischen Subkontinent.

Abgesehen von der wirtschaftlichen und militärischen Expansion durch die EIC folgte ab 1773 auch eine staatlich institutionelle Durchdringung, als durch den Regulation Act ein Generalgouverneur für die indischen Besitzungen Englands eingesetzt wurde. Dieser besaß bei der Ausführung der in London festgelegten politischen Richtlinien weitestgehende Handlungsvollmachten. Mit der Abschaffung des Handelsmonopols der EIC 1813 und mit der Aufhebung jeglicher Handelsaktivitäten 1833 wurde auch nach außen hin die Transformation der EIC von einer Handelsgesellschaft zu einer Herrschaftsinstitution sichtbar.

3. Der Weg zur Unabhängigkeit Indiens

Mitte des 19. Jahrhunderts, 1857, lehnten sich die Inder erstmals in der so genannten »Mutiny« gegen die Engländer auf und brachten das Kolonialreich an den Rand des Untergangs. Der Schock dieses Widerstandes, an dem sich auch indische Truppen, die so genannten Sepy, beteiligten, hinterließ ein tiefes Trauma bei den Briten.

In der Folge führte dies dazu, dass die Engländer zwar auf der einen Seite versuchten, die indische Kolonie zu vereinheitlichen mittels |27|Sprache, Postwesen und Eisenbahnen. Gleichzeitig wurde jedoch dafür Sorge getragen, dass die Rivalität zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen und Religionen erhalten blieb. Besonders verlässliche Volksgruppen, die sich in der Niederschlagung des Aufstands bewährt hatten wie die Gurkhas und die Sikhs wurden und werden bis zum heutigen Tage gefördert. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellen die Sikhs auch im heutigen Indien knapp 20 Prozent der Armee, obwohl sie nur 1,9 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Die erfolgreiche Niederschlagung dieses Aufstands hatte die EIC an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gebracht. Im folgenden Jahr wurden daher die indischen Besitzungen der Handelsgesellschaft offiziell durch die englische Krone übernommen und die EIC aufgelöst. Das Amt des Generalgouverneurs wandelte man in das eines Vizekönigs von Indien um, das ab 1861 mit dem Imperial Legislative Council als Exekutivorgan regierte. 1877 wurde Königin Viktoria zur Kaiserin eines Indiens gekrönt, das sich zunehmend des Englischen als einheitlicher Sprache der Eliten bediente.

Die stärkere Integration Indiens in das britische Kolonialreich führte zu einer stetig wachsenden Kritik in Indien. Als Sprachrohr und Sammelgefäß der indischen Kräfte gründete sich im Jahre 1858 der Nationalkongress. Das anfangs kooperative Verhältnis zwischen Nationalkongress und britischer Regierung wurde immer stärker belastet, und als der Vizekönig Lord Curzon (1859–1925) das wirtschaftlich wichtige und kulturell wie sprachlich einheitliche Bengalen, das den Briten gegenüber oftmals kritisch eingestellt war, in zwei getrennte Provinzen teilte, kam es zu heftigen Protesten. Schließlich wurde 1911 unter dem neuen indischen Kaiser Georg V. Bengalen wiedervereinigt und die Hauptstadt für das gesamte britische Indien aus strategischen Gründen von dem bengalischen Kalkutta in das wieder errichtete Neu-Delhi verlegt.

Im Zuge der weiteren Politisierung der Situation gründete Mohammed Ali Jinnah (1876–1948) im Jahr 1906 die Muslimliga, die letztendlich die religiöse Aufspaltung der Unabhängigkeitsbestrebungen beförderte. Für lange Zeit betrachtete die Muslimliga die Engländer als Partner und Verbündete in der Auseinandersetzung mit der Kongressbewegung|28|, doch verstärkten sich in den folgenden Jahren die Spannungen zwischen den drei Polen.

Der Rechtsanwalt Mohandas Gandhi (1869–1948) wurde als Mahatma (wörtlich: Große Seele) zum moralischen und politischen Anführer des Nationalkongresses, der sich mittlerweile nicht mehr als Bürgerbewegung, sondern als politische Partei verstand. Innerhalb der Kongresspartei erwuchs Konkurrenz in einer jüngeren Generation, insbesondere vertreten durch Jawaharlal Nehru (1889–1964) und Subhash Chandra Bose (1897–1945), der sich an das nationalsozialistische Deutschland anlehnte.

Um einen langfristig als unvermeidlich angesehenen Unabhängigkeitskrieg zu vermeiden, mehrten sich auch in England Stimmen, den Indern mehr Rechte zu gewähren. Die beginnenden Verhandlungen wurden jedoch durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Vor allem Winston Churchill wollte von einer Aufgabe Indiens nichts hören. Der Krieg gegen die japanischen Aggressoren in Südostasien und Indien wurde auch mit Unterstützung indischer Truppen geführt. Gleichwohl gab es indische Truppenteile, die sich mit den Japanern verbündeten, weil sie sich eine Beschleunigung des Unabhängigkeitsbestrebens von England erhofften.

Nach Kriegsende traf der neue britische Regierungschef Clement Attlee 1945 eine schnelle Entscheidung, und es kam 1947 zum Transfer of Power, der durch den letzten Vizekönig Lord Louis Mountbatten vorangetrieben wurde. Das Erreichen der Unabhängigkeit wird vor allem als Sieg von Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit durch passiven Widerstand und zivilen Ungehorsam gesehen, doch hinter dem Begriff der Gewaltlosigkeit verbirgt sich nach Gandhis Ansicht mehr.

Mahatma Gandhi lehrte die Tugenden der Wahrheit, der Gewaltlosigkeit und des Friedens. Gandhis Begriff der Wahrheit umfasst nicht nur das Zutreffende, sondern auch das Gerechte und Richtige. Das bedeutet, dass das Erlangen der Wahrheit nur durch wahrhaftige, gerechte Mittel möglich ist. Gewalt oder gar Krieg sind ungerechte Mittel, deshalb bedingt die Wahrheit die Gewaltlosigkeit und dementsprechend auch den Frieden. Das Festhalten an der »Wahrheit« (satyagraha), teilweise von Gandhi auch als Wahrheitskraft, Liebeskraft oder Seelenkraft übersetzt, kann also nicht unbedingt |29|mit »passivem Widerstand« gleichgesetzt werden, dessen weitläufige Auslegung ihm häufig von englischer Seite vorgeworfen wurde. Wer die Wahrheit zu erlangen sucht, muss laut Gandhi aktiv darauf vorbereitet sein, für die Wahrheit zu leiden. Das Leiden um der Wahrheit willen resultiert aus dem Verzicht der Gewaltanwendung gegenüber dem Feind, denn dadurch nimmt man die Strafe freiwillig auf sich und demonstriert die Stärke der eigenen Überzeugungen.

