Tekhelet - Maël Le Frêne - E-Book

Tekhelet E-Book

Maël Le Frêne

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Beschreibung

MAËL LE FRÊNE entstammt einer hugenottisch-jüdischen Künstlerfamilie. Nach dem Abitur studierte er zunächst Kunst, wechselte dann aber zur Musik und zur Literatur. Er schrieb und veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten, verfasste philosophische Essays für die Schopenhauer-Gesellschaft und hielt Vorträge in Frankfurt, Hamburg und München. Er war künstlerischer Leiter, Oberspielleiter, Hochschuldozent und Festival-Intendant. Sein kompositorisches Schaffen umfasst Ballette, Sinfonien, Konzerte, Lieder und Instrumentalmusik; sein dramatisches Schaffen Musicals und Theaterstücke; sein literarisches Schaffen Lyrik, Essays und Erzählungen. TEKHELET (BLAU) ist sein Debüt-Roman und erzählt den Verlauf dreier Lebenswege in drei Teilen (Das Lied der Amsel - Die Judenbraut - Der Aschenprinz) vor dem Hintergrund des sich unaufhaltsam wandelnden Deutschlands in einer Kleinstadt an der Nordseeküste, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, verfolgt deren Schicksale in der Nachkriegszeit, in Amerika und Frankreich, und endet im gesellschaftlichen Wandel unserer Tage. Eine Geschichte über Tradition und Identitätssuche, Irrtum und Verlust, Gewalt und Vertreibung, über die verborgene Sprache der Natur und die unerschöpfliche Kraft der Musik.

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für Daniel

Inhaltsverzeichnis

I. DAS LIED DER AMSEL

Le Chant Du Merle

I. DIE JUDENBRAUT

La Mariée Juive

III. DER ASCHENPRINZ

Le Prince Des Cendres

I. DAS LIED DER AMSEL

„Menschenherz und Meeresboden sind unergründlich.“Jüdisches Sprichwort

Am Anfang war der Brief.

Peter-Paul Langmaack hatte sein halbes Leben darauf gewartet, dass sich ein Zustand von Gelassenheit in ihm einstellte. Gelassenheit den vermeintlichen Wichtigkeiten einer bürgerlichen Gesellschaft gegenüber. Anscheinend war er jetzt auch erreicht, dieser Zustand, den er gern mit dem Wort „Alter“ zu begründen wagte – jedenfalls, was ihn selbst anging, denn es war ihm mittlerweile herzlich egal geworden, ob und wie viele Kreativlinge um ihn herum um Anerkennung buhlten, einen übersättigten Kulturmarkt zu erobern suchten und um Top-Platzierungen auf den musikalischen Bestsellerlisten kämpften. In früher gelebten Jahren hatte er seinen Lebensunterhalt als Korrepetitor am Theater verdient.

Das war einmal und fast schon vergessen. Heute fristete er sein Dasein, in freiberuflicher Verrentung, mit Seminaren für angewandtes Chordirigieren und mit Blasorchesterproben für spielfreudige Laien, irgendwo in der Hallertau zwischen München und Ingolstadt, weniger aus Geldmangel als aus dem therapeutischen Grunde, seine angeborene Redehemmung zu überwinden. Er sah dabei zu, wie junge Wilde das kulturelle Schlachtfeld besetzten, wie sie aggressiv ihre frisch erworbenen Positionen und Territorien verteidigten. Doch es kümmerte ihn kaum noch. Er hatte sich schon immer auf seltsame Weise als Fremder unter Fremden gefühlt. Gleichwohl wusste er um seinen Platz, an den er sich zu begeben hatte, wenn der Alltag nach ihm rief.

So nahm er Aufträge, denen er nicht nur eine persönliche Bedeutung beimaß, sondern deren Honorierung ab und an üppiger ausfiel, als er es gewohnt war, mit gelassener Genugtuung entgegen, denn er musste sich und anderen nichts mehr beweisen.

Als er das Schwabinger Haus seines Mitbewohners, Sven Heckelrod, betrat, sah er als erstes auf den sich auftürmenden Stapel noch ungelesener Zeitungen, Manuskripte und Rechnungen und fragte sich kurz, ob er nicht doch lieber Tierpfleger oder Biobauer hätte werden sollen. Missmutig ging er zur Kaffeemaschine und setzte Wasser auf. Missmutig griff er nach der Tageszeitung, schlug sie auf und überflog kurz die Schlagzeilen:

Blauhelm-Mission gescheitert

Streit um Wasservorräte eskaliert

Östliche Allianz droht dem Westen

Welle der Gewalt gegen Flüchtlinge

Israel bittet USA um militärische Hilfe

Er schlurfte zur Kaffeemaschine, goss sich etwas in seinen Becher mit der gelben Trinkstelle und sinnierte über das eben Gelesene. Warum hält der Mensch den Frieden nicht aus? Warum zieht es ihn beständig zurück aufs Schlachtfeld? Warum zerstört er seinen Lebensraum? Warum, warum ... Drei, vier Stück Würfelzucker halfen ihm, die bittere Brühe zu ertragen. Dann setzte er sich an seinen „Hansen“, ein altes Konzert-Klavier aus dem Jahre 1900, auf dem er sein morgendliches Warm-up vollführte, Etüden, die er spielte aber nicht mehr übte, denn das hatte er bereits vor Jahren aufgegeben. Seine Technik war stabil, und die Finger bewegten sich immer noch mit einer gewissen Geläufigkeit, um die er sich bislang nicht weiter zu sorgen brauchte. Das pure Musikmachen interessierte ihn weit mehr als das Abspulen fehlerfreie Läufe. Nachdem er sich ausgetobt und genug hatte, ging er zum Schreibtisch und öffnete – halb widerwillig, halb neugierig – den obersten Umschlag auf dem Stapel.

Der Briefkopf darauf war in geschwungener Schreibschrift verfasst, die wohl etwas Seriöses oder auch Teures signalisieren sollte:

Sehr geehrter Herr Langmaack,

in der Nachlasssache Thea Maria Rickens, geb. Langmaack, verstorben am 13. Mai 2018, letzter Wohnsitz Long Island, New York, dürfen wir Sie davon in Kenntnis setzen, dass für Sie ein Testament hinterlegt wurde.

Am 15. Juni hat die Eröffnung dieser Verfügung von Todes wegen stattgefunden. Die Urschrift der Urkundenrolle Nr. 287 kann hier eingesehen werden.

Hochachtungsvoll, auf Anordnung

Notariat Rechtsanwalt Dr. Dr. Gerhard Graf

Peter-Paul Langmaack hatte eine kindliche Angewohnheit beibehalten, sich Texte laut vorzusagen, um sie besser erfassen zu können. Und das, was er da soeben ausgesprochen hatte, ließ ihn begreifen, dass es einen Menschen in seinem Leben gegeben hatte, dessen Namen in seinem Gedächtnis verblichen war und der nun unmittelbar vor ihm auferstand: der Name seiner Mutter. Dieser Brief änderte seinen Tag.

Er las die Zeilen noch einmal, sah auf und starrte die Wand an. Dann nahm er einen kräftigen Schluck aus dem Becher, verbrannte sich dabei Zunge und Gaumen, schnappte sich seinen Mantel und ging hinauf in seine Wohnung. Er packte das Nötigste in die alte Ledertasche, die sein Großvater ihm, dem Schuljungen, vermacht hatte, überlegte kurz, ob er vielleicht lieber die Bahn nehmen sollte, entschied sich aber dann für das Auto.

Es nieselte. Eine diesige Decke hing über dem Hof, auf dem sein Wagen stand. Peter-Paul setzte sich hinters Steuer, startete und fuhr aus der Einfahrt in Richtung Norden.

Er ließ München hinter sich und steuerte mit stoischem Gleichmut auf die Autobahn, fuhr ohne Rast (nur einmal, um zu tanken und zu pinkeln), quer durch Deutschland, über die Kasseler Berge hinauf in den Norden, vorbei an Städten und Dörfern, deren Dächer von Region zu Region ihre Formen und Farben wechselten, vorbei an hohen Hopfengärten, an Obstplantagen, Heidelandschaften, kargen Weiden und kahlen Äckern, elbabwärts durch die weite Monotonie der niedersächsischen Tiefebene.

Ein Endlosbild in Graustufen.

Sein Ziel war die kleine Hafenstadt an der Elbmündung, in welcher er aufgewachsen, der Ort, den auch er – wie so viele andere – als junger Mensch verlassen hatte, weil er ihm zu eng geworden war.

Angekommen, gelangte er, quer durch den Ort hindurch, am Seedeich entlang, zur Hafenkante, wo er alles noch wie damals vorfand: das Fischereikontor, die Lagerhallen, das Zollgelände mit den alten Gleisen – nun stillgelegt, vergessen, außer Betrieb.

Letzte Überreste einstiger Zeitzeugnisse befanden sich, demontiert und eingelagert, in einem eigens dafür eingerichteten Wrackmuseum zur Befriedigung touristischer Schaulust.

Er verließ das Hafengelände.

Hinter dem alten Dorfbrunnen, am Wendeplatz der Wattwagen, bog er ein in die Hauptstraße, die quer durch die Stadt führt, parallel zum Deich, vorbei am alten Bahnhof, durch die Reste der Altstadt, dann rechter Hand in das Lotsenviertel, in eine stille, mit Kopfstein gepflasterte, kleine Straße.

Sie war von der Welle der Umbenennungen, wie sie in den dreißiger Jahren für Schiffe, Plätze und Straßen vorgenommen wurden, verschont geblieben. Peter-Paul Langmaack betrat das Notariat.

Eine freundliche, schon etwas ältliche Sekretärin nahm ihm den Mantel ab und ersuchte ihn höflich, noch einen Moment zu warten.

