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Auf dem Planeten Mississippi wurde die terranische Herrschaft durch Truppen der Allianz beendet. Dadurch brechen alte Strukturen wieder auf und erneut greift eine faschistische Partei nach der Macht. Ein Junge muss versuchen, mit seinem Hund auf dieser für ihn noch immer fremden Welt zu überleben.
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Seitenzahl: 219
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In dieser Reihe bisher erschienen
3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal
3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt
3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls
3304 Walter Ernsting Der verzauberte Planet
3305 Walter Ernsting Begegnung im Weltraum
3306 Walter Ernsting Tempel der Götter
3307 Axel Kruse Tsinahpah
3308 Axel Kruse Mutter
3309 Axel Kruse Ein Junge, sein Hund und der Fluß
3310Ronald M. Hahn Die Herren der Zeit
3311 Peter Dubina Die letzte Fahrt der Krakatau
3312 Axel Kruse Knochen
3313 Ronald M. Hahn Projekt Replikant
TERRA - SCIENCE FICTION
BUCH 9
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Copyright © 2023 Blitz-Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney
Vignette: Ralph Kretschmann
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
3309 vom 11.08.2024
ISBN: 978-3-7579-8500-4
Geleitwort
Der Zaun
Huck
Krank
Becky
Der Friedhof
Der Prozess
Die Anhörung
Der Ausflug
Artefakte
Quantenverschränkung
Blau
In den Höhlen
Zu spät
Der Richter
Hin und weg
Ein langer Weg
Nachwort
Artefakt
Variation eines Themas
Eine Weihnachtsgeschichte
Über den Autor
Für Smilla
In memoriam Samuel Longhorne Clemens
Sprechen wir zuerst über den Titel. Ein Junge, sein Hund und der Fluss – was soll dies sein? Science-Fiction, wurde mir gesagt. Aha, dachte ich, sowohl angesichts des Titels selbst als auch nach der Lektüre der ersten Seiten. Da war nichts besonders Utopisches oder Dystopisches, keine sich anbahnenden Raumschlachten wie in der zünftigen Military SF, keine beklemmenden dunklen Gassen in Megacitys mit kilometerhohen Wolkenkratzern, in denen sich Cyberpunk-Gestalten vor allmächtigen Künstlichen Intelligenzen oder von solchen kontrollierten Konzernen verstecken. Es gibt auch keine Aliens, zumindest nicht zu Beginn, und nicht im erwarteten Sinne.
Es ist die Geschichte eines Jungen, seines Hundes und ja, der Fluss spielt eine tragende Rolle.
Keine Sorge, liebe Leserin, lieber Leser, es ist tatsächlich Science-Fiction, wie nach wenigen Seiten klar wird, aber es ist gleichzeitig viel mehr als das. Ein mutiges Werk, nicht nur wegen der Ich-Perspektive, von der mir aus Marketinggründen immer wieder abgeraten wurde – was ich aber oft ebenso konsequent ignoriere wie Axel Kruse hier. Es ist vor allem der Erzählstil, eine Schreibweise, die wie der namensgebende Fluss einfach vor sich hinfließt, Leserinnen und Leser nicht brutal mitreißt, aber auf den Wellen der Geschichte treiben lässt.
Und was für eine Geschichte es ist!
Sie atmet den Geist von Mark Twain, nein, sie beschwört ihn teilweise ebenso inbrünstig wie die Protagonisten am Friedhof versuchen, mit einem Derwisch ...
... nein, halt, das ist ein Geleitwort, keine Inhaltsangabe, und Spoiler will ich ebenso vermeiden wie allzu große Lobpreisungen. Aber gerade dies fällt mir schwer. Diese Mischung aus behutsamer Transformation und unterhaltungsliterarischer Verbeugung vor Mark Twain führt mich zurück in meine Kindheit, als ich die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zum ersten Mal lesen durfte, weckt die gleiche jugendliche Begeisterung mehr als drei Jahrzehnte später und ist doch etwas Neues, Eigenständiges. Vor allem aber von der ersten Zeile bis zum Ende unterhaltsam, mitreißend und mit Herz geschrieben.
