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Zeitreisen gehen anders Ein Roman, der die Protagonisten aus dem beschaulichen Kettwig an der Ruhr unserer Zeit über das Römische Reich, die Revolution in Mexiko, die ausgehende Eiszeit und einen Abstecher in den Weltraum wieder zurück nach Kettwig bringt. Immer das Ziel vor Augen, durch Manipulation historischer Ereignisse ein gewünschtes Ergebnis hervorzurufen. Aus dem Geleitwort von Andreas Eschbach: "Das ist anspruchsvoll. Das ist richtig anspruchsvoll. Und sorgt für jede Menge Überraschungen und unerwarteter Wendungen."
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Seitenzahl: 464
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Geleitwort zu »Zeitreisen gehen anders«
1. Kapitel Kettwig an der Ruhr, 14.03.1974
2. Kapitel Kettwig an der Ruhr, 28.05.1995
3. Kapitel Bergen aan Zee, 29.05.1995
4. Kapitel Kettwig an der Ruhr, März 1974
5. Kapitel 32000 vor Christus
6. Kapitel Brand der Bibliothek von Alexandria
7. Kapitel Sklaven
8. Kapitel März
9. Kapitel 53 Meter über NN
10. Kapitel Bergpredigt
11. Kapitel Juarez oder Maximilian?
12. Kapitel Zurück nach Tabgha
13. Kapitel 1643 nach Christus
14. Kapitel Strafkolonie 23
15. Kapitel Bezirk C
16. Kapitel Catriona
17. Kapitel Der Gürtel
18. Kapitel Das Fort
19. Kapitel FJgDstKdo A3
20. Kapitel Die Expedition
21. Kapitel Alexander
22. Kapitel Rücksprung
23. Kapitel Du bist nicht derselbe
24. Kapitel Zurück und hindurch
25. Kapitel Wieder daheim
26. Kapitel Nur
27. Kapitel 32000 vor Christus, ein weiteres Mal
28. Kapitel Alexandria
29. Kapitel Kettwig an der Ruhr, Juni 1995
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Zeitmaschinen gehen anders … in der Tat: Und zwar anders bei jedem Autor, denn jeder, der sich des literarischen Vehikels der Zeitreise bedient, muss – mangels belastbarer physikalischer Gesetzmäßigkeiten – erst einmal seine eigenen Regeln dafür festlegen.
Es gibt viele Gründe, über Zeitreisen zu schreiben, und die schiere Lust, die eigene Fantasie und die der Leser in vergangenen oder auch zukünftigen Epochen spazieren zu führen, ist nicht der schlechteste darunter. Doch egal, was der Grund ist, man steht immer vor dem Problem, ob man die Kausalität aufrechterhalten will, und wenn ja, wie: Das ist das berühmte Großvaterparadoxon. Was, wenn ich in die Vergangenheit reise und dort – und sei es aus Versehen – meinen Großvater töte, ehe er meinen Vater zeugen kann? Dann gibt es mich gar nicht, also kann ich auch nicht in die Vergangenheit reisen, folglich auch nicht meinen Großvater töten … also gibt es mich doch und ich kann doch in die Zeitmaschine steigen … und so weiter, ad infinitum, ein unauflösbares Paradoxon.
Verschärfend kommt hinzu, dass die Kausalitäten unserer Welt überaus komplex verwoben sind und man in vielen Fällen nicht genau sagen kann, welche Ursachen welche Wirkungen zeitigen. Ja, nicht selten verlieren sich kausale Ketten in dem, was man mathematisch als Chaos bezeichnet: In China schlägt ein Schmetterling mit den Flügeln und daraus mag sich ein Sturm über dem Atlantik entwickeln – oder auch nicht. Der zeitreisende Held reist vielleicht in die Zeit der Dinosaurier, scheinbar weit entfernt von allem, was mit der Geschichte der Menschheit zu tun hat, und erlegt und brät zum Abendessen ein kleines Tier – just jenes Tier, aus dem sich Millionen Jahre später die Primaten und schließlich die Menschen entwickelt hätten, die folglich nicht mehr da sind, wenn er in seine Gegenwart zurückkehren möchte: sozusagen das Großvaterparadoxon de luxe.
In denjenigen meiner eigenen Romane, in denen Zeitreisen eine gewisse Rolle spielen, habe ich mich um diese Frage herumgemogelt, indem ich die Regel aufstellte, dass der Zeitablauf unabänderlich und selbst die Ankunft eines Zeitreisenden ein feststehender Teil davon sei. Das hieß, dass nur Dinge verändert oder beeinflusst werden konnten, über die nichts bekannt war – Erwin Schrödinger lässt grüßen.
Das konnte ich machen, weil in meinen Romanen die Zeitreise nur ein untergeordnetes Motiv war. In dem Buch jedoch, das Sie gerade in der Hand halten, geht Axel Kruse sozusagen hardcore: Die Zeitreise an sich ist hier das zentrale Thema, alles dreht sich um die Frage, wie sich die Geschichte durch Zeitreisende verändern ließe – und vor allem, wie sie sich so verändern ließe, wie man sie gerne haben möchte.
Das ist anspruchsvoll. Das ist richtig anspruchsvoll. Und sorgt für jede Menge Überraschungen und unerwarteter Wendungen.
Bringen Sie also Ihre Fantasie auf Betriebstemperatur, ehe Sie umblättern, und machen Sie lieber noch ein paar Dehnübungen mehr mit dem Was-wäre-wenn-Muskel Ihres Geistes – Sie werden ihn brauchen!
Im Februar 2020
Andreas Eschbach
Ich hatte mich in der Zeit vertan. Es wurde schon dämmrig. Ich war zu spät losgefahren. Losgefahren in Kettwig vor der Brücke. Losgefahren mit meinem Rad, meinem Fahrrad. Ich hatte den Nachmittag bei einem Schulfreund verbracht und irgendwie war uns die Zeit abhandengekommen.
Nun raste ich geradezu durch den Stadtteil jenseits der Ruhr, der für jeden echten Kettwiger hinter und nicht vor der Brücke lag. Egal, ich war einfach zu spät. Die Autos auf der Brücke hatten bereits ihr Licht eingeschaltet. Die Straßenlaternen begannen zu glimmen, es würde etwas dauern, bis sie strahlend hell leuchteten.
Zu allem Unglück hatte es auch noch zu nieseln begonnen. Ich hatte nur eine dünne Jacke mitgenommen, hatte ich doch meiner Mutter versprochen, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein. Nun, das würde noch dauern. Ich musste über die Brücke, dann die steilen Straßen der Altstadt hoch, an der Kirche vorbei, danach sicherlich so einen Kilometer lang die angrenzenden ebenen Straßen entlangradeln. Darauf dann erneut einen Berg hoch, bis ich endlich oben auf den Ruhrhöhen war. Von dort aus würde ich es nicht mehr weit haben bis nach Hause.
Nun, da war ich noch nicht.
Mit dem Auto die Ruhrbrücke in Kettwig zu überqueren, ging schnell. Mit einem Kinderrad ohne Gangschaltung kam es mir endlos vor.
Kurz erwog ich, geradeaus weiterzufahren, die Ringstraße entlang. Die war nicht so steil wie die Straßen der Altstadt, aber sie bedeutete einen immensen Umweg, ich würde länger brauchen.
Ich bremste mein Rad, stieg ab und trug es die kleine Treppe hinunter. Dann fuhr ich die kurze Strecke durch die Grünanlagen und über die alte Bruchsteinbrücke, die hier den Mühlengraben überspannte.
Hundert Meter weiter stieg ich vom Rad, die Steigung war für mich zu heftig.
Der Regen war stärker geworden, von Nieselregen konnte man wahrlich nicht mehr sprechen.
Ich hatte fast die Kirchtreppe erreicht. Da war etwas rechts vor mir, vor der Tür eines der Altstadthäuser. Ich konnte in der Dunkelheit und dem Regen nicht klar ausmachen, was da meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Was war das?
Ein Mann stand da. Ich hatte ihn vorher nicht bemerkt. Er war nur rund zehn Meter von mir entfernt, stand demnach fast direkt vor mir.
Erschrocken blickte ich zurück. Die Straße war leer, vollständig leer. Klar, warum sollte sich jemand bei diesem Wetter hier aufhalten? Ein Kontrollblick nach vorn zeigte dasselbe Bild. Der Mann und ich, ansonsten war niemand unterwegs.