Kaum hatte er sich gesetzt, stand der Notar auch schon vor ihm, hager, angegraut, in marineblauem Zweireiher mit goldenen Kapitänsknöpfen und polierten Schnürschuhen. Er bat ihn in sein Büro, besser gesagt in seinen Salon, denn das ganze Ambiente hatte etwas antiquiert Wohnliches. Wuchtige Ledersessel prangten vor dem Hintergrund einer neoklassizistisch anmutenden Bibliothek mit uniformierten Buchrücken in dunkelgrün. Langmaack überlegte kurz, ob sie vielleicht Attrappen waren, als Meterware bestellt zur Dekoration und Aufwertung der Einrichtung.

„Aber bitte, nehmen Sie doch Platz“, forderte der Notar ihn förmlich auf. Peter-Paul Langmaack setzte sich auf den englischen Mahagoni-Stuhl vor dem englischen Mahagoni-Tisch, hinter dem der deutsche Jurist thronte und in seinen Unterlagen blätterte, schlug ein Bein über das andere und betrachte die gefleckte Auslegeware, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Ein leicht muffiger Geruch hing im Raum, der ihn unvermutet an sein Großelternhaus erinnerte: ein Gemisch aus kaltem Rauch, Zeitungspapier, Möbelpolitur, Alter und Zersetzung.

Der Notar sah kurz zu ihm herüber, setzte sich eine halbe Lesebrille auf die Nase und begann mit monotoner Stimme:

„Die Nachlass-Sache Thea Maria Langmaack, vorverehelichte Rickens, geschieden vor dem Supreme Court durch Justice Hon. James J. Crisona, zuletzt wohnhaft auf Long Island New York, verstorben am 13. Mai 2018 und daselbst beerdigt, mit der Urkundenrolle Nummer 287, Jahr 1963, gesehen im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in New York zur Legalisation mit der vorstehenden Unterschrift des öffentlichen Notars Paul Livoti, Clerk of the Supreme Court im Staate New York, beglaubigt daselbst am 14. Dezember 1964, ist hiermit eröffnet. Erschienen ist heute der leibliche und einzige Sohn, Peter-Paul Langmaack, alleiniger Erbe der Verstorbenen, zur Entgegennahme der folgend aufgeführten Gegenstände:

Ein handschriftlich verfasstes, mehrseitiges Originaldokument eines orchestralen Notenwerkes sowie eine versiegelte Holzschatulle mit Perlmutteinlage. Die Verstorbene hat hierzu einen letzten Willen festgesetzt: Ich möchte, daß mein geliebter Sohn Peter-Paul das bekommt, was ihm schon lange gehört und was ich für ihn sorgsam und in inniger Liebe aufbewahrt habe. Es ist das Einzige, was mir geblieben ist. Gezeichnet – Thea Maria Langmaack.“

Der Notar blickte kurz über den Rand seiner Brille hinweg und fragte: „Nehmen Sie das Erbe an?“

Peter-Paul Langmaack überlegte nicht lang: „Deswegen bin ich hier.“

Er hatte sich angewöhnt, in knappen Sätzen zu antworten und nur das Nötigste zu verhandeln. Seinem Gegenüber offenbar nicht knapp genug. „Antworten Sie einfach mit Ja oder Nein“, forderte der Notar ihn auf.

„Ja.“

„Schön.“ Der Notar reichte ihm seinen schwarzgoldenen Füllfederhalter. „Dann bräuchten Sie nur noch zu unterschreiben, unten rechts, bitte.“ Peter-Paul Langmaack unterschrieb.

Der Notar setzte abermals seine halbe Lesebrille auf die Nase und las ihm noch einen allerletzten Absatz vor: „Der unterzeichnende Vollerbe hat die heute genannten Gegenstände von mir, dem unterzeichnenden Notar im Oberlandesgerichtsbezirk Celle mit Amtssitz Groden, Dr. Dr. Gerhard Graf, entgegengenommen. Ort, Datum, etcetera, etcetera ...“

Der Notar nahm mit der Linken seine Brille von der Nase und hielt ihm seine behaarte Rechte hin: „Mein Beileid.“ Ein kräftiger Händedruck – und das war´s, kurz und schmerzlos. „Frau Raddatz wird Ihnen dann gleich die Erbstücke überreichen und Sie zur Tür hinausbegleiten. Auf Wiedersehen.“ Er verschwand, wie er gekommen war.

Peter-Paul Langmaack verließ das Gebäude. Er stand im Freien und blickte sich um. Es war immer noch grau, nasskalt und wolkenverhangen. Nachdem er die Erbstücke auf der Rückbank verstaut hatte, beschloss er, seinen Wagen stehen zu lassen und noch einige Schritte zu gehen; ein bisschen Bewegung würde ihm sicher guttun.

Er lief ziellos durch die engen Straßen der Altstadt, dort, wo noch alte, bleiche Backsteinhäuschen mit ulkig-schiefen Dächern auf holprigem Kopfsteinpflaster die Zeit überdauert hatten. Das meiste war nach dem Krieg abgerissen und in den späten Sechzigern durch schmutzig-grauen Sichtbeton ersetzt worden. Die verantwortlichen Stadtväter hatten offenbar nicht allzu viel Sinn für historische Aufarbeitung an den Tag gelegt. Verleugnung? Verdrängung?

Er betrat ein kleines Restaurant in einem alten dunklen Eckhaus am Ende der Straße. Hier schien alles noch wie das „Eh und Je“ vergangener Tage: speckige Gardinen an den Fenstern, gescheuerte Eichentische und braune Stühle, Geruch von abgetretenem Linoleum und verrauchten Jacken an den Garderobenhaken. Die Gäste um ihn herum redeten mit gedämpften Stimmen, einem monotonen Gemurmel, wie man es eben in deutschen Lokalen antrifft. Er fragte sich, ob sich die Leute überhaupt etwas zu sagen hatten, oder ob es nur Gewohnheit war, die sie antrieb, ihre Münder zu bewegen. Ab und zu lachte eine Frauenstimme auf, um sogleich wieder in vokaler Trübsal zu versinken.

Die einzig freundlich-bestimmten Laute kamen von der weiblichen Bedienung, die mit gezücktem Stift und Bestellzettel vor ihm auftauchte. „Was darf´s denn sein, junger Mann?“

Junger Mann ... Peter-Paul Langmaack blickte in das nikotinfahle Gesicht einer Frau mit gelb-gefärbtem Haar und zu viel Billigschmuck am Arm. „Heiße Zitrone, bitte.“

„Ham wa nich.“

„Hm. Heiße Milch mit Honig?“

„Ham wa nich.“

„Pfefferminztee?“

„Ooch nich. Schwarztee könn´n Se haben.“

„Dann bitte schwarzen Kaffee.“

„Kaffee schwarz – jawoll, der Herr.“

Die Kellnerin zog ab. Peter-Paul Langmaack griff nach der Tageszeitung, die, schon etwas abgegriffen, vor ihm auf dem Tisch lag und blätterte gelangweilt darin herum.

Und ganz plötzlich stand da Irmgard vor ihm, das kleine Mädchen aus der Nachbarschaft, mittlerweile eine Frau von vielleicht fünfzig Jahren – plus.

Mit ihr kehrte auch die Erinnerung zurück an seine erste Aufregung.

„Paule???“

Breit lächelnd und ein wenig erwartungsvoll musterte sie ihn.

„Mensch, so eine Überraschung! Na? Erinnerst du dich noch an mich?“

Natürlich tat er das. Wie konnte er sein erstes „Date“ in seinem Leben vergessen? Aber er wich ihr schnell aus, wie er immer ausgewichen war, wenn er sich etwas nicht traute.

„Entschuldige, ja klar, Irmgard! Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt“, log er und spürte ihre Enttäuschung.

„Also, ich dich schon. Hast dich überhaupt nicht verändert. Nee, wirklich!

Du siehst noch genauso aus wie früher, kein graues Haar, kaum Falten, wie machst du das? Ist echt lange her. Sag mal, wie geht´s dir denn so?“

„Mir? Phhh, also ich ...“

„Die Zeit ist hier wohl komplett stehengeblieben. Mein Gott, die meisten von uns sind doch damals weg, weil sie´s nicht mehr ausgehalten haben.

Was soll man hier auch noch? Passiert ja sowieso nischt in diesem Kaff.“

Peter-Paul Langmaack gab sich redlich Mühe und heuchelte Interesse:

„Und was machst du dann hier?“

Er versuchte, etwas von der alten Verzauberung in ihr wiederzuentdecken.

Ihre Antwort belehrte ihn eines besseren: „Du, ich gönne mir ein paar Tage an der See. Günther ist übers Wochenende bei den Enkeln in Braunschweig.

Wir wohnen jetzt in Berlin. Prenzelberg. Is janz proper da, wa“, sprudelte es aus ihr heraus.

Schrecklich, sie sagt nicht mal Prenzlauer Berg! Er dachte an all diese bornierten, wie Heuschrecken einfallenden Zugereisten, die meinen, sie müssten der Hauptstadt ein hippes Szene-Image aufdrücken und ertappte sich dabei, sie und die anderen dafür zu verachten.

„Aber was schert mich eigentlich dieses Geplänkel“, dachte er sich und wollte bereits aufstehen. Prompt erfolgte ihr Versuch, es fortzusetzen:

„Sach mal, und was machst DU so? Ich weiß ja überhaupt nichts von dir.

Is echt lange her. Erzähl doch mal! Übernachtest du hier auch im Hotel?“ Smalltalk vom Feinsten.

„Ich ... also, ich bin wegen meiner Mutter ...“

„Deine Mutter? War die nicht ausgewandert?“

„Sie ist tot.“

„Oh man – mein Beileid. Ich wusste ja nicht ...“

„Bin auch nur heute hier, um meine Erbangelegenheiten zu regeln.“

„Ach – ich seh´ dich immer noch in ihrem Garten stehen, hinter der ollen

Buchsbaumhecke, wie du mich da so angestarrt hast, weißte noch?“

Natürlich wusste er noch. Wieder so eine Momentaufnahme, wieder so ein flashback in seine Vergangenheit, in diese unselige Vergangenheit ...

Die hohe Hecke, die das Grundstück begrenzte und ihn von dem Lachen dahinter trennte, weckte einst seine Phantasie, seine Vorstellung von einem fremden, unbekannten Land und einer blonden, Ball spielenden Prinzessin.

