Terrorwarnstufe Brandrot - Sarah Samuel - E-Book

Terrorwarnstufe Brandrot E-Book

Sarah Samuel

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Beschreibung

Ein verheerender Anschlag auf ein Luxushotel in Bali löst in Südostasien die Terrorwarnstufe Brandrot aus. Die amerikanische Spezialagentin Robin wird nach Singapur entsandt, um den Kampf gegen islamistische Terroristen in der Region zu leiten. Die abgebrühte und erfahrene Agentin setzt auf Tarnen und Täuschen bei der Infiltrierung der Terrorzellen, schreckt aber im Notfall auch vor gnadenlosen Liquidierungen nicht zurück. Im faszinierenden exotischen Ambiente von Indonesien, Malaysia und Singapur entbrennt ein erbittertes Ringen mit vielen dramatischen Wendungen, wobei die Agentin auch so manche böse Überraschung erlebt. Dass Robin in allen Lebenslagen weiß, wo's langgeht, zeigt sich nicht nur in ihrer Bekanntschaft mit dem jungen Franzosen Julien …

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-306-0

ISBN e-book: 978-3-99130-307-7

Lektorat: Dr. Angelika Moser

Umschlagfotos: Tyler Olson, Kianlin, Nuttawut Uttamaharad | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Die Poolbar provozierte die Dschihadisten über alle Maßen. Spärlich bekleidete Frauen, die alkoholische Getränke schlürften: Nirgendwo sonst im Ritz-Carlton verstieß man derart schamlos gegen die islamischen Glaubensregeln. Allein dieser Ort der Todsünden rechtfertigte in den Augen der Islamisten die unerbittliche Strafaktion gegen das Luxushotel am Jimbaran Beach.

Zehn Terroristen preschten in zwei schlammfarbenen Land Rovers heran. Mit kreischenden Bremsen und quietschenden Reifen kamen die Geländewagen vor dem Hotelportal zum Stehen. Die Männer in Kampfanzügen, die Gesichter mit schwarzen Tüchern bis auf schmale Sehschlitze vermummt, sprangen aus den Fahrzeugen und begannen sofort, aus ihren Kalaschnikows zu feuern. Noch bevor die beiden Sicherheitsbeauftragten des Hotels auch nur im Geringsten reagieren konnten, mähte sie schon der erste Kugelhagel nieder.

Damit blockierte niemand mehr den Weg in das weiträumige Atrium, das mehrere Etagen hoch emporragte und durch riesige Glasfronten den Blick auf die gepflegte Gartenanlage voll üppiger tropischer Flora eröffnete. Eigentlich entstand in dieser Lobby der Eindruck, sich an der Außenseite eines Palmenhauses mit Kokos- und Fächerpalmen, Bananenstauden, Ixora- und Hibiskussträuchern, Orchideen, Engelstrompeten und weiterer Prachtentfaltung der Natur Südostasiens zu befinden statt in der Empfangshalle eines Hotels. Drei Vermummte, unbeeindruckt von dieser grandiosen Kulisse, durcheilten die Lobby und schleuderten Handgranaten in die Rezeption, um das Schaltzentrum des Ritz-Carlton von Anfang an lahmzulegen. Den aparten, jungen Balinesinnen, die in ihren blumig gemusterten Batiksarongs hinter der auf Hochglanz polierten Teakholztheke standen, gefror das professionelle Willkommenslächeln im Gesicht. Sie wurden zu einem weiteren Kollateralschaden; selbst weibliche Anmut und Grazie konnten von den Islamisten keine Gnade erwirken.

Dann stießen die drei Bewaffneten auf eine Gruppe von zwölf französischen Touristen, die gerade in der Lobby auf den Transfer zum Flughafen von Denpasar warteten. Die Terroristen richteten ihre Gewehre auf die völlig verängstigten Reisenden und trieben diese überrumpelte Schar ins Direktionsbüro im Erdgeschoss des östlichen Seitentrakts. Dort wurden die zwölf Hotelgäste zusammen mit dem Geschäftsführer des Ritz-Carlton und seinem Sekretär in Geiselhaft genommen.