Kurz erwog ich, das Rad zu wenden, die Ruhrstraße wieder hinunterzufahren und auf der anderen Seite die Altstadt zu erklimmen. Aber das hätte bedeutet, dass ich noch mehr Zeit verlöre. Ich schalt mich einen Idioten. Wovor hatte ich Angst? Da stand ein Mann vor einem Haus – na und? Vermutlich wohnte er dort, war gerade aus dem Haus getreten und konnte sich nicht so recht entscheiden, in den Regen hinauszuschreiten. Deshalb blieb er lieber unter dem kleinen Vordach stehen und wartete ein wenig ab.
Ich schob das Rad weiter, wollte an ihm vorbei.
Er grinste mich an, kramte in seiner Jackentasche und zog etwas hervor, das ich unschwer als Pistole erkannte.
»Tut mir leid«, sagte er. »Aber es muss sein.« Mit diesen Worten richtete er die Waffe auf mich.
Ein Ruf ertönte von den unteren Stufen der Kirchtreppe. Direkt unter der sich dort befindenden Straßenlaterne stand eine Frau. Völlig unpassend gekleidet angesichts des sich mittlerweile über Kettwig ergießenden Dauerregens. Sie trug halbhohe beige Wildlederstiefel, eine an beiden Knien zerrissene Jeanshose, eine ebenfalls beige Wildlederjacke und darunter ein dünnes T-Shirt. Eindeutig nicht warm genug angezogen für den heutigen Tag. Sie mochte so um die dreißig Jahre alt sein, für mich gehörte sie damit zu den Menschen, die dem Kinderdasein so weit entrückt waren, dass es egal schien, ob sie dreißig oder sechzig Jahre alt waren.
Was mich noch mehr irritierte, war die Waffe in ihrer Hand. Mit dieser zielte sie auf den Mann, der seinerseits mich bedrohte.
Er musste sie auch bemerkt haben, er folgte meinem Blick mit seinen Augen in Richtung Treppe. Jetzt wirbelte er herum, versuchte seine Waffe in eine Schussposition zu bringen. Er kam zu spät. Die Pistole in der Hand der Frau entlud sich, etwas blitzte auf. Einen Knall erwartete ich vergebens, da war kein Geräusch.
Der Mann brach zusammen.
Die Frau eilte heran, beugte sich über den Mann, kramte in seinen Taschen. Dann knöpfte sie sein Hemd auf und zog eine an einer Kette hängende Münze hervor und wog sie in ihrer Hand.
Plötzlich sah sie auf, sah mich direkt an.
»Wir zwei haben ein Date, Andreas«, sagte sie dann. »28.05.1995 um 19 Uhr im Restaurant Come to sing. Kannst du dir das merken?«
»Come to sing? Komme zum Singen?« Mein Englisch war zwar noch nicht besonders, in der fünften Klasse war da noch nicht allzu viel zu erwarten, aber so viel konnte ich dann doch schon.
Sie lachte. »So kannst du es dir wahrscheinlich besser merken«, sagte sie. »28.05.1995, vergiss das nicht.« Dann holte sie aus ihrer Jackentasche ebenfalls eine an einer Kette hängende Münze hervor, strich sich eine klatschnasse Haarsträhne ihres schulterlangen braunen Haares aus dem Gesicht und schob etwas auf der Münze hin und her, ein Hologramm poppte auf.
»Er wollte …«
Sie blickte wieder auf. »Er wird dir nichts mehr tun, dafür habe ich gesorgt.« Sie nahm seine Münze und steckte sie in ihre Jackentasche.
Ich schielte genauer hin. Die Münze schien aus einzelnen Ringen zu bestehen, mindestens zehn Stück, die man gegeneinander verdrehen konnte.
»Catriona«, sagte sie dann. »Mein Name ist Catriona. Und jetzt mach, dass du nach Hause kommst. Deine Mutter sorgt sich schon.«
»Die Polizei …«, wagte ich einzuwerfen.
»Kann dir hierbei nicht helfen«, erwiderte sie. Dann drückte sie mittig auf ihre Münze.
Die Luft waberte. Kurz dachte ich einen warmen mit Fliederduft angereicherten Hauch zu spüren, dann waren sie fort. Alle beide. Sowohl der am Boden liegende Mann als auch die Frau, die sich selbst Catriona genannt hatte, waren verschwunden. Ich war wieder allein.
Was war das gewesen? Ein Beamvorgang, wie ich ihn aus dem Fernsehen kannte? Benommen und völlig irritiert, ging ich die wenigen Schritte bis zur Treppe, schulterte mein Rad und begann sie zu ersteigen, ich hatte noch einen weiten Weg bis nach Hause. Dort angekommen, hatte ich bereits entschieden, niemandem von dem Vorfall zu erzählen. Sie würden mich alle für verrückt halten.
Einundzwanzig Jahre war es her. Ich hatte niemandem von dem Vorfall erzählt, ich war meinem Vorsatz treu geblieben. Wer hätte mir schon geglaubt? Einem etwas überspannten, introvertierten Jungen von elf Jahren, der seine Freizeit am liebsten damit verbrachte, seine Nase in Abenteuerromane und Comics zu vertiefen, würde man eine solche Räuberpistole nicht abnehmen.
Zu Hause angekommen, hatte ich damals eine Strafpredigt meiner Mutter über mich ergehen lassen müssen. Recht hatte sie ja, ich sollte bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Hätte ich ihr erzählt, was sich in der Altstadt zugetragen hatte, sie hätte es als reine Schutzbehauptung abgetan, im besten Fall. Im schlechtesten Fall wäre sie am kommenden Tag mit mir zum Arzt gegangen …
Über die Jahre zweifelte ich selbst an meiner Erinnerung. Immer wieder holte ich den Zettel hervor, auf dem ich in meiner krakeligen Kinderschrift noch am selben Abend notiert hatte:
Ein solches Restaurant gab es weder in Kettwig noch in Essen oder im gesamten Ruhrgebiet. Das hatte ich in der Zwischenzeit mehrfach recherchiert.
An dem Tag, an dem ich in der Zeitung las, dass die altehrwürdige Gaststätte Zum Trotzkopf in Kettwig schloss und zukünftig das Chinarestaurant Kam to Sing dort zu finden sein würde, war ich wie vor den Kopf geschlagen.
Ich wurde dort Stammgast. Jahre zu früh ging ich mindestens einmal im Monat dort hin. Achtete auf die Gäste, hoffte sie zu sehen. Vergeblich. Irgendwann wurde mir klar, dass ich warten musste. Warten bis zu ebendiesem Tag, den sie mir damals angegeben hatte.
Ich schlürfte meine Wan-Tan-Suppe. Von meinem Stammplatz am Tisch direkt neben dem Eingang hatte ich das komplette Restaurant gut im Blick. Sie war noch nicht gekommen, dessen war ich mir sicher, da ich der erste Gast gewesen war, für den sich heute die Eingangstür geöffnet hatte.
Drei Tische waren mittlerweile besetzt, an keinem von ihnen hatte sie Platz genommen. Ich war mir sicher, auch wenn einundzwanzig Jahre vergangen waren und sie somit ihr Äußeres durchaus extrem verändert haben mochte. An den Tischen jedoch konnte sie nicht sitzen, die Gäste waren durchweg zu jung.
Ich musste nicht lange warten. Die Tür öffnete sich erneut, ein Mann trat ein, gefolgt von einer Frau. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, das war sie. Genau so, wie ich sie von damals in Erinnerung hatte.
Die Wildlederjacke stand ihr gut. Warum ihre Jeanshose an beiden Knien verschlissen war, konnte ich nicht erkennen. Die Löcher schienen auf jeden Fall nicht neu zu sein.
Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, steuerten die beiden einen freien Tisch an. Zwischen meinem Platz und ihrem befand sich lediglich ein weiterer Tisch, an ihm saßen vier Gäste.
Die Kellnerin kam unverzüglich, die beiden bestellten Getränke und vertieften sich in die Speisekarten. Ich grübelte, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie hatte mir damals Ort und Zeit genannt, sie war da, aber sie zollte mir keine Aufmerksamkeit.
Einmal blickte sie von der Speisekarte auf, sah sich forschend im Restaurant um. Kurze Zeit ruhte ihr Blick auch auf mir, wanderte dann jedoch übergangslos weiter. An mir hatte sie kein gesteigertes Interesse gehabt.
Mein Hauptgericht kam, ich wusste schon nicht mehr, was ich überhaupt bestellt hatte. Einundzwanzig Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet und jetzt, als er endlich da war, wurde ich so herbe enttäuscht. Ich hatte mir alles Mögliche ausgemalt. Erotische Fantasien wechselten sich ab mit Beamvorgängen, die Realität holte mich aus den Tagträumen zurück.
