Technophoria - Niklas Maak - E-Book

Technophoria E-Book

Niklas Maak

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Beschreibung

Unsere Zukunft hat bereits begonnen. Ein Roman zu den großen Fragen unserer Zeit: wild, melancholisch und hinreißend zugleich

Turek arbeitet für eine Firma, die Smart Cities baut. Sein Chef ist besessen von einem alten Plan: Wenn es gelänge, die ägyptische Qattara-Senke mit Wasser aus dem Mittelmeer zu fluten, könnte man den Meeresspiegel senken, den Klimawandel bremsen – und Milliarden verdienen. Technophoria erzählt von den Schönheiten und Absurditäten der digitalen Welt, von Menschen, die an der Zukunft bauen oder ihr zu entkommen versuchen. Ein scharfer Blick auf eine Gesellschaft, die ihre Freiheit für Komfort und Sicherheit aufgegeben hat, und eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die um die ganze Welt führt, zu Gorillas und Robotern, in anarchistische Kommunen, sprechende Häuser und Serverfarmen - und zu Menschen, die ihr Leben so wenig auf die Reihe bekommen wie die Liebe.

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Über das Buch

Unsere Zukunft hat bereits begonnen. Ein Roman zu den großen Fragen unserer Zeit: wild, melancholisch und hinreißend zugleich Turek arbeitet für eine Firma, die Smart Cities baut. Sein Chef ist besessen von einem alten Plan: Wenn es gelänge, die ägyptische Qattara-Senke mit Wasser aus dem Mittelmeer zu fluten, könnte man den Meeresspiegel senken, den Klimawandel bremsen — und Milliarden verdienen. Technophoria erzählt von den Schönheiten und Absurditäten der digitalen Welt, von Menschen, die an der Zukunft bauen oder ihr zu entkommen versuchen. Ein scharfer Blick auf eine Gesellschaft, die ihre Freiheit für Komfort und Sicherheit aufgegeben hat, und eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die um die ganze Welt führt, zu Gorillas und Robotern, in anarchistische Kommunen, sprechende Häuser und Serverfarmen — und zu Menschen, die ihr Leben so wenig auf die Reihe bekommen wie die Liebe.

Niklas Maak

Technophoria

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Qattara Depression

Testhaus

Stadt

Meer

Wald

Gorilla

Roboter

Autonomie

Wüste

Technophoria

Bildnachweis

Quellen

»We rise and fall together«

Mission Statement, Google Alphabet, Sidewalks Labs

Qattara Depression

Die Qattara-Depression ist eine Senke der Libyschen Wüste in Ägypten und in dessen nordwestlichem Gouvernement Matruh gelegen. Die maximale Länge beträgt 120 und die maximale Breite 80 Kilometer. Die einzige ständig bewohnte Siedlung in der Qattara-Senke ist die Qara-Oase, in der etwa 300 Menschen leben. Zudem ist die Senke von nomadisch lebenden Beduinen und ihren Herden bewohnt. Im Jahr 1916 kam der Geologe Albrecht Penck auf die Idee, hier ein Wasserkraftwerk zu bauen, was angesichts des fast vollkommenen Fehlens von Wasser allgemeine Verwunderung hervorrief. Da die tiefste Stelle der Senke 133 Meter unter dem Meeresspiegel liegt, könnte man über mehrere Dutzend Kilometer einen Wasserweg vom Mittelmeer zur nördlichen Abbruchkante der Senke graben. Der Plan wurde mehrfach angegangen und immer wieder wegen technischer Schwierigkeiten aufgegeben.

(Brockhaus-Lexikon, Eintrag »QATTARA«)

Oktober 1978

Ein Dienstwagen des Bundeswirtschaftsministeriums rast auf der Autobahn von Köln nach Bonn. Auf der Rückbank sitzt Hans-Walther Ehlen, Ingenieur, Mitarbeiter des Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft in Darmstadt — vor allem aber Berater der ägyptischen Regierung und Mitglied eines achzigköpfigen Forschungsteams im Bundeswirtschaftsministerium, das in Ägypten eines der größten Bauprojekte der Welt realisieren will, einen Kanal nämlich, der Wasser aus dem Mittelmeer in eine Senke in der Libyschen Wüste leitet, und dort, 130 Meter unter dem Meeresspiegel, das größte künstliche Binnenmeer der Welt entstehen lässt.

Obwohl, künstlich: Ganz früher war da keine Wüste, sondern ein riesiges Meer. Das trocknete irgendwann aus. Eigentlich rekonstruiert Ehlen nur den Naturzustand der Erde zu einem gewissen Zeitpunkt, von dem aus der heutige Zustand einer riesigen Wüste wie eine unfassbare Katastrophe aussieht. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er an dem Projekt, fünf Jahre lang war er immer wieder nach Kairo geflogen, war mitten in der Nacht aufgestanden, hatte draußen vor dem Haus noch eine geraucht, dann kam der Chauffeur, der ihn zum Flughafen nach Frankfurt brachte, fünf Stunden Flug, dann die Landung in der Nachmittagshitze, der Lärm, die Fahrt ins Hotel … der Marmorboden des Ministeriums … Tage in Sitzungssälen, an den Wänden Fotos von Pyramiden und der New Yorker Skyline …

Die Machbarkeitsstudie hatte gezeigt, dass es gehen würde. Sie würden einen Kanal vom Mittelmeer in die Senke sprengen, das Wasser würde in Druckrohre geleitet, um Strom zu erzeugen, und danach in die Senke fließen — aber in der trockenen Hitze würde es schnell verdunsten, so dass immer mehr Wasser eingeleitet werden könnte. Sein Chef, Friedrich Bassler, hatte bewiesen, dass das Qattara-Kraftwerk, das erste hydro-solare Depressionskraftwerk der Welt, in der ersten Phase des Projekts 1,6 Gigawatt erzeugen könnte, mit dem geplanten Pumpspeicherwerk könnte man die Kapazität auf 6,8 Gigawatt anheben — viel mehr Strom erzeugen als durch den Assuan-Damm … ganze Städte, Fabriken könnten so versorgt werden, und nach einem Jahrzehnt hätte sich der weit unter dem Meeresspiegel liegende Teil der Wüste gefüllt und wäre wieder ein Meer: 18.000 Quadratkilometer Wüste geflutet. Durch den Kanal würden auch Schiffe fahren können, Fischschwärme würden sich ansiedeln, ja, die Libysche Wüste würde zu einem der reichsten Fischgründe der Welt werden, Tausende, die jetzt hungernd durch die Wüste irrten, hätten Arbeit als Fischer, eine ganz neue Industrie würde sich ansiedeln, Nordafrika zu einer Wohlstandsregion heranwachsen, zu einem neuen Markt auch für europäische Produkte —