Das Bild des kleinen Mädchens von damals verschwamm, und er sah eine hochgewachsene, verlebt wirkende Frau vor sich, in Rock und Bluse und Stilettos, mit reichlich Puder und Lippenstift im Gesicht, grell-lackierten Nägeln an übervoll beringten Händen, die sich ihm entgegenstreckten.

Es hat schon etwas Morbides, dachte er, wenn einem soviel Gleichaltrigkeit gegenüber steht.

„Warum kommst du nicht rüber und setzt dich zu mir?“, forderte sie ihn auf.

Déjà-vu! Das Stimmengewirr im Raum schwoll an, sein Kopf dröhnte.

„Entschuldige mich ...“

Er erhob sich und lief zur Toilette, presste seine Stirn an die kalten Kacheln der Wand, atmete tief durch den Mund. Zuviel! Zu viele Menschen, zu viele Stimmen, Neugierden, Aufdringlichkeiten!

Er drehte den Wasserhahn auf und hielt sein Gesicht darunter. Minutenlang.

Da er keine Papiertücher fand, wischte er sein Gesicht mit dem Ärmel trocken. Als er zurück in die Gaststube ging, war Irmgard verschwunden.

Peter-Paul Langmaack zahlte und ging. Er brauchte Luft, viel Luft, eine steife Brise zum Durchatmen. Der Nordostwind kam ihm gerade recht.

Ohne nachzudenken lief er los, wie er es als Kind immer getan hatte.

Er lief über den regengetränkten Deich, über dem die Schwalben in scharfen Kurven kreisten auf der Suche nach Futter, hinunter zum Vorland, hielt dann abrupt an und ließ seinen Blick über die Mole, über die nebelgraue Decke der See wandern. Etwas staute sich auf, versperrte ihm den Weg, ließ ihn aufhören zu atmen, schwoll an, bis es zerplatzte, bis er sich fallen ließ in das nasse Gras und einfach losheulte, hemmungslos, unkontrollierbar.

Etwas brach sich Bahn, heraus aus seinem Gefängnis, einer Enklave, errichtet aus Verlusten und Hoffnungslosigkeiten.

Eine halbe Ewigkeit lag er so da, bis er endlich aufstand und zu seinem Wagen zurückging.

Peter-Paul Langmaack fuhr ins Hotel und betrat sein Zimmer, in das er sich einquartiert hatte, ein Doppel- für ein Einzelzimmer mit Seeblick, das Handy hatte er vorsorglich ausgeschaltet. Er empfand nicht das geringste Bedürfnis, mit seiner Außenwelt zu kommunizieren, sondern suchte sich weiter in den Kokon seiner Vergangenheit einzuspinnen. Der Blick aus dem Fenster zeigte ihm ein flaches Aquarell von Wasser, Deich und Straße, verhüllt von einem grauen, regnerischen Vorhang.

Er warf sich auf die breite, viel zu weiche Matratze und betrachtete die beiden Erbstücke. Vor ihm ruhte ein großformatiges Bündel aus Butterbrotpapier, eingeschlagen in einen blau-weiß gestreiften Tallit, einen altjüdischen Gebetsschal, zusammengebunden mit einer dünnen Kordel.

Er öffnete den Knoten und besah sich die losen, vergilbten Blätter.

Sie waren mit Tinte beschrieben, mit unzähligen schwarzen Zeichen: Köpfe, Hälse, Balken auf krumm gezogenen Linien. Eine Partitur.

Zum Glück hatte er gelernt, Noten zu lesen. Flüchtig überflog er den Inhalt.

Ein sehr hohes Violin-Solo, übergehend in eine Orchestersequenz ausschließlich aus Streichern, begleitet von einer Harfe.

Dann sah er auf die Holzschatulle. Vorsichtig brach er das Siegel und entnahm ihr – wie in einer heiligen Handlung – ein braunes, mehrfach in Wellpappe gewickeltes, rauledernes Büchlein. Eine Schnalle mit einem zierlichen Messing-Schloss hielt es zusammen. Er öffnete den Verschluss und schlug es auf.

Heute ist Sonntag, der 23. Januar 1938.

Nun bin ich schon sechzehn Jahre alt geworden. Mutter hat mir zum Geburtstag dieses ledergebundene Tagebuch geschenkt, in das ich gleich hineinschreiben will. Von Vater gab es einen nagelneuen, silbernen Füllfederhalter dazu, und die hübsche neue Schreibmappe liegt jetzt statt der alten auf meinem Schreibtisch. Vier Freundinnen sind am Nachmittag gekommen, mit mir zu feiern. Wir haben viel geschwatzt und Kuchen gefuttert. Alles ging recht fröhlich zu, und der Tag verging wie im Fluge. Könnte ich die Zeit doch festhalten! Manches verliert sich gar zu schnell.

Peter-Paul Langmaack betrachtete das Papier, auf dem der Eintrag stand. Es war holzig mit braunen Rändern, roch leicht torfig und erinnerte ihn an den großelterlichen Bücherschrank, vollgestopft mit alten Firmenordnern, Kochbüchern und deutschen Klassikern in Frakturschrift. Die Seiten klebten aneinander und knisterten beim Berühren, die Tinte teils verwischt und der Text in Sütterlin geschrieben, was er aber durch seinen Großvater erlernt hatte zu entziffern.

All dies erschien ihm so fern, so alt und verdorrt ...

Doch griffen die Zeilen nach ihm, als wären sie erst jetzt geschrieben worden, krochen in ihn hinein, wirbelten durch seinen Kopf, und obwohl er eine anfängliche Scheu empfand, in den Aufzeichnungen weiter zu lesen, erlag er seiner Neugier und blätterte um.

Dienstag, 25. Januar

Ich habe bereits einen langen Spaziergang über den Seedeich hinter mir.

In der Frühe war ich bei Herrn Meier, um zwei Paletten Hühnereier zu holen. Auf dem ganzen Weg hat es ohne Unterlaß geregnet.

Es ist noch dunkel. Ein weißer Vorhang zieht in dicken Schwaden vom Wasser her hoch und schwappt langsam an Land, um alles zu verhüllen, wie die Nebel von Avalon.

Der gute alte Leuchtturm versteckt sich in dem Dickicht, seine Umrisse wie ein dunkler Riese, der nicht weiß, wohin mit sich, da ihm die Welt über Nacht zu klein geworden ist.

Bunten Glasperlen gleich, hängen unzählige Wassertropfen am spröden Licht der Gaslaternen. Ihr diffuser Glanz fällt auf das Kopfsteinpflaster. Ich fröstele und schlage meinen Kragen hoch. Wind zwängt sich zwischen die Ärmel hindurch und bläht den Stoff meiner Jacke von innen auf.

Das mahnende Klagen der Nebelhörner auf der Elbmündung lullt mich noch tiefer ein in meine Müdigkeit am Morgen, in mein Bedürfnis nach Wärme und Wohlbehagen. Ich ziehe den Kragen fester und blicke in das diffuse Grau eines beginnenden Morgens, eines neuen lichtarmen Tages.

Dienstag, 1. Februar

Heute hatten wir unsere übliche, wöchentliche Morgenfeier in der Schule.

Sie wurde klassenweise ausgeführt.

Wir beteten und sangen, und obwohl ich mit dem Beten eigentlich nicht so gut klarkomme, empfand ich es als richtig, es zu tun, denn alle taten es – und das war so voller Kraft!

Eben hörte ich im Volksempfänger eine Rede unseres Führers, die mir Mut und Zuversicht eingeflößt hat. Ich bin bemüht, dies auch Mutter zu vermitteln.

In letzter Zeit habe ich recht viel zu tun, denn die Schule nimmt mich zunehmend in Anspruch, so daß ich kaum Zeit für persönliche Angelegenheiten finde. Wir müssen tüchtig lernen.

Aber ich nehme wieder Klavierunterricht, der mir doch sehr gefehlt hat.

Mein alter Lehrer ist zwar recht streng, trotzdem bringt es mir immer wieder Freude, durch das Spielen auf einem Instrument, kleine flüchtige Welten aus Tönen betreten zu können und darin zu wandeln.

Ich wollte, ich könnte es auch mit Worten.

Donnerstag, 3. Februar

Regelmäßig um drei Uhr nachmittags betrete ich das abgedunkelte Zimmer, in dem mich mein Klavierlehrer bereits erwartet, zwischen bis zur Decke ragenden Regalen voller Notenbände und Partituren.

Eigentlich ist er Organist und Kantor unserer großen Garnisonkirche, ein hochgewachsen und starr anmutender, äußerst altmodischer Lehrer, der mir eher wie ein schütterer Amtsarzt denn wie ein frohgelaunter Musiker vorkommt. Zudem bockelt er leicht, und seine Stimme ist heiser und brüchig.

„Kein Bildhauer modelliert so, wie die Natur es kann“, pflegt er zu sagen.

„Die Hand ist das beweglichste Körperteil des Menschen! Sie besteht aus 27 Knochen, 28 Gelenken und 33 Muskeln. Überleg mal, was man damit alles anrichten kann.“

Ich überlege ...

„Hm – schreiben?“

„Üben, mein Fräulein, üben!“, korrigiert er mich. „So, nun leg die Hände auf die Tasten und spiele mir deinen Bach, den du für heute aufhattest!“

Ich setze mich an den abgewetzten Grotrian-Flügel, berühre die Klaviatur aus vergilbtem Elfenbein mit der klemmenden schwarzen B-Taste im Baß und stelle den rechten Fuß auf das ausgeleierte Pedal.

Dann spiele ich ihm „meinen Bach“, meinen eigenen Bach, so wie ich ihn sehe und sehen will, auch wenn der Herr Bach es sich vielleicht anders erdacht haben mag.

„Nein, nein, nein, das Tempo, du mußt das Tempo halten!“, unterbricht er. Ich mühe mich redlich ab, es ihm recht zu machen, aber ich höre und empfinde nichts dabei.

„Krumm die Finger, krumm die Finger!“

Er klopft mir wiederholt auf die Hände ...

„Zwischen den einzelnen Tönen kurze Pause!“

... biegt sie, formt sie ...