Und an eben dieses will ich das Buch allen Leserinnen und Lesern legen, mit Nachdruck. Ein Werk, das so ganz anders ist als mein eigenes, vollkommen ohne militärische Verschwörungen, galaktische Imperien, epische Weltraumgefechte und sprechende Schweine auskommt – und vielleicht, nein, ganz sicher sogar, gerade deswegen bemerkenswert gute Science-Fiction ist.
Ihr und Euer
Ivan Ertlov
Millbridge, Western Australia, am 3. September 2023
Der heutige Tag versprach schön zu werden. Das Thermometer würde gegen Mittag sicherlich die Dreißig-Grad-Marke geknackt haben. Es befand sich keine einzige Wolke am Himmel und der Fluss lud zum Baden ein. Es hätte ein rundum gelungener Samstag werden können.
Allerdings nicht für mich.
Ich stand bereits um acht Uhr in der Früh draußen vor dem Haus und betrachtete den Zaun, der den Vorgarten von der Straße trennte. Sicher, er war in die Jahre gekommen. Ursprünglich war er einmal weiß gestrichen gewesen, aber die Farbe war ausgewaschen, das Holz darunter verblichen. Die heftigen Regenfälle in Herbst und Winter der letzten zwei Jahre hatten dem Holz arg zugesetzt.
Dass es erst gut zwei Jahre her war, dass mein Onkel ihn das letzte Mal gestrichen hatte, versetzte mich in eine melancholische Stimmung. Ich musste an ihn und vor allem an meinen Vater denken. An ihre letzten Sekunden, als sie ... ich riss mich aus den Gedanken. Das brachte nichts, nichts als bestenfalls schlechte Stimmung und schlimmstenfalls Ärger, heftigen Ärger. So wie den, der gestern über mich hereingebrochen war.
Und genau deswegen stand ich nun hier, den Farbeimer in der einen und den Pinsel in der anderen Hand.
Das Grundstück war gut dreißig Meter lang. Der Zaun etwa einen Meter hoch. Die Latten waren an Querholmen angebracht. Alle fünf Zentimeter eine. Die Latten selbst hatten ebenfalls eine Breite von fünf Zentimetern.
Kurz war ich versucht, auszurechnen, wie viel Quadratmeter Fläche ich zu streichen hatte. Dann wurde mir klar, dass der Zaun auch noch an beiden Seiten, an denen das Grundstück endete, ein Stück weitergeführt worden war, bis er in Hecken überging, die dort unser Grundstück von denen der Nachbarn trennten. Tante Polly gab sich bestimmt nicht damit zufrieden, dass ich nur den Zaunteil zur Straße hin strich.
Seufzend schritt ich durch das Gartentor und besah mir das Ganze von der Straße aus. Unzumutbar! Und das an meinem freien Tag. Und das nur, weil ich gestern ... Ich hatte Mühe, mich aus diesen Gedanken wieder herauszureißen.
Möglicherweise gab mir das Streichen ja die Möglichkeit, abzuschalten, mit mir ins Reine zu kommen. Vielleicht hatte meine Tante das ja im Sinn gehabt. – Obwohl, das hätte ja vorausgesetzt, dass sie dachte! Ich verwarf den Gedanken sofort. Meine Tante war bösartig, zumindest mir gegenüber. Sie hatte mich damals nur notgedrungen aufgenommen, aber was war ihr auch anderes übrig geblieben?
Egal, ich musste die Arbeit erledigen und versuchte, ihr das Beste abzugewinnen.
Ich begann links neben dem Tor und strich den Pfosten sowie das nächstliegende Brett. Dabei ging mir auf, dass diese verdammten Bretter auch noch über eine Rückseite verfügten. Eine Rückseite, die Tante Polly vom Haus aus jeden Tag sehen würde. Sie erwartete bestimmt, dass ich auch diese ...
Ich seufzte und warf den Pinsel in den Farbeimer. Ein paar Spritzer Farbe sprangen heraus und wurden sofort von dem Lehmboden, aus dem die Straße hier bestand, aufgesaugt.