Sie arbeiten seit 1963 an diesem Plan. Fünfzehn Jahre … Ehlen schaut aus dem Fenster der Limousine. Da war der Neubau, sehr schön der Blick ins Grüne, wie alle Gebäude der Bonner Republik war auch dieses Institut versteckt in einem Park, so wie der Kanzlerbungalow, den man ja gar nicht sah von der Straße — wenn über ein Treffen im Kanzleramt berichtet wurde, sah man im Fernsehen Helmut Schmidt in einer Limousinenkolonne am Pförtnerhäuschen vorbei in einen Park rauschen, so dass der romantische Eindruck entstehen musste, Deutschland werde aus einem Wald heraus regiert …

Eine tiefgefrorene Neubausiedlung fetzt am Fenster vorbei; auf den Fichten Raureif. Ein blaues Autobahnschild, ein schmutziger Lastwagen, ein kanariengelber Kleinwagen auf der rechten Spur. Im Radio spielen sie Hiroshima von Wishful Thinking. Helmut Schmidt gratuliert Sadat und nennt ihn einen Freund und Menschen mit Weitblick …

Neben Ehlen, auf dem grünen Velourssitz des Mercedes, liegt ein Glückwunschtelegramm, das er an Präsident Anwar el Sadat schicken muss, der hat gerade den Friedensnobelpreis bekommen, zusammen mit Menachem Begin. Sadat ist ihr Auftraggeber, er hat ihn über Helmut Schmidt kennengelernt, als Schmidt noch Wirtschaftsminister war. Schmidt hatte sofort begriffen, was Qattara für die deutsche Industrie bedeuten könnte, Sadat war zuletzt kritisch, er war nicht richtig zu überzeugen gewesen, die Sache mit den atomaren Sprengungen hatte ihn verschreckt. Gut. Anders ging es aber nicht. Sie waren ja keine Idioten. Ein Team von immerhin achtzig Experten hatte alles über Jahre sehr genau berechnet. Man konnte den sechzig Kilometer langen Kanal, den man brauchte, um Qattara zu fluten, nicht ausbaggern, man würde angesichts des ärgerlich hohen Felsrückens auch mit normalem Dynamit nicht weit kommen, also gab es, davon war Bassler überzeugt, nur die Möglichkeit, den Kanal mit atomaren Sprengungen herzustellen.

Wie bitte? Doch, ja. Das war Basslers Plan. 213 Bohrlöcher, in die man Sprengladungen von einer bis 1,5 Megatonnen Sprengwirkung füllen würde, und zack! — hätte man in nur wenigen Wochen einen sehr schönen Kanal. Die Welt zum Besseren umgebaut. Ein Meer in der Sahara, das zu starker Wolkenbildung führen würde — unter dieser neuen Wolkendecke deutlich angenehmere Temperaturen, Regen auf fruchtbarem Boden, die Wüsten würden ergrünen, Millionen von Arbeitsplätzen entstehen … Aber die Leute hatten Angst vor Atomkraft, bei Atomkraft dachten sie an Krieg und Wettrüsten, Bassler, hatte man geschrieben, wolle die hundertfache Sprengladung von Hiroshima einsetzen, das klang nach dem Ende der Welt. Sie vertrauten der Technologie nicht. Sie waren technologiefeindlich, gerade die Jugend, für die man das doch alles machte, für ihre Zukunft — und der Dank dafür: Anti-Atomkraft-Demos, lange Haare, Kapitalismuskritik, Landkommunen, Maoismus.

Sein Sohn. Grad, vor ein paar Wochen, einundzwanzig geworden. Als er einundzwanzig war … das war 1930.

Da studierte er in München Bauingenieurwesen, dann Wehrdienst in der Luftwaffe. 1941 als Offizier bei Rommel in der Libyschen Wüste. Da war er zum ersten Mal in der Qattara-Senke, das heißt in der Nähe, denn so richtig hinein kam man nicht in dieses riesige Drecksloch, in dem wirklich niemand wohnte außer ein paar Geparden und ein paar Leuten in der Qara-Oase, wohin sie nie gekommen waren, weil die Panzer im Sand der Senke versanken; deshalb die verdammte Schlacht oben, jenseits der Wüste, bei El Alamein. Weil man sonst nirgendwo durchkam. Jeder, der Qattara je sah, musste, angesichts der enormen, endlosen Ödnis und Traurigkeit dieser Wüste, die Idee begrüßen, sie zu fluten, sie zum Verschwinden zu bringen. Man spürte, dass das hier nicht so gedacht war, dass diese Wüste das Ergebnis einer kosmischen Katastrophe, einer lebensvernichtenden, jeder Idee von Schöpfung zuwidergehenden Austrocknung der Welt war, dass ihre Flutung den Weltbauplan reparieren würde — die Franzosen träumten schon Ende des 19. Jahrhunderts von einem Kanal, Jules Vernes Sohn hatte über solche Flutungsfantasien einen ganzen Roman, »Der Einbruch des Meeres«, geschrieben, den er dann unter dem Namen seines Vaters veröffentlichte, nur dass bei Verne ein Erdbeben einen Kanal in die Wüste reißt, da ist den Ingenieuren die Arbeit abgenommen. Danach wollten die Engländer einen Kanal bauen, sogar die CIA hatte dem amerikanischen Präsidenten Eisenhower 1957 empfohlen, Qattara zu fluten, sie hatten eine Kopie des Briefs in ihrem Büro — die Flutung wäre »spektakulär und friedlich« und würde das Klima in den kommenden Jahren wesentlich verändern, stand da, es würden während der Bauzeit »Arbeitsplätze und danach Lebensraum für die Araber aus Palästina« entstehen, und der allgemeine Wohlstand und die Konsumfreude einer breiten Mittelschicht werde »den Einfluss der Sowjets in der Region zurückdrängen«.

Die Sowjets … Vor Ehlen auf dem Beifahrersitz hockt, in sich zusammengefaltet, ein dürrer junger Mann mit längeren Haaren, leicht offenstehendem Mund und der Andeutung eines flaumigen Schnurrbarts, Ehlen hatte nicht ganz verstanden, was der jetzt genau da machte, warum der mitfuhr; arbeitete jedenfalls für einen der Referenten des neuen Wirtschaftsministers.