Die indische Unabhängigkeitsbewegung nahm diese Maximen Gandhis dankbar auf. Durch die Gewaltlosigkeit konnte sich Gandhi als moralischer Sieger bald durchsetzen. Das Gesetz, das er gewaltlos brach, deklarierte er dadurch als ungerecht. Die Strafen und das Leid, die Gandhi auf sich nahm, machten seinen Gegnern bewusst, dass er alles geben würde, um für das zu streiten, was er für richtig, für wahrhaftig hielt. Die Weiterführung der britischen Herrschaft wurde in der Folge unmöglich – aber nur weil die Regierung für einen moralischen Autoritätsverlust empfindlich war. Wenn es jemandem gleichgültig ist, ob er Unrecht hat, beziehungsweise wenn »Recht« und »Unrecht« nicht so deutlich unterscheidbar sind, dann nützt die Gewaltlosigkeit nichts und der so genannte Gandhismus verliert seine Effizienz.

Das Erreichen der Unabhängigkeit Indiens war jedoch nicht das Hauptziel von Mahatma Gandhi. Seine Lehre beinhaltet mehr Facetten und ist letztendlich auf den Menschen und sein Zusammenleben mit Mitmenschen ausgerichtet. Die Gleichheit und soziale Gerechtigkeit der Menschen stehen im Mittelpunkt, und neben dem Wahrheitsstreben und der Gewaltlosigkeit sind körperliche Selbstverleugnung und Disziplin sowie selbstlose Liebe die wichtigsten Voraussetzungen. Spiritualität, religiöser Ökumenismus, idealistischer Internationalismus und der Glauben an die Menschheit sind weitere Akzente von Gandhis Idealen. Für Gandhi gab es keine Rivalität zwischen den Religionen und rituellen Kulten der Welt.

Auch wenn heute der Gandhismus von seinen Zielen weiter entfernt zu sein scheint als einst und seine erfolgreiche wie dauerhafte Umsetzung überhaupt zu bezweifeln ist, so finden sich in ihm jedoch Herausforderungen, die immer noch gültig sind: die Überwindung der Diskriminierung – beispielsweise im Bereich des Kastenwesens –, |30|die Sicherung der Gesundheit und des Wohlergehens der Erniedrigten – der Ausbau der gesundheitspolitischen Maßnahmen und die Bekämpfung der Armut müssen seit dem wirtschaftlichen Aufschwung mehr denn je zentrale Anliegen der indischen Regierung sein – sowie die Förderung der Integrität und des Engagements der Inder verbunden mit einer allgemeinen Weiterentwicklung, um die Grundbedürfnisse der Nation zu befriedigen – auch hier sind zumindest auf dem technischen Gebiet die richtigen Weichen gestellt worden.

Das Eintreten Gandhis für ein besseres Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen, seine ökumenische Überzeugung konnte nicht die Teilung des indischen Subkontinents in Indien und Pakistan verhindern (Partition). Sein Einsatz für eine Verständigung der Religionsgruppen führte schließlich sogar zu seiner Ermordung durch einen Hindu-Extremisten im Jahre 1948.

Mohammed Ali Jinnah, der nicht nur als Gründer der Muslimliga, sondern auch des Staates Pakistan gilt, hatte von Anfang an eine Zwei-Nationen-Theorie vertreten. Seit 1940 hatte er an der Schaffung eines separaten muslimischen Staates gearbeitet, der den neugeschaffenen Kunstnamen Pakistan tragen sollte. Pakistan steht für P wie Punjab, A wie Afghanistan (der nordöstliche Teil), K wie Kaschmir, S wie Sindh und schließlich TAN aus Belutschistan. 1947 gingen also zwei separate Staaten aus der Unabhängigkeitsbewegung hervor: Indien und Pakistan. Während Pakistan seinen Staatengründer Jinnah zum ersten Staatschef machte, wurde zum ersten Ministerpräsidenten Indiens Jawaharlal Nehru berufen.

Nehru trat bereits 1946 das Amt des Premierministers einer Interimsregierung an. Er war Mahatma Gandhis Schützling gewesen trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen – Nehrus politische Überzeugungen lehnten sich eher an jene der Russischen Revolution an als an Gandhis Hindu-Humanismus. Von einer tiefgehenden Ablehnung gegen den britischen und auch westlichen Imperialismus geprägt, verfolgte er im eigenen Land eine sozialistische Politik ähnlich dem sowjetischen Modell, denn er sah in dem Imperialismus, dem sein Volk ausgeliefert war, nur eine Konsequenz des internationalen Kapitalismus. In seinen Augen war eine zentrale Planung und eine |31|staatlich gesteuerte Entwicklung der Wirtschaft ein probates Mittel, um eine gleichmäßige Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes zu sichern. Diese Überzeugung teilte er mit vielen Vertretern seiner Generation, jedoch führte die staatliche Steuerung zu Bürokratismus und Korruption sowie zu einer stagnierenden Wirtschaftsentwicklung und letztlich zu Ineffizienz.

Trotz dieser sozialistisch geprägten Ausrichtung bewahrte Indien während des Kalten Krieges seine Block- und Bündnisfreiheit, was seine Selbstachtung sowie sein internationales Ansehen stärkte.