Smilla öffnete kurz ihre Augen, um zu sehen, ob es denn etwas zu sehen gab. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass dem nicht so war, schloss sie sie wieder und kurze Zeit später hörte ich ihr entspanntes Atmen.
„Du hast es gut, Smilla“, sagte ich und strich ihr sanft über das gekräuselte weiße Fell. „Von dir verlangt niemand, einen Zaun zu streichen. Du kannst hier faul in der Sonne liegen und es dir gut gehen lassen.“
Meine Hündin drehte sich auf den Rücken und forderte mich so auf, ihr den Bauch zu kraulen, was ich bereitwillig tat. Dann fiel mir der Zaun wieder ein und ich erinnerte mich an einen Spruch meines Vaters: Jede Arbeit, so übermächtig sie auch erscheinen mag, wird dadurch erledigt, dass man einfach anfängt.
Wie oft hatte er das gesagt, wie oft hatte ich ihn dafür gehasst. Wie sehr wünschte ich mir nun, er stünde hier neben mir und würde genau das zu mir sagen!
Ich ergriff beherzt den Pinsel und machte weiter. Still in mich gekehrt strich ich die ersten fünf Latten. Dann hielt ich inne und betrachtete mein Werk. Würde Tante Polly damit zufrieden sein? Ich jedenfalls war es. In meinen Augen war das Werk in Ordnung, und nur das zählte vorerst. Den Pinsel in der Hand machte ich mich an den nächsten Abschnitt.
„Hallo Tom“, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Da stand Ben. Ein Handtuch in der Hand sah er zu mir herunter. Ich stand auf und starrte ihn an.
„Du musst nicht so böse gucken“, sagte er. „Ich kann nichts dafür.“ Er deutete auf Eimer und Zaun. „Kommst du mit runter zum Fluss?“
Ihm musste doch klar sein, dass das wohl kaum möglich sein würde. „Wenn ich fertig bin“, antwortete ich.
„Oh“, sagte er nur.
Wir standen kurze Zeit so da, sahen uns nur an.
„Sind schon andere hier lang gekommen?“, fragte er dann.
Ich verneinte. „Du bist der Erste, seit ich draußen bin.“
„Dann bleibe ich ein wenig hier und leiste dir Gesellschaft. Was soll ich alleine am Fluss?“
Ben setzte sich neben mich und sah mir dabei zu, wie ich Latte um Latte strich.
„Was hast du ausgefressen?“, fragte er dann.
„Die Prügelei gestern. Mein Hemd ist zerrissen, Tante Polly ist wütend, weil sie es flicken muss. Außerdem will sie nicht, dass ich mich prügele, schon gar nicht mit denen.“
„Es sind Faschisten“, gab Ben zu bedenken.
„Eben drum“, sagte ich.
„Deine Tante will keinen Ärger, geht den Weg des geringsten Widerstands. Ist nicht das Dümmste, was man machen kann.“
Ich nickte. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Und danach diese unsägliche Stimme!
„Seht mal, er muss Zwangsarbeit leisten. Hast du was verbrochen, Tom?“
Ich musste mich nicht umdrehen, um Lars’ Stimme zu erkennen. Aus Bens Reaktion, er war aufgestanden und hatte sich ein paar Schritte von mir entfernt, konnte ich ablesen, dass da noch mehr von der Bande stehen mussten. Verdammt, warum hatte ich es nicht bemerkt, dass sie herangekommen waren? Ich hätte unauffällig im Haus verschwinden können. Jetzt war es dazu zu spät.
Langsam drehte ich mich um, wobei ich sitzen blieb.
Da standen sie. Dirk, der Anführer in der Mitte, rechts neben ihm El, links Lars. Hinter ihnen standen noch vier andere. Die waren nicht so schlimm, das waren nur Mitläufer. Wenn ich ihnen alleine begegnete, waren sie handzahm.