„Staccato – staccato!“

... und bringt mich schließlich am Ende dieser Stunde tatsächlich dazu, die Tasten genau so hölzern und so abgehackt anzuschlagen wie er selbst.

„Na guck, es geht doch!“, fistelt er befriedigt, nicht bemerkend, wie unwohl ich mich mit ihm und dem ganzen Gekrampfe fühle.

Ernüchtert verlasse ich den Herrn Kantor, sein muffiges Haus und diese entsetzliche Lektion in bürgerlicher Steif- und Sturheit. Wenn ich weiterhin seinem Willen gehorche, werde ich wohl eines Tages noch so etwas wie Orgel auf dem Klavier spielen können. Mehr aber auch nicht.

Freitag, 4. Februar

Treibe mich wieder am Deich herum, kiek övern Diek und halte stumme Zwiesprache mit dem Meer. Wenn man zulange zuhause weilt, wird die Welt klein um einen herum. Dann muß man raus aus der Enge, einen weiten Himmel suchen, unter dem man atmen kann.

Hier kann ich es. Hier sitze ich auf den Steinen der Mole und blicke auf das stahlblaue Wasser, das, wenn es vom Wind aufgewühlt wird, seine Farben wie ein Chamäleon wechseln kann, mal gelblich, mal blaßgrün und dann wieder blausilbern leuchtend, mit Schaumkronen auf seinen Kämmen, die im Sonnenlicht aufblitzen.

Ich liebe solche Farben, die einem die Blässe des Gemüts vertreiben.

Wenn Regen und Wolken die See in einen schwarz-grau brodelnden, schäumenden Kessel verwandeln, fliegt manchmal eine Möwe heran und setzt sich neben mich auf die Steine.

In stummem Einvernehmen starren wir beide auf den Veitstanz der Wellen, während der Wind sich laut um unsere Ohren legt, trommelnd und pfeifend durch den Äther marschiert, mein Haar durchkämmt und das Gefieder meines stillen Freundes aufwirbelt.

So harrt das Tier eine lange Weile neben mir aus, scheinbar wissend um die Geheimnisse des Meeres und unserer irdischen Vergänglichkeit.

Irgendwann hat es genug und fliegt mit einem lauten „Kiäh!“ davon.

Donnerstag, 17. Februar

Heute wieder Klavier. Geduldig lasse ich die langatmigen Ausführungen und Abhandlungen über das Wesen deutscher Musikkultur und die Attacken, die der alte Musicus gern gegen ausländische und nichtarische Komponisten reitet, über mich ergehen.

„Die Juden haben nichts hervorgebracht, was uns nennenswert sein könnte.

Sie stehlen unsere kostbare Kultur und verschachern sie meistbietend“,

doziert er. „Heuschrecken, die von Land zu Land ziehen und uns gewissenlos ausplündern, kulturell, wirtschaftlich und geistig!“

„Aber Gustav Mahler war doch auch Jude“, widerspreche ich ihm, „und er hat neun große Symphonien geschrieben – so wie Beethoven!“

„Papperlapapp! Kapellmeistermusik, nichts als Plagiate!“

Mit einer einzigen barschen Handbewegung wischt er jeglichen weiteren Einwand meinerseits beiseite.

„Nein, mein Fräulein, die Großen ... die Großen waren Bach, Beethoven, Bruckner, Brahms! DAS sind die Säulen unserer abendländischen Musik! Unserer deutschen Musik! Merk dir das! So, und nun leg die Hände auf die Tasten und spiele mir deinen Beethoven, den du zu heute aufhattest!“

Und so spiele ich ihm „meinen Beethoven“, meinen eigenen Beethoven, nach meinen eigenen musikalischen Vorstellungen – auch wenn es nicht unbedingt nach Beethoven klingt.

„Nein – nein – nein! Doch nicht so, mein Fräulein! Kurz – kurz – kurz!!!“

Wieder unterbricht er mich, wieder regt er sich auf, schiebt mich beiseite und setzt sich statt meiner an den Flügel.

Nun spielt er das Stück selbst, ganz so, wie sich der gestrenge Herr Kirchenmusikdirektor „seinen“ Beethoven auf seinem Tasteninstrument imaginiert – und wie man ihn vielleicht gewohnt ist zu hören.

Ich versuche, es ihm gleich zu tun, mühe mich ab, gerate ins Schwitzen. Vergeblich. Resigniert und mit gesenktem Kopf verlasse ich diese Stunde. Ach, ich werde wohl nie eine ordentliche Pianistin werden!

Sonntag, 20. Februar

Daß ich zu schreiben begonnen habe, ist auch einer inneren Notwendigkeit geschuldet, geheimste Gedanken festzuhalten und auf dem Papier auszusprechen. Nichts und niemand kann mich daran hindern, und ich tue es, sooft ich will und sooft ich kann. Und wenn ich nichts anderes täte als ausschließlich dieses, es wäre mir genug.

Allein in meinem Zimmer, kann ich stundenlang, ewigkeitenlang so am Fenster sitzen und auf die schneebedeckten Gärten unseres Viertels blicken, kann mir ausmalen, wie es ist, fliegen zu können und diesen oder jenen Ort jederzeit aufzusuchen und ihn ohne Reue und Scham wieder zu verlassen, weil mich kein Gewissen belastet mit Maßregelungen, mit Vorwürfen oder Gesetzen.

So erträume ich mir, tags wie nachts, unzählige Geschichten, lasse sie in meiner Phantasie lebendig werden.

An ihnen teilzuhaben, ja, selbst ein Teil von ihnen zu sein, erscheint mir abenteuerlich und verwegen und doch ganz natürlich, denn ich bin ja ihr ureigenster Schöpfer.

Aber wer bin ich denn, um solcherlei Reden zu führen? Wie vermessen von mir, mich für etwas Besonderes zu halten! Ein Mädchen tut doch sowas nicht! Es hat Pflichten, trägt Verantwortung, lebt und lernt für die Familie und für die Schule. Die Schule – das einzige Hindernis, frei und glücklich zu sein – vom Deutschunterricht mal abgesehen ...

Montag, 21. Februar

Meinen inständigen Bitten, zuhause bleiben zu dürfen, nicht zum lästigen Unterricht zu müssen, begegnet Mutter mit sanftem Lächeln und täglichen Ritualen, wie dem Befüllen meiner Brotschachtel.

Im fahlen Licht der Gasleuchte an der Zugschnur über dem Küchentisch wickelt sie, eine überzeugte Anhängerin der Reformkost, eine Scheibe Vollkornbrot mit dicker Butter in Pergamentpapier ein, poliert an ihrem Ärmel einen rotbackigen Apfel auf Hochglanz, fügt schließlich noch ein Zehnpfennigstück für den Bus hinzu. Ich prüfe den Inhalt meiner Schultasche. Sind die Stifte in der Federmappe? Mutter reibt sie oft noch in letzter Minute auf dem Steinboden unserer Küche spitz. Ist die Tinte im Füllfederhalter ausgelaufen? Haben die Hefte Fettflecken und Eselsohren?

Vokabeln gelernt, Formeln gelernt?

Alles will sorgsam bedacht sein, sonst gäbe es einen saftigen Tadel des Lehrers.

Und mit ihrem flüchtigen Abschiedskuß ergeht regelmäßig die Ermahnung: „Verlier den Groschen nicht! Beeil dich!“

Mit meiner Ledertasche unter dem Arm, vollgestopft mit Büchern und der stets bangen Frage in der Brust, ob ich die Welt, wie sie mir durch die Schule vermittelt wird, auch so begreife und verstehe, mache ich mich auf den Weg. So führe ich allmorgendlich einen verbissenen Kampf gegen müde Knochen und rüde Realitäten.

Freitag, 25. Februar

Jeremias Mandelbaum trat ohne Vorwarnung in mein Leben. Einfach so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Und ist sie es nicht?

Der frühe Fußweg in der Dunkelheit der Jahreszeit zur Bushaltestelle und die fast halbe Stunde Fahrt in die oft ungeliebte Schule geraten mir zum langen Leidensweg meines in Traumwelten versponnenen Wesens, das sich fürchtet vor den Folgen eigenen Versagens. Ich bleibe kurz stehen und lausche, wie ich es jeden Morgen um diese Zeit tue.

Alles scheint noch zu schlafen, die Straßen sind naßkalt und leer. Hastig laufe ich in Richtung Haltestelle, nicht wissend, ob ich gerade den 7-Uhr-30-Bus verpaßt habe und wieder mal zu spät bin. Ich warte.

Ein Junge läuft den gegenüberliegenden Bürgersteig entlang, einen Tornister auf dem Rücken, den Kopf nach vorn gebeugt, seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Ich werde nicht rechtzeitig zur ersten Stunde kommen, denke ich.

Da endlich – der Bus! Der Junge rennt über das schwarzglänzende Pflaster zur anderen Straßenseite und winkt mit seiner Schirmmütze. Sein üppiges Haar fällt in dunklen Locken herab. Ich halte mich am Geländer fest, als ich einsteige und die Tür mit einem lauten Stöhnen hinter mir zuklappt.

Im selben Moment klopft es an die Scheibe. „Haalt!“, ruft es von draußen.

Die Tür öffnet sich erneut, und der durchnäßte Junge klettert herein.

„Danke heißt das!“, poltert der Busfahrer und fährt mit einem Ruck an.

„Dein Fahrgeld.“

Der fremde Junge fällt gegen meine Schulter.

„Das Fahrgeld, bist du taub?!“

Das Fahrgeld beträgt zehn Pfennig. Beim Lösen des Fahrscheins im Bus kann der Junge nur mit einem Fünfer bezahlen. Der Bus biegt um die Ecke.

Wieder wird der Junge an mich gedrückt, während er in seinen Manteltaschen kramt. Der zweite Fünfer hat sich offenbar unauffindbar versteckt. Gleich darauf hält der Fahrer mit einer Vollbremsung an.