Seit der Ermordung Gandhis im Jahre 1948 stand der Name Nehru für Indien. Der indische Schriftsteller und Diplomat Shashi Tharoor bezeichnete ihn als die »augenfälligste […] Verkörperung des Freiheitskampfes«, als die »Inkarnation des indischen Unabhängigkeitsgedankens«. Als etwas schwermütiger und mitunter auch herrisch-brahmanisch geltender Politiker war Nehru ein überzeugter, unbestechlicher Demokrat, gegen den jedoch keiner bestehen konnte. Man verglich ihn und seine Politik mit dem großen Banyan-Baum, in dessen Schatten keine Pflanzen gedeihen können: 17 Jahre lang hatte er unangefochten an der Spitze des indischen Staates gestanden. Ihm ist der unermüdliche Aufbau der Demokratie mit ihren Institutionen sowie die Prägung eines säkularen Staates zu verdanken.

Die ersten Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit wurden politisch somit von der Kongresspartei bestimmt, der sowohl Nehru als auch sein Nachfolger Lal Bahadur Shastri (1904–1966) sowie die Ministerpräsidentin Indira Gandhi (1917–1984), die Tochter Nehrus, angehörten. 1950 wurde nach langjähriger Diskussion schließlich die Verfassung der Indischen Union verabschiedet, die Indien als parlamentarische und föderale Republik im Commonwealth, allerdings mit der Betonung einer starken Zentralgewalt definierte. Zwischen 1954 und 1964 fand eine Neugliederung der kolonialen indischen Provinzen nach sprachlichen und kulturellen Kriterien statt. Die Wirtschaft wurde umgebaut und orientierte sich entsprechend Nehrus Vorliebe am sowjetischen Beispiel. Starre Planungsvorgaben (Fünfjahrespläne) und eine staatliche Förderung der Schwerindustrie spielten eine wichtige Rolle.

Indira Gandhi trat 1966 ein schwieriges Amt als Ministerpräsidentin |32|an. Sie verdankte ihre Position hauptsächlich der Uneinigkeit hinsichtlich der Frage, wer ein geeigneter Führer der Kongresspartei nach Shastris Tod sei, sowie natürlich ihrer Herkunft. Ihr Name Gandhi half ihr in den nächsten Jahren vermutlich ebenfalls, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ihr Mann Feroze Gandhi war allerdings kein Verwandter des großen Gandhi.

Die sechziger und siebziger Jahre waren in Indien durch wirtschaftliche und politische Krisen geprägt. Indira Gandhi forcierte 1969 mit sozialistischer und kommunistischer Hilfe eine Spaltung der Kongresspartei. Aus ideologischen Gründen konnte sie die fortwährenden Zahlungen Indiens an die ehemaligen Maharadschas sowie eine Beibehaltung des Status quo der Banken nicht weiter vertreten. Mit der Einstellung der Zahlungen sowie der Verstaatlichung der Banken gewann ihr Flügel der Kongresspartei 1971 schließlich die Wahlen. Damit hatte sie den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht. Der muslimische Maler Maqbool Fida Husain verewigte sie als Hindu-Muttergottheit.

Ihr populistischer Erfolg war zwar groß, doch konnte sie politisch weitreichende Ziele nicht durchsetzen. Es ist sogar zweifelhaft, ob Indira Gandhi überhaupt eine regelrechte Vision oder ein Programm hatte. Korruption und Arbeitslosigkeit stiegen unter ihrer Regierungszeit, was wiederum zu Protesten der Gegner führte. Als ihr das Amt als Ministerpräsidentin wegen Unregelmäßigkeiten beim Wahlkampf von 1971 aberkannt werden sollte, rief sie kurzerhand den Notstand aus und ließ ihre politischen Gegner verhaften. Neben einer Pressezensur verkündete sie auch ein Programm zur Förderung der einfachen Menschen, bestehend aus 20 Punkten, die unter anderem eine Verbesserung der Lebensbedingung auf dem Lande, die Aufhebung von Zwangsarbeit, Massenerziehung und eine städtische Erneuerung beinhalteten.

Viele dieser Punkte wurden nicht durchgesetzt, jedoch führten die rücksichtslosen Zerstörungen von Slums sowie das Programm der Zwangssterilisierung, Verhaftung und Folterung junger studentischer Aktivisten zu einem Vertrauensbruch zwischen dem Volk und der Nehru-Gandhi-Dynastie. So geriet 1977 die Kongresspartei erstmals in die Opposition. Die von der Janata-Partei geführte Regierung konnte sich aber nicht lange behaupten. 1980 gewann Indira Gandhi |33|erneut die Wahl und blieb bis zu ihrem Tod 1984 Ministerpräsidentin. Die Ermordung Indira Gandhis durch ihre Sikh-Leibwächter im Oktober 1984 war eine direkte Folge der religiös-politischen Konflikte zwischen Sikhs und Hindus im Punjab sowie der von Gandhi angeordneten Stürzung des Goldenen Tempels in Amritsar.

Auf Indira Gandhi folgte unvermittelt ihr Sohn Rajiv (1944– 1991), der keinerlei Regierungserfahrung hatte. Rajiv zeigte jedoch einen Generationswechsel an. Ohne nennenswerte Erinnerung an die britische Besatzungszeit war sein Blick auf den Westen nicht von voreiliger Abneigung geprägt. Die Faszination für die westliche Technik, die Bewunderung des wirtschaftlichen Fortschrittes und die politischen Freiheiten, die der Westen verhießen, ließen das sowjetische System nicht mehr prinzipiell als vorbildlich erscheinen.

Im Gegensatz zu seiner Mutter zeigte sich Rajiv Gandhi aufrichtig und überzeugt von seiner ihm eher zufällig anvertrauten Aufgabe. Indien sollte aus der politischen Untätigkeit, aus der wirtschaftlichen Stagnation herausgeführt werden. Rajiv Gandhi wählte bereits Schlagworte, die erst in den neunziger Jahre populär wurden: Liberalisierung, Abbau der Bürokratie, Technologie, Moderne. Sein Reformwillen fiel jedoch politischen Kompromissen mit dem Establishment zum Opfer.

Die politische Karriere Rajiv Gandhis ähnelt der seiner Mutter verblüffend, hält man sich die großen Ereignisse vor Augen. 1989 von der indischen Bevölkerung abgewählt, sollte die ihn ablösende »Anti-Kongress-Koalition« nur kurze Zeit bestehen. Nach ihrem Zerfall und den anberaumten Neuwahlen, bei denen Gandhi für die Kongresspartei kandidierte, wurde er 1991 durch die Bombe einer tamilischen Separatistin aus Sri Lanka ermordet. Auch hierbei handelte es sich um eine politisch motivierte Tat.