Der dürre Mann gräbt aus einer Ledertasche ein Dokument aus, eine Geheimakte. Man sieht auf einem Foto einen kreisrunden See in einer Art Steppe. Ehlen blinzelt wortlos aus dem Fenster. Der Mercedes überholt einen Lastwagen, aus dessen Radkästen eine Ladung schmutziges Wasser auf die Windschutzscheibe fliegt, die von den Scheibenwischern eifrig verschmiert wird; für einen Moment rast der Wagen im Blindflug ins Gegenlicht. Die Tachonadel zittert bei 160 km/h; in das Rauschen des Fahrtwindes mischt sich das klagende Geräusch der Wischwasserpumpe.

Da, sagt der dürre Mann und tippt auf das Foto. Kommt in ein paar Wochen auch im Spiegel, die haben die Information irgendwie bekommen, haben uns schon angefragt. Sieht nicht gut aus, oder?

Ehlen schlägt das Dokument auf. Grauer Pappordner. Abteilung 38/2.

Stimmt: Was man auf dem Foto sieht, sieht nicht gut aus.

Es sieht nicht gut aus, weil die Russen es einfach nicht konnten. Nur deswegen. Die Idee war vollkommen in Ordnung. Sie waren nur zu blöd, sie umzusetzen. Sie hatten es probiert und versemmelt. Sie hatten die sibirischen Flüsse Ob, Irtysch und Jenissej, die eigentlich ins nördliche Eismeer fließen, nach Süden umleiten wollen, sie wollten die Petschora, die Wytschegda und die nördliche Dwina über die Wolga ins Kaspische Meer leiten, wo Millionen Hektar Agrarfläche Wasser gut brauchen konnten, während Sibirien zu viele Sümpfe hatte, aber wie in Qattara wussten sie nicht, wie man das Wasser umleiten soll. Kossygin hatte vor zwei Jahren auf dem Parteitag der KPdSU verfügt, dass die Flüsse jetzt nicht nur miteinander verbunden, sondern auch in ihrer Fließrichtung umgedreht werden sollten, all das war mit Bulldozern allein nicht zu machen, deswegen hatten die Sowjets trotz des Abkommens über den Stopp oberirdischer Kernexplosionen atomar gesprengt, aber die Sprengung hatte nicht den Fluss umgeleitet, sondern nur einen gigantischen, kreisrunden Krater gerissen, der sehr schnell mit Wasser vollgelaufen war.

Problem, sagt der dürre Typ und tippt auf das Foto.

Die Russen, mein Gott, sagt Ehlen. Sie können es eben nicht. Wenn man etwas nicht kann, ist es ein Problem.

Die Limousine rollt vor den Haupteingang des Wirtschaftsministeriums, Ehlen sieht vom Seitenfenster aus das schwarze Walmdach, die Schleppgauben, die dicken Sprossenfenster. Als Friedrichs noch Wirtschaftsminister war, hatte er volle Unterstützung für das Projekt, aber nach der Ermordung von Ponto war Friedrichs zur Dresdner Bank gewechselt und hatte seine besten Leute mitgenommen, und jetzt war Lambsdorff Minister und hatte Friedrichs Stab durcheinandergebracht, weswegen dort jetzt diese neuen, blassen dürren Typen saßen und dumme Gesichter machten und dumme Fragen stellten.

Ehlen betritt einen Tagungsraum: braune Holztäfelung, Sessel mit grünen Stoffbezügen, Neonlicht unter Stahlgittern, Sekretärin bringt Kaffee. Begrüßung, beige Krawatten, Kristallaschenbecher, trockenes Tagungsgebäck mit sich leicht nach oben biegendem Marmeladenklecks in der Mitte, erste dumme Frage: Was denn da in Russland passiert sei?

Ehlen: Inkompetenz. Würde uns nicht passieren.

Zweite dumme Frage: Wenn man hier (blätter, blätter, kurz Zigarette zum Mund, Hand mit der Zigarette zum Aschenbecher, weiterblätter) lese, dass 213 (Kunstpause; wiederhole: 213) atomare Explosionen geplant seien, und zwar nicht in der offenbar weitgehend menschenleeren Wüste, sondern auf dem Weg dahin, durch dicht besiedeltes, gebirgiges Gebiet: Da müsse man doch Zigtausende evakuieren, umsiedeln? Wo denn die Kosten dafür aufgeführt seien? Ehlen: In ihren Dokumenten unter 32a, Unterpunkt II: Evakuierung von gut 25.000 Personen. Angesichts der historischen Größe des Projekts vertretbar. Die nukleare Sprengung verkürzt die Bauphase erheblich, und damit auch die Evakuierungskosten und die Unannehmlichkeiten für die lokale Bevölkerung.

Dumme Frage Nummer drei, gestellt von einem Typen mit Wellfrisur und Schnurrbart: Was mit der Radioaktivität sei? Immerhin habe man es mit der über hundertfachen Sprengmenge von Hiroshima zu tun, wo die Bevölkerung erhebliche, oft tödliche Strahlenschäden —

Weil das oberirdisch stattfand!, ruft Ehlen verärgert dazwischen. Wir reden hier von unterirdischen Sprengungen, deren Folgen ebenfalls zum ganz überwiegenden Teil unter der Erde blieben. Das Trinkwasser werde für eine Übergangszeit mit Jod versetzt. Damit sei …

Draußen, hinter den bräunlich spiegelnden Fensterbändern, schieben sich Wolken vor eine bleiche Spätherbstsonne. Ehlen schließt die Augen und denkt an El Alamein, manchmal träumt er nachts noch davon; das Röhren der Junkers-Sturzkampfbomber, mit denen sie die britischen Stellungen angriffen, die nächtliche, lichtlose Leere der Wüste, die Sandwolken, die Sandstürme — diese Stürme würde es auch nicht mehr geben über dem Qattara-Meer, oder jedenfalls weniger. Niemand wusste genau, was das Wetter so machen würde, andererseits hatten die Meteorologen im Team — zwei blasse Herren, die, wenn sie gerade nicht redeten, dasaßen und ihre Hälse weit vorreckten, als könnten sie so der Zukunft Geheimnisse ablauschen, die sie eigentlich nicht preisgeben wollte — bestätigt, dass das Klima sich nur zum Besseren verändern, nämlich vor allem mitteleuropäisch-milder werden und seine äquatoriale Überhitzung aufgeben würde.

Die optimistische Einschätzung des Strahlenrisikos teile er nicht, doziert der junge Ingenieur und setzt zur Untermalung seines Sachverstands eine enorme Kastenbrille auf, wobei er mit Daumen und Zeigefingern die langen, wie Gardinen an den Seiten herunterhängenden Haare hinter seine Ohren schiebt. Außerdem müsse man auf die Gefahr einer Küstenerosion durch veränderte Meeresströmungen zu sprechen kommen, die auch weit entfernte Küsten betreffen würden … Das Gewicht der Brille scheint die Luftzufuhr in seine Spitznase abzuklemmen, jedenfalls spricht er plötzlich mit einem näselnden Ton, die Ehlen an eine Comicfigur aus einem Disneyfilm erinnert. Lächerlich. Witzfigur. Witzfigur, die gerade sein Lebenswerk zerredet.