„Da siehst du mal, wie schnell Vergehen sanktioniert werden.“ Lars’ Stimme hatte einen süffisanten Unterton. „Du musst immer daran denken, was deinem Vater widerfahren ist, so was kann schnell gehen!“
Ich sprang auf. Die wenigen Schritte zu ihm hin hatte ich in Sekundenbruchteilen zurückgelegt.
„Du bist eine Witzfigur, habe ich dir das schon einmal gesagt?“, blaffte ich ihn an.
Lars versteifte sich, damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte auf den Schutz der Gruppe gesetzt, aber dass ich ihn jetzt einzeln herausnahm, obwohl er von seinesgleichen umringt war, nahm ihm seine Sicherheit.
Allerdings hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Von den Seiten griffen die anderen nach mir und hielten mich fest. Kurz sah ich zu Ben hinüber, der sich noch etwas weiter zurückgezogen hatte, von ihm war keine Hilfe zu erwarten.
Die Faust, die Lars mir in den Magen rammte, sah ich nicht kommen. Ich krümmte mich und wäre sicherlich gefallen, wenn die anderen mich nicht festgehalten hätten. Lars holte zum zweiten Schlag aus, zur Ausführung desselben kam er nicht mehr.
Ein weißes Etwas sprang ihn an, warf ihn um und stellte sich bedrohlich auf seinen Brustkorb. Die Zähne fletschend knurrte Smilla, die Schnauze nahe seiner Kehle.
„Ruf den Hund zurück“, schrie Lars in Panik.
„Ihr lasst mich jetzt besser los“, bemühte ich mich, ruhig zu sagen. Ob es mir gelang, weiß ich nicht. Der Magen schmerzte und irgendwie hatte auch ich Panik, dass Smilla zu weit gehen würde.
Dirk und die anderen ließen von mir ab. Ich stand da, hielt mir die Hände vor den Bauch. „Smilla, aus“, krächzte ich mehr, als dass ich es sagte. Sie sprang sofort von Lars herunter und kam zu mir. Neben mir stehend knurrte sie die anderen an.
„Das hat ein Nachspiel, das kann ich dir versprechen“, maulte Lars, während er sich aufraffte.
„Lass gut sein“, meinte Dirk. „Er hat seine Abreibung bekommen. Wir wollten doch zum Fluss.“
Erstaunlich, dass Dirk sich auf meine Seite schlug. Allerdings wusste ich, dass ich darauf nicht allzu viel geben durfte.
„Montag ist wieder Schule“, brummte Lars in meine Richtung, während er sich den anderen anschloss, die sich bereits in Richtung Fluss auf den Weg gemacht hatten. „Da hast du den Köter nicht dabei.“
Womit er recht hatte. Ich konnte nur darauf bauen, dass sich bis Montag die Gemüter etwas beruhigt hatten.
„Ich geh dann auch mal“, ließ sich Ben vernehmen.
Ich nickte nur. Ich hatte nicht erwartet, dass er sich auf meine Seite schlug. Wer tat das schon, hier in diesem Kaff? Sich mit jemandem abgeben, dessen Vater und Onkel von den terranischen Behörden der Rebellion angeklagt und dafür gehenkt worden waren?
Ich wandte mich wieder dem Zaun zu und sah, dass sich im oberen Stockwerk unseres Hauses eine Gardine bewegte. Das war in Sids Zimmer. Mein Cousin musste alles beobachtet haben. Warum war er nur so feige? Warum war er mir nicht zur Hilfe gekommen? Wenigstens hätte er Tante Polly holen können. Ob das allerdings die Sache besser gemacht hätte, wagte ich zu bezweifeln.
Zumindest war mein Hemd dieses Mal heilgeblieben.
Seufzend strich ich die nächste Latte des Zauns.
In aller Frühe verließen wir das Haus. Sid und ich gingen immer gemeinsam zur Schule. Meine Tante hatte darauf bestanden, dass ich ihn mitnahm. Als ob er den Weg nicht alleine hätte gehen können. Offiziell sollte ich auf ihn aufpassen. Wieso? Er war gerade mal zwei Jahre jünger als ich. Wieso konnte man mit dreizehn nicht alleine zur Schule gehen?