Draußen röhrte etwas auf, ein Motorrad hielt mit laufendem Motor direkt vor der Eingangstür. Wenig später wurde diese aufgestoßen, jemand trat ein. Er, ich hatte entschieden, dass es ein Mann sein musste, hatte seinen Helm nicht abgesetzt. In seiner Hand hielt er eine Maschinenpistole. Er schritt an meinem Tisch vorbei, hielt auf ihren zu. Die Sekundenbruchteile, die er benötigte, um an mir vorbeizugehen, reichten für meinen Entschluss.
Ich sprang auf, mein Stuhl krachte nach hinten weg. Den Tisch stieß ich halb um, als ich hinter ihm hereilte. Zu langsam, ich war zu langsam. Er hatte die Waffe gehoben, der Lauf zeigte auf ihren Tisch. Jetzt zog er den Abzug durch. Die Schüsse peitschten durch das Restaurant. Ihr Begleiter wurde regelrecht von den Kugeln zersiebt.
Bevor der Mann mit dem Motorradhelm die Waffe bewegen konnte, war ich über ihm. Mit meinem kompletten Körpergewicht warf ich mich von hinten auf ihn, brachte ihn damit aus der Balance. Er strauchelte und fiel hin, dabei gab er weitere Schüsse ab.
Ich rannte weiter, glücklicherweise war ich nicht gefallen. An ihrem Tisch angekommen, riss ich sie hoch und zog sie am Arm hinter mir her. Sie stand unter Schock, das war klar.
Viel Zeit hatten wir nicht. Wie lange mochte der Mann dazu benötigen, aufzustehen, sein Ziel zu suchen und abzudrücken? Wir mussten schneller sein.
Ich zog sie zum Kücheneingang. Wie lange wir gebraucht hatten, um in die Küche einzudringen, wusste ich nicht. Es war die richtige Wahl gewesen, den Weg zum Ausgang hätten wir nicht geschafft. Hinter uns hörte ich bereits das Rattern der Maschinenpistole. Die Kugeln schlugen in der Wandvertäfelung ein. Einzelne fanden sogar ihren Weg in die Küche, prallten von den großen Edelstahltöpfen ab, die hier auf den Herden standen.
Ich riss sie weiter hinter mir her. Ich war mir sicher, hier musste es einen Hinterausgang geben. Und richtig, da war die ersehnte Tür. Ein Stoß, sie flog geradezu auf. Wir eilten hinaus, eine kleine Treppe hinunter, und schon standen wir auf der Straße.
Wohin nun? Links von uns war der Eingang, dort war der röhrende Motor zu hören. Jemand drehte die Spritzufuhr auf und zu. Der Schütze war demnach nicht allein.
Nach rechts? Unmöglich, das waren mindestens hundert Meter, bis die Straße in die Hauptstraße mündete. Viel zu lang für jeden Sprint. Wenn der Schütze hinter uns herkam, hatte er ein leichtes Ziel.
Blieb nur ein Sprint über die Straße, aber das war ebenso idiotisch, auch da waren wir verloren.
Sie übernahm die Führung, zog mich nach rechts. Fünf Meter weiter drückte sie uns in einen Hauseingang. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich erwartete, dass der Mann direkt vor uns auftauchte und uns niedermähte. Sie nestelte in ihrer Jackentasche, holte diese Waffe heraus, mit der sie vor einundzwanzig Jahren den anderen Mann niedergestreckt hatte …
Dann raste das Motorrad an uns vorbei und verschwand auf der Ringstraße in Richtung Vor der Brücke.
Ich atmete auf. »Die Polizei wird gleich da sein, die Wache ist nicht weit weg«, sagte ich.
»In welcher Richtung?«, fuhr sie mich an.
Ich deutete nach rechts. »Da hinten, keine fünfhundert Meter entfernt«, sagte ich.
Sie riss mich aus der Nische heraus und zog mich nach links. Sie rannte los, am Restauranteingang vorbei, dann nach links, die Emil-Kemper-Straße hoch. Danach nach rechts, in die Straße Auf der Forst. »Wir müssen hier weg«, schrie sie mir ins Ohr, zumindest kam es mir so vor. In Wirklichkeit bemühte sie sich darum, möglichst wenig Lärm zu machen.
Wir eilten weiter. Den Berg hinaufrennen wollte sie nicht. Eiliges Gehen, das schon, aber Rennen hätte vielleicht die Aufmerksamkeit von Anwohnern auf uns gezogen.
Hinter uns hörten wir Martinshörner, die Polizei rückte an.
Uns fanden sie nicht. Wir waren bereits wenige Minuten später im Straßengewirr des Schmachtenbergviertels abgetaucht. Sie dirigierte mich zum Wald. Irgendwann waren wir dort angelangt, wir saßen auf einer Bank und blickten dank einer Schneise über das Ruhrtal hinweg. Eigentlich ein schöner Anblick, ich konnte mich allerdings nicht auf ihn einlassen.
Die Sonne würde bald untergehen. Für Spaziergänger mochten wir den Eindruck eines Liebespaares erwecken. Eines solchen, das womöglich gerade Streit hatte. Dieser Schein war eine gute Tarnung.
»Wer bist du?«, fragte sie mich und sah dabei eindringlich zu mir herüber.
»Ich«, stammelte ich, dann fasste ich mir ein Herz. »Wir waren verabredet, Catriona«, sagte ich. Nur das, nicht mehr und nicht weniger.
Es brachte sie aus dem Gleichgewicht.
»Du kennst meinen Namen?«, fragte sie. Dann versuchte sie sich zu sammeln. »Verabredet, sagst du? Wir kennen uns demnach?«
Ich nickte.
Sie sah mich erneut forschend an. Dann seufzte sie laut und starrte über das Ruhrtal hinweg. »Das ist alles zu viel, alles zu viel«, flüsterte sie.
Durch ihren Körper ging ein konvulsivisches Zucken, Tränen schossen aus ihren Augen, sie weinte lautlos.
Eine etwa siebzigjährige Frau kam mit ihrem Hund entlang des Weges spaziert. Sie sah aufmerksam zu uns herüber, fragte sich wohl, was ich Unhold der armen Frau angetan haben mochte. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände, sie hatte sich dazu entschlossen einzuschreiten.
Ich legte meinen Arm um Catriona, zog ihren Kopf zu meiner Brust und strich über ihr Haar. Sie ließ es mit sich geschehen. Die Spaziergängerin änderte abrupt ihre Meinung, das konnte ich an ihren veränderten Gesichtszügen wahrnehmen. Nun war ich nicht mehr der für den Kummer Verantwortliche, sondern jener, der auffing, was andere angerichtet haben mochten. Sie zog mit ihrem Hund vorüber und war bald hinter der nächsten Kurve verschwunden.
Catriona brauchte einige Minuten, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder ansprechbar war.
»Geht es wieder?«, fragte ich überflüssigerweise.
Sie nickte, versuchte das Schluchzen zu unterdrücken.
»Er … er war dein Mann?«, wagte ich einen Vorstoß.
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Kollege, wir …« Sie unterbrach sich, wandte ihren Kopf zu mir. »Wer bist du? Warum bist du hier? Du sagtest, wir seien verabredet?«
»Ich habe einundzwanzig Jahre auf dieses Date gewartet«, sprudelte es aus mir heraus. »Du hast mir damals das Leben gerettet. Dass ich mich auf eine solche Weise revanchieren würde, wusste ich nicht.«
»Einundzwanzig Jahre, dann bist du stationär«, flüsterte sie in einem Ton, der mir einen Stich versetzte. Nicht dass ich verstanden hätte, was sie sagte, aber der Tonfall machte mir klar, dass ich als Mensch zweiter Klasse abgetan worden war.
Sie schien sich entschieden zu haben. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie löste meine Umarmung und stand auf.
»Ich danke dir für dein Eingreifen, aber ich muss jetzt los«, meinte sie.
»Nein!«, entfuhr es mir. So ging das nicht, nicht nach der langen Zeit. Sie konnte jetzt nicht einfach verschwinden, mich ohne jegliche Antwort auf all die Fragen, die sich in mir angesammelt hatten, zurücklassen.
»Du kannst nicht einfach gehen und mich hier sitzen lassen. Was mache ich denn, wenn diese Typen wieder auftauchen und mich diesmal aufs Korn nehmen?« Etwas Besseres fiel mir nicht ein, um sie zu halten.