Es tritt in diesem Theater der Zweifel und Qualen jetzt eine Biologin auf, die bestreitet, dass die Senke, wie von Ehlen behauptet, »unbewohnt« sei. Sie sei ganz im Gegenteil ein wichtiger Lebensraum für gefährdete Geparden und ihre Beutetiere, die Gazella dorcas und die Gazella leptoceros, auch seien die Salzwiesen, die wilden Palmenhaine und das Gras- und Buschland im südwestlichen Teil der Senke ein wichtiges Biotop für Kaphasen, Goldwölfe und Rüppelfüchse.

Wir bauen Ihnen gern eine Arche Noah für Ihre drei Hasen und für Ihre Rüttelfüchse, ruft Ehlen dazwischen. Es lacht aber niemand. Die Sache lief erkennbar nicht so gut.

Er habe ebenfalls noch eine Frage, teilt der schweigsame Koteletten-Typ mit. Er habe zwar große Sympathien für das Projekt. Als Geologe müsse er aber doch einmal nach den Auswirkungen von 213 unterirdischen nuklearen Sprengungen auf den nicht weit entfernten Großen afrikanischen Grabenbruch und insbesondere das tektonisch doch sehr instabile Red Sea Rift ansprechen; wenn der Grabenbruch, der ja nicht von ungefähr so heiße, tatsächlich …

Weit genug weg, kontert Ehlen.

Ja, aber hundert Mal Hiroshima, beharrt der dürre Ingenieur.

Ehlen wird rot und schlägt mit der Faust auf den Tisch, fuchtelt mit dem Zeigefinger, spricht über Hasenfüßigkeit und mangelnden Sachverstand und daraus resultierende Angst vor der Technik und davon, dass alle Kulturen, die ihren technischen Fähigkeiten nicht mehr vertrauten, untergegangen seien, eine auf Unwissen basierende Technologiefeindlichkeit sei das Grundübel jeder modernen Gesellschaft. Dem jungen Ingenieur verrutscht die Brille, als hätte Ehlen ihr einen Schlag versetzt. Die Kristallaschenbecher zittern bei jedem seiner Schläge.

Ein Jahr später, kurz nach einer heiteren Kabinettssitzung, bei der Bundeskanzler Helmut Schmidt mit den in einer Schüssel bereitgestellten Äpfeln nach diversen Kabinettsmitgliedern wirft, wird, auch aufgrund mangelnder Unterstützung durch die ägyptische Regierung, das Projekt Qattara beendet, und vierzig Jahre lang sprach niemand mehr davon.

Oktober 2019

Im Oktober des Jahres 2019 erschien im Büro des Technologieunternehmers Elon Musk eine Delegation aus Ägypten. Musk empfing sie persönlich. Die Delegation trug ihr Anliegen vor: Man wolle einen Teil der Wüste mit Wasser aus dem Mittelmeer fluten. Dafür brauche man einen Bohrer, wie ihn Musks Boring Company für die Untertunnelung von Los Angeles entwickelt habe. Man werde rund sechzig Kilometer durch ein Gebirge hindurchbohren müssen. Dann aber könnte das hereinflutende Wasser riesige Turbinen antreiben und gigantische Mengen von Strom produzieren. Zusammen mit den neuen Desertec-Solaranlagen im Westen der Sahara hätte Nordafrika so viel Strom zu bieten wie keine Region der Welt. Dazu werde das entstehende neue Meer das Klima radikal verändern — wo jetzt überhitzte Wüsten waren, würden grüne Felder blühen. Es würde öfter regnen. Neue Städte würden entstehen. Fabriken, von Solarstrom aus dem heißen Teil der Sahara gespeist. Wassergekühlte Serverfarmen in der Tiefe des neuen Meeres. So würde der heißeste Teil Nordafrikas, in dem durch den Klimawandel die Temperaturen, wenn man nichts tue, bald so hoch sein würden, dass die Menschen, wenn sie nicht am Hitzschlag sterben wollen, ihr Land verlassen werden müssen, erheblich abgekühlt und sogar zu einem attraktiven Aufenthaltsort. Die Migration nach Europa könne so zum Erliegen kommen — ja, umkehrt sei mit einer Schubumkehr der Migration zu rechnen, mit einem Zustrom von Fachkräften aus Europa nach Nordafrika. Außerdem würde das neue Meer die weltweit steigenden Meeresspiegel entlasten: Durch die Flutung der Senken von Qattara und Danakil in Äthiopien könne er um einige Fuß gesenkt werden, so dass New York, Amsterdam und London, aber auch die Malediven und Mumbai trotz ansteigender Temperaturen von den Fluten verschont blieben. So hätte der Klimawandel überhaupt keine Auswirkungen auf den globalen Meeresspiegel. Anders gesagt: Man lässt die steigenden Meerespegel, die so vielen wie ein unvermeidbares, unaufhaltbares Strafgericht für zweihundert Jahre Anthropozän erscheinen, einfach in die leeren Wannen in der Wüste ablaufen. Problem Klimawandel gelöst!

Qattara würde das Herz einer der reichsten Wirtschaftszonen der Welt werden, die vom marokkanischen Atlantik bis nach Ägypten reicht, der massive Anstieg des Durchschnittseinkommens den Terrorismus verdrängen.

In Marokko und Algerien werden sich energieintensive Industrien ansiedeln, die mit Strom aus dem größten Solarkraftwerk der Welt in der Sahara versorgt werden; in Libyen und Ägypten sorgt das Qattara-Meer für Reichtum. Das Wetter am neuen Qattara-Meer wird wegen der hohen Verdunstung angenehm sein, es regnet häufig, über den Ländern hängt immer ein leichter, diesiger Nebel.

Musk war erregt; die Dimension dessen, was ihm dort vorgetragen wurde, gefiel ihm. Die neuen Häfen könnten vollautomatisiert sein, Afrika könnte die modernsten Städte der Welt bekommen, mit intelligenten Häusern und selbstfahrenden Autos — in der Sahara könnte eine Startbasis für Marsraketen entstehen, dann wäre Afrika das Zentrum einer neuen, vielleicht bald intergalaktischen Welt! Die Delegierten nickten höflich: Erst mal wäre der Bohrer wichtig.