Da steckte ein anderes Motiv dahinter. Er sollte auf mich aufpassen. Darauf aufpassen, dass ich nicht wieder etwas machte, was in den Augen meiner Tante eine Dummheit war.
Irgendwie war ich heute dankbar dafür. So waren wir zu zweit. Es war so für die anderen schwieriger, einen Streit anzufangen. Sid würde zumindest für mich zeugen. Auch wenn das im Falle des Falles nicht viel bringen würde. Zumindest bei meiner Tante. Da war immer ich der Schuldige, egal, was vorgefallen war.
Die Schule. Irgendwie war es eine Odyssee. Komisches Wort. Aber es hatte sich über die Jahrtausende überliefert und war selbst hier, auf Mississippi, im Alltagsgebrauch vorhanden.
Wir mussten laufen, rund einen Kilometer über die lehmige Dorfstraße, die unser Haus, natürlich nicht nur unseres, mit den asphaltierten Straßen unseres Dorfes verband.
Unseres Dorfes. Das hörte sich so unbedeutend an. Dabei lebten wir in Landung. Der Stelle, an der die ersten Siedler überhaupt auf Mississippi angekommen waren. Wir hatten noch immer die Landungsbrücke, ein Holzkonstrukt, über das die ersten Siedler an Land gekommen waren, nachdem ihr Schiff auf dem Fluss gelandet war.
Wer’s glaubte.
Es konnte schlechterdings nicht so sein.
Wenn das Schiff das erste gewesen war, das hier gelandet war, konnte keine Landungsbrücke vorhanden gewesen sein. Und wenn sie vorhanden gewesen war, dann war das Schiff nicht das erste.
Außerdem war das Holz nicht alt genug dafür. Auch wenn ich kein Experte auf diesem Gebiet war, bildete ich mir ein, das sagen zu können. Möglicherweise war die Brücke über die Jahrhunderte ja auch ersetzt worden. Des Öfteren. Möglich, dass an dieser Stelle damals eine ähnliche Landungsbrücke existiert hatte. Letztendlich war das aber auch egal. Dieser Ort hier war historisch, daran gab es nicht zu rütteln.
Aktuell wurde die Landungsbrücke für die Schiffe genutzt, die von Norden kamen und nach Süden weiterfuhren, gen Hauptstadt. Richtige Schiffe, keine Raumschiffe.
Wir hingegen ließen die Landungsbrücke hinter uns und marschierten in Richtung Bahnhof. Dort lungerten wir noch etwa eine Viertelstunde auf dem Bahnsteig herum, weil die Bahn sich wieder einmal verspätete.
Ich blickte mich um. Da stand Lars, gute fünfzig Meter von uns entfernt. Von seinen Kumpanen war nichts zu sehen. Er tat so, als ob er mich übersah. Typisch für ihn. Alleine hatte er nicht genug Mut, mir gegenüberzutreten. – Ich strafte ihn mit Nichtbeachtung.
Der Zug kam. Ich sah sofort das Problem. Das vordere Antigravkissen hatte nachgegeben. Der Zugwagen hing knapp über der Schiene. Der Lokführer war gezwungen, noch langsamer als sonst zu fahren, damit er nicht Gefahr lief, aufzusetzen.
Das bedeutete, dass wir für die rund fünfunddreißig Kilometer länger als sonst brauchen würden. Normalerweise benötigte der Zug fast eine Stunde dafür. Zu Fuß wäre ich genauso schnell gewesen. Na ja, nicht wirklich. Aber es erschien mir immer mehr als eine Option. Vielleicht wäre ja auch eine Fahrt über den Fluss schneller gewesen. Man hätte nur ein entsprechendes Boot haben müssen. – Und dann war da auch noch die Rückfahrt, gegen den Strom. Da war dann die Bahn doch besser.
„Ihr macht doch bald diesen Ausflug, nicht?“, fragte Sid, als der Zug die lange Kurve fuhr, die ihn näher an die Felswand brachte. Wobei näher relativ war. Die steil aufragende Wand war noch immer gute fünfundzwanzig Kilometer entfernt, aber man konnte sie aus den Fenstern deutlich sehen, weil die Vegetation an dieser Stelle lediglich kniehoch war, eine Art Steppe, auf der viele Schafe weideten.