»Warum sollte das geschehen?«, meinte sie. »Außerdem ist das hier sowieso nicht von Dauer.«
»Warum bist du damals so aus dem Nichts aufgetaucht und hast mich beschützt?«, fragte ich. »Wenn dir so viel daran lag, dann solltest du mir jetzt zumindest ein paar Fragen beantworten.«
Sie überlegte, irgendwie schien ich einen wunden Punkt getroffen zu haben. »Ich habe dich gerettet, als du noch ein Kind warst? Wovor?«
Ich erzählte ihr von dem Mann im Hauseingang, davon, dass er mich ermorden wollte, und von ihrem Einschreiten.
»Er hatte ein Amulett um den Hals hängen?«, fasste sie nach.
»Er hatte eine Münze an einer Kette um den Hals hängen, die hast du ihm abgenommen. Ich konnte nicht genau erkennen, was du mit den Münzen gemacht hast.« Dass sie auch eine hatte, schien ich nicht erwähnen zu müssen. »Jedenfalls seid ihr beide verschwunden, nachdem du auf die Münze gedrückt hattest.«
Sie dachte nach, starrte quasi durch mich hindurch. »Du bist stationär«, flüsterte sie. »Warum sollten sie …?«
»War das ein Beamvorgang? Seid ihr zu einem Raumschiff im Orbit gebeamt worden? Warum hast du dich nicht verändert? Zeitdilatation? Fliegt euer Schiff mit relativistischen Geschwindigkeiten?«
Sie grinste, ich kam mir vor wie ein Idiot. Waren die Erklärungen, die ich mir zurechtgelegt hatte, so kindisch, dass man nur darüber lachen konnte?
Sie hatte sich entschieden. »Komm mit, wir können nicht auf ewig hier auf der Bank sitzen bleiben. Ich muss ins Hotel, die Sachen holen.«
Das war jetzt nicht die Antwort auf meine Fragen, aber zumindest servierte sie mich nicht ab.
»Welches Hotel?«, fragte ich.
»Sengelmannshof«, war die Antwort. »Wir haben erst gestern Abend dort eingecheckt.«
»Dann müssen wir da lang«, sagte ich und zeigte auf den Weg, der durch den Wald hinaufführte. Er würde uns oben auf den Ruhrhöhen wieder aus dem Wald herausbringen. Von da aus hatten wir noch so an die zwei Kilometer Fußweg vor uns, wieder leicht bergab, bis wir an dem von ihr erwähnten Hotel anlangen würden.
Wir schwiegen fast die ganze Zeit über. Erst als wir kurz vor der Abzweigung der kleinen Stichstraße standen, die zum Hotel führte, sprach sie mich wieder an.
»Hast du ein Auto?«
»Ja, steht auf dem kleinen Parkplatz neben dem Chinarestaurant.«
»Mist!«, war ihre Antwort.
Ich wartete, wollte ihr Gelegenheit geben, mir ihre Gedankengänge mitzuteilen.
»Die Polizei wird sicherlich nach uns fahnden, zumindest um uns als Zeugen zu vernehmen. Über dein Auto werden sie auch deine Adresse schnell haben. Wahrscheinlich stehen sie jetzt schon vor deiner Haustür. Wo wohnst du?«
»Vor der Brücke«, antwortete ich. Das war weit genug weg. Unser Weg hatte uns nicht annähernd in die Nähe dieses Stadtteils gebracht.
»Du wartest hier, ich hole meine Sachen. Ich bin gleich wieder da.« Sie machte ein paar Schritte in die Stichstraße hinein, dann drehte sie sich noch einmal um. »Du musst dir keine Sorgen machen, ich komme zurück, geht gar nicht anders, ich muss ja wieder hier rauf, da unten ist eine Sackgasse.«
Das beruhigte mich keineswegs. Für Autos war die Straße eine Sackgasse, klar. Fußgänger konnten aber über den alten Straßenverlauf des Sengelmannswegs abkürzen und weiter unten wieder auf die Rheinstraße treffen. Außerdem … wer garantierte mir denn, dass sie sich nicht einfach wegbeamte? Ich hatte beschlossen, erst einmal, mangels Fakten, weiterhin dieses Phänomen als Ursache für ihr damaliges Verschwinden anzunehmen.
Sie hatte gemerkt, dass ich ihr nicht traute. »Es ist unschicklich, wenn ich dich jetzt mit auf unser Zimmer nehme«, meinte sie. »Eure Gesellschaft hier ist antiquiert. Es war schon schwer genug, überhaupt ein Zimmer für mich und Belo zu bekommen, ohne Dokumente vorzulegen. Wir mussten ganz schön improvisieren. Wenn ich jetzt auch noch mit einem anderen Mann aufkreuze …«
»Ich denke, das könnte eher zur Erläuterung beitragen. Du könntest mich als deinen Mann ausgeben, der dich zurückholt nach einem Abenteuer«, gab ich zu überlegen.
»Du hast Angst, dass ich verschwinde«, meinte sie dann und grinste. »Kein Vertrauen? Ich habe dir schließlich vor einundzwanzig Jahren das Leben gerettet, zählt das nicht?«
Ich blieb stumm. Natürlich zählte das, ihr Verhalten sprach aber andere Bände.
»Ich kann gar nicht verschwinden, es geht momentan physisch nicht. Du machst dir unnötig Sorgen. Und dein Vorschlag von vorhin, dein Aufkreuzen zu erklären, ist, gelinde gesagt, dämlich.«
»Ist das Zimmer bezahlt?«, fragte ich.
»Im Voraus, für drei Nächte.«
»Dann warte ich vor dem Hotel.« Zu mehr Zugeständnissen war ich nicht bereit.
Sie zuckte mit den Achseln und marschierte los, die abschüssige Straße hinunter.
Ich musste nicht lange auf dem Parkplatz vor dem Eingang warten. Keine fünf Minuten später war sie wieder da, eine kleine Sporttasche in der Hand. »Wir können«, sagte sie.
»Wohin?«, fragte ich.
»Weg hier. Wo ist die nächste Bushaltestelle?«
»Gleich hinter der Biegung der Rheinstraße, wir sind vorhin daran vorbeigekommen. Wo willst du hin?«
»Auf jeden Fall raus aus diesem Stadtteil, besser noch in ein anderes Land«, war ihre Antwort.
»Du hast Angst. Angst davor, dass diese Motorradfahrer wieder auftauchen«, konstatierte ich. »Wenn ich die wäre, würde ich genau das auch annehmen und mich auf die Ausfallstraßen aus Kettwig raus konzentrieren.« Dass ich auch das Hotel beobachten würde, behielt ich lieber für mich.
»Du meinst …«
»Wir laufen denen direkt in die Arme, wenn wir jetzt aus dem Stadtteil verschwinden. So viele Ausfallstraßen hat Kettwig nicht. Zumindest die großen lassen sich leicht mit maximal zehn Leuten überwachen. Welche Ressourcen haben die denn zur Verfügung?«
»Ich weiß nicht, womöglich mehr als genug«, war ihre Antwort.
»Wir sollten zu mir gehen«, schlug ich vor. »Ein paar Tage in meiner Wohnung, dann können wir planen.«
»Die Polizei …«
»Und wenn schon! Ich mache eine Aussage. Bin Hals über Kopf geflohen nach den Schüssen. Wer du bist und vor allem, wo, weiß ich nicht. Ist nur zur Hälfte gelogen.«
»Die Ausfallstraßen, welche sind das?«
»Die Straße nach Mülheim, nach Essen führen zwei, eine dort hinten wieder auf die Ruhrhöhe rauf und eine unten im Ruhrtal am Fluss entlang. Dann in Vor der Brücke …«
Sie unterbrach mich. »Die Brücke dürfte auf jeden Fall beobachtet werden, sofern sie überhaupt Posten aufgestellt haben. Warum sollten sie uns über die Brücke lassen, nur um uns am anderen Ufer noch mehr Möglichkeiten zu eröffnen. – Wo wohnst du?«, fragte sie noch einmal nach.
»Wir müssten über die Brücke«, gab ich zu. Damit war mein Plan obsolet geworden.
»Ein Patt. Sie werden die Hotels abklappern, nach und nach. Bis sie unsere Spur aufgenommen haben. Verdammt, ich muss runter von der Straße!«
Wenn sie mir sagen würde, worum es wirklich ging, schoss es mir durch den Kopf. Dann könnte ich … ja, was denn eigentlich? Die Behörden einzuschalten, hatte sie kategorisch ausgeschlossen. Worauf hatte ich mich da eingelassen?