Die anderen Angreifer stürmten indessen mit dem Ruf „Allahu akbar!“ auf die Terrasse und umzingelten die Poolbar. Wie sie erwartet hatten, herrschte dort zur Happy Hour am späten Nachmittag Hochbetrieb. Sie fanden eine für sie unerträgliche Szenerie vor, mit Prosecco, Champagner und Cocktails überall auf den Tischen und mit halb nackten Frauen als Gipfel der Schändlichkeit. Es bereitete den islamistischen Attentätern daher ein besonderes Vergnügen, die Flaschen um Flaschen mit alkoholischen Getränken hinter dem langgestreckten Tresen durch Handgranaten zur Explosion zu bringen und in ein Flammenmeer zu verwandeln. Es verkörperte für die strenggläubigen Moslems wohl symbolisch das Höllenfeuer, welches die Ungläubigen zur Strafe für ihre Sünden bis in alle Ewigkeit versengen würde. Diese momentane Ablenkung erlaubte es manchen alerten Gästen, die sich gerade auf einen spektakulären Sonnenuntergang im Meer gefreut hatten, entlang des goldgelben Sandstrands zu fliehen. Die durch Alkoholexzesse bereits zu träge gewordenen Barbesucher erstarrten hingegen schockiert an ihren Tischen.

Plötzlich knallten Revolverschüsse, und einer der Attentäter schrie – offensichtlich getroffen – überrascht auf. Die Sturmgewehre antworteten wütend auf diese Attacke zweier Männer, die sich schützend vor einem dritten, der unter einem Tisch kauerte, geduckt hatten. Diese drei Hotelgäste standen jedoch letztendlich gegen das Trommelfeuer aus den Kalaschnikows auf verlorenem Posten und wurden in einem durch rasenden Vergeltungsdrang gesteigerten Blutrausch niedergestreckt. Die Terroristen vermuteten, dass der Beschützte eine prominente Persönlichkeit sein musste, und durchsiebten daher seinen Körper mit besonders zur Schau gestelltem Sadismus. Tatsächlich handelte es sich bei der Person um den australischen Konsul in Bali, der in diesem neu eröffneten Ritz-Carlton urlaubte, um ein demonstratives Zeichen zu setzen, dass dieses tropische Inselparadies für australische Touristen wieder sicher sei. Im Jahr 2002 waren ja bei den verheerenden Bombenattentaten auf Nachtclubs am Kuta Beach auf Bali mit über 200 Toten hauptsächlich Australier ums Leben gekommen.

Während dieses Schusswechsels gelang es weiteren Gästen, sich außer Gefahr zu bringen. Die vermummten Männer metzelten die etwa 20 verbliebenen Barbesucher erbarmungslos nieder, wobei sie auf Frauen in Bikinis eine regelrechte Treibjagd veranstalteten. Dann umstellten die Angreifer den Swimmingpool und peitschten Kugeln ins Wasser, bis sich dieses karmesinrot färbte und kein Schwimmer mehr lebend auftauchte.

Nach dieser Blutorgie durchkämmten die Terroristen das Erdgeschoss des riesigen Hotels nach weiteren westlichen Schlachtungsopfern, die man vermutlich in den verschiedenen Restaurants, der Lounge, im Wellnessbereich und im Fitnesscenter finden könnte. Als besonders ergiebig bei diesem Beutezug entpuppte sich das gekühlte Magazin für Lebensmittelvorräte, in das sich panisch verschreckte Gäste, Köche und Serviererinnen zurückgezogen hatten und das nun entfesselte Rambos in ein chaotisches Wirrwarr, ein Gruselkabinett aus Leichen, Obst- und Gemüsefetzen, aufgeplatzten Konservendosen, lecken Getränkekanistern und verschmierten Glasscherben verwandelten. Auf dem Boden verschmolzen Fruchtsäfte, Kompotte, Milch, Saucen, Marmelade, Blut und letzte Körperausscheidungen zu einem ekelerregenden, zähflüssigen Brei. Etwa zwei Dutzend Menschen ließen alleine in dieser Vorratskammer ihr Leben. Selbst die abgebrühtesten Kriminalbeamten, die das Attentat später untersuchten, waren über den grauenhaften Zustand dieser Leichen entsetzt.