„Ich beneide dich“, sagte mein Cousin.
Erstaunt wandte ich mich zu ihm um. Das waren ja ganz neue Töne.
Das wurde ihm jetzt auch klar. „Ich meine“, stotterte er, „ich muss noch zwei Jahre warten, bis wir den Ausflug in die Höhlen machen. Ich möchte die Artefakte der Hominis auch sehen. In echt, meine ich.“
Eigentlich war er gar nicht so ein übler Kerl, was seine Grundeinstellung zum Leben anging. Immerhin war ja auch sein Vater hingerichtet worden. Daran hatte er genauso zu knacken wie ich.
Ich wollte ihn in den Arm nehmen, der Impuls war da. Aber dann riss ich mich doch wieder in die Realität zurück. Das war Sid! Mein Cousin, der mir zu Hause das Leben schwer machte. Im Prinzip genauso wie Dirk, Lars und die anderen es mir in Schule und Freizeit schwer machten. Nur eben etwas anders.
Dirk!
Er war recht spät auf dem Bahnsteig eingetroffen. Eigentlich hätte er den Zug verpassen müssen, wenn er denn pünktlich gewesen wäre. Ich mutmaßte, dass sein Vater ihn informiert hatte. Der hatte eine Verbindung. Sowohl in die Hauptstadt als auch in die andere Richtung. Er war auf die Füße gefallen, als Terra den Krieg verloren hatte. Vorher Richter, jetzt Richter. Er hatte sein Fähnchen einfach in den Wind gehängt und hatte seinen Posten behalten. Die Sieger hatten nicht die vollständige Administration ausgetauscht. Wie sollten sie auch? Sie waren darauf angewiesen gewesen, eine funktionierende Verwaltung zu nutzen. Eine völlig neue aufzubauen, wäre unmöglich gewesen. So griffen sie auf vorhandene Strukturen zurück, bevor sie sich wieder vom Acker machten und uns selbst überließen.
Dirk saß weiter hinten im Zug. Bei Lars und den anderen. Heute früh schienen sie das Interesse an mir verloren zu haben. Ich war nicht böse drum.
Als der Zug im Bahnhof der Hauptstadt einfuhr, sprang ich auf und gab Sid zu verstehen, dass er mir folgen sollte. Wir waren die Ersten an der Tür und auf dem Bahnsteig. So konnten wir problemlos die Schule erreichen, ohne dass die anderen uns einholten. Ob sie das überhaupt vorgehabt hatten, konnte ich nicht sagen, aber besser war besser.
Erstaunlicherweise sagte der Lehrer nichts, als ich in die Klasse stiefelte. Der Unterricht lief schon einige Zeit. Aber wenn er mich gemaßregelt hätte, hätte er das auch mit Dirk und Lars machen müssen, die noch ein paar Minuten später eintrafen als ich. Und das verkniff er sich wohlweislich. Er fürchtete wohl die Reaktion ihrer Eltern.
Glücklicherweise kontrollierte er die Hausaufgaben nicht. Ich hatte keine Zeit zum Abschreiben mehr gehabt.
In der folgenden Pause blieb ich sitzen. „Marie, hast du ...?“
Meine Klassenkameradin seufzte. „Du hast wieder keine Aufgaben gemacht?“ Ohne mit der Wimper zu zucken, zog sie ihr Heft aus der Tasche und gab es mir. Ich machte mich daran, möglichst viel in den mir zur Verfügung stehenden fünf Minuten abzuschreiben. Auf Mädchen war einfach Verlass.
„Hast du auch Mathe?“, fragte ich sie, als sie von draußen wieder hereinkam. Sie sah mich mit einem Blick an, der mir klarmachte, dass ich besser nach den Aufgaben für die restlichen Stunden jemand anderen fragte.
Mathe hatte ich geschafft, Geschichte hatte ich von Gaby abgeschrieben. Trotzdem flog ich auf.