„Mann!“, schimpft der Junge, als er zur Tür geschleudert wird, die sich abermals mit einem lauten Seufzer öffnet und den Weg zum Bürgersteig freigibt. Der auf einem erhöhten Sitz über seinem Lenkrad thronende Mann meint wohl, ihm eine Lektion erteilen zu müssen und setzt ihn kurzerhand auf halbem Wege ab.

„Los, raus.“

„Warum denn?“

„Halbes Fahrgeld, halbe Busfahrt“, sagt der Fahrer lakonisch. Der Junge stolpert hinaus. Ich sehe seine Mütze auf dem Boden liegen. „Dreckspack!“

Der Fahrer schließt die Tür und fährt mit einem Ruck an.

„Moment“, rufe ich ihm zu, „halten Sie bitte!“

Der Wagen fährt weiter.

„Ich muß aussteigen!“, dränge ich.

„Beim nächsten Halt kannst du aussteigen, junges Fräulein“, dröhnt es zurück. Busfahrer können grausam sein. Am Schillerplatz öffnet sich die Tür endlich wieder. Ich springe aus dem Bus und laufe die Straße zurück in der Hoffnung, der Junge würde mir vielleicht schon entgegenkommen.

Ich laufe und laufe. Endlich, an der steinernen Ecke am Haus des Handwerks sehe ich ihn gehen, gegen Wind und Regen ankämpfend.

„Heh!“, pruste ich atemlos.

„Was schnauftst du denn so?“ Er mustert mich ungläubig.

„Ich dachte, ich ... ich würde dich nicht mehr ... nicht mehr finden!“

„Hast mich ja gefunden“, sagt er, als wäre ich an allem schuld.

„Du hast deine Mütze verloren.“

„Hab ich?“

Ich gebe ihm seine Mütze und spüre meine Verlegenheit.

„Danke“, brummt er gezwungen höflich.

„Kann ich dir helfen?“, frage ich, nur um irgendetwas zu sagen.

„Helfen – wobei?“

„Weiß nicht. Ich dachte...“, und bereue es im selben Moment auch schon.

„Laß mich einfach in Ruhe.“

Er geht weiter. Ich folge ihm wie ein nasser Hund seinem Herrchen.

„Hab dich noch nie gesehen. Du bist wohl neu hier?“

„Und du bist ziemlich anhänglich, weißt du das?“

Er bleibt stehen, mustert mich mit traurigen, dunkelbraunen Augen, dann: „Wie heißt du?“

„Thea“, antwortete ich.

Er geht weiter. Ich folge ihm. „Hast du auch einen Namen?“

„Jeremias.“ Wieder bleibt er stehen. „Schon mal geraucht?“

„Wieso?“

Wieder schafft er es, mich zu verunsichern. Er kramt in seinen Taschen.

„Willst du eine?“

Ich glaube, ich werde rot im Gesicht.

„Was ist?“

„Mußt – mußt du nicht in die Schule?“, stammele ich.

„In die Schule?“, fragt er ungläubig zurück.

Herrje, ich komme mir wie ein Idiot vor! „Willst du jetzt, oder willst du nicht?“

Er hält mir eine zerknitterte Schachtel hin. Was mache ich nur?

„Gib schon her.“ Mutig nestele ich eine Zigarette heraus und schiebe sie zwischen die Lippen. Er gibt mir wortlos eine Schachtel mit Zündhölzern.

Ich versuche, beim Anreißen des Streichholzes meine Hand als Windschutz zu nehmen und dabei auch noch möglichst lässig auszusehen.

Es klappt nicht. Er grinst mich an.

„Warte, ich mach das“, zieht ein wenig mitleidig den Nikotinstängel aus meinem Mund heraus, steckt ihn in seinen und entzündet ihn.

„Da.“ Er hält mir das angerauchte Stäbchen hin und sieht mich an. Und ich? Ich scheue mich, seinen unverwandt auf mich gerichteten Blick zu erwidern. Verlegenheit? Zuviel! Es geht einfach nicht. Vater meint sowieso, ich hätte einen schlechten Blickkontakt, das sei unhöflich.

Als ich die Zigarette aus seiner Hand nehme, berühre ich seine bleiche, fast weiße Haut. Ich sehe zu Boden und paffe verstohlen.

Nein, ich muß nicht husten, wie Mädchen das im Film tun, wenn sie verbotenerweise „mal ziehen“ dürfen. Aber mir wird schlecht, mir wird so urplötzlich schwarz vor Augen, daß mir schwindelt und ...

Ich finde mich in liegender Stellung auf dem Steinboden des Bürgersteigs wieder, als ich zu mir komme, versuche vergebens, mich aufzurichten.

„Was ist denn?“, murmele ich, sitzend, immer noch etwas benommen.

„Du warst mal kurz weg“, grinst der Junge.

„Mist, ich krieg einen Mordsärger, wenn das rauskommt!“

„Warum soll das rauskommen? Oder bist du ne Petze?“

„Quatsch!“, protestiere ich. „Ich werd´ bestimmt nichts meinen Eltern sagen – und deinen auch nicht.“

Er kramt in seinen Taschen.

„Hab keine Eltern.“

„Oh – ich wußte nicht, daß du ne Waise bist. Tschuldigung.“

„Bin keine Waise.“

„Und wo sind deine Eltern dann?“

„Fort.“

„Fort?“

„Sie wurden abgeholt.“

„Abgeholt? Wohin denn?“

„Sie haben sie weggebracht.“

„Wer hat sie weggebracht?“

„Keine Ahnung. Die Männer.“

„Welche Männer? Warum denn?“

„Politische Umerziehung oder so. Schau mal, die Krähen auf dem Dach, sie beobachten uns!“

Er sagt „schau“ und nicht etwa „guck“ oder „sieh mal“. Seine Stimme hat einen tiefen Klang – rauh und samtig zugleich. Ich blicke hinauf zur großen Uhr unterm Dach des Handwerkshauses.

Fünf vor sieben. Ich komme zu spät! Renne los, lasse ihn einfach stehen.

Um pünktlich zum Klingelzeichen in der Klasse zu sein, muß ich die Abkürzung von der Bushaltestelle an der Kirche über die Fahrbahn und über den endlos langen, schwarzbekiesten Schulhof nehmen.

Im Laufschritt erreiche ich atemlos das Lyzeum in der Schulstraße. Zu spät! Ich bin zu spät! Mist! Ausgerechnet bei Englisch, und ausgerechnet heute ist Gemeinschaftsunterricht für die elften Klassen beider Schulen! Ich laufe die Treppe hoch zum Biologiesaal. Es riecht nach Bohnerwachs und feuchten Mänteln. Ich renne den Gang entlang bis zur letzten Klassentür – und horche. Alles ist verdächtig ruhig, der Unterricht hat schon begonnen.

Zaghaft klopfe ich an. Sekunden vergehen.

Ich klopfe erneut, diesmal lauter. Auf einmal berührt etwas meinen Arm.

Wie aus dem Nichts heraus steht Jeremias, der fremde Junge, da vor mir.

„Wollte nur wissen, in welche Klasse du gehst.“

„Jetzt weißt du´s ja“, zische ich. „Und warum bist du nicht in der Schule?“

„Bin ich doch.“

„In deiner Schule.“

„Brauch´ nicht zur Schule.“

„Und wenn sie dich erwischen?“ Warum ist er mir nachgelaufen? Hat er denn keinen Unterricht, will ich ihn fragen, da packt der Junge meinen Arm.

„Komm, laß uns abhauen!“

„Was?“

„Laß uns abhauen!“

„Wieso denn das?“

„Wieso denn nicht?“

„Schwänzen ist verboten, und ich bin schon viel zu spät dran!“

„Eben. Los, komm!“

„Ich kann nicht!“

„Doch, kannst du!“ Er zerrt an mir.

„Laß los, ich muß jetzt reingehen!“

„Dann geh doch rein!“

Er pocht laut gegen die Tür. „Jemand da?!“

„Mensch, bist du verrückt“, sage ich, „was soll denn der Quatsch!?“

Plötzlich fliegt die Klassentür auf. Oberstudienrat Dr. Hans-Heinrich Korff, der Korff, einziger Englischlehrer unserer Schule, steht in voller Länge vor uns. „Wenn man anklopft, kommt man auch herein!“ Er zieht mich an den Ohren in den Klassenraum hinein. „Thea Maria Langmaack! Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Volksgenossen!“

Schadenfrohes Gelächter der Klasse.

„Hast dich wieder mal herumgetrieben, was?“

„Ich hab´ meinen Bus verpaßt“, verteidige ich mich.

„So, den Bus verpaßt! Das ist natürlich ganz etwas anderes!“

Wieder Gelächter.

„Du siehst, ich habe durchaus Verständnis für junge, verwirrte Damen, nur entschuldigt das noch lange nicht die Unterbrechung meines Unterrichts.

Und damit wir uns recht verstehen, mein Fräulein, schreibst du mir jetzt dreihundertmal hintereinander auf: Ich darf den Unterricht nicht stören“,

setzt Korff süffisant hinzu.

„Aber ich habe doch nichts gemacht“, versuche ich mich zu verteidigen.

„Ach so, nichts gemacht!“, raunzt er mich an. „Wie interessant. Erst kommst du zu spät, und dann polterst du auch noch so laut an die Klassentür, daß das ganze Stockwerk davon widerhallt. Und du sagst mir, du hättest nichts gemacht?!“

„Es ist meine Schuld!“, greift der Junge ein. „Ich hab´ meine Mütze im Bus verloren, und sie hat sie gefunden. Sie kann nichts dafür!“

Korff dreht seinen Kopf und pflanzt sich vor dem Jungen auf.

„Sieh her, der kleine Bastard von nebenan, schwänzt wohl grad mal die Schule, was! Du stellst dich jetzt auf meinen Stuhl, damit wir alle sehen können, wie so ein kleines Schwein aussieht, das andere von meinem Unterricht abhält!“

Jeremias blickt schweigend zu Boden, knirscht leise mit den Zähnen.

„Na wird´s bald!“

Dr. Korffs Stimme bekommt einen schneidenden Ton. Jeremias steigt widerwillig auf den Stuhl hinter dem Katheder und verharrt dort in gebeugter Stellung mit gesenktem Kopf. Bloßgestellt. Korff baut sich vor ihm auf, mustert ihn verächtlich.