Der Tod Indira Gandhis sowie der ihres Sohnes Rajiv verhinderte in gewisser Hinsicht den drohenden Untergang der Nehru-Gandhi-Dynastie. Erst durch ihr gewaltsames Ableben wurden den Indern die Opfer, die dieser Familie im Namen der indischen Nation abverlangt wurden, erneut bewusst. Daraus resultiert letztendlich auch die mystische Aura, die sich um den Namen und die Mitglieder der Dynastie gelegt hat. Von dieser Familie geht eine Anziehungskraft |34|aus, die wohl nur damit zu erklären ist, dass ihre Mitglieder wahrhaft nationale Figuren geworden sind, deren Zuspruch sich über Regions-, Religions- und Kastengrenzen hinaus erstreckt.

Die Polarisierung des politischen Lebens führte bereits Ende der achtziger Jahre zum Aufstieg der betont hinduistischen Bharatiya Janata Party (BJP), was eine Verschärfung der latenten Spannungen zwischen Hindus und Muslimen mit sich brachte. 1996 gewann die BJP erstmals eine Bundeswahl, und ihr Kandidat Atal Vajpayee wurde 1998 erster BJP-Ministerpräsident. Er blieb in diesem Amt bis zu seiner Abwahl im Jahre 2004. Seitdem regiert erneut die Kongresspartei, Ministerpräsident wurde Manmohan Singh. 2002 wurde mit Dr. Abdul Kalam erstmals ein Muslim indischer Staatspräsident.

Das Abstreifen und Überwinden der englischen Kolonialherrschaft hält nach fast 60 Jahren Unabhängigkeit noch immer an. Ein Beispiel dafür ist die Umbenennung der Städte Kalkutta, Bombay und Madras in Kolkata, Mumbai und Chennai in den Jahren von 1995 bis 2001. Die neuen Bezeichnungen, die zum Teil auf scheinbar alte Namen und Aussprachen zurückgehen, haben sich jedoch noch nicht vollends im indischen sowie im Bewusstsein des Auslands durchgesetzt. In Pakistan hingegen, das einen Tag vor Indien unabhängig wurde, bildete sich schon früh eine starke Position des Präsidenten heraus, der sich auf das mächtige Militär stützte. 1958 riss der General Ayub Khan (1907– 1974) in einem ersten Staatsstreich die Macht an sich. In der Folge kam es immer wieder zu Militärputschen. Nach den zivilen Ministerpräsidenten Benazir Bhutto (*1953) und Nawas Sharif (*1949) putschte sich schließlich der General Pervez Musharraf (*1943) im Jahre 1999 an die Macht, die er bis zum heutigen Tage innehat.

Ebenso wie Indien besteht Pakistan aus völlig unterschiedlichen Kulturen und Sozialstrukturen im westlichen und im östlichen Landesteil, in dem die größten Teile der Bevölkerung leben. Bengali stellt die Volkssprache im Gangesdelta dar, während Urdu als offizielle Landessprache gilt. Die Muslimliga von Jinnah konnte sich aufgrund dieser Komplexität nicht als integrationsstiftende nationale Partei etablieren.

In der Folge des indisch-pakistanischen Krieges 1965 um Kaschmir verschärften sich die Auseinandersetzungen. Schließlich wurde 1971 mit der militärischen Unterstützung Indiens in Ostpakistan |35|der souveräne Staat Bangladesch ausgerufen. Die militärische Unterstützung dieses Unabhängigkeitskampfes seitens Indien war nicht die einzige militärische Konfrontation zwischen den hinduistischen und muslimischen Staaten. Schon 1947 kam es zu einem Krieg um Kaschmir, der mit einem Teilrückzug Indiens endete. Der erneute Versuch Pakistans, ganz Kaschmir zu erobern, scheiterte 1965 durch militärische Erfolge Indiens. Unter dem Schatten der nuklearen Bedrohung – 1974 wurde in Indien der erste Atomsprengkopf gezündet – hat sich eine trügerische Ruhe zwischen den beiden Nationen ausgebildet.

Es sei noch kurz Sri Lanka erwähnt, das am 4. Februar 1948 von den Briten die Unabhängigkeit erhielt. Im unabhängigen Sri Lanka wird das politische Leben im Wesentlichen von der United National Party und seit 1956 auch von der Sri Lanka Freedom Party geprägt. So wie die Gandhi-Nehru-Dynastie in Indien bildeten sich auch in Sri Lanka demokratisch legitimierte Regierungsdynastien heraus.

1970 hatte Ceylon seinen Kolonialnamen abgelegt und sich offiziell in Sri Lanka umbenannt. 1971 wurde der Status eines englischen Dominion aufgegeben und das Präsidialsystem eingeführt. Bis zum heutigen Tag kämpft der Inselstaat mit massiven ethnischen Problemen zwischen den Singhalesen und den seit dem 13. Jahrhundert eingewanderten Wanderarbeitern, den so genannten Tamilen. Durch ein starkes Bevölkerungswachstum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Frage einer Unabhängigkeit der Tamilen immer relevanter. Seit den siebziger Jahren wird sie zum Teil durch militante separatistische Bewegungen auch mit Gewalt und Terrorismus durchzusetzen versucht.

