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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Die Welt können wir nicht ändern. Den Schlüssel zur Veränderung tragen wir in uns selbst. Das Buch des Weges und seiner Kraft, das ›Tao te king‹, ist eine meditative Anleitung zur Selbsterkenntnis und zur Überschreitung der eigenen Grenzen. Der Sinn des Lebens offenbart sich dabei sprachlos und auf Umwegen: »Viele Worte erschöpfen sich daran. Besser ist es, das Innere zu bewahren.«
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Seitenzahl: 95
Laotse
Tao te king
Aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Der Sinn, den man ersinnen kann,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, den man nennen kann,
ist nicht der ewige Name.
Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt.
Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt der Geschöpfe.
Darum führt das Streben nach dem Ewig-Jenseitigen
zum Schauen der Kräfte,
das Streben nach dem Ewig-Diesseitigen
zum Schauen der Räumlichkeit.
Beides hat Einen Ursprung und nur verschiedenen Namen.
Diese Einheit ist das Große Geheimnis.
Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis:
Das ist die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte.
Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,
so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,
so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.
Vorher und Nachher folgen einander.
Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.
Die Bedeutenden nicht bevorzugen:
so verhütet man, daß die Leute streiten.
Schwer zu erlangende Güter nicht wert halten:
so verhütet man, daß die Leute zu Dieben werden.
Auf nichts Begehrenswertes sehen:
so verhütet man, daß das Herz sich verwirrt.
Also auch ist das die Ordnung des Berufenen:
Er macht ihr Herz leer und ihren Leib tüchtig.
Er macht ihr Begehren schwach und ihre Knochen stark.
Er sorgt stets, daß die Leute ohne Erkennen und ohne Begehren sind,
und daß jene »Erkennenden« nicht zu handeln wagen.
Das Nicht-Handeln üben:
so kommt alles in Ordnung.
Der Sinn faßt alles Bestehende in sich.
Aber durch sein Wirken geht er nicht etwa im Bestehenden auf.
Abgründig ist er, als wie aller Geschöpfe Ahn.
Er mildert ihre Schärfe.
Er löst ihre Wirrsale.
Er mäßigt ihren Glanz.
Er vereinigt sich mit ihrem Staub.
Unsichtbar ist er und doch als wie wirklich.
Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist.
Er scheint früher zu sein als der HERR.
Nicht Liebe nach Menschenart hat die Natur:
Ihr sind die Geschöpfe wie stroherne Hunde[1].
Nicht Liebe nach Menschenart hat der Berufene:
Ihm sind seine Leute wie stroherne Hunde.
Ist nicht die Feste zwischen Himmel und Erde wie ein Blasebalg?
Es ist leer und fällt doch nicht zusammen.
Es bewegt sich, und um so mehr kommt daraus hervor.
Aber viele Worte erschöpfen sich daran.
Besser ist es, das Innere zu bewahren.
Der Geist der Tiefe stirbt nicht.
Das ist das Ewig-Weibliche.
Des Ewig-Weiblichen Ausgangspforte
Ist die Wurzel von Himmel und Erde.
Endlos drängt sich’s und ist doch wie beharrend.
In seinem Wirken bleibt es mühelos.
Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.
Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist,
daß sie nicht sich selber leben.
Darum können sie dauernd Leben geben.
Also auch der Berufene:
Er setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
darum wird sein Eigenes vollendet?
Höchste Güte ist wie das Wasser.
Des Wassers Güte ist es, allen Wesen zu nützen ohne Streit.
Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.
Drum steht es nahe dem SINN.
Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze.
Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.
Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe.
Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit.
Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.
Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.
Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der rechten Zeit.
Wer sich nicht selbst behauptet,
bleibt eben dadurch frei von Tadel.
Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen:
das lohnt der Mühe nicht.
Etwas handhaben wollen und dabei es immer scharf halten:
das läßt sich nicht lange bewahren.
Mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal
kann niemand beschützen.
Reich und vornehm und dazu hochmütig sein:
das zieht von selbst das Unglück herbei.
Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen:
das ist des Himmels SINN.
Wer leuchtend seinen Geist bewahrt, daß er Eines nur umfängt,
der mag wohl innern Zwiespalt vermeiden.
Wer seine Seele einfältig macht und demütig,
der mag wohl werden wie ein Kindlein.
Wer reinigt und läutert sein inneres Schauen,
der mag wohl seiner Fehler ledig werden.
Wer seine Leute liebt als Herrscher des Reichs,
der mag wohl ohne Handeln wirken können.
Wenn des Himmels Pforten sich öffnen und schließen,
so mag er wohl rein empfangend sein.
Wer mit klarem Blicke alles durchdringt,
der mag wohl ohne Kenntnisse bleiben.
Erzeugen und ernähren,
erzeugen und nicht besitzen:
wirken und nicht behalten,
mehren und nicht beherrschen:
Das ist geheimes LEBEN.
Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe:
Auf dem Nichts daran (dem leeren Raum) beruht des Wagens Brauchbarkeit.
Man bildet Ton und macht daraus Gefäße:
Auf dem Nichts daran beruht des Gefäßes Brauchbarkeit.
Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein Haus entstehe:
Auf dem Nichts daran beruht des Hauses Brauchbarkeit.
Darum: Das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit.
Die Farben machen der Menschen Augen blind.
Die Töne machen der Menschen Ohren taub.
Die Würzen machen der Menschen Gaumen schal.
Rennkampf und Jagd machen der Menschen Begehren wild.
Seltene Güter machen der Menschen Wandel irr.
Also auch der Berufene:
Er sorgt für den Leib und nicht für das Auge.
Darum tut er ab das Ferne und hält sich ans Nahe.
Gnade ist beschämend durch die Furcht.
Ehre ist ein großes Übel durch das Ich.
[Was heißt das: »Gnade ist beschämend durch die Furcht?«
Gnade ist etwas Erniedrigendes;
bekommt man sie, so muß man sich wie fürchten,
verliert man sie, so muß man sich wie fürchten.
Das heißt: »Gnade ist beschämend durch die Furcht.«
Was heißt das: »Ehre ist ein großes Übel durch das Ich?«
Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist,
daß ich ein Ich habe.
Wenn ich kein Ich habe,
welches Übel gibt es dann noch?]
Darum: Wer in seinem Ich die Welt ehrt,
dem kann man wohl die Welt anvertrauen.
Wer in seinem Ich die Welt liebt,
dem kann man wohl die Welt übergeben.
Man schaut nach ihm und sieht ihn nicht:
Sein Name ist: Gleich.
Man horcht nach ihm und hört ihn nicht:
Sein Name ist: Fein.
Man faßt nach ihm und ergreift ihn nicht:
Sein Name ist: Klein.
Diese drei kann man nicht trennen,
sie sind vermischt und bilden Eines.
Sein Oberes ist nicht klarer,
sein Unteres ist nicht trüber.
Grenzenlos quellend,
man kann ihn nicht nennen,
er reicht zurück ins Nicht-Wesen.
Das ist es, das gestaltlose Gestalt heißt,
und das bildloses Bild heißt.
Das ist es, das Unsichtbarkeit heißt:
Ihm entgegenkommend sieht man nicht sein Antlitz,
ihm folgend sieht man nicht seine Rückseite.
Wer erfaßt den SINN des Alten,
kann damit beherrschen das Sein des Heute
und kann die Uranfänge erkennen:
Das ist des SINNS durchgehender Faden.
Die vor alters tüchtig waren als Meister,
waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.
Tief waren sie, so daß man sie nicht kennen kann.
Weil man sie nicht kennen kann,
darum kann man nur mit Mühe ihr Äußeres beschreiben.
Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durchschreitet,
vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,
zurückhaltend, wie Gäste,
einfach, wie unbearbeiteter Stoff,
weit waren sie, wie die Tiefe,
undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.
Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmählich klären?
Wer kann (wie sie) die Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen?