„Sag: Ich bin ein Schwein.“

„Das sage ich nicht“, murmelt Jeremias fast unhörbar.

„O doch, das sagst du, mein Junge“, erwidert der Lehrer. „Ich möchte, daß du das sagst. Du bist doch ein braver Junge, oder? Ein braver Junge macht, was sein Lehrer ihm sagt. Und du bist doch ein braver Junge, oder? Oder!?“

Jeremias schweigt.

„Nur schlechte Jungen kommen in den Karzer. Also, sei jetzt ein guter Junge, und tu, was man dir sagt.“

„Ich kann das nicht.“

Korff tritt zwei Schritt zurück. „Ach nein!?“

Dann geht er genüßlich nach vorn, nimmt ein Stück Kreide und malt in riesengroßen Blockbuchstaben I AM A PIG an die Tafel.

Verstohlenes Grinsen der übrigen Schüler.

„Lies es vor“, befiehlt er.

„Nein.“

„Los, sag es! Jetzt!“

„Nein!“

Der Studienrat fixiert Jeremias lange über den Rand seiner Brille hinweg.

„Du Judenbengel wagst es, mir zu widersprechen?!“, herrscht er ihn an.

„Ich bin kein Schwein! Ich bin Deutscher!“, schreit ihm Jeremias ins Gesicht. „Genau wie Sie!“

„Ach sooo“, entgegnet Korff ruhig, „na, dann wollen wir mal deutsch miteinander reden“, dreht sich zu Jeremias, holt ihn vom Stuhl herunter, greift unter sein Pult und vollzieht jetzt sein Strafgericht.

Er drischt mit einem Rohrstock auf den Jungen ein, aber nicht wie gewöhnlich auf die Finger des zu Bestrafenden, sondern auf dessen Rücken, wie bei einem unfolgsamen Kampfhund.

Jeremias erduldet die Züchtigung, ohne auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben.

Ich will weg – nur weg von all dem.

Aber Korff legt den Stock ab und macht mit seinen knochigen Händen weiter, schlägt Jeremias ins Gesicht, links – rechts, links – rechts, nochmal und nochmal und immer wieder und wieder.

Dann halte ich es nicht mehr aus; ich springe auf und stürze mich auf den wild dreinschlagenden Lehrer. In blinder Wut zerre ich an seinen Haaren und schreie ihn an: „Aufhören! Aufhören!“

Unter der Attacke meines verzweifelten Eingriffs in die Züchtigung läßt Korff von seinem Opfer ab und wendet sich nunmehr der Angreiferin zu.

„Was? Was fällt dir ein!“ Der Oberstudienrat reckt sich drohend empor.

„Du Göre wirst mich noch kennenlernen! Ich werde dir zeigen, was es heißt, aufzuhören!“

Seine Stimme überschlägt sich, der stiernackige Kopf auf dem athletischen Rumpf bläht sich auf wie ein Ballon, und das fettgetränkte Haar fällt ihm über sein puterrot angeschwollenes Gesicht.

„Raus hier, raus, alle beide!“

Die Klasse sitzt da wie versteinert. So totenstill war es in diesem Raum noch nie. Oberstudienrat Hans-Heinrich Korff saugt Luft durch seine geblähten Nüstern und läßt sich auf seinen Stuhl fallen, erschöpft, triumphierend, in selbstgefälligem Pathos. Die Vorstellung ist vorbei.

Jeremias dreht sich um, verläßt wortlos das Klassenzimmer.

Ich folge ihm und schließe leise die Tür hinter mir.

Sonnabend, 26. Februar

Ich habe einen einwöchigen Schulverweis bekommen. Mit Hausarrest.

„Un dat is dat“, pflegt meine Mutter Gertrud zu sagen.

Ich mag solche Sprüche nicht! Vielleicht, weil sie von den „Erwachsenen“

kommen, die einem von Anfang an jegliche gedankliche Selbständigkeit und eine damit mögliche Widerrede absprechen wollen, aus Angst vor unerwünschter Kritik an ihrem festgefahrenen Weltbild, und die damit den jugendlichen Blick in eine eigenverantwortliche Zukunft von vornherein mit Brettern vernageln. Obendrein sehe ich aus wie Käse, Bier und Spucke und fühle mich auch so vor lauter Demütigung und Ungerechtigkeit!

Ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen und aufs Bett gelegt – mit Schuhen. Unten im Salon spielt das Grammophon ein altes Chanson.

Sonntag, 27. Februar

Sitze untätig fest auf meinem Zimmer, lese Theodor Storms Gedichte und blicke zwischendurch gelangweilt aus dem Fenster.

Die Luft scheint noch recht rauh und kühl, aber die Sonne lächelt schon mild auf alles herab, verwischt die harten Spuren des Winters, als würden sich die Jahreszeiten die Hand reichen und einen ewigen Pakt miteinander schließen wollen.

Ein Strauß von Schneeglöckchen steht vor mir auf dem Tisch; den hat mir Rita vorbeigebracht, als kleinen Trost und ersten Frühlingsboten.

Dienstag, 1. März

Die Eltern sind so schweigsam heute. Anscheinend ist man immer noch ungehalten über den Vorfall im Lyzeum. Beim Mittagessen sprach keiner von ihnen ein Wort mit mir.

Die dunkelgrünen Brokat-Vorhänge, die im Wohnzimmer schwer zum Boden herab hängen, tragen dazu bei, die drückende Stimmung noch zu verstärken. Sie lassen das Tageslicht nur spärlich durch die hohen Fenster herein, was den Wunsch in mir laut werden läßt, mich im Freien aufzuhalten, selbst wenn es draußen grau und neblig ist.

Wie mag es meiner neuen Bekanntschaft inzwischen ergangen sein?

Wie hat er das Unrecht, das ihm so offensichtlich widerfahren ist, wohl verkraftet?

Macht es ihn traurig, macht es ihn zornig?

Oder pfeift er womöglich auf all das?

Und warum mache ich mir so viele Gedanken über ihn?

Ist er nicht eigentlich nur einer von all den kleinen aufmüpfigen Jung-Stieren an seiner Schule, die sich ihre Hörner abstoßen wollen und sich dabei nur allzu gern mit dem Lehrkörper anlegen?

Freitag, 4. März

Ich liebe meine Eltern, sehe ich sie in solch einer Situation wie dieser: humorvoll plaudernd in der Familie, gesellige Gesellschafter unter Freunden oder Bäumchen pflanzend in dem Garten vor unserem Haus. Aber mit jeder Backpfeife, jedem Hieb auf meinen Hosenboden, mit jedem Hausarrest entferne ich mich mehr und mehr in meine Phantasie, unerreichbar für Eltern und Lehrer.

Dann träume ich mich in die Rolle germanischer und griechischer Helden, deren Sagen und Mythologie ich in jeder freien Minute verschlinge, seit ich offiziell Zugriff auf Vaters Bücherschrank habe. Anstatt für Mathe zu pauken, lese ich heimlich Dramen und Poesie: Shakespeares Hamlet und Schillers Räuber, Lessings Emilia Galotti und Goethes Faust, aber auch Körners nationale Lobgesänge, schwärme für Scheffels Der treue Ekkehard und für die Werke der patriotischen Dichter Schleswig-Holsteins.

Und des nachts, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, lassen mich Ben Hur und Ein Kampf um Rom kaum schlafen.

Mein Hunger, mein Durst nach Befriedigung durch Geschichten ist nun einmal größer als meine Wißbegier auf Physik, Chemie oder Geometrie.

Soll ich, muß ich mich dafür schämen?

Sonnabend, 5. März

Mein Hausarrest ist inzwischen aufgehoben, ich darf endlich wieder raus! Vater ist schon früh ins Kontor gefahren, um die Post zu erledigen.

Ich bin in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, habe mir einen Kakao gemacht und den Abwasch vom Vorabend erledigt.

Mutter schläft noch, was sonst gar nicht ihre Art ist. Sie fühlte sich schon gestern irgendwie schwach und frühjahrsmüde und hatte sich gleich nach dem Abendbrot hingelegt.

Hellwach und voller Tatendrang laufe ich hinaus, über die Straße, weiter zu Hagens Wiese, einem langgezogenen Feld, das von Entwässerungsgräben durchzogen ist und in seiner Mitte eine alte, krumme Eiche beherbergt.

Der Winter verliert sich im nahenden Frühling. Das junge Grün dampft noch in seinem Frühtau. Einige Amseln und Krähen schütteln ihren Schlaf aus dem Gefieder und hüpfen und fliegen schimpfend auf, als ich mich ihnen nähere.

Ich liebe, ich brauche diese frühe Stunde, um mich selbst zu spüren und Zwiesprache zu halten mit dem, was mich so mannigfach umgibt und doch nicht beachtet, wie es mir scheint, da alles Leben um mich herum so eifrig mit sich selbst beschäftigt ist und so gar keinen Sinn für ein Lebewesen hat, das nichts weiter will, als dieses geschäftige Leben verschwiegen und still zu betrachten – und dabei ein Quäntchen Glück zu verspüren.

Sonntag, 6. März

Hannah Weinberg, Rita Kretschmer und ich treffen uns mal wieder an der „Unbekannten“, unserer Geheimstelle gleich hinter Lütts Eck, Vaters Stammkneipe.

Die frechen Zwillingskinder des Kneipenbesitzers wohnen unmittelbar darüber im ersten Stock. Sie hängen am Fenster und drücken sich an der Scheibe die Nasen platt. Das machen sie offenbar den ganzen Tag.

So auch jetzt, als ich, unten stehend, zwei Finger zwischen die Lippen gepreßt, einen gellenden Pfiff nach Jungens-Art abfeuere und anschließend zu ihnen hochwinke.

Offenbar habe ich sie recht erschreckt, denn sie haben plötzlich ganz schnell ihre Köpfe eingezogen und waren auf einmal von der Bildfläche verschwunden.

Sonntag, 13. März

Um 19:00 Uhr war Konzert in der Schulaula.