Indien, Pakistan und Sri Lanka haben seit der Unabhängigkeit eine deutliche Modernisierung erlebt, sich den Traditionen des Westens geöffnet und auch demokratische Gedanken verwirklicht, gleichzeitig aber versuchten sie, traditionelle Prinzipien und die eigene Identität beizubehalten.

|36|Indien heute

Indien ist kulturell ein Kontinent voller Widersprüche, in dem man neben einer großen Aufgeschlossenheit gegenüber modernen Ideen in vielen Lebensbereichen auch geradezu defätistischen Gleichmut antrifft. In den 5000 Jahren der indischen Geschichte wurde durch intellektuelle und philosophische Eigenständigkeit und handwerkliches Geschick eine einzigartige Kultur und Gesellschaftsordnung geschaffen. Die unübersehbare Vielfalt von sozialen Schichten und Gruppen bildet ein spannungsgeladenes und dennoch fest zusammengeschweißtes Sozialgefüge. Die Entwicklung in Indien, die Sozialstruktur und Politik, die Kultur, Kunst und Philosophie hat natürlich viel mit der geographischen Lage des Subkontinents zu tun. Im Norden die majestätische Grenze des Himalaja-Gebirges, gefolgt von den fruchtbaren Ebenen des Ganges und des Indus. Diese Flüsse und der Brahmaputra stellen die Lebensadern Indiens dar und schaffen die vielfältigsten Landschaften, die das Kernland der indischen Zivilisation bilden. In diesem in sich geschlossenen Teil des Subkontinents, der etwa 1200 Kilometer in der Länge und 400 Kilometer in der Breite beträgt, entwickelte sich eine eigenständige Gesellschaftsordnung, die beispiellos ist. Die Koexistenz von althergebrachten und zeitgenössischen Glaubensvorstellungen, Lebensstilen und Arten des kreativen Ausdrucks wirkt sich in ihren Gegensätzen und manchmal sogar in einem erschreckenden Nebeneinander aus, was dem Leben in Indien eine außerordentliche Vitalität und bunte Intensität, ja geradezu Sinnlichkeit verschafft. Indien, das größte demokratische Land der Welt, ist in einer Phase des Übergangs in eine moderne Gesellschaft begriffen, die mit rapider Industrialisierung und sozialen Veränderungen inmitten von Armut noch |37|eine Poesie des Pittoresken und enormen Reichtum an Tradition und Vielfalt aufweist.

Wenn man von Indien spricht, seine Geschichte, seine Geographie, seine Religionen und ethnischen Bevölkerungsgruppen betrachtet, dann ist es fast undenkbar, dass ein einziges indisches Nationalgefühl existiert. Nationalismus in Indien kann im Grunde genommen nur über einen Pluralismus definiert werden. Shashi Tharoor vergleicht Indien mit einem thali, einem Gericht, das aus vielen verschiedenen Schüsseln besteht, deren Geschmäcker jeweils unterschiedlich sind, bisweilen auch nicht zusammenpassen, jedoch zusammengehören, denn sie ergänzen einander. Nur durch diese Vielfalt wird das Essen zu einer befriedigenden Mahlzeit und von dieser Vielfalt lebt auch der Staat und das Nationalgefühl. Der indische Pluralismus findet seinen spezifischen Ausdruck ebenso im Säkularismus, der eben nicht die Abwesenheit von Religion vorschreibt, sondern im Gegenteil eine Fülle von verschiedenen Religionen als gleichberechtigt nebeneinander stellt, von denen keine staatlich privilegiert wird. 1947 wurde mit der Unabhängigkeit die Trennung von Religion und Staat festgeschrieben, eine Trennung, die schon in den Jahrhunderten zuvor mit kleinen Unterbrechungen praktiziert wurde und insofern als Tradition bezeichnet werden kann. Bestes Beispiel für den praktizierten Säkularismus ist, dass es, obwohl die indische Bevölkerung zu 82 Prozent aus Hindus besteht und Pakistan aus Gründen einer muslimisch-separatistischen Bewegung von Indien abgespalten wurde, bereits zwei indische Präsidenten gab, die Muslime waren, und momentan ein Sikh die Amtsgeschäfte führt. Darüber hinaus bekleiden Muslime, Parsen, Sikhs und Juden hohe Ämter im Staats- und auch im Militärwesen.

1. Wirtschaft

Innen

Seit Beginn der fünfziger Jahre war die indische Wirtschaft staatlich geplant. Es regierten die Babus, die indischen Bürokraten. Politiker |38|kamen und gingen, die wahre Macht hielten die Beamten. Korruption grassierte. Unter Nehrus Tochter Indira Ghandi wurde eine allumfassende Regulierung geschaffen, die unter dem Namen license raj eine zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Entsprechend hielten sich die wirtschaftlichen Zuwachsraten in engen Grenzen. Von 1950 bis 1980 erzielte Indien bei einem Bevölkerungswachstum von 2,2 Prozent ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von lediglich 3,5 Prozent pro Jahr. Nach dem Sturz Indira Ghandis 1977 machte sich die Janta-Regierung zögerlich ans Werk, die Wirtschaft langsam zu liberalisieren. 1982 konnte das Land die Unabhängigkeit in der Nahrungsmittelversorgung erreichen, ein wichtiges psychologisches Signal für die Bevölkerung des Subkontinents.

Doch während China ab den achtziger Jahren immer mehr ausländische Direktinvestitionen anzog, steckte Indien im Sumpf politischer Unruhen und ökonomischer Fehlplanungen fest. Indien verfügte schon damals über niedrige Lohnkosten, ein entwickeltes Rechts- und funktionierendes Finanzsystem sowie über hervorragende Wissenschaftler und englischsprachige Akademiker. Obwohl das Land seit dem Ende der siebziger Jahre Abstand von seiner selbstgewählten wirtschaftlichen Isolation nahm, ging die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt aber nur schleppend voran.

Aufgrund seiner engen Verbindung zum Sowjetsystem, der starren Industriepolitik bis in die neunziger Jahre, der extremen Bürokratie und der politischen Instabilität galt Indien lange Zeit als nicht investorenfreundlich. In der damaligen Lizenzwirtschaft musste jede unternehmerische Tätigkeit umständlich genehmigt werden, jeder Winkel der Wirtschaft war bis ins kleinste Detail reguliert und mit Unmengen von bürokratischen Fallstricken gespickt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges musste sich Indien auch wirtschaftspolitisch neu orientieren. Die Staatskassen waren damals so leer, dass das Land im Zuge der Kuwait-Krise durch explodierende Ölpreise und sinkende Devisenüberweisungen durch die indischen Fremdarbeiter im Nahen Osten an den Rand der internationalen Zahlungsunfähigkeit geriet. Indien musste die Hilfe des Internationalen Währungsfonds in Anspruch nehmen, im Gegenzug führte quasi kein Weg an einer Liberalisierung der Wirtschaft vorbei.

|39|Seit 1991, als unter der Regierung Rao mit Finanzminister Manmohan Singh, dem heutigen Ministerpräsidenten, wirtschaftliche Reformen eingeleitet wurden, ist Indien nun vollauf dabei, die verlorenen Jahre wieder aufzuholen. Das Lizenzsystem wurde weitgehend abgeschafft, die Zölle von bis zu 400 Prozent auf durchschnittlich 28 Prozent im Jahr 2004 gesenkt, Einfuhrverbote gibt es kaum noch und staatliche Monopole wie in der Telekommunikation, Luftfahrt und Petrochemie wurden aufgebrochen.