Im Fitnesscenter machten sich die Vermummten ein Vergnügen daraus, eine Massenhinrichtung zu inszenieren. Die acht Männer und Frauen, die sie dort vorfanden, mussten zunächst ihre wenigen Hüllen abstreifen und sich nachher mit erhobenen Armen an eine Wand stellen. Dann wurden sie an den Füßen gefesselt und systematisch – beginnend von den Unterschenkeln bis zu den Köpfen – mit Kugeln durchlöchert. Das hysterische, aber natürlich vollkommen nutzlose Flehen der Opfer nach Gnade belustigte die Selbstjustiz übenden Scharfrichter zusätzlich. Als die Polizei die massakrierten Sporttreibenden später auffand, formten Schweißbäche, Angstpisse, Panikdurchfall und geronnenes Blut auf ihrer Haut ein makabres Styling wie für eine Halloweenparty.

Mittlerweile war es einem Hotelangestellten endlich gelungen, per Handy die Notrufzentrale in Jimbaran zu erreichen, die den Alarm an das Einsatzkommando in Denpasar weiterleitete. Der Schrei nach Hilfe erreichte den dort diensthabenden Offizier, den Polizeimajor Siloso, von Freunden und Kollegen auch Peng Peng genannt, da er immer einen großkalibrigen Revolver und zwei Schnellfeuerpistolen am Koppel trug. Wie die meisten Balinesen war er zierlich gebaut und wollte sich daher durch das Waffenarsenal an seinem Uniformgürtel Autorität verschaffen.

Major Siloso geriet durch den Notruf – der Beamte in Jimbaran sprach von angstgepeinigter und atemloser Panik in der Stimme des Hotelangestellten – in arge Bedrängnis, weil ihm nur wenige Männer seiner Spezialeinheit zur Verfügung standen. Da es auch Jahre nach den Anschlägen am Kuta Beach keine weiteren spektakulären terroristischen Aktionen auf Bali mehr gegeben hatte, zog man die Sonderkommandos der indonesischen Polizei allmählich von dort ab. Sie unterdrückten auf anderen Inseln des Archipels die Demonstrationen, die wegen der wachsenden Korruption im erdölreichen Land ständig ausbrachen. Seine kleine verbliebene Schar, die in Australien fachspezifisch und professionell ausgebildet worden war, musste Major Peng Peng daher notgedrungen mit regulären Polizisten ohne Erfahrung im Antiterrorkampf zur vollen Einsatzstärke aufstocken. Siloso begab sich mit seinem zusammengewürfelten Sonderkommando ohne große Zuversicht zum Brennpunkt Ritz-Carlton.

Auf der Fahrt rief der Major die Hoteldirektion an, und einer der Geiselnehmer hob ab, ohne sich jedoch zu melden. Der Polizeioffizier schrie in sein Mobiltelefon:

„Hier Major Siloso vom Einsatzkommando Denpasar. Wir sind auf dem Weg zu Ihnen. Wie ist die Lage im Hotel?“

„Für Moslems hervorragend und für Ungläubige höllisch“, antwortete der Terrorist zynisch. „Tatsächlich haben wir den Sündenpfuhl hier ziemlich gesäubert.“

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“, knurrte Major Siloso brüsk, sofort die Situation einer Terrorattacke erkennend.

„Ich bin Jihadi 5 und wir sind hier 30 Gotteskrieger. Was wir wollen, ist ein Allah gefälliges Werk verrichten: Unser Land von den verhurten und versoffenen Ungläubigen befreien! Wenn Sie uns hier angreifen, erniedrigen Sie sich zu einem elendigen Gehilfen dieser Satansbrut. Überlegen Sie sich gut, was Sie tun, denn wir haben eine große Zahl von Geiseln genommen.Einefalsche Aktion von Ihnen und alle diese Leute werden hingerichtet!“

Damit knallte der Geiselnehmer den Hörer nieder. Dann sandte er einen seiner Mitstreiter aus, um alle Dschihadisten zu einer kompakten Verteidigungsstellung im Direktionsbüro zu versammeln.

Als die Terroristen die Polizeisirenen schrillen hörten, nahmen die vermummten Männer kampfbereite Positionen ein. Major Peng Peng wollte seinen Trupp bei der Hotelauffahrt noch genau instruieren, aber ein paar Unerfahrene stürmten schon in die Lobby und verschossen dort disziplinlos den Großteil ihrer Munition, obwohl keine Menschenseele zu sehen war. Der Polizeimajor befürchtete nun, dass das Arsenal der Gewalt auf seiner Seite dem der Attentäter unterlegen sein könnte, vor allem wenn Jihadi 5 die Wahrheit gesagt hatte und 30 sicherlich gut bewaffnete Gegner im Hotel verschanzt waren. Doch der Terrorist konnte selbstverständlich auch geblufft haben. Jedenfalls gebot es die taktische Klugheit, wieder Kontakt mit dem Feind aufzunehmen. Diesmal hob Jihadi 1 ab.