Welch wundervoller Liederabend! Die Winterreise von Franz Schubert.

Welch erschütternder Weg eines Menschen in die Einsamkeit, in die Verzweiflung und die Erlösung.

Ich bin in aufgewühlter, doch gänzlich erfüllter Stimmung.

Heimweg mit den Eltern im Mondenschein. Ein klarer und ungewöhnlich reicher Sternenhimmel geleitet uns nach Haus.

Kühle Begegnung am Deich mit Oberstudienrat Korff und seiner Frau, welche uns zumindest freundlich gegrüßt hat. Von ihm aber kein Wort.

Was für ein roher und unsympathischer Mensch er doch ist.

Ob er sich immer so verhalten hat wie jetzt?

Und wenn nicht, warum ist er dann so geworden?

Er, der Lehrer meiner Lieblingsfächer Englisch und Deutsch?

Ich möchte so gern von ihm lernen – und bin doch so wütend auf ihn!

Mittwoch, 23. März

Im Garten stehen vier Bäume, am Rand eine schon alte knorrige Linde, die im Sommer an heißen Tagen ausreichend kühlen Schatten spendet; ihr gegenüber ein wilder Kirschbaum, daneben ein üppiger Goldregen und in der Mitte ein dürres, von Mutter gepflanztes Bäumchen, das seit Jahren nicht blühen will.

Alle Versuche der Beschneidung und des „Pfropfens“ zur Veredelung seiner Äste durch unseren Hausgärtner, Herrn Rudemann, sind gescheitert.

Doch gerade deswegen liebe ich das Bäumchen. Es erscheint mir irgendwie trotzig in seinem hilflosen Anderssein.

Und wenn es bald wieder an der Zeit ist, den Rasen zu mähen, was neben Abwaschen und Fußbodenscheuern zu meinen Aufgaben gehört, wenn Herr Rudemann krank oder verhindert ist und was für Mutter eine zu große Anstrengung bedeutet, denn unser Garten ist nicht gerade klein, und die Messer der schwergängigen Spindel sind mittlerweile etwas stumpf geworden, dann sitze ich hernach oft im frisch gemähten Gras und träume mich in das schnelle Wechselspiel des Firmaments hinein, aus Licht und Schatten, bläulich, von dunkel zu hell changierend, wann immer die Wolken die Sonne zulassen und einen klaren Himmel freigeben.

Freitag, 25. März

Wenn es nicht gerade regnet oder stürmt, gehe ich an warmen Tagen nach der Schule oft über den Deich in Richtung Kurpark nach Haus.

Wie liebe ich die See bei Sonne, wenn ihre immensen, alles blendenden Strahlen sich auf der Wasseroberfläche spiegeln wie quecksilbrig blitzendes Lametta, um sich auf ihr zu verströmen als ein riesenhafter, sich ausrollender Teppich auf den Kämmen des Wellengebirges – mehr noch – wie ein einziger feuriger Meteor, der, weißer als weiß, ins Weltenmeer fallend, die Leuchtkraft der Sterne zu überstrahlen sucht und seine gleißende Lava über den dunklen Wasserflor ergießt, um dann gleich einem ungeheuren Tauchsieder die sich wälzenden Massen des salzigen Seewassers zum Kochen zu bringen, bevor er schließlich von ihnen unwiederbringlich gelöscht wird.

Und wenn abends die Kutter mit ihrem Nordseefang heimkehren in die Elbmündung und der Himmel über ihnen sich färbt und alles darunter – Schiff und Watt und Wasser – mit demselben Rot tränkt, dann, nur dann ist der Augenblick gekommen, dieser eine Augenblick im Sandmeer der Zeit, der einen weit, weit fort trägt von der Küste und ihrem festgewachsenen Land, der die Gedanken verschmelzen läßt mit dem Unerreichbaren, dem Grenzenlosen – und den mein Vater ehrfurchtsvoll Elbglühen nennt.

Doch noch mehr liebe ich das Meer in warmen Nächten, wenn es weit draußen ruht und seinen geheimnisvollen Grund freigegeben hat. Dann laufe ich über das ausgetrocknete Watt hinaus bis dicht an die Fahrrinne, umgeben vom einsamen Dunkel des Universums und bin der glücklichste Mensch auf unserem Planeten. Kein Klang, kein Geräusch, kein Lufthauch.

Nur Stille. Stille.

Sonnabend, 26. März

Es ist nicht unbedingt ein Ding der Alltäglichkeit, daß aus dem Watt Musik hervordringt. Doch so scheint es, als ich wieder einmal nach Schulschluß den Deich entlangschlendere, trödelnd, einen Fuß vor den anderen setzend, tief in meine Gedankenwelt eingesponnen.

Von der West-Mole dringt das Spiel einer Violine zu mir herüber. Ist es der Wind, der diese fremden Töne an mein Ohr trägt? Oder etwa ein Geist – der Klabautermann oder sonst irgendein Seegespenst?

Ich renne den Deich hinunter, klettere die Mole hinab, den entfernten Klängen des mysteriösen Spielers folgend und finde ihn endlich auf der Rückseite der Bake, allein, auf den Steinen sitzend, auf einer Geige spielend. Er beachtet mich nicht. Soll ich ihn stören? Ich bleibe stehen.

„Ach, du bist das!“, rufe ich ihm zu.

Der Junge spielt ungerührt weiter.

„Tut mir leid, daß es so gekommen ist. Hast du auch einen Schulverweis bekommen?“

Keine Antwort.

„Ist doch nicht so schlimm“, sage ich, „das passiert mal. Na und? Es war mutig von dir, Verantwortung für mein Zuspätkommen zu übernehmen.

Hauptsache, du kriegst dadurch kein schlechtes Zeugnis am Jahresende.“

Unvermittelt hört er auf zu spielen, setzt Bogen und Geige ab und läßt seinen Blick über das Wasser streifen.

„Die wollen mich nicht mehr.“

„Wieso denn das nicht?“

Wieder dieser traurige Blick seiner dunkel glänzenden Augen.

„Weil es so ist.“

Ich suche nach etwas wie einer Erklärung, ohne ihn ausfragen zu wollen.

„Und was machst du jetzt den ganzen Tag?“

„Siehst du doch.“

„Ich verstehe.“

„Gar nichts verstehst du! Es ist Schabbat!“

„Was ist – Schabbat?“, frage ich.

Ich fühle mich ertappt, als hätte ich etwas ganz Dummes gesagt, aber Jeremias lacht nur. Lacht er mich aus?

„Am Schabbat sind neununddreißig Arten von Arbeit verboten“, erklärt er.

„Säen, Pflügen, Mähen, Garbenbinden, Dreschen, Getreide schwingen, Reinigen der Ernte, Mahlen, Sieben, Kneten, Backen, Scheren, Waschen, Klopfen von Wolle, Färben von Wolle, Spinnen, Weben, zwei Schleifen machen, zwei Fäden flechten, zwei Fäden voneinander trennen, einen Knoten binden, einen Knoten lösen, zwei Stiche nähen, Auftrennen, um zwei Stiche zu nähen, Jagen einer Gazelle oder eines ähnlichen Tieres, Schlachten, die Haut eines Tieres abziehen, die Haut eines Tieres salzen, das Fell eines Tieres trocknen, ein Fell schaben, ein Fell aufschneiden, zwei Buchstaben schreiben, etwas ausradieren, um zwei Buchstaben zu schreiben, Bauen, Niederreißen, ein Feuer löschen, ein Feuer entfachen, mit einem Hammer schlagen, etwas von einem Ort zum anderen tragen.“

Ich bin beeindruckt. „Hast du das auswendig gelernt?“

„So spricht das Gesetz.“

„Aber eine Geige darf man tragen?“

„So spricht das Gesetz.“

„Wessen Gesetz denn?“

Jeremias spielt weiter. Irgendetwas in mir will, daß ich hartnäckig bleibe.

„Die wollen dich nicht, weil du anders bist, oder?“

Er verzieht das Gesicht. „Sagt wer?“

„Mutter hat das gesagt.“

Ich bin froh, daß ich so etwas auf meine Familie schieben kann, denn ich verstehe wirklich nicht, worum es eigentlich geht. Gleichzeitig merke ich seine Ablehnung und versuche abzulenken.

„Und was soll man dann am Schabbat tun?“

„Sich auf sein Selbst, auf seinen Geist konzentrieren, sich nicht hetzen oder sich ermüden, die Natur und ihre Geheimnisse ergründen, besonnen und guter Dinge sein.“

Jetzt muß ich aber doch lachen: „Trägst du deshalb schwarze Sachen?“

„Schwarz ist schön“, antwortet er ernst.

„Gar nicht wahr! Schwarz macht traurig!“

„Warum denkst du, daß ich traurig bin?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht, weil du solch eine Musik spielst.“

„Was meinst du mit solch eine Musik?“

„Naja ... sie klingt irgendwie traurig.“

„Findest du?“

„Ja, traurig – aber auch schön – schön traurig eben.“

„Es geschieht viel Leid in unseren Tagen.“

„Und woher kannst du so spielen?“

„Weiß nicht.“

„Aber irgendjemand muß es dir doch beigebracht haben.“

„ER spielt“, sagt er, betrachtet seine Geige, „ich bin nur sein Instrument.“

Irgendwie klingt das überheblich in meinen Ohren, aber offenbar meint er, was er da sagt. Ich traue mich nicht, weiter darauf einzugehen, suche nach einer Ablenkung, etwas Normalem zwischen Mädchen und Jungen.

„Hast du ne Freundin?“, höre ich mich fragen und beiße mir dafür sofort auf die Lippen. Jeremias zieht ein Stück Kolophonium aus seiner Tasche und bestreicht damit das Roßhaar seines Bogens.

„Brauch keine Freundin.“

Warum nur kenne ich seine Antwort bereits? Schlagartig fühle ich mich erwachsen, denke an meine Eltern, stelle mir meine eigene Zukunft vor.

„Willst du denn nicht mal heiraten und so?“

„Es ist mir nicht bestimmt, eine Frau zu nehmen und Söhne und Töchter zu haben an diesem Ort.“ Er redet wie ein alter Prediger. Ich bin verwirrt.