Auf ein über zwanzig Jahre altes, tief sitzendes Trauma. Ich konnte jetzt nicht kneifen. »Ich hole meinen Wagen, du legst dich in den Kofferraum und so kommen wir über die Brücke.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, antwortete sie. »Wenn die Polizei da ist …«
»Dann lasse ich meine Personalien aufnehmen. Da ist nichts weiter dran.«
»Ich komme ein ganzes Stück weit mit«, entschied sie. »Ich warte in Sichtweite, dann kann ich eingreifen, falls sich eine brenzlige Situation entwickelt.«
Wir marschierten den ganzen Weg zurück. Wieder die endlos erscheinende Rheinstraße hoch. Die einfachere Strecke, runter bis zur Graf-Zeppelin-Straße, erschien uns zu unsicher. Auch wenn es mittlerweile dunkel geworden war, fühlten wir uns auf nicht so stark befahrenen Straßen sicherer als auf Kettwigs Hauptverkehrsachse. Am höchsten Punkt verließen wir die Straße und benutzten die Waldwege, bis wir im Schmachtenbergviertel über die Nebenstraßen endlich wieder die Emil-Kemper-Straße erreicht hatten.
Catriona blieb in einem Hauseingang stehen, gute hundert Meter von der Straßenecke entfernt, an der sich das Chinarestaurant befand. Ihre rechte Hand befand sich in der Jackentasche. Sie umklammerte diese Waffe, mit der sie damals den Mann erschossen hatte.
Ich ging einfach weiter, meinen Wagen konnte ich schon sehen. Er stand nahe bei einer der Straßenlaternen. Der Eingang des Restaurants war mit Flatterband abgesperrt, ein Polizist stand auf dem Bürgersteig und sah mir aufmerksam entgegen.
Wir hatten das durchgesprochen, Catriona und ich. Ich hielt mich an den Plan und ging zielstrebig auf den Mann zu. Dabei achtete ich sorgsam darauf, keine hektischen Bewegungen zu machen und meine Hände immer sichtbar zu halten.
»Entschuldigung«, begann ich das Gespräch, als ich die verbliebene Entfernung als gering genug einschätzte, mich mit normaler Stimme bemerkbar machen zu können. »Ich war vorhin Gast in dem Restaurant, als es zu der Schießerei kam. Ich …«
Der Polizist holte ein Funkgerät aus der Tasche und sprach leise etwas hinein. Fast übergangslos öffnete sich die Glastür des Restaurants und zwei in Zivil gekleidete Männer kamen heraus.
»Sie sind der Mann, der vorhin aus dem Restaurant geflohen ist?«, fragte der eine und winkte mich heran. Der andere hob das Flatterband an und ließ mich hinter die Absperrung. »Wir bleiben draußen, drinnen ist die Spurensicherung beschäftigt.«
»Du nimmst seine Personalien auf«, sagte der eine der beiden Männer, drehte sich dabei wieder um und machte Anstalten, zurück in das Restaurant zu gehen.
»Meine Jacke«, sagte ich und hielt ihn damit zurück. »Meine Jacke hängt da drinnen noch über dem Stuhl. Ich meine«, druckste ich herum, »kann ich sie holen?«
»Ist was Wichtiges drin?«
Ich schüttelte den Kopf, Schlüssel und Portemonnaie hatte ich bei mir.
»Dann kommen Sie doch morgen früh zur Kettwiger Wache, da können Sie sie abholen.«
Ich nickte und holte meinen Personalausweis aus dem Portemonnaie.
»Sie haben richtig Glück gehabt, der Mann hat da drinnen ein Blutbad angerichtet. Fünf Tote, drei Schwerverletzte.« Der Polizist notierte meinen Namen nebst Adresse und gab mir den Ausweis zurück. »Konnten Sie etwas erkennen? Den Täter identifizieren?«
»Nein«, entgegnete ich. »Er hatte den Helm auf. Schwarze Lederkleidung, schwarzer Helm. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Hatte ich auch nicht erwartet«, sagte er. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls wir noch Fragen haben. – Ach so, die Frau, die mit Ihnen durch die Küche ist, wissen Sie, wo sie ist?«
Da war sie, die Frage, bei der ich nicht patzen sollte. »Nein«, sagte ich. »Die ist in Richtung Innenstadt gelaufen. Ich bin den Berg hoch.« Dabei deutete ich mit meinem Daumen die Emil-Kemper-Straße hoch.
»Kennen Sie die Frau?«, fasste er noch einmal nach.
Wiederum verneinte ich. »Bewusst habe ich sie vorher nie hier wahrgenommen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Spricht etwas dagegen, wenn ich mit meinem Wagen nach Hause fahre?« Ich nickte mit dem Kopf zum Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Fahren Sie. Falls Sie psychologische Hilfe benötigen, wenden Sie sich an die örtlichen Krankenhäuser«, gab er mir noch einen guten Rat mit auf den Weg.
Ich ging zu meinem Wagen hinüber und fuhr die Emil-Kemper-Straße hinauf. Wie mit Catriona besprochen, sammelte ich sie hinter der ersten Kurve auf. Sie hatte sich dahin zurückgezogen, als klar war, dass es zu keinem erneuten Zwischenfall kam.
»Worum geht es hier wirklich?«, fragte ich. Im Auto fühlte ich mich merkwürdigerweise sicher. Das war für mich ein geschützter Raum, auch wenn es nur eine Illusion war. »Mafia?«, warf ich noch ein, allerdings nur, weil es mir mittlerweile ebenso irrational erschien wie der vermeintlich beobachtete Beamvorgang.
»Warum wollte er dich töten, ich meine, dich als Kind?«, gab sie die Gegenfrage zurück, ohne auf meine einzugehen. »Du bist stationär, das ergibt keinen Sinn.«
Als Reaktion darauf trat ich heftig auf die Bremse. Als der Wagen stand, drehte ich mich zu ihr um und schrie sie an: »Sag mir endlich, worum es hier geht! Seit meiner Kindheit mache ich mir jeden Tag Gedanken darüber. Ich kann bald nicht mehr! Was ist hier los?«
Ich konnte an ihren Augen erkennen, dass sie mit dem Gedanken spielte, die Tür aufzustoßen und auszusteigen. Sie besann sich dann doch anders. »Zeitreise, Andreas«, antwortete sie. »Ich bin eine Zeitreisende, du bist stationär.«
»Und die anderen …?«
»Sind ebenfalls Zeitreisende. Ich bin ihnen entkommen. Wir sind ihnen entkommen. Wir waren zu acht, ursprünglich, jetzt bin nur noch ich übrig. Die anderen sieben haben sie alle erwischt, Belo vorhin.«
»Und welche Seite von euch ist die Zeitpolizei?«, fragte ich nach, bemüht einen Witz zu machen.
»Keine«, sagte sie. »Es ist etwas komplizierter, Andreas.«
Ich fuhr langsam wieder an. Wir waren mittlerweile am Ende der Emil-Kemper-Straße angelangt, da, wo sie in die Schmachtenbergstraße einmündete. »Wenn wir zu mir nach Hause wollen, solltest du vielleicht besser in den Kofferraum …«
Sie schüttelte müde den Kopf. »Ich habe noch einmal darüber nachgedacht. Das Risiko, dahin zu fahren, ist ungleich größer als jenes, das Weite zu suchen. Wir sollten lieber weg von hier, irgendwohin, wo sie uns erst einmal eine lange Zeit suchen müssen.«
»Jetzt sofort? Ich meine, ich habe keine Sachen dabei und meine Arbeit …«
Sie drehte sich ruckartig zu mir um. »Willst du nun mit oder nicht? Ich dachte, du hättest dich entschieden. Es hat keinen Sinn, hier zu bleiben. Wenn sie damals hinter dir her waren, werden sie es jetzt erst recht wieder sein. Ich verstehe nicht, warum du als Stationärer ein Ziel für sie bist, aber du musst dich damit abfinden. Und wenn du nicht mitkommst, werden sie dich kriegen: irgendwie, irgendwo, irgendwann. Das ist sicher.«
Sie jagte mir Angst ein mit ihrer Argumentation. Das, was ich von Zeitreisen aus Science-Fiction-Romanen wusste, schien sich so gar nicht mit dem zu decken, was mir hier widerfuhr. Warum waren die hinter mir her? War ich das Rädchen, das es zu stören galt, um den Zeitfluss zu verändern? Bei aller Selbstverliebtheit konnte ich mir das nur schwer vorstellen.
»Wo soll es hingehen?«, fragte ich.
»Was hältst du von der Küste? Ich war schon lange nicht mehr an einem Meer. Wie weit ist die Nordsee von hier entfernt?«
»Die schnellste Strecke so ungefähr drei Stunden. Wir könnten nach Nordholland fahren.«
»Gute Idee, kennst du den Weg?«
Ich nickte.