Wer diesen SINN bewahrt,
begehrt nicht Fülle.
Denn nur weil er keine Fülle hat,
darum kann er gering sein,
das Neue meiden
und die Vollendung erreichen.
Wenn wir die äußerste Selbstenteignung erreicht,
die Stille unerschütterlich bewahren,
so mögen alle Wesen zugleich sich regen:
wir schauen zu, wie sie wiederkehren.
Der Wesen zahllose Menge entwickelt sich,
doch jedes wendet sich zurück zu seiner Wurzel.
Zurückgewandt sein zur Wurzel: das ist Stille.
Stille: das ist Rückkehr zur Bestimmung.
Rückkehr zur Bestimmung: das ist Ewigkeit.
Die Ewigkeit erkennen: das ist Weisheit.
Wer die Ewigkeit nicht erkennt, der handelt blindlings und unheilvoll.
Erkenntnis der Ewigkeit bringet Duldsamkeit.
Duldsamkeit bringet Edelsinn.
Edelsinn bringet Herrschaft.
Herrschaft bringet himmlisches Wesen.
Himmlisches Wesen bringet den SINN.
Der SINN bringet Dauer.
Ist das Ich nicht mehr, so gibt es keine Gefahren.
Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, daß er da ist.
Mindere werden geliebt und gelobt,
noch Mindere werden gefürchtet,
noch Mindere werden mißachtet.
Vertraut man nicht genug,
so findet man kein Vertrauen.
Wie überlegt waren jene im Werten ihrer Worte!
Die Werke wurden vollbracht, die Arbeit wurde getan,
und die Leute im Volk dachten alle:
»Wir sind selbständig.«
Der große SINN ward verlassen:
so gab es Sittlichkeit und Pflicht.
Klugheit und Erkenntnis kamen auf:
so gab es die großen Lügen.
Die Blutsverwandten wurden uneins:
so gab es Kindespflicht und Liebe.
Die Staaten kamen in Verwirrung und Unordnung:
so gab es treue Diener.
Gebt auf die Heiligkeit, werft weg die Erkenntnis:
Und das Volk wird hundertfach gewinnen!
Gebt auf die Sittlichkeit, werft weg die Pflicht:
Und das Volk wird zurückkehren zu Familiensinn und Liebe!
Gebt auf die Kunst, werft weg den Gewinn:
Und Diebe und Räuber wird es nicht mehr geben!
In diesen drei Stücken ist der schöne Schein nicht ausreichend.
So sorgt, daß die Menschen etwas haben, woran sie sich halten können!
Zeigt Einfachheit, haltet fest an der Lauterkeit:
so mindert sich die Selbstsucht, so verringern sich die Begierden.
Gebt auf eure Gelehrsamkeit:
so werdet ihr frei von Sorgen!
Zwischen Ja und Jawohl: was ist da für ein Unterschied?
Zwischen Gut und Böse: was ist da für ein Unterschied?
Was aber alle verehren,
das darf man nicht ungestraft bei Seite setzen.
O Einöde, habe ich noch nicht deine Mitte erreicht?
Die Menschen der Menge sind strahlend,
wie bei der Feier großer Feste,
Wie wenn man im Frühling auf die Türme steigt:
Ich allein bin unschlüssig, noch ohne Zeichen für mein Handeln,
Wie ein Kindlein, das noch nicht lachen kann!
Ein müder Wanderer, der keine Heimat hat!
Die Menschen der Menge leben alle im Überfluß:
Ich allein bin wie verlassen!
Wahrlich, ich habe das Herz eines Toren!
Chaos, ach Chaos!
Die Menschen der Welt sind hell, so hell:
Ich allein bin wie trübe!
Die Menschen der Welt sind so wißbegierig:
Ich allein bin traurig, so traurig!
Unruhig, ach, als das Meer!
Umhergetrieben, ach, als einer der nirgends weilt!
Die Menschen der Menge haben alle etwas zu tun:
Ich allein bin müßig wie ein Taugenichts!