„Tom, du wirst uns doch sicherlich erklären können, was Kapitän Hugh mit seinen Sätzen meinte, die er ins Logbuch schrieb, als er mit seinem Schiff in Landung aufsetzte.“
Eigentlich war die Geschichtslehrerin ganz in Ordnung. Zumindest gehörte sie nicht zu denen, die nach wie vor Terras Linie vertraten, aber in punkto Hausaufgaben war sie auch nicht besser als die anderen.
Ich blätterte fahrig in meinem Heft hin und her. Da war etwas gewesen, das ich gerade erst abgeschrieben hatte. Aber auf die Schnelle fand ich es nicht.
„Da steht es doch“, hörte ich Lars’ Stimme. Er ließ es sich nicht nehmen, mir die passenden Sätze vorzulesen.
Die Lehrerin war sichtlich irritiert. Jetzt erst merkte ich, dass sie gar nicht darauf aus gewesen war, mich vorzuführen. Nein, sie hatte mir eine Chance geben wollen. Blöd, dass ich sie nicht genutzt hatte. Stattdessen hatte ich Lars die Möglichkeit gegeben, mich zu blamieren.
„Lass ihn, er weiß es wirklich nicht!“ Das war Dirks Stimme. Er ergriff Partei für mich?
Die Lehrerin ließ von mir ab und wandte sich Lars zu. Jetzt hatte er die Frage zu beantworten. Er tat es mit Bravour, ich hatte für den Rest der Stunde meine Ruhe. Sie wollte mich nicht vorführen, das hatte ich verstanden.
„Du wirst es nie zu etwas bringen, das hast du von deinem Vater.“ Mit diesen Worten passte mich Lars in der Pause ab.
Ich blickte zu seinen Kumpanen hinüber, die nur wenige Schritte entfernt standen. Was sollte ich tun? Ignorieren?
„Verschwinde!“
Ich drehte mich um. Da stand Michael. Mit ihm hatte ich bisher kaum etwas zu tun gehabt. Lars sah ihn an, drehte sich um, um zu sehen, ob er Unterstützung bekommen würde. Da die anderen jedoch in ein Gespräch vertieft waren, zog er lieber von dannen.
„Warum gibst du ihm nicht einfach einen auf die Mappe?“, fragte Michael.
„So einfach ist das nicht“, entgegnete ich.
„Du bist viel stärker und größer als er. Er ist ein armseliger Wicht.“
Damit mochte er recht haben, aber er hatte die anderen auf seiner Seite, und vor allem, wenn nicht direkt das Gesetz, so doch die vorherrschende Meinung. Die meisten Einwohner von Landung waren Terraner. Außerdem war ich nicht selbstsicher genug, um ihm so entgegenzutreten.
Biologie, unser nächstes Fach, unterrichtete eine Lehrerin, die recht neu an der Schule war. Sie war aus dem Norden gekommen. Eine erstaunliche Karriere, waren doch die Siedlungen, je weiter man sich von der Hauptstadt entfernte, umso unspektakulärer. Landung war für sich genommen nur ein Kaff. Sicher, es gab größere, auch im Norden. Auch solche, die den Begriff Stadt verdienten, aber trotzdem war es selten, dass jemand, der nicht aus der Hauptstadt kam, hier einen Posten ergattern konnte.
Dass ich keine Hausaufgaben gemacht hatte, interessierte Frau Jannehoi nicht. Sie ging darüber hinweg. Sie wollte unseren Ausflug in einer Woche vorbereiten. Deshalb zog sie ihr Programm einfach durch.
„Genetische Analysen haben gezeigt, dass die Hominis durchaus mit dem Homo Sapiens verwandt sind“, führte sie aus.
Ein unterdrücktes Lachen aus der Ecke, die dafür prädestiniert war, unterbrach ihren Redefluss. Sie blickte über den Brillenrand zu Dirk hinüber, der sich lässig in seinem Stuhl zurücklehnte.
„Du bist anderer Ansicht?“, fragte sie ihn. Dafür zollte ich ihr Respekt. Nicht jeder Lehrer, um genau zu sein, wahrscheinlich kein anderer, hätte diese Frage gestellt.