„Wo haltet ihr euch versteckt, ihr feigen Hurensöhne?“, provozierte Major Peng Peng.

„Wir warten im Büro des Direktors auf euch“, platzte Jihadi 1 impulsiv heraus, bereute das Gesagte aber sogleich.

„Gut, dann wissen wir, wo wir euch ausräuchern können“, so Major Siloso drohend.

„Das werden Sie bleiben lassen, denn wir halten hier zwölf Ausländer gefangen. Die sind unser Faustpfand gegen Sie.“

Der Polizeimajor erkundigte sich der Form halber:

„Wo ist der Hoteldirektor? Der hat schließlich in dieser Angelegenheit auch etwas zu sagen.“

„Auch der und sein Sekretär sind in unserer Gewalt.“

Der arrogante Hohn in der Stimme von Jihadi 1 war unverkennbar. Major Peng Peng ging aufs Ganze:

„Was machen Sie jetzt? Bringen Sie die Geiseln der Reihe nach um oder wollen Sie verhandeln?“

„Über die beiden Indonesier können wir reden. Warten Sie einen Moment und bleiben Sie am Telefon.“

Der Anführer der Attentäter forderte den Direktor und den Sekretär auf, einige Koranverse zu rezitieren. Das gelang den beiden Hotelmanagern, wenn auch vor Angst stockend. Wie die große Mehrheit der Balinesen waren sie Hindus, im überwiegend moslemischen Indonesien gehören jedoch einige prägnante Koranzitate zur Allgemeinbildung, so wie in christlichen Ländern gewisse Bibelsprüche gebräuchliche geflügelte Worte geworden sind.

Jihadi 1 ließ die kurzen und dilettantischen Deklamationen als ausreichende Nachweise der Zugehörigkeit zum Islam gelten und sprach in den Hörer:

„Ich beweise Ihnen meine Verhandlungsbereitschaft und schicke Ihnen den Direktor und den Sekretär hinaus. Keine idiotischen Reaktionen, denn ansonsten müssen ausländische Geiseln dran glauben. Ende!“

Vier Dschihadisten, mit ihren Kalaschnikows im Anschlag, führten die zwei Hotelangestellten zur Tür, öffneten diese einen Spalt und schoben die beiden hinaus. Wieder ließen manche Polizisten die Disziplin vermissen und dachten, in die entstandene Bresche schießen zu können. Sie hatten hingegen mit ihren Dienstpistolen gegenüber den Sturmgewehrgarben der Terroristen keine Chance und brachen mit unzähligen Treffern tot zusammen. Die beiden eben befreiten Geiseln warfen sich geistesgegenwärtig auf den Boden und überlebten mit leichten Verletzungen.

Major Peng Peng pflanzte sich dramatisch vor den blutüberströmten Leichen der Polizeibeamten auf und hielt seinen Männern eine wütende Standpauke. Dann rief er wieder an:

„Das werden Sie mir büßen müssen, Sie erbärmlicher Dreckskerl! Wenn es zum Feuergefecht kommt, nehme ich Sie mir gezielt vor und zerlege Sie mit meinem 45er Governor in Ihre Einzelteile.“

Er begriff gleich darauf, dass das eigentlich eine leere Drohung war, denn er wusste ja gar nicht, wie sein Gesprächspartner aussah. Dieser lachte derb und zynisch und antwortete:

„Mit Ihnen reden wir nicht mehr. Sie haben das geringe Vertrauen, das vielleicht vorhanden war, gänzlich verspielt und besitzen ohnedies keinerlei Autorität, über das Schicksal von Ausländern zu verhandeln. Alle weiteren Gespräche führen wir nur mehr mit dem französischen Konsul in Bali, denn alle unsere Geiseln sind Franzosen. Wenn diese Forderung bis 20 Uhr nicht erfüllt wird, erschießen wir hier zwei junge Frauen. Ende!“