»Dann bring uns erst mal unbeschadet aus dem Ort raus.«
Ich bog nach rechts ab, die Schmachtenbergstraße hoch und immer weiter geradeaus. Einer Eingebung folgend, bog ich nach einiger Zeit in die Kamisheide ein. Wieder runter, ein Stück durch den Wald und dann erneut hoch, in Richtung Schuir. Der Schuirweg war nur spärlich befahren, bislang hatte ich nirgends ein stehendes Auto bemerkt, aus dem heraus der Verkehr hätte beobachtet werden können. Hatten wir uns umsonst Sorgen gemacht?
Sicherheitshalber bog ich vom Schuirweg ab in Richtung Sternwarte, von da aus dann über Feld- und Waldwege bis in den angrenzenden Stadtteil Bredeney. Erst dort traute ich mich wieder auf die Hauptstraßen. Als wir dann endlich auf der Autobahn waren, lehnten wir uns erschöpft von der Anspannung in den Sitzen zurück.
»Drei Stunden Fahrt dürften genügen, um mir von den Kompliziertheiten zu berichten«, meinte ich.
Sie seufzte. »Ich bin Ingenieurin, Bergbauingenieurin. Spezialisiert auf Asteroidenbergbau«, sagte sie.
Ich zog meine Augenbraue hoch und ließ sie erzählen.
»Ich war erst zwei Jahre draußen, stationiert auf ASTROMINC 3, einer der sechs großen Stationen, die wir da draußen im Asteroidengürtel haben … hatten.«
Sie sprach nicht weiter, ihr Blick hatte sich in der Ferne verloren.
»In der Zukunft treiben wir demnach Bergbau im Asteroidengürtel. Und was ist Astronomic?«
»Nicht in der Zukunft, Andreas. Ich stamme aus dem Jahr 1643. Unsere Geschichte ist völlig anders verlaufen als diese hier. Ich hatte gehofft, durch den weiten Sprung in die Zukunft in eine Gesellschaft zu geraten, die endlich über Weltraumfahrt verfügt, aber ich habe mich getäuscht. Weiter als bis zum Mond seid ihr noch nicht gekommen. Daneben strengt ihr euch immens an, den Planeten zu ruinieren, sodass man sich fragen muss, ob ihr es überhaupt noch einmal weiter nach draußen schafft.«
»1643?«, fragte ich verblüfft. »Das war doch mitten im Dreißigjährigen Krieg, vorausgesetzt, wir reden von der Zeitrechnung nach Christi Geburt«, entfuhr es mir. Hatte ich es mit einer Verrückten zu tun? Ich besah sie mir noch einmal eingehend aus dem Augenwinkel. Zumindest schien sie alles so zu meinen, wie sie es sagte. Wäre da nicht der Umstand aus meinen Kindertagen gewesen, ich hätte sie im nächstbesten Krankenhaus abgeliefert.
»1643 nach eurer Zeitrechnung«, bekräftigte sie. »Ich habe recherchiert. Die technische und damit einhergehend auch die kulturelle Entwicklung haben einen völlig anderen Verlauf genommen. Wir sind bereits gut hundert Jahre vorher bis zum Mond vorgestoßen, haben eine Kolonie auf dem Mars, die seit fast fünfzig Jahren völlig autark lebt, und mittlerweile sechs große Stationen im Asteroidengürtel. ASTROMINC ist die Asteroid Mining Incorporation, eine Aktiengesellschaft, deren Hauptanteilseigner die größten Staaten der Erde sind.«
Sie holte tief Luft, dann erzählte sie weiter. »Ich war dabei, als wir auf eine alte Station stießen, älter als unsere ersten Bemühungen, ins All vorzudringen. Sie strotzte nur so von Waffensystemen. Neben stationären Abschussrampen für Raketen aller Art, inklusive Nuklearwaffen, verfügte sie über ein gewaltiges Arsenal an kleinen Raumjägern, ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet. All das gesteuert von einer künstlichen Intelligenz.«
Jetzt wollte sie mich auf den Arm nehmen, ich glaubte ihr kein Wort.
»Sie bewachte einen Sprungpunkt, wir haben dieses Phänomen so getauft. Wenn du so willst, ist es eine Art Dimensionstunnel, der unser Sonnensystem mit einem anderen verbindet. Direkt verbindet. Flugzeit null Sekunden, rechnet man die Zeit, die man braucht, um hinzukommen, nicht mit.«
»In Nullzeit nach Alpha Centauri!«, staunte ich.
»Nein, nicht Alpha Centauri. Definitiv nicht. Wir wissen nicht, wo wir da rausgekommen sind. Es ist aber so weit von uns entfernt, dass wir anhand der Sternkonstellationen nicht feststellen konnten, wo wir waren.«
»Ihr seid da durch?«, fragte ich. Es wurde immer unfassbarer.
»Die KI ließ uns gewähren, wir konnten unbeschadet raus. Als unser Shuttle zurück wollte, wurde es allerdings abgeschossen. Die automatischen Systeme nahmen alles aufs Korn, was durch das Dimensionstor kam. Völlig egal, ob es sich um Asteroidenbruchstücke oder um ein Raumschiff handelte. Es wurde alles angegriffen. Wir waren mehrfach Zeuge davon, dass größere Steinbrocken durchkamen. Die Jägerschiffe starteten und zertrümmerten die kleinen Berge.«
»Euer Schiff wurde also zerstört. Wie kommst du hierher?«, ich hatte eine Logiklücke entdeckt.
»Unser Shuttle wurde zerstört. Ich war an Bord des Schiffs, das an der fremden Station angedockt hatte. Nachdem wir verstanden hatten, dass die Station alles angriff, was durch den Sprungpunkt kam, setzten wir alles daran, sie abzuschalten. Wir brauchten fast einen Monat, bis es uns gelang. – Es wäre besser gewesen, wir hätten es nicht getan.
Wir drangen in das andere Sonnensystem ein. Es verfügte auf seiner Seite ebenfalls über einen Asteroidengürtel. Außerdem drehten sich um die Sonne dort fünf Planeten, keiner davon in der habitablen Zone. Wir haben kein dort eingeborenes Leben gefunden.
Was wir fanden, war trotzdem erstaunlich. Eine Sonde saß direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Sprungpunktes. Sie musste eine Nachricht abgesandt haben, ihre Erbauer herbeigerufen. Ein Schiff wartete daneben, als wir den zweiten Versuch machten, durch den Sprungpunkt zu gehen. Sie funkten uns sofort an. Einen Erstkontakt hatte ich mir immer anders vorgestellt. Jedenfalls war unsere Überraschung groß, als wir Menschen vorfanden. Definitiv Homo sapiens, bis ins kleinste Chromosom mit uns vergleichbar.
Wir nahmen sie mit zu uns hinüber, auf unser Schiff, auf die fremde Station. Dort hatten wir neben den ganzen Waffensystemen auch eine erkleckliche Anzahl hiervon gefunden.« Sie nestelte an der Kette, die sie um den Hals trug, und zog eine dieser Münzen hervor, die mich seit über zwanzig Jahren in fast jedem Traum verfolgten.
»Wir hielten sie für Schmuck. Unsere Gäste zeigten uns, was sie wirklich waren. Sie konnten sie bedienen, wussten genau, was sie tun mussten. Zumindest erläuterten sie uns das. – Ach so, ich vergaß. Die Sprache. Sie sprachen eine Form des Deutschen, die zumindest einige von uns verstanden, wenn man sich darauf einließ. Ich verstand sie, Deutsch war eine meiner Muttersprachen.«
»Ihr habt die Fremden einfach so an alles drangelassen?«, fragte ich erstaunt. Auch wenn ich mich selbst als nicht fremdenfeindlich einstufte, war doch eine gewisse Vorsicht angebracht.
»Nein, wir haben ihnen lediglich eine Führung durch die fremde Station zukommen lassen. Sie fragten anlässlich dieser Führung explizit nach den Amuletten. Du kannst dir vorstellen, wie erstaunt wir waren, dass sie wussten, dass es die Münzen dort geben musste.«
»Und sie haben euch in die Funktionsweise der Dinger eingewiesen?«
»Ja. Es hat etwas gedauert, bis wir ihnen ausreichend vertrauten, aber sie haben uns eingewiesen. Wir haben Tests gemacht. Ich war eine der Ersten, die sich mithilfe eines dieser Amulette in der Zeit zurückversetzt hat. In eine Station, die verlassen war. Menschenleer. Ich hatte mich exakt in den Zeitpunkt zurückversetzt, in dem wir mit unserem Schiff dort anlangten. Ich widerstand der Versuchung, uns zu warnen. Sie hatten uns eingehend davor gewarnt, die Vergangenheit durch Handlungen oder die bloße Zurverfügungstellung von Informationen zu verändern.