Wenige Wochen später schlossen sie einen Vertrag mit einem französisch-britischen Konsortium, das schon für den Bau des Tunnels unter dem Ärmelkanal verantwortlich war; eine deutsche Firma sollte an den Ufern des neuen Meeres Industrieanlagen und Smart Cities planen.

Aber was war dann passiert; und wie hatte es begonnen?

Testhaus

Der Strom war weg, damit ging es los.

Es ging damit los, dass im Testhaus der Strom ausfiel. Irgendein Warnsystem heulte. Turek schlug mit der Hand an eine Stelle der Wand, an der er den Lichtschalter vermutete, stolperte über etwas Hartes, das mit einem unschönen Knall irgendwo hinflog, rammte mit dem Knie einen Couchtisch, dessen Position er anders in Erinnerung gehabt hatte und von dem verschiedene Dinge herunterstürzten, ein schwerer Bildband fiel ihm vor die Füße, der verrutschte Hochglanzeinband schnitt ihm scharf in den Spann. Auf seinem Weg zum Fenster trat er gegen eine herumrollende Dose und bekam schließlich den rauen Stoff des Vorhangs zu fassen. Es war noch dunkel. Er presste sein Gesicht an die beschlagene Scheibe, trat zurück, betrachtete seinen Gesichtsabdruck, der beunruhigend deutlich an einen Totenkopf erinnerte, wischte das feuchte Phantomgesicht schnell weg und schaute ins Halbdunkel: Da war der weiße Qualm einer Müllverbrennungsanlage, das Heulen eines einsamen Lastwagens, die eingefrorene Natur eines schwarz in der Nacht liegenden Sees, Eisschollen in gefrorenem Sand.

Sie nannten es Testgebäude, obwohl hier nicht viel getestet wurde — es gab Tage der offenen Tür, bei denen ein paar Wohnungen besichtigt werden konnten, seine Kollegin Sara sprach dann mit den interaktiven Kaffeemaschinen und ließ Sprachbots erzählen, wie viel Energie so eine Smart City spart, wie viel sicherer sie ist, sie strahlte, während sie davon erzählte, und die Besucher standen mit offenem Mund da, einige stellten sich sichtbar ein Leben in diesen Räumen vor und sahen sich auf den tiefen Stoffsofas liegen, während ein Bot ihnen einen Kaffee machte, den ein kleiner Roboter, eine Art Serviertisch mit Augen, ins Wohnzimmer brachte. Ältere Leute schauten Sara an, als hätten sie eine neue Freundin gefunden, sie waren wirklich ganz gerührt, wie sie sie durch diese Musterwohnung führte, mit ausladenden Bewegungen hereinbat, ihre Hand leicht auf die Schulter der Besucher legte, um sie in einen neuen Raum zu manövrieren oder vor die Aquarellzeichnungen der neuen Stadt, die Kinder und Omas beim Fahrradfahren oder Spielen oder In-der-Sonne-Liegen zeigten, weil die Roboter die ganze anstrengende Arbeit übernommen hatten.

Am Ende wurde Sara applaudiert; sie war wirklich ein Naturtalent.

War sie ein bisschen esoterisch? Vielleicht. In ihren Ferien flog sie nach Goa und machte in Agonda Beach Yoga, manchmal postete sie auf Instagram Bilder von sich in der Wüste (*Shift the energy of every single cell in you towards the great axis of life and happiness. Joining in for yoga mornings, sadhana and lots of cuddles*), manchmal postete sie Fotos von sich mit einem Zettel, auf dem zu lesen war, dass sie an der Seite der Waorani-Indianer stehe (*Solving our climate crisis means keeping the oil in the Ground*). Die große Achse …

Turek suchte seine Apple Watch. Er wusste nicht, wohin er sie gelegt hatte — eine dumme Angewohnheit, die Uhr abzulegen nachts, er müsste sie natürlich anbehalten, um sich am Morgen sagen lassen zu können, wie er geschlafen hatte, die Herzfrequenz-App, die man ihm installiert hatte und die direkt mit der Notfallzentrale und wohl auch mit der Krankenkasse kommunizierte, war auf direkten Hautkontakt angewiesen. Er könnte einfach den Flugmodus aktivieren, um nicht von eingehenden Nachrichten geweckt zu werden oder, schlimmer noch, unabsichtlich welche zu verschicken, aber Turek konnte nicht schlafen mit einem Ding am Handgelenk, das würde er noch üben müssen, Driessen hatte ihm nahegelegt, die Apple Watch zu benutzen, macht sich nicht gut, hatte er gesagt, wenn du als Einziger im Projekt keine Nachtdaten generierst. Nachtdaten … Turek blinzelte ins Dunkel des Raums. Er tastete nach seinem Fuß. Das Papier hatte einen geraden, klaren Schnitt hinterlassen, und als er seinen Finger an die Lippen legte, schmeckte er das Blut.

Alexa, was ist mit dem Strom los, rief er ins Dunkel seiner Wohnung hinein. Unter dem Couchtisch blinkte ein blauer Ring auf. Der Sprachbot hatte also noch Strom, er hing am Laptop, deshalb. Turek horchte. Alexa antwortete immer mit einer Verzögerung von einer Sekunde, und was sie dann sagte, klang, als habe sie erst vor Kurzem gelernt zu sprechen, als wisse sie nicht, wie man die Worte betont, aber Turek hatte sich an sie gewöhnt, mehr noch, es gefiel ihm, dass sie in einer Sprache antwortete, die klarmachte, dass sie aus der Welt der Dinge zu ihm sprach —

Was aber jetzt, in der Dunkelheit eines Wintermorgens, zu hören war, klang beunruhigend. Es hatte nichts mehr mit dem zu tun, was man eine Stimme nennt. Es klang nicht mehr menschlich, sondern wie irres Gelächter, Alexa hatte ihre Stimme verloren, sie krächzte wie ein Geist, der von Dämonen geschüttelt wird, Frraaahhhh, machte das Ding, und zwei rote Punkte leuchteten bösäugig auf, Haarrrrrhhtfffff.

Alexa, wiederholte Turek.

KKaaahhh, machte die krächzende Stimme.