Neben der Öffnung des Landes gegenüber der internationalen Wirtschaft sind umfassende Privatisierungsmaßnahmen ein zweiter wichtiger Bestandteil der Reformvorhaben, die die Regierung seit dem Beginn der neunziger Jahre in Angriff genommen hat. Viele Unternehmen des staatlichen Sektors, die quer durch alle Branchen generell überbesetzt sind, haben aufgrund der staatlich vorgegebenen Preisgestaltung ohne Rücksicht auf Kosten hohe Verbindlichkeiten angehäuft. Um das System aufrechtzuerhalten, wurde in der Vergangenheit vor allem an Wartung und Ersatzinvestitionen gespart, was ein Grund für den desaströsen Zustand des Infrastruktursektors Indiens ist. Dem Widerstand der Gewerkschaften gegen Massenentlassungen begegnete man vor allem durch eine exit policy der großzügigen Abfindungen, die wiederum stark zu Lasten des Staatshaushaltes gegangen ist. Seine massiven Haushaltsprobleme hat Indien bislang vor allem durch Kredite gelöst, wobei ein Großteil des Volumens im Inland aufgenommen wurde.

Die bisher vollzogene Deregulierung der Wirtschaft ist allerdings nur an der Vergangenheit des Landes gemessen signifikant, im internationalen Kontext ist Indien noch immer ein stark reguliertes Land. Dennoch wächst die indische Wirtschaft mit durchschnittlich knapp 6 Prozent seit den neunziger Jahren nun deutlich schneller als mit den als »Hindu-Wachstumsrate« verspotteten durchschnittlich 3,5 Prozent vor der wirtschaftlichen Liberalisierung.

Zur Überraschung vieler Beobachter führt auch die seit 2004 regierende Kongresspartei die von der Vorgängerregierung BJP angefangene Linie der Liberalisierung der Wirtschaftsstrukturen weiter. Sie verfolgt jedoch gleichzeitig die Strategie, neben der rein wachstumsorientierten |40|Entwicklung auch Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen und, in den Worten von Ministerpräsident Singh, eine »Globalisierung mit menschlichem Gesicht« zu verwirklichen. So sollen nach den Plänen der Regierung beispielsweise gewinnbringende Staatsunternehmen zunächst nicht privatisiert werden. Die Kongresspartei trägt damit den Interessen des Großteils ihrer Wähler Rechnung, der bislang nicht von den Wachstumsbranchen des Landes profitieren konnte.

Zwar leben derzeit noch immer 26 Prozent der 1,1 Milliarden Einwohner Indiens unterhalb der Armutsgrenze – das sind deutlich mehr als in China. Und noch immer finden über 600 Millionen Inder ihr Auskommen in der Landwirtschaft. Indien erwirtschaftet mit 17 Prozent der Weltbevölkerung bislang kaum 2 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. In China sind es bei 21 Prozent der Weltbevölkerung immerhin 5 Prozent.

Doch die Verhältnisse ändern sich: Steigende Einkommen und eine stetig anwachsende Mittelklasse führen dazu, dass in Indien ein gewaltiger Binnenmarkt entsteht. Nachdem viele Jahre lang gut ausgebildete indische Ingenieure und qualifizierte Spezialisten das Land verlassen haben, kehren nun immer mehr Fachkräfte zurück, weil sich die Aufstiegs- und Karrierechancen in ihrer Heimat deutlich verbessert haben.

Im Vergleich zu den asiatischen Tigerstaaten und China nahmen sich die indischen Wachstumsraten bis vor kurzem zwar immer noch recht bescheiden aus, dafür blieb das Land aber dank seiner vorsichtigen Währungspolitik von der asiatischen Finanzkrise der späten neunziger Jahre verschont.

Mit der zunehmenden Öffnung zum Weltmarkt konnte das reale Pro-Kopf-Einkommen Indiens in den letzten zehn Jahren um mehr als 50 Prozent gesteigert werden, trotz der niedrigen Ausgangsbasis ist dies eine bemerkenswerte Leistung. 2003 hat Indien erstmals ein Rekordwachstum von 8,5 Prozent verbuchen können und rückt seither zusehends ins Zentrum des internationalen Interesses. Auch 2004 lag das Wachstum immerhin bei beachtlichen 7,5 Prozent und konnte 2005 auf 8,1 Prozent gesteigert werden. Neben dem Ausbau der Infrastruktur ist die Konsumnachfrage mit einem |41|Plus von knapp 8 Prozent die wichtigste Triebkraft des indischen Wachstums.

Damit hat sich die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Expansion in den letzten drei Jahren deutlich beschleunigt. Die entscheidende Frage ist, ob es Indien gelingen wird, diese Entwicklung langfristig beizubehalten und womöglich noch weiter zu beschleunigen. In den vergangenen 25 Jahren lag das durchschnittliche indische Wirtschaftswachstum bei unter 6 Prozent, ein gleitender Fünf-Jahres-Mittelwert zeigt nur erstaunlich geringe Abweichungen. Zwar lagen die Wachstumsraten in den vergangenen drei Kalenderjahren jeweils über 7 Prozent, in den drei Jahren zuvor jedoch wurden lediglich durchschnittliche 4,7 Prozent erreicht. Somit könnte die jüngste Beschleunigung des Wachstums tatsächlich eher zyklischer als struktureller Natur sein. Andererseits sorgt die zunehmende Integration Indiens in die globale Ökonomie für eine nachhaltige Verstärkung der Wachstumsdynamik.