Ich redete mir ein, dass das richtig sein müsste, auch wenn es mir schwerfiel, die Kameraden auf dem Shuttle in den sicheren Tod fliegen zu lassen.
Ich sprang wieder zurück in meine Zeit, berichtete von meinen Erlebnissen und konnte die anderen mithilfe der gemachten Aufnahmen überzeugen.«
»In die Zukunft seid ihr nicht gesprungen?«
»Sie hatten uns glaubwürdig versichert, dass das nicht ginge, da die Zukunft noch nicht existiere. – Eine dreiste Lüge, wie wir mittlerweile wissen, wenn auch eine weniger schwerwiegende.«
Ich zog erneut meine Augenbraue hoch. Auch wenn ich ihr nicht wirklich glaubte, das Garn, das sie spann, war nicht schlecht.
»Wir wollten wissen, woher sie kamen. Sie machten uns den Vorschlag, es uns zu zeigen. Sie wollten dabei sein, den Zeitpunkt erleben, als ein Raumschiff außerirdischer Herkunft ihre Vorfahren kidnappte. Wollten das aufzeichnen als Beitrag zu Ihrer Geschichtsforschung. Sie erzählten uns von Jahrhunderten der Versklavung und einem erbitterten Aufstand, in dem sie schlussendlich obsiegten. – Wir wollten ihnen glauben, nur so ist unsere Blindheit zu erklären.
Wir rüsteten uns zu einem Sprung in die Vergangenheit. Es sollte fast eintausend Jahre zurückgehen. Elf Mann unserer Besatzung und drei von ihnen waren geplant. Wir staunten nicht schlecht, als wir ankamen. Du musst dir das so vorstellen: Wenn ein Amulett genügend Energie getankt hat, kann es auch größere Objekte versetzen. Es erzeugt eine Blase innerhalb derer alles den Zeitsprung durchführt.
Um sichergehen zu können, dass wir auch unbeschadet zurückgelangen würden, nahmen wir vierzig dieser Amulette mit. Unser Shuttle versetzten wir mit uns exakt um 967 Jahre in die Vergangenheit. Gleichzeitig verschoben wir uns im Raum, sodass wir im Orbit der Erde auftauchten. Eine erstaunliche Technologie. Sie glich die Eigenbewegung des Sonnensystems genauso aus, wie sie uns an den Ort und die Zeit transferierte, die wir eingegeben hatten. Es hat irgendetwas mit dem Masseanker der Sonne zu tun, der zieht einen während der Zeitreise mit. Ohne den Anker käme man im Nichts wieder raus.
Ich weiß bis heute nicht, wie sie es geschafft haben, aber als wir ankamen, waren plötzlich dreißig von ihnen an Bord. Es wurde richtiggehend eng. Davon abgesehen, übernahmen sie mit Gewalt das Shuttle und zwangen uns zur Landung. Sie trauten sich nicht selber zu, die Fähre zu steuern, nur deshalb ließen sie uns leben. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, brachten sie einen von uns allerdings um, erschossen ihn vor den Augen der versammelten Mannschaft.
Wir landeten das Schiff in Europa, in Süditalien, um genau zu sein. Sie inhaftierten uns im Shuttle, dann diskutierten sie, was sie mit uns anstellen sollten. Die vorherrschende Meinung war, uns umgehend zu eliminieren. Einzig ein paar Stimmen waren dagegen, sie hielten den anderen vor, dass es dann so gut wie ausgeschlossen war, wieder zurückzukommen, da sich keiner von ihnen die Bedienung des Shuttles zutraute. Außerdem war da so eine ominöse Andeutung, dass man eine Zeitlinie herstellen müsse, das wurde aber von vielen belächelt.
Mir leuchtete das alles nicht wirklich ein. Mithilfe der Amulette war schließlich ein Raumzeitsprung möglich, somit musste man auch vom Erdboden aus direkt zurück zum Sprungpunkt kommen können. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum sie diese Möglichkeit verwarfen.
Egal, wir nutzten einen Überraschungseffekt aus und überwältigten die Wache bei der Essensausgabe, griffen uns jeder eins dieser Amulette und sprangen in die Zeit. Zwei von uns haben es schon damals nicht geschafft, sie wurden erschossen, bevor sie die Amulette in Gang setzen konnten. Die anderen haben sie nach und nach erwischt. Den Rest der Geschichte kennst du ja.«
»Nicht wirklich«, entgegnete ich. »Wir haben weder das Jahr 1643 noch sind wir im Italien des Mittelalters. Außerdem betreiben wir keinen Asteroidenbergbau.«
Sie lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie lächeln sah.
»Schön gekontert, Andreas. Sie müssen die Vergangenheit geändert haben. Aus mir unerfindlichen Gründen haben sie die Historie gezielt verändert. Sie haben verhindert, dass die Wissenschaft früh obsiegen konnte. Haben Weltraumfahrt und damit auch den Asteroidenbergbau so gut wie unmöglich gemacht. Den Sinn dahinter verstehe ich nicht. Ich bin kein Historiker, ich bin Ingenieur, spezialisiert auf Asteroidenbergbau.«
»Demnach war die Geschichte mit den Außerirdischen, die ihre Vorfahren gekidnappt haben, eine bewusste Lüge«, sinnierte ich. Ich begann mich auf ihre Geschichte einzulassen.
»So sehe ich das mittlerweile. Wie sollten diese Außerirdischen auch in unser System gelangen, wenn da draußen am Sprungpunkt das Fort über uns wacht?«
»Das Fort?«
»Wir haben die automatische Anlage so genannt. Wenn das wirklich der einzige Zugang zu unserem Sonnensystem ist, ist das ein wirksamer Schutz, der ein Eindringen von außen verhindert.«
»Du gehst davon aus, dass es sich noch immer da oben befindet?«
»Wir haben es 1643 abgeschaltet, die Historie ist aber mittlerweile komplett anders verlaufen. 1643 gab es keine Raumfahrt, demnach also auch kein Abschalten des Forts.«
»Aber du bist hier«, entgegnete ich. »Deine Handlungen konnte man doch nicht rückgängig machen, zumal du dich doch auch daran erinnerst«, hielt ich ihr entgegen.
»Das ist nicht ganz richtig, so funktioniert der Faktor Zeit nicht. Wäre ich stationär so wie du, müsste ich dir recht geben. Aber ich bin nicht mehr stationär, ich bewege mich quasi außerhalb, deshalb kann man durchaus Handlungen meines stationären Ichs beeinflussen, mich selbst aber nicht mehr, da ich mittlerweile weitergezogen bin.«
»Das habe ich, wenn ich ehrlich bin, nicht verstanden«, entgegnete ich.
»Ich selber auch nicht«, meinte sie. »Aber so ist es einfach. Auch meine jetzigen Handlungen könnte man später, das ist eine Vokabel, die nicht wirklich passt, aber ich habe keine andere, ändern. Wenn ich bis dahin nicht weitergesprungen bin, ist die Änderung endgültig, wenn ich es aber geschafft habe weiterzuspringen, ist es so, wie ich es vorhin beschrieben habe.«
»Bleibt die Frage, warum man mein stationäres Ich als kleines Kind ausschalten wollte. Wenn ich deinen Ausführungen Glauben schenken darf, wäre es damit aus für mich, solange ich nicht selber in der Zeit versetzt worden bin.«
»Genauso ist es. Wenn ich das Attentat nicht verhindere, ist es aus mit dir, bevor es überhaupt angefangen hat.«
»Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich dir vorhin das Leben gerettet habe. Vielleicht wollten sie dieses Eingreifen meinerseits verhindern«, sinnierte ich vor mich hin. »Retten wir mich, um dich zu retten?«, schlug ich vor.
»Ich denke, wir haben keine andere Wahl«, sagte sie.
»Der Ladevorgang der Amulette geht schleppend voran. Für eine so kurze Distanz ist die Präzision ungeheuer wichtig, das verschlingt mehr Energie als ein Sprung über mehrere Jahrhunderte. Wir werden noch mindestens drei Tage warten müssen.«
Die Antwort auf meine Frage, wann wir denn endlich in meine Vergangenheit reisen konnten, um mich zu retten, befriedigte mich keineswegs.
Wir hatten uns in Bergen aan Zee direkt gegenüber dem Seeaquarium ein kleines Apartment gemietet. Nicht gerade billig, verlangte man hier für eine Woche doch so viel, wie ich für meine Wohnung zu Hause im Monat bezahlte. Wir waren mitten in der Nacht angekommen, mussten noch einige Stunden im Wagen verbringen, bis wir uns auf die Suche nach einer Unterkunft machen konnten.