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis man den französischen Konsul durch eine mühsame Stafette von Telefonaten bei einer Cocktailparty des Tourismusverbands von Bali aufspüren konnte. Er hatte sein Smartphone deaktiviert, um sich ungestört dem Partyvergnügen hinzugeben. Als Glanz- und Mittelpunkt der Veranstaltung produzierte sich eine Gruppe selbst ernannter balinesischer Tempeltänzerinnen, die durch die Hotels der internationalen Ketten tingelte und die traditionelle zeremonielle Pantomime eher als Erotikshow interpretierte, was bei den Touristen enorm gut ankam. Auf der Party setzten die Mädchen ihre grazilen Porzellanfiguren mit geschmeidigen und wiegenden Bewegungen optimal in Szene und waren bei allen männlichen Gästen gefragt. Konversationsmäßig gaben die Tänzerinnen nicht allzu viel her, da sie fortwährend hinter vorgehaltenen Händen halb verlegen, halb kokett kicherten. Dieses Benehmen konnte auch ihr Alkoholkonsum nicht abstellen – im Gegenteil, er schien es sogar weiter zu fördern. Für den Konsul spielte das keine Rolle. Es gefiel ihm nämlich, von einer Schar hübscher Exotinnen umringt zu sein und sich spekulativ zwei oder drei für den späteren Teil des Abends auszusuchen. Dieser Typ Mädchen ist ja stets auf der Suche nach Gönnern und Beschützern aus dem Westen. Die Tänzerinnen würden also eine Einladung zu einem Barbesuch gewiss nicht ausschlagen.

Als man mit dem Konsul schließlich in Kontakt treten konnte, galt es zunächst gar nicht als erwiesen, dass man ihn von dieser wichtigen gesellschaftlichen und außenpolitischen Verpflichtung, wie er sich ausdrückte, loseisen könnte. Selbst als man ihm die Dringlichkeit und die enorme Tragweite der Angelegenheit klar gemacht hatte, wollte er eigentlich nur einen Attaché des Konsulats zum Ritz-Carlton delegieren. Es bedurfte langwieriger Debatten, bis sich der Konsul doch noch dazu herabließ, von einem Streifenwagen der Polizei im Eiltempo nach Jimbaran Beach gefahren zu werden.

Für die Geiseln stellte sich diese Verzögerung als reichlich unangenehm heraus, denn die Fesseln waren so straff um ihre Körper festgezurrt, dass sich ihre Gliedmaßen schon nach einer halben Stunde vollkommen steif und blutleer anfühlten. Zudem mussten die Festgehaltenen noch länger die ständigen Misshandlungen durch die Terroristen erdulden, die diese Brutalitäten als Zeitvertreib während des Wartens betrachteten.

Nach einer bangen Frist des untätigen Ausharrens seitens der Polizisten tauchte der Konsul endlich im Ritz-Carlton aus der dumpfen Tropennacht auf. Major Siloso war heilfroh, damit aus der Verantwortung entlassen zu sein. Für ihn gab es in dieser Affäre nichts zu gewinnen: Würde er die Attentäter mit den Geiseln abziehen lassen, wäre das eine Begünstigung des Terrorismus und eine moralische Niederlage, und würde er andererseits ein Blutbad anrichten, hätte er den Tod der Geiseln auf dem Gewissen und es drohte ihm seine Absetzung.

Der Konsul, behäbig, selbstgefällig und stets in Amüsierlaune, sah nicht so aus, als ob er harten Verhandlungen mit gewalttätigen Terroristen gewachsen wäre. Er hatte sich ja um den Posten in Bali nur beworben, um im ungezwungenen und stressfreien Ambiente einer Ferieninsel arbeiten zu können und nicht in Städten wie Shanghai, Osaka oder Mumbai, wo man nur mit spröden Handelsangelegenheiten befasst ist. Länder wie Afghanistan oder Irak, wo überall todbringende Gefahren lauern, kamen für ihn erst recht nicht infrage.

Major Siloso empfahl ihm, sogleich mit dem Anführer der Dschihadisten telefonisch in Kontakt zu treten, um das Martyrium der Geiseln nicht noch weiter über Gebühr in die Länge zu ziehen. Der Konsul zögerte jedoch, weil er noch darüber nachdenken wollte, welche unverfänglichen diplomatischen Floskeln der Quai d’Orsay für Verhandlungen mit Geiselnehmern wohl nahelegte. Es fiel ihm aber nichts Passendes ein, und so meldete er sich zunächst einmal als der französische Konsul in Bali, ohne seinen Namen zu nennen. Er vermeinte, durch diese Anonymität vor den Terroristen besser gewappnet zu sein.