Statt einer Antwort drang ein metallisches Scheppern aus dem Lautsprecher, der sich bei seinem Sturz offenbar schwere Schäden zugezogen hatte, ein Geräusch, als habe sich ein räudiges, aggressives Tier unter dem Couchtisch versteckt, das ihn jederzeit anspringen könnte — Turek fühlte einen Schauer im Nacken. Natürlich war das Unsinn. Nichts würde ihn anspringen. Andererseits war ein halb defekter Sprachbot, der wie von Sinnen herumfaucht und eine Wohnung abhört und dabei, weil halb defekt, Geräusche vielleicht falsch interpretiert, vielleicht Dinge bestellt, die niemand bestellen wollte, und Botschaften versendet, die niemand versenden wollte, keine ungefährliche Sache — ein Gerät, das sich nicht mehr artikulieren kann, dachte Turek, versteht womöglich auch nicht mehr, was ich sage. Vielleicht war es ein Irrglaube, dass Deep Learning die endlose Folge von Zufällen und Missverständnissen, die das Leben zum größten Teil steuern, unterbrechen und für Ordnung und tiefes Verständnis sorgen könnte, aber es war nun mal sein Job, den ganzen Kram als Zukunft der Stadt zu verkaufen, er war schließlich Cheflobbyist, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit … Wenn er gefragt wurde, was er tat, sagte er: Business Development. Darunter konnten sich die Leute nichts vorstellen, aber sie nickten trotzdem zufrieden, es klang immerhin nach einem Beruf, mit dem man Geld verdienen konnte.

Eigentlich war er Architekt, aber das erwähnte er nicht mehr. Niemand von denen, mit denen er arbeitete, wusste etwas über seine Vergangenheit. Gab es Eltern, Brüder, Schwestern, hatte er Freunde? Er war nicht verheiratet. Er hatte keine Kinder.

Alexa gab ein heißes und sinnloses Rauschen von sich. Sein Blut sickerte aus der Schnittwunde in seinem rechten Fuß in den hochflorigen Teppich. Er dachte kurz daran, den ramponierten intelligenten Lautsprecher aus dem Fenster zu werfen, dann fiel ihm ein, dass man die Fenster gar nicht öffnen konnte. Er stellte das krächzende, sinnlos flackernde Etwas, das von Alexa übrig war, in den Kühlschrank und schlug die schwere Tür hinter ihr zu. Jetzt war es vollkommen still. So.

Luftholen.

Jetzt.

Turek klappte sein Laptop auf, um die Notdienstnummer zu suchen. Der Raum erstrahlte in einem kalten Blau und verwandelte sich in eine seltsame Unterwasserwelt, in der die Dinge zusammenhanglos herumtrieben. Im Display seiner Apple Watch erschien eine weiße Karotte auf blauem Grund (»Erinnerung. Eine gesunde Mahlzeit essen«). Die Karotte machte einem weiteren Bild Platz. »Beruhige deine Sinne, sei achtsam und entspannt«, forderte die Uhr. »Minuten der Achtsamkeit: 3 Minuten«. Er schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Dort: Schneetreiben, weiße Flocken vor Schwarz. »Beruhige deine Sinne«, was für ein — wenn hier mal endlich wieder Strom … Hallo? Ja. Gut. Notdienst ist auf dem Weg.

Theoretisch ließ sich der Strom über das Mobiltelefon wieder anschalten. Turek starrte auf sein iPhone, sein Gesicht spiegelte sich in der schwarzen Fläche des Displays, er sah von der Nacht etwas zerknautscht aus, genau genommen so zerknautscht, dass die Gesichtserkennung ihn nicht mehr erkannte. Er musste den Pin-Code eingeben und vertippte sich, irgendein Algorithmus entschied, dass Turek zunächst befragt werden musste, ob er ein Roboter sei, bist du ein Roboter, wurde Turek von seinem eigenen Telefon gefragt, das schon sein Gesicht nicht erkannt hatte, Turek klickte nein an, das Telefon forderte Beweise, die in Form der Beurteilung von neun quadratischen Bildern erbracht zu werden hatten: Zeig, dass du kein Roboter bist.

Ein Roboter will, dass ich ihm beweise, dass ich kein Roboter bin, schimpfte Turek in die Dunkelheit eines lichtlosen Wintermorgens hinein, markierte aber folgsam alle Bilder, auf denen ein Zebrastreifen zu sehen war. Eine neue Gruppe von Bildern erschien, zusammen mit dem Befehl, alle Felder zu markieren, auf denen eine Ampel zu sehen war.

Er hackte auf die Ampeln ein. Eine neue Tafel, wieder neun Bilder: Alle Laternen markieren! Der Algorithmus hatte offenbar ein perverses Vergnügen daran, die Grenzen seiner Leidensfähigkeit auszutesten. Wie viele Menschen hatten wegen der Beweiskacheln ihr Telefon zerstört und ein neues kaufen müssen? Seine iWatch meldete eine stark angestiegene Herzfrequenz und verlangte Achtsamkeit. Sein Telefon bimmelte gleichzeitig fünfmal hintereinander, so, als sei es verrückt geworden, das Klingelbombardement erinnerte ihn an eine Straßenbahn, pingpingpingpingpingping —

Es trafen sechs Nachrichten von Sara ein.

Erste SMS:

Hi T!

Neue SMS:

Heute meeting?

Neue SMS:

Hatte eine ziemlich gute Idee.

Neue SMS:

Mal tel?

Neue SMS:

*gelber Kopf der telefoniert*

Neue SMS:

*dampfende Kaffeetasse*

Turek gehörte zu einer Generation, die SMS verfasste, welche Briefen ähnelten: sie hatten eine Anrede, dann wurde alles gesagt, was zu sagen war, dann ein Gruß und der Name; Sara, die zehn Jahre jünger war als er, war offenbar dazu übergegangen, alles, was in ihrem Kopf passierte, auch halb fertige Halbsätze, in Echtzeit zu versenden und den Empfänger dann an jedem weiteren Schritt hin zur Vollendung der Botschaft live teilnehmen zu lassen.

Er ging seine Mails durch. Solange man Mails lesen konnte, war die Welt noch einigermaßen in Ordnung. Eine Professorin für Multimodale Mensch-Technik-Interaktion aus Augsburg lud ihn zu einer Tagung ein. Ralf Kleber, Deutschland-Chef von Amazon, hatte sich nicht gemeldet, dafür ein Kollege vom Haptik-Forschungslabor. Driessen schrieb, ob mit der Präsentation alles in Ordnung sei. Sara schrieb ja — und ob man nach der Präsentation noch auf Drinks mitgehe? (Symbol-Icons: *zusammenkrachende Bierhumpen*, *idiotisch zwinkernder gelber Kopf*; *Champagnerflasche*). Antwort von Driessen: sehr gern (*quietschgelber, nach oben gerichteter Wurstfinger-Daumen*, Ausrufezeichen). Mittelalter Unternehmensvorstand schickt zwanzig Jahre jüngerer Mitarbeiterin gelbe Wurstfingerdaumen … Turek versuchte, die Balkontür zu öffnen, aber ihre Steuerung war ebenfalls ausgefallen, mechanische Griffe gab es nicht mehr, nur einen kleinen Hammer, mit dem die Scheibe im Notfall eingeschlagen werden konnte. Ein letzter Befehl vor dem Stromausfall musste dazu geführt haben, dass die Fassade sich auf semitransparent geschaltet hatte, eigentlich eine Funktion, um die Sonneneinstrahlung elektronisch zu verringern, das Haus sah jetzt so aus, als sei es in eine ölig schimmernde Zelophanhülle eingeschweißt worden wie die Hormonhühnchen im Supermarkt. Turek hielt sich zur Kühlung seiner Beule das kalte Display seines iPhones an den Kopf, holte tief Luft und entschloss sich, vor die Haustür zu treten. Die Luft draußen war klar und kalt. Irgendein Aggregat war angesprungen und gab ein stöhnendes Geräusch von sich. Es war jetzt kurz nach acht, immer noch dunkel. Er zündete sich eine Zigarette an und wählte Auras Nummer.