Ich konnte von Glück sagen, dass ich fit genug war, nach den Anstrengungen des Tages noch die rund drei Stunden Fahrt problemlos hinter mich gebracht zu haben. Catriona fühlte sich überfordert damit, ein Auto zu fahren. Ob sie es überhaupt konnte, wusste ich nicht. Gab es zu ihrer Zeit überhaupt so etwas wie unsere Autos?
»Die Amulette laden mithilfe von Solarenergie auf, so weit habe ich das verstanden. Aber lässt sich der Vorgang nicht beschleunigen, wenn wir sie zum Beispiel zusätzlich unter das Licht einer Lampe legen?«, fragte ich. Mir war unwohl bei dem Gedanken, so lange abwarten zu müssen, bis wir einen Zeitsprung machen konnten. Irgendwie hatte ich das irrationale Gefühl, dass wir das Attentat auf mich als Kind so schnell als möglich verhindern sollten, auch wenn ich mir immer wieder sagte, dass es völlig egal sein sollte, wann wir uns auf den Weg machten. Da ich ja genau wusste, was damals geschehen war, würde Catriona auf jeden Fall rechtzeitig erscheinen.
»Das haben wir in Kettwig so gemacht, gebracht hat es wenig. Vor allem ist es aber mehr als riskant, die Geräte im Zimmer zu lassen, wenn wir uns entfernen. Hätte man sie uns in Kettwig aus dem Hotel gestohlen, stünden wir jetzt recht blöd da«, entgegnete Catriona. »Ich habe es lieber an meinem Hals baumeln, auch wenn das bedeutet, dass wir etwa vier Stunden länger warten müssen, bis die minimale Aufladung erreicht ist, die wir für den Sprung brauchen.«
»Was machen wir mit dem angefangenen Tag?«, fragte ich. »Ich könnte ein paar Klamotten gebrauchen und die hier dürfen gewaschen werden.« Der Hinweis auf das an Kleidung, was ich auf dem Leib trug, rang ihr ein Lächeln ab.
»Wenn du in der Zeit hin und her springst, wirst du dich daran gewöhnen müssen, mit wenig auszukommen. Häufig genug mussten wir, um nicht aufzufallen, unsere komplette Kleidung austauschen. Da ist es einfacher, wenn man nur das hat, was man auf dem Leib trägt.«
»Was hast du in der Tasche?«, fragte ich ein wenig pikiert.
»Ersatzkleidung!« Sie lachte. »Ich gebe gerne zu, dass es angenehmer ist, wenn man sich umziehen kann. Aber ich finde, wir sollten jetzt erst mal frühstücken gehen. Was hältst du von einem der Strandcafés?«
Wohl oder übel fügte ich mich. Auf dem Weg zum Strand kontrollierte ich meine Barschaft. Knapp dreihundert Mark hatte ich dabei, ansonsten nichts. Meine Euroschecks lagen zu Hause in meiner Wohnung. Ich hoffte darauf, dass die niederländischen Cafébetreiber das deutsche Geld akzeptierten. In der Vergangenheit war das zumindest so gewesen.
Das Frühstück in dem herrlichen Ambiente direkt am Strand war fantastisch. Wir saßen fast zwei Stunden da und ließen uns die Frühlingssonne guttun. Catriona hatte mir das Amulett ihres Partners überlassen, es baumelte an der Kette um meinen Hals, ebenfalls der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt.
Catriona hatte ihre Jacke ausgezogen und saß mit ihrer an beiden Knien zerschlissenen Hose und ihrem T-Shirt mir gegenüber.
»Die Hose«, erlaubte ich mir anzumerken, »hast du keine andere? Ich meine, eine intakte?«
Sie lachte laut auf. »Das ist der letzte Schrei aus deiner Zukunft«, sagte sie. »Wir waren fast dreißig Jahre weiter, da laufen alle so rum.«
Mein Gesichtsausdruck musste Bände sprechen, sie lachte erneut.
»Du darfst mir ruhig glauben. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Mode hier noch nicht so weit ist, sie wird es bald sein.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Komm, lass uns nach Bergen fahren. Ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Unterwäsche zum Wechseln, Zahnbürste und so weiter. Damit fühle ich mich wohler.«
Ich zahlte. Wir hatten uns bei der Bestellung vergewissert, dass deutsches Geld akzeptiert wurde. Dann schlenderten wir durch den Sand die Rampe hinauf, wollten gerade am Eingang des Seeaquariums vorbei, als Catriona meinen Arm ergriff.
»Da stehen vier Leute an deinem Auto«, sagte sie.
Ich blickte zum Parkplatz hinüber. Tatsächlich, da standen drei Männer und eine Frau um meinen Wagen herum. Sie wandten uns alle den Rücken zu. »Kennst du jemand davon?«, fragte ich.
Die Frau machte einen Schritt zur Seite, drehte sich halb herum und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Ich sah die Löcher in ihrer Jeanshose, direkt an den Knien. Catriona zu ergreifen und sie hinter die Gebäudeecke des Seeaquariums zurückzuziehen, war ein fast instinktiver Vorgang. Sie ließ es mit sich geschehen, sah mich dann aber fragend an.
»Die Hose«, entfuhr es mir. »Die Frau hat auch eine an beiden Knien verschlissene Hose an!«
Catrionas Augen kamen mir auf einmal riesig vor. Panik stand übergangslos in ihrem Gesicht. Nun ergriff sie meine Hand, riss mich mit und rannte in Richtung Strand zurück.
»Du kennst dich hier aus«, flüsterte sie mir zu. »Rechts oder links am Strand entlang, was ist geschickter?«
»Links kommen wir nach Egmond aan Zee, rechts ist erst mal nichts, da sind die Duinen von Schoorl«, sagte ich.
»Ein Dünengebiet?«
Ich nickte.
Sie zog mich nach rechts. Wir hasteten über den Sand, hielten uns nahe der Wasserlinie, da war der Boden fester, wir konnten schneller vorankommen. Nach gut hundert Metern bremste Catriona ab. »Es fällt auf, wenn wir rennen«, sagte sie.
Sie ergriff erneut meine Hand. »Lass uns schlendern. So gehen wir als Liebespaar durch, das einen Strandspaziergang macht.« Sie warf sich ihre Jacke über die Schulter und blickte dabei einmal kurz zurück. Am Strandabgang, direkt neben dem Strandcafé, standen keine Menschen. Hinter uns waren nur eine Familie mit zwei kleinen Kindern und ein Mann mit Hund auszumachen. Noch schienen uns die Leute vom Parkplatz nicht bemerkt zu haben.
»Wie haben sie uns gefunden?«, fragte ich. Wir gingen beide davon aus, dass es sich um Catrionas Verfolger handeln musste – welche Frau würde hier und jetzt freiwillig mit künstlich verschlissenen Hosen herumlaufen?
»Ein Sender, sie müssen einen Sender an deinem Wagen angebracht haben.«
»Einen Sender? An meinem Auto? Aber woher wussten sie denn, welches mein Auto ist?«
»Gute Frage, aber anders kann ich mir nicht erklären, wie sie hierher gefunden haben.«
Ich überlegte. »Haben die es auf mich oder auf dich abgesehen?«, fragte ich. »Ich meine, stationär hin oder her, wieso verwanzen die mein Auto? Außerdem, wenn sie mich hätten erwischen wollen, gab es genügend Gelegenheiten in den letzten einundzwanzig Jahren.«
»Das ist genau das, was mir auch Kopfzerbrechen bereitet«, bekannte Catriona. »Das alles ergibt wenig Sinn.«
Wir schwiegen uns danach gegenseitig an. Ich versuchte noch immer, irgendwie Logik in das ganze Geschehen zu bringen, gelingen wollte es mir nicht.
Nachdem wir die Dünen von Schoorl erreicht hatten, wandten wir uns wieder nach rechts, weg vom Meer. Unser Weg führte uns zuerst durch das Dünenreservat, dann durch einen Pinienwald. Als wir endlich den kleinen Ort Schoorl im Binnenland erreichten, war ich recht mitgenommen, wir waren mehrere Stunden unterwegs gewesen, ich war nichts mehr gewohnt.
Catriona auch nicht. Sie war ebenfalls recht erschöpft, versuchte sich jedoch nichts anmerken zu lassen.
Wir waren direkt im Zentrum des Ortes aus dem Naturschutzgebiet herausgekommen und befanden uns nun auf einem gepflasterten Platz. Linker Hand war ein kleines Einkaufszentrum mit Supermarkt und einigen Geschäften. Auf dem Mäuerchen, mit dem der Platz eingefasst war, machten wir eine Pause.