Geht es nach den Plänen der indischen Bundesregierung, soll das Wachstumstempo der indischen Ökonomie künftig noch stärker zulegen und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2010 um jährlich bis zu 10 Prozent wachsen. Ministerpräsident Singh geht davon aus, dass dieser Wert in den kommenden Jahren zu erreichen sei, wenn es gelingt, die Effizienz der indischen Volkswirtschaft zu verbessern. Eine Schlüsselrolle dabei spielt die Verbesserung der Infrastruktur. Nimmt man die ungeheure Aufbruchstimmung, die in Indien herrscht, zum Maßstab, dürften diese Zahlen in der Tat erreichbar sein.

Internationale Institutionen beurteilen die Wachstumsaussichten Indiens zwar vorsichtiger, aber ebenfalls ausgesprochen positiv. Die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) geht für die Fiskaljahre 2006/07 und 2008/09 von Wachstumsraten in Höhe von 7,6 und 7,8 Prozent aus, der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt den Zuwachs für 2006/07 mit 6,9 Prozent etwas konservativer ein. Entscheidende Faktoren für die nachlassende Dynamik werden laut IWF eine schwächere Binnennachfrage infolge des höheren Ölpreises und steigende Zinsen sein. Die wachsende Verbrauchernachfrage und steigende Energiepreise haben indes auch zu einer Ausweitung des |42|Leistungsbilanzdefizits 2005/06 auf 3,0 Prozent des BIPs geführt, das im laufenden Jahr 2006 bis zu 3,5 Prozent erreichen könnte und zu anhaltender Sorge an Indiens Kapitalmärkten führt.

Trotz des hohen Wirtschaftswachstums war die Regierung bislang noch nicht besonders erfolgreich darin, die Arbeitslosigkeit nachhaltig abzusenken. Während die Löhne der High Potentials um bis zu 15 Prozent jährlich steigen und sich bereits ein massiver Engpass bei den gut ausgebildeten Nachwuchskräften abzuzeichnen beginnt, bleiben viele Menschen auf dem Land und ungebildete Tagelöhner in den Städten ohne Arbeit. Obwohl die Wirtschaft zwischen 1993/94 und 1999/2000 um durchschnittlich 6,5 Prozent im Jahr wuchs, legte die Beschäftigung lediglich um 1 Prozent jährlich zu. Die offizielle Arbeitslosenrate stieg im selben Zeitraum von 6 auf 7,3 Prozent. Im Sektor der produzierenden Industrie innerhalb des »organisierten Bereiches« der Wirtschaft, der 2001 insgesamt 27,8 Millionen Menschen umfasste, stagniert die Zahl der Beschäftigten bei wenig über 6 Millionen. Ursächlich ist unter anderem das restriktive Arbeitsrecht, das einen raschen Ausbau der arbeitsintensiven Industrien behindert. So können zum Beispiel Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten nicht ohne weiteres Arbeitnehmer entlassen, was Neueinstellungen erschwert. Die Folge sind eine Verlagerung des Wachstums auf den nicht organisierten und kontrollierten Bereich der Wirtschaft und eine höhere Arbeitslosigkeit.

Inzwischen liegt die Erwerbslosenquote im Schnitt bei 9,1 Prozent. Zum Arbeitskräftepool von derzeit 470 Millionen Menschen kommen jedes Jahr weitere 20 Millionen junge Inder neu hinzu, das sind alle zwei Jahre etwa so viele wie die gesamte Erwerbsbevölkerung Deutschlands. Langfristig hohe Wachstumsraten und flexible Beschäftigungsverhältnisse sind daher unerlässlich, um eine wirksame Armutsbekämpfung zu ermöglichen.

Die relative Einkommensverteilung in Indien ist weniger drastisch ungleich und ähnelt derjenigen europäischer Staaten. Der Gini-Koeffizient, der den Grad der Gleichheit in der Einkommensverteilung bestimmt, lag in Indien 2005 bei 0,38, das ist höher als in Deutschland und niedriger als in den USA. Auch in China lag der Wert mit 0,45 deutlich höher.

|43|Derzeit wächst das Pro-Kopf-Einkommen der indischen Bevölkerung um durchschnittlich 11 Prozent jährlich, was einer gewaltigen Wohlstandssteigerung gleichkommt. Seit der wirtschaftlichen Liberalisierung 1991 hat sich das nominale Pro-Kopf-Einkommen annähernd verdoppelt. Allerdings beträgt das durchschnittliche verfügbare Einkommen auch im Jahr 2005 lediglich rund 610 Dollar pro Jahr, viel zu wenig um substanziellen Konsum zu ermöglichen. Andererseits umfasst die kaufkräftige indische Mittelschicht schon heute 50 bis 150 Millionen Menschen, wobei die Definition hier stark von der einer europäischen Mittelschicht abweicht. Insofern sollte man sich von derzeit häufig auftauchenden Zahlen wie der einer 300 Millionen Menschen umfassenden »Mittelschicht« nicht verwirren lassen. Circa 75 Millionen indische Haushalte verfügen über ein Jahreseinkommen zwischen 1000 und 4000 Euro, 40 Millionen Haushalte über 4000 bis 8000 Euro jährlich. Diese rasch anwachsende Mittelschicht, die als extrem konsumfreudig gilt, ist der wahre Wachstumsmotor hinter dem indischen Aufschwung. 1,2 Millionen Haushalte haben ein jährliches Einkommen von zum Teil deutlich über 8000 Euro. 23 US-Dollar-Milliardäre kommen heute schon aus Indien – das sind weit mehr als in China. Der vielleicht schillerndste unter den indischen Aufsteigern ist der in London lebende Stahlmagnat Lakshmi Mittal, der es 2005 auf Platz drei in der Liste der reichsten Männer der Welt geschafft hat.