*

Aura saß in ihrem Büro im achten Stockwerk eines Neubaus. Sie hatte Kopfhörer auf, an denen ein Mikrofon befestigt war; aus der Entfernung hätte man sie für eine Hubschrauberpilotin halten können. Eine Kollegin, alleinerziehende Mutter wie sie, nickte ihr müde zu.

Sie hörte anonymisierte Aufzeichnungen von Sprachassistenten ab, das war ihr Job hier, jeden Tag vier, fünf Stunden. Sie markierte Worte, die der Sprachassistent nicht erkannt hatte, damit die Sprachprogrammierer es der Maschine beibringen konnten. Sie hörte fremde Stimmen, die Pizza Funghi bestellen wollten und stattdessen Funkgeräte oder Nizza-Flüge angeboten bekommen hatten. Ich wiederhole: Du willst einen Flug nach Nizza buchen? Pro Schicht wurden fünfhundert Mitschnitte analysiert, alle anonym, das war legal, die Nutzer des Sprachassistenten hatten unterschrieben, dass man ihre Befehle untersuchen dürfe, um die »Systeme zur Spracherkennung und zum Verstehen natürlicher Sprachen zu trainieren«, so stand das im Vertrag. Nur dass die Leute dachten, dass da irgendwelche Künstlichen Intelligenzen die Sätze analysierten. War aber nicht so. Da saß, zum Beispiel: sie. Hörte, selbst müde von der Nacht, müde, deprimierte, aufgekratzte, verkicherte Stimmen. Uralt krächzende Stimmen. Fettes, schweres Atmen. Dürre Stimmen. Sonore Organe. Stimmen, die man kennenlernen wollte, und Stimmen, von denen man Albträume bekam. Kreischende Kinder, die Furzgeräusche machten. Gebrüll, Geflüster. Weinende, erstickte Stimmen. Betrunkene, die keinen einzigen Konsonanten mehr aussprechen konnten.

Aura fing früh an, die Bänder abzuhören, arbeitete bis mittags, holte sich einen Kaffee bei Starbucks und ging dann ins Institut, um an ihrer Forschungsarbeit zu schreiben. Den Morgenjob hatte sie angenommen, weil das Geld, was sie im Institut für evolutionäre Anthropologie bekam, nicht reichte, mit einer Arbeit über das veränderte Verhalten von Gorillas, die sich in den Virunga-Bergen an Menschen gewöhnt haben, konnte man kein Kind durchbringen. Konnte man kaum seine Miete zahlen und auch nicht die irren Preise im Biosupermarkt. Ihr Sohn war vier. Er hieß Louis.

Er ging in die Kita unten im Haus, wo sie wohnten, in einer Zweizimmerwohnung, die auf den Hof rausging. Sie hätte gern eine Wohnung im Vorderhaus gehabt, mit Balkon, wo man morgens seinen Kaffee in der Sonne trinkt, aber dafür reichte ihr Geld nicht — also kein Balkon und morgens im Fenster zum Hof Kaffeetrinken. Unten waren ein Café und ein Biomarkt. Die Gegend galt als eins der besseren Viertel, der Kita selbst sah man das nicht an, das war ein schlecht gelüfteter, mit Fingerfarben bunt angemalter Raum, eine Neonröhre baumelte mitten im Raum und warf ihr unbarmherziges Licht auf eine lieblos ausgekippte Kiste Spielzeug: umgekippter Polizeiwagen, zwei Polizisten ohne Kopf, ein Pirat mit einem Holzbein aus Plastik, ein Elefant mit nur noch einem Auge. Verklebtes Lego (Apfelsaft?). Eine Ritterburg. Hinten würgen sich zwei Jungs. Vorn ein weinendes Mädchen und ein Mädchen, das es tröstet. Die Erzieherin raucht draußen am Eingang eine letzte Zigarette vor dem Morgenkreis. So war es jeden Morgen.

Warum steckte sie ihr Kind jeden Morgen in diese Müllhalde? Warum musste dieses Kind, das nach Penatenshampoo duftete und nachts mit einem unter Fellverlust leidenden Teddybären unter dem Arm in ihr Bett kam und morgens, wenn es aufwachte, strahlte und Mama rief, als sei es eine unerwartete Überraschung, sie hier anzutreffen — warum also musste dieses Kind, das sie mehr als alles liebte, in das schlecht gelüftete Neongefunzel zu den geköpften Polizisten, aus dem es acht Stunden später von anderen Kindern zerkratzt wieder herauskam? Weil sie arbeiten musste? Weil keine Oma da war? Weil ihre Freundinnen auch arbeiten mussten? Könnte sie auch zu Hause arbeiten, und Louis würde unter ihrem Schreibtisch spielen und im Hof mit den anderen Kindern? Aber da waren keine anderen Kinder. Die anderen Kinder waren auch in der Kita, selbst die, deren Väter und Mütter morgens Tennis spielten oder Yoga machten, so wie Louis’ Freund Yannis, mit dem er im Fußballverein spielte und der in einer Villa im Westen wohnte.