Jihadi 1 fuhr ihn an:

„Wo bleiben Sie so lange? Mussten Sie erst von Paris hierher fliegen? Die Geiseln schnappen schon über vor Angst. Ihre Blicke werden immer irrer und die Kosten für das Lösegeld daher immer höher. Unsere Forderung ist klar und einfach: zwei Millionen Dollar in Cash, keinen Cent weniger. Übrigens sind ihre zwölf panischen Landsleute für uns auf die Dauer eine zu große Belastung. Wir nehmen stattdessenSieals Sicherstellung.“

Der Konsul reagierte verdattert:

„Wie soll ich das Geld auftreiben, wenn Sie mich als Geisel festhalten?“

„Sie sind ein Idiot. Natürlich schaffen Sie zuerst den Zaster herbei, und zwar noch heute Abend. Erst dann tauschen wir Ihre Landsleute gegen Sie und das Lösegeld aus. Wir dürfen ungehindert abziehen und Sie werden während der Fahrt mit uns freigelassen, sobald wir uns sicher fühlen. Anders machen wir es nicht.“

Der willensschwache und darüber hinaus in diesen Dingen völlig unerfahrene Diplomat wurde durch diese kompromisslosen Bedingungen von Jihadi 1 überrumpelt und stimmte auf der ganzen Linie zu. Er hatte gerade noch so viel Geistesgegenwart, ein Gespräch mit einer Geisel zu verlangen. Es meldete sich ein gewisser Monsieur Duhamel.

Alles, was dem Konsul im Augenblick einfiel, war:

„Ça va?“ („Na, wie geht’s?“)

„Ça ne marche pas du tout“ („Es läuft überhaupt nicht gut“), hörte er eine verzweifelte Stimme in seinem Handy, die wegen der langen Knebelung mehr lallte als sprach.

Der Konsul ließ sich bestätigen, dass noch alle Geiseln am Leben waren, und legte dann vollkommen ratlos auf. Diese Situation überforderte ihn ganz und gar – keine seiner Eliteschulen in Frankreich hatte ihn darauf vorbereitet.

Er informierte Major Peng Peng über die getroffene Vereinbarung, und dieser machte ihm Vorhaltungen, weil sich der Diplomat den Geiselnehmern ohne Rückversicherungen überantworten würde.

„So viel Vertrauen in die Menschheit muss sein“, meinte der Konsul nach außen hin zuversichtlich, sich selbst jedoch ob seiner Ungeschicklichkeit verfluchend.

Freilich war es absolut leichtgläubig, sich samt des Lösegelds in die Hände der Terroristen zu begeben. Aber jetzt hatte er den Forderungen schon zugestimmt und es musste im Interesse der Geiseln schnell gehandelt werden. Man transportierte den Konsul in einem Streifenwagen mit Blaulicht nach Denpasar und erreichte die Stadt in 20 Minuten.

Selbstverständlich waren zu dieser fortgeschrittenen Stunde alle Banken im Hauptort von Bali geschlossen. Doch der Konsul verkehrte gesellschaftlich mit dem Filialleiter der BNP Paribas, wo die französische diplomatische Vertretung ihre Bankverbindung hatte. Der Diplomat gestattete es sich daher, den Bankier bei dessen Abendunterhaltung aufzusuchen, erfuhr aber, dass die Zweigstelle die erforderliche Summe in Dollarnoten nicht im Tresor hatte. Der Konsul machte die Urgenz des Anliegens klar und wirkte auf den Filialleiter ein, kurzfristige Darlehen in Bargeld bei anderen ausländischen Banken wie der HSBC, der Commonwealth Bank und der Maybank aufzunehmen.

In der Zwischenzeit holte der Konsul die offizielle Rückendeckung für seine Handlungsweise beim Außenministerium in Paris ein. An sich eine reine Formalität, denn innerhalb des gesamten diplomatischen Corps war es ohnehin wohlbekannt, dass die französische Regierung alle geforderten Lösegelder bezahlt. Man durfte nur nichts bei den Medien darüber verlauten lassen, denn sonst explodierte einem ein handfester Skandal mitten ins Gesicht.