„Die Hominis sind blöd“, antwortete er. „Nichtmenschen halt. Zu nichts zu gebrauchen, als zu einfachen Arbeiten. Und selbst da muss man sie beaufsichtigen, damit sie keinen Mist bauen.“
„Wir reden hier von Genetik“, wies ihn Frau Jannehoi zurecht.
„Ich rede von Erfahrung!“ Dabei sah er sich um Zustimmung heischend um. Die bekam er von seinen Freunden sofort in Form von Gelächter.
„Unsere Gene weichen nur in wenigen Punkten voneinander ab. Möglicherweise wären die Spezies sogar untereinander fortpflanzungsfähig ...“
„Wer sollte schon daran Interesse haben?“, fuhr ihr Dirk dazwischen.
„Die wissenschaftlichen Fakten lassen sich nicht leugnen“, erwiderte sie.
„Ein Rumpf, zwei Arme, zwei Beine und ein matschiges Hirn. Das macht sie noch lange nicht zu Menschen“, sagte Dirk mit einem aggressiven Unterton in der Stimme. „Sie sind keine Tiere, in Ordnung, das sehe ich ein, aber viel mehr auch nicht. Sie sind dazu bestimmt, uns zu dienen.“
„Du meinst, weil dein Vater noch immer einen wichtigen Posten bekleidet, könntest du Fakten leugnen?“
Das spitzte sich hier zu. Irgendwie bewunderte ich sie ja. Aber sie verkannte die Realität. Sicherlich hatte Terra den Krieg verloren, aber hier, hier auf Mississippi, waren die Terraner nach wie vor diejenigen, die den Ton angaben. Nun gut, nicht direkt die Terraner, aber zumindest diejenigen, die ihrer Ideologie nahe standen beziehungsweise sie vertraten. Sie musste aufpassen. Sie wagte sich recht weit vor.
„Fakt ist doch, dass die Hominis froh sein können, dass wir sie durchziehen“, entgegnete Dirk. „Wir geben ihnen Nahrung, wir versorgen sie mit Kleidung ...“
„... und mit Alkohol“, warf Lars ein.
„Und mit Alkohol“, vervollständigte Dirk seinen Vortrag.
„Was nur zeigt, dass sie eng mit uns verwandt sind“, konterte die Lehrerin. „Wir sollten uns vor Augen führen, dass hier auf Mississippi sowohl Flora als auch Fauna im Prinzip irdisch sind. Natürlich kamen die ersten Siedler hier erst vor gut 700 Jahren an, aber die genetische Struktur des Lebens ist im Prinzip irdisch. Und das ist anders als auf vielen anderen Leben tragenden Planeten.“ Sie sah die Klasse siegesgewiss an. „Wäre dem nicht so, könnten wir hier nicht überleben.“
„Wir können hier nur überleben, weil die Atmosphäre von den Felswänden der Schlucht gehalten wird“, wandte Lars ein.
„Natürlich ist das ein Aspekt“, gab die Lehrerin zu. „Aber das ist nicht alles. Wir haben hier keinen Physikunterricht, sondern Biologie. Und da untersuchen wir keine Felswände.“
„Trotzdem wollen Sie uns zu diesen Höhlen schleppen“, sagte Lars, sich der Zustimmung seiner Combo gewiss.
„In diesen Höhlen werdet ihr Bilder sehen, die die Hominis vor Jahrhunderten gemalt haben und ...“
„Und sie wollen uns erzählen, dass ihre Vorfahren Menschen waren, die, unerklärlich für uns, ihren Weg hierher gefunden haben. – Was für ein Bullshit!“ Dirk lachte lauthals los.
Die Klingel entschärfte die Diskussion. Wir ergriffen allesamt unsere Sachen und strömten nach draußen. Ich warf noch einen Blick auf Frau Jannehoi. Sie saß in sich zusammengesunken da. Vielleicht ging ihr durch den Kopf, dass sie sich gegenüber den Kindern der falschen Leute zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.