„Sagt wer?“

„ADONAI.“

„Ado – was?“

„Gott.“

„Das hat Gott dir gesagt?“

Für einen Moment lang bin ich eifersüchtig auf diesen Gott.

„Ein komischer Gott ist das.“

„ER ist der Töpfer – wir sind der Ton.“

Schweigen. Jeremias spielt weiter. Ich suche nach etwas anderem, etwas unverfänglicherem. „Willst du die Hälfte von meinem Mettbrötchen?“

„Nein.“

„Hast du keinen Hunger?“

„Es ist unrein.“

Blödmann! Warum ist er so gemein? Wieder Schweigen. So lehnen wir beide an der Mauer, nebeneinander, nur jeder für sich, starren aufs Watt. Die Sonne sticht von oben steil in mein Gesicht, ich habe mächtig Durst.

„Komm, wir gehen zu Klaas!“

„Wer ist Klaas?“

Heureka! Ich weiß etwas, was er nicht weiß! „Klaas Klaasen, der Netzeflicker, den kennst du nicht!?“

„Muß ich das?“, entgegnet er.

„Mein bester Freund und Patenonkel. Na los, komm mit!“

Widerwillig folgt er mir.

Klaas Klaasens Netze- und Taumacherei liegt im alten Zollbereich hinterm Stadtweiher. Der beschilderte Eingang, eingerahmt von zwei breiten schutzverglasten Fenstern, sagt uns: Auch sonnabends geöffnet. Die Räume in skandinavischen Farbtönen, mit Schiffsplanken auf dem Boden.

Der alte Klaas grinst wie ein Honigkuchenpferd, als er uns eintreten sieht.

„Kiek eens, Santa Maria!“ (So nennt er mich immer.) „Du all wedder! Na, mien Deern, wo geiht di dat?“

„Goot. Un di?“

„Ook so.“

„Was machst du denn da?“

„Tuch flicken.“

Klaas, ein in die Jahre gekommener Seebär, der die sieben Meere befahren hat, als er noch jung und kräftig war, läßt sich nicht groß stören. Daß ich mit einem Jungen hier hereinspaziere statt mit Rita oder Hannah, scheint ihn auch nicht weiter zu interessieren. Wie immer ist er völlig in seine Arbeit versunken. Oft singt er sich ein plattdeutsches Lied dabei.

Er muß viel erlebt haben in früheren Jahren, denn die tiefen Falten über dem weißen Backenbart in seinem gegerbten Gesicht legen Zeugnis darüber ab.

Das Geschäft läuft „mau“, wie er sagt, doch läßt er sich nicht anmerken, daß es ihm schlecht damit geht. Lamentieren ist nicht seine Sache. Oft besuche ich ihn nach der Schule, leiste ihm ein wenig Gesellschaft und berichte, was wir Neues gelernt haben. Und ganz selten, wenn er will, erzählt er mir etwas von fremden Ländern und Menschen. Bei ihm fühle ich mich aufgehoben.

„Wir haben heute frei, Jeremias und ich.“

„Süh, ji hebbt free. Dascha´n Ding, un wat mokt ji so de hele Dag över?“

„Nix“, verkünde ich stolz.

„Nix? Dascha´n Ding“, lacht Klaas, „dat lot man nich dien Vadder hörn!“

„Brauch er ja nich wissen. Wenn du uns nicht verpfeifst.“

„Heff ik wat seggt hatt?

„Nö.“

„Aver das köst en Runn. So, un nu rut mit jo!“

„Jo.“

„Na, denn man to“, brummt Klaas noch und widmet sich singend wieder seiner Arbeit.

Wir ziehen von dannen. Ich bin ein wenig stolz ob meiner neuen Bekanntschaft. Von nun an soll die Bake unser beider Geheimversteck sein.

Ein heiliger Ort, der nur mir gehört. Mir und ihm.

Montag, 28. März

Ein Unglückstag!

Oberstudiendirektor Dr. Bodewald kam in die Klasse und ließ ohne Vorwarnung eine gepfefferte und gesalzene Mathearbeit schreiben, obgleich er versprochen hatte, sie uns erst am Dienstag zu geben.

Ich habe sie natürlich verbockt.

Aber die Hälfte der Klasse konnte sie auch nicht.

Als ich nach Hause komme, sagt Mutter, daß Vati im Krankenhaus läge.

Was krieg ich für einen Schreck!

Während eines Erkundungsrundgangs entlang der Steinküste von Neuwerk habe er sich ein Bein gebrochen, heißt es. Er sei mit einem Rettungsboot von Neuwerk herüber transportiert worden.

Mein Vater verletzt, wie ist das nun bloß möglich!

Ich muß schnell zu ihm!

Dienstag, 29. März

Seit meinem ersten Schuljahr schon fahre ich den größten Teil der Strecke im Bus nach Haus und kenne, wie im Schlaf, die einzelnen Stationen: Vom Grünen Weg geht es durch die Schillerstraße, im Bogen über den Schillerplatz und bei Kaisers Kaffeegeschäft in die Marienstraße.

Diese entspringt als schmale Gasse dem „Vergnügungsviertel“, so nennt Mutter die dunkle Gegend hinter den Werften mit den Seemannskneipen und Etablissements mit roter Laterne. Die Marienstraße ist recht gemütlich: Fischer- und Mietshäuser mit Seemannswohnungen, Bäcker- und Tante-Emma-Läden bis zur Einmündung in den Schillerplatz.

Ab hier führt sie als breite Verkehrsader zu den Marinekasernen mit der Kommandantur und endet gleich hinter der katholischen Garnisonkirche.

Am Rondell, zwischen Blumenladen, Apotheke und der kleinen Parkanlage mit dem Wehl, einem nach früheren Deichbrüchen zurückgebliebenen Teich, biegt der Bus in die, Strichweg genannte, doch keineswegs gerade verlaufende Hauptverkehrsstraße.

Von da nehme ich das letzte Stück zu Fuß, vorbei an der, aus rotem Backstein erbauten und stets von Zugluft umwehten, evangelischen Garnisonkirche, vorbei an der, hinter Haus und Hof von Bauer Hagen, kürzlich entstandenen Neubausiedlung, wo die fünfjährige, stotternde Uta bereits hinterm Zaun auf mich wartet, um mir tagtäglich dieselben zwei Sätze zuzurufen:

„W-wo w-w-warst d-du?“

„In der Schule.“

„Sch-schön d-d-doof!“

Heute aber gehe ich nicht nach Hause, sondern fahre zwei Stationen weiter ins Städtische Krankenhaus, um Vater zu besuchen.

Mein erster Krankenbesuch, den ich einem Familienmitglied abstatte.

Bisher habe ich nur Rita besucht, als man ihr die Mandeln rausgenommen hatte, und Hannah nach ihrer Blinddarmoperation. Tatsächlich bin ich bisher verschont geblieben von so etwas.

Warum nur bin ich jetzt aufgeregt, Vati zu sehen, den ich doch täglich in meinem Leben habe?

Ich gehe durch die von Aethanolgeruch geschwängerten Gänge – unser Hausarzt, Doktor Kroll riecht genauso bei seinen Krankenbesuchen – um Vaters Zimmer zu finden, und alles kommt mir neubaulich fremd vor, obwohl es doch ein altes Krankenhaus ist, das im letzten Jahr mit großem Aufwand renoviert wurde.

Keine Antwort, als ich anklopfe. Ich drücke die Klinke runter und schleiche mich durch die breite Tür in den Raum. Vater sieht bleich und erschöpft aus.

Immer erschrecke ich vor dem Bild eines im Bett liegenden Gesichts.

Als stünde der Tod vor mir, um mir seine Maske zu zeigen. Wir reden nicht viel. Und schließlich gehe ich mit betrübtem Herzen hinaus und verlasse das Gelände, das dasteht wie der Eingang zu einer jenseitigen Welt.

Ich möchte nicht noch einmal herkommen müssen.

Mittwoch, 30. März

Seit nun schon mehr als einer Woche liegt jeden Morgen ein weißer Briefumschlag auf unserer Fußmatte.

Auf wiederholtes Bitten und Drängen von Dr. Rudolf Lübbe, dem Fischereidirektor und Vaters langjährigem Vorgesetzten, sollen diese Briefe nun einem bestimmten Lehrer, dem alten Studienrat Ariel Schamberger, in meiner Schule ausgehändigt werden.

Vater hat mich gebeten, das für ihn zu erledigen und es ja nicht zu vergessen, wo ich doch immer so schusselig bin, wie er oft sagt.

Also darf ich heute Briefbote spielen.

Allerdings frage ich mich, was der Inhalt dieser Post sein mag.

In der Jungschar gilt das geheime Austauschen von privat deklarierter Post als „subversiv“, und ich möchte mich ungern vor den anderen anschwärzen lassen, wenn das rauskommt.

Ich muß in Erfahrung bringen, was es mit den Briefen auf sich hat.

Donnerstag, 31. März

Es ist ein häßlicher Tag! Alles ist häßlich – auch das Wetter.

Vater hat nach dem Eingipsen seines gebrochenen Beins und einem für ihn entsetzlich langweiligen Tag gegen den Willen der Ärzte das Krankenhaus verlassen.

Er war schon immer ein sturer Bock.

Am Telefon lenkt er jetzt von zuhause aus seine Firmengeschäfte, während Mutter für uns kocht und ich unser Familienoberhaupt in meiner neuen Funktion als „Krankenschwester“ versorge.

Unser Volksempfänger vermeldet, daß ab morgen die an Hamburg angegliederten Gemeinden und Städte mit der „freien Reichsstadt Hamburg“ zu einer Gemeinde mit dem Namen „Hansestadt Hamburg“

zusammengefaßt, und daß unser kleiner Küstenort ab sofort wieder Minensucherstadt werden soll.

Nachmittags Klavier, abends Latein-Vokabeln und für Mathe büffeln.

Versuche zu lernen, zu behalten, aber kann mich schlecht konzentrieren.

Jeremias ...