Yannis’ Eltern hatten einen Gärtner und eine philippinische Köchin namens Destiny und eine polnische Putzfrau. Sie hatten der Putzfrau das Auto geschenkt, das die Mutter von Yannis nicht mehr brauchte, ein vier Jahre altes Mini Cabrio, neben dem Aura ihren alten Renault parkte, wenn sie Louis bei Yannis abholte. Manchmal machte der Gärtner Yannis Bratwürste über einem offenen Laubfeuer im Garten. Manchmal machte er den Laubbläser an und trieb damit Yannis’ Modellsegelboot (Nachbau einer Yacht aus den dreißiger Jahren, KaDeWe, Spielzeugabteilung, 328 Euro) über den Karpfenteich. Im Winter band er Yannis einen Schlitten hinter den allradgetriebenen Golfwagen, mit dem er die Gartenabfälle wegfuhr. Es ist ein Wahnsinn, wie kreativ die beiden sind, sagte Yannis’ Mutter gerührt, wenn sie auf der Terrasse ihre Yogamatte zusammenrollte und das Haargummi aus ihrer luftigblondwirbelnden 195-Euro-Shan-Rahimkhan-Frisur zerrte, während Destiny weißen Tee aus einer seltenen Lage im Himalaya servierte und Yannis’ große Schwester Luisa die Mondscheinsonate auf dem Steinway im Musikzimmer spielte und die Videokameras im Garten im Takt ihre einäugigen Köpfe bewegten, weil Yannis’ golfplatzgebräunter Vater (Platz 11 beim Ironman vor drei Jahren) mit sportlichen Schritten die geschwungene Freitreppe hinaufeilte, seinem Sohn den Kopf tätschelte und seiner geliebten Ehefrau ein handsigniertes Exemplar des neuen Buchs von Roland Berger überreichte (*für die schönste Frau der Welt*). Die einzige Störung dieses Idylls war Yannis’ älterer Bruder, der bei offenen Fenstern, so dass es draußen alle hören konnten, in seinem Zimmer zu den wummernden Bässen von Bonez MCs Kokain Liegestützen machte. Als sie das letzte Mal in ihrem Renault zurückgefahren waren, hatte Louis gesagt, er wolle mal Gärtner werden, und dann war er eingeschlafen, und Aura hatte, während die letzten Strahlen der fahlen Berliner Sonne in einem Gemisch aus Wolken und Abgasen versanken, beschlossen, dass sich etwas ändern müsse, und das dachte sie auch an diesem Morgen, während sie, halb abwesend, Bänder von unterschiedlichsten Bestellungen, einem Dickicht gemurmelter und gebellter Wünsche zuhörte. Auch ihr Sohn sollte eine große Legokiste bekommen. Vielleicht keinen Garten mit Gärtner und Allradgolfkarren und Himalayatee und Golfschlägertyp-mit-Buch-für-die-schönste-Frau-der-Welt. Aber einen Wald. Ein paar Wiesen. Ein Haus, wo man morgens einen Kaffee in der Sonne trinken konnte, ein Haus, wie es ein alter Freund von ihr gerade für gar nicht viel Geld in einem französischen Dorf gekauft hatte, wo er jetzt als Schäfer lebte (sie verstand nicht so richtig, wie das ging, er hatte nie auch nur das geringste Interesse an Schafen gezeigt; aber gut). Ein paar nette Leute nebenan. Keine kopflosen Polizisten mehr.

Zwei entgangene Anrufe in Abwesenheit: Turek hatte angerufen. Was war jetzt mit Turek?

Sie hatte Turek bei einer Freundin kennengelernt. Er saß auf einem durchhängenden Ikeasofa wie jemand, der das nicht gewohnt war, aber tapfer aushält, so wie Eltern beim Elternabend auf den Kinderstühlen sitzen. Er war etwas jünger als sie. Er arbeitete für Alexander Driessen, CEO eines Start-up, das Technologien für neue Städte entwickelte. Er sprach von Robotern, fast zärtlich, wie von einem fremden Stamm. Sie fand Turek eigenartig, aber sie mochte ihn. Kommt vor, oder? Eben.

Sie dachte ans Kinderzimmer. Sie war jetzt auch nicht direkt arm. Da saßen alle Paw-Patrol-Figuren (à 19,95 Euro) und weitere fünf Stofftiere (Steiff, 90 Euro, so was). Batman-Schlafanzug. Neue Turnschuhe. In der Küche: Biogurken, Biomüsli, Olivenbrot, französische gesalzene Butter, ein seit Monaten ungeöffneter Rotwein. Draußen war es immer noch dunkel. Sie sah im Fenster ihr Spiegelbild. Was sie da anschaute, sah müde aus, aber eigentlich auch ganz gut. Paar Fältchen, aber sonst? War das da nicht das sehr geliebte zauberhafte Wesen, dessen Eltern immer sagten (und dessen Sohn auf seine Weise auch sagte): Du bist wirklich das Tollste, was diese verdammte Welt je gesehen hat, du wirst alles schaffen, was du dir vornimmst, wir sind so unglaublich stolz auf dich? Wer war das? Hm? Eben: Sie.

*

Natürlich hieß Turek nicht bloß Turek. Er hatte, wie alle Menschen, einen Vornamen. Sein Vorname war Valdemar. Das war der Name in seinem Ausweis: Valdemar Turek. Es gab niemanden in seinem Alter, der so hieß. Seine Mutter hatte ihn so genannt, weil es wie Val de Mar klang, ein Tal am Meer. Turek musste, wenn er den Namen Valdemar hörte, eher an einen unansehnlichen alten Dänen mit Kinnbart denken; seinen Vornamen ließ er, wo immer es ging, weg. So war sein Nachname mit der Zeit zu seinem Rufnamen geworden.

Er hatte Architektur studiert und ein bisschen Kunst gemacht. Damals fuhr er mit einem alten hellblauen Saab voller Müll und Pappmodelle durch die Stadt, und weil er den Wagen nie aufräumte, musste man nur durch die Heckscheibe in den Kofferraum schauen, wenn man sehen wollte, wie es ihm ging und was er machte. Der Wagen parkte hinter der Kunsthochschule unter einer alten Kastanie, und als Tureks Vertrag nicht mehr verlängert wurde, schlief er offenbar auch hinten im Wagen, jedenfalls lagen dort irgendwann Decken und Kopfkissen und ein paar Ausgaben von Wired, und dann wurde es Herbst, und der Wagen verschwand unter einer Schicht von gelben und roten Kastanienblättern, und die Luft verschwand aus den Reifen. Turek tauchte manchmal in der Mensa oder in der Aula auf. Er besaß ein Samtcordsakko, dessen Kragen er zum Schutz gegen die kalte, klare Herbstmorgenluft aufstellte. Er sah nicht wie jemand aus, der auf der Straße schläft; erst später erzählte er, dass er sich damals nur von Toastbrot und Zigaretten ernährte und tatsächlich in seinem Saab wohnte, wenn er nicht gerade bei Freunden unterkam. Er sah allerdings noch gut genug aus, um Evangelia kennenzulernen, eine Griechin, deren Eltern in Maroussi eine Firma für Wandfarben besaßen und ihr für das Auslandsjahr, das sie als DAAD