Parallel zum Einkommenszuwachs der Bevölkerung wächst der indische Absatzmarkt mit Riesenschritten. Schon heute zählt Indiens Konsumgütermarkt zu den zehn größten der Welt, bis 2010 könnte er unter die Top fünf aufsteigen. In fast allen Bereichen ist das Marktpotenzial enorm. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt, dass sich beispielsweise das Volumen des Marktes für Autokomponenten bis 2015 verfünffachen wird. Bei den Indern mittlerer Einkommensschichten werden auch Fernreisen zusehends populärer. Entsprechend explosiv entwickelt sich die Tourismuswirtschaft – Touren nach »Europe with Indian Food« sind derzeit groß im Kommen. Auch der Versicherungsmarkt des Subkontinentes boomt. So wuchs das Prämienvolumen im Bereich Lebensversicherungen allein 2005 um 50 Prozent. Neben China gilt Indien damit als vielversprechendster Wachstumsmarkt.

|44|Die Zusammensetzung der indischen Wirtschaftsleistung ist für ein Entwicklungsland ungewöhnlich. Aktuell trägt der Dienstleistungssektor 52,4 Prozent zum indischen BIP bei, ein bemerkenswert hoher Anteil, wie man ihn in der Regel nur in den höher entwickelten Volkswirtschaften der Industrieländer antrifft. Mit einem Rekordwachstum von 9,8 Prozent war der Dienstleistungssektor auch im abgelaufenen Fiskaljahr 2005/06 der wichtigste Wachstumsmotor der indischen Volkswirtschaft, wobei nicht nur der steigende internationale Bedarf an IT- und Outsourcing-Services eine Rolle gespielt hat, sondern auch die starke inländische Nachfrage. Der industrielle Sektor, der 26 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung ausmacht, wuchs ebenfalls um stattliche 9 Prozent.

Die für den überwiegenden Teil der indischen Bevölkerung so wichtige Landwirtschaft konnte dank des günstigen Monsuns 2005 immerhin um 3,9 Prozent zulegen. Die relativ geringen Zuwächse im primären Sektor und die hohe Abhängigkeit vom Monsun reflektieren nach wie vor anhaltendende Schwierigkeiten bei der Steigerung der Produktivität in der Agrarwirtschaft Indiens, die für die Armutsbekämpfung im Land eine entscheidende Rolle spielt.

Verantwortlich für die bemerkenswerte Wirtschaftsstruktur Indiens ist der ungewöhnliche Wachstumspfad des Landes. Nach dem allgemein anerkannten Modell von Fourastié entwickelt sich eine Volkswirtschaft nach folgendem Muster: Ein zunehmender industrieller Sektor verdrängt allmählich den Agrarsektor, wobei im Laufe der weiteren Entwicklung dann wiederum der Anteil des Dienstleistungssektors zunimmt, der seinerseits den Anteil des industriellen Sektors stabilisiert oder zurückdrängt. In Indien hingegen wurde in beeindruckender Art und Weise die Industrialisierungsphase zunächst übersprungen. Heute dominiert der Dienstleistungssektor mit einem Anteil von über 50 Prozent des BIPs die wirtschaftliche Struktur. Nach wie vor sind die Dienstleistungen der am schnellsten wachsende Wirtschaftssektor des Landes. Ein entscheidender Faktor für diese Entwicklung ist die Tatsache, dass Indien aufgrund seiner Kastenordnung schon immer eine arbeitsteilige Gesellschaft war, in der bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten von spezialisierten Kasten übernommen wurden. Hinzu kommt, dass der Dienstleistungssektor |45|in Indien auch traditionell eine überragende Rolle gespielt hat. Der übliche Entwicklungspfad von der Agrargesellschaft über die Industriegesellschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft ist somit nicht auf Indien anwendbar. Die arbeitsteiligen Gesellschaften Südasiens haben im Grunde alle eine etwas andere Entwicklung genommen, als man sie nach herkömmlichem Verständnis erwarten würde. So hat auch in Pakistan der Dienstleistungssektor hinsichtlich der Wertschöpfung bereits in den sechziger Jahren den industriellen Sektor überholt und in den achtziger Jahren den Primärsektor als führendes Wirtschaftssegment abgelöst.

Die mangelnde Entwicklung des industriellen Sektors in Indien ist vor allem auf einen akuten Mangel an Kapital, eine ungenügende Infrastruktur und die Existenz zahlreicher starrer rechtlicher Vorschriften zurückzuführen. Dagegen konnten sich Unternehmen des Dienstleistungssektors unter Ausnutzung moderner Kommunikationstechnik und mit geringem Kapital-, dafür umso größerem Mitarbeiter- und Wissensinput erfolgreich auf dem Weltmarkt positionieren.

Kann Indien also ohne einen großen Industriesektor auskommen? Angesichts des steigenden Arbeitskräfteangebots und der zunehmenden Nachfrage nach Produkten des verarbeitenden Gewerbes infolge höherer Einkommen erscheint dies auf Dauer unwahrscheinlich. Der Boom des Servicesektors kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur ein Bruchteil der indischen Bevölkerung darin Arbeit findet und das Wachstum weite Teile des Landes noch nicht erreicht hat. Die boomende IT-Branche des Landes, die 4,5 Prozent des BIPs erzeugt, beschäftigt lediglich 0,25 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Damit ist sie nicht die Jobmaschine, die Indien braucht, um seine mehreren hundert Millionen weniger gut ausgebildeten Arbeitskräfte in Lohn und Brot zu bringen. In entscheidendem Maße hängt die weitere Industrialisierung des Landes vom Ausbildungsniveau der Landbevölkerung und dem Ausbau der Infrastruktur ab, die den physischen Transport von Gütern zu erschwinglichen Preisen überhaupt erst ermöglicht. Von einem Staat auf dem Weg zur postindustriellen Gesellschaft im herkömmlichen Sinne kann man trotz der überragenden Rolle des Dienstleistungssektors also noch nicht sprechen, |46|vielmehr braucht Indien einen starken industriellen Sektor, um die wirtschaftliche Entwicklung auf eine breite Basis zu stellen und einen ausreichenden Jobpool für seine weniger gut ausgebildeten Arbeitskräfte des Niedriglohnsektors zu etablieren.

Trotz des Booms im Bereich der Dienstleistungen ist der Anteil der Beschäftigten in den drei Sektoren in den letzten Jahrzehnten relativ konstant geblieben: 60 Prozent der Erwerbsbevölkerung finden in der Landwirtschaft ihr Auskommen. Noch immer erzeugt der Agrarsektor 20 Prozent des indischen BIPs. Damit ist Indien im Grunde genommen nach wie vor ein Agrarland.