Nach einer geraumen Weile lagen die zwei Millionen Dollar fein säuberlich gebündelt in einer großen Reisetasche bereit und wurden dem Konsul unter Polizeischutz übergeben. Nun sollte es im Streifenwagen zurück zum Ritz-Carlton gehen. Bei dem Gedanken, in Kürze gnadenlosen Terroristen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, geriet der Diplomat aber jäh in Panik und weigerte sich, in das Auto einzusteigen. Zwei Polizisten packten ihn wie einen Arrestierten und verstauten ihn samt der Reisetasche im Fond des Wagens. Er begann zu wehklagen; die anderen Insassen ignorierten ihn jedoch. Bis zur Ankunft am Jimbaran Beach hatte er sich mutlos in sein Schicksal gefügt.

Major Siloso war erstaunt, den Konsul so blass und eingeschüchtert wiederzusehen, und so sprach er ihm einige aufmunternde Worte zu. Dann übernahm der Leiter des Polizeieinsatzesex officiodie Abwicklung des Geiseltausches. Alles musste minutiös mit Jihadi 1 abgesprochen werden, damit es zu keiner Übervorteilung kam. Den widerstrebenden Diplomaten samt Reisetasche schob der Polizeimajor höchstpersönlich durch den Spalt der Bürotür, wobei die beiden Männer einen Revolver und zwei Kalaschnikows der Terroristen schussbereit auf sich gerichtet sahen. Duhamel und zwei andere Geiseln beschimpften den Konsul als Schlafmütze und lahme Ente, als sie sich beim Austausch an ihm vorbeizwängten, weil ihnen die Befreiung offensichtlich zu lange gedauert hatte.

Nun da die Dschihadisten das Lösegeld und eine hochgestellte Geisel besaßen, hatten sie es auf einmal gar nicht mehr so eilig. Jihadi 1 informierte Major Peng Peng nach einigen Minuten mit barschem Tonfall:

„Allesokayhier, außer dass dieser Konsul ein ausgesprochener Feigling ist. Er winselt wie ein kranker Köter. Wir müssen ihn knebeln, damit er nicht auf unseren Nerven herumtrampelt. Wir verrichten jetzt gleich dasIsha, und nach dem Gebet instruiere ich Sie über den Abzug. Zwei meiner Männer bleiben immer in Alarmbereitschaft und erschießen die Geisel sofort, sobald Sie auf dumme Gedanken kommen. Ende!“

Nach einer halben Stunde meldete sich der Anführer der Terroristen wieder in seiner unwirschen Art:

„Wir hauen jetzt ab, und ja kein Firlefanz von Ihrer Seite. Mein Revolver wird ständig im Nacken des Konsuls sein.Einefalsche Bewegung Ihrer Männer und ich drücke ab. Wir setzen die Geisel auf der Fahrt frei, sobald ich den Eindruck habe, dass wir nicht verfolgt werden. Ende!“

Es geschah alles wie gefordert. Major Siloso konnte es klarerweise nicht riskieren, dass dem französischen Konsul während dieser Operation seines Einsatzkommandos ein Leid zustieß. Die zehn Terroristen, inklusive einem Verwundeten, und die vom Revolver in Schach gehaltene Geisel verteilten sich unbehelligt auf die zwei Land Rovers, und die Geländewagen brausten sogleich rasant davon. Die Polizeitruppe wagte es erst nach einer Minute, Ambulanzen anzufordern und den Hotelkomplex zu verlassen. Die kriminalistische Aufarbeitung des terroristischen Überfalls auf das Ritz-Carlton überantwortete der Polizeimajor den zuständigen Behörden.

Die Gotteskrieger fühlten sich auf ihrer wilden Fahrt zurück zu ihrem Versteck in einer abgeschiedenen Gebirgsregion des Distrikts Buleleng im Norden der Insel bald sicher vor Verfolgung. Aber was tun mit der Geisel? Man hatte zwar die Freilassung des Konsuls zugesagt, ein Versprechen gegenüber Ungläubigen ist jedoch von vornherein null und nichtig und nur eine taktische Finte. Für die Islamisten stellte der Diplomat ein Symbol westlicher Dekadenz dar: schlapp, rückgratlos, feig und vom übermäßigen Alkoholkonsum aufgedunsen. An Jihadi 1 nagte daher das Gefühl, von dieser erbärmlichen zusammengekauerten Gestalt zusehends irritiert, ja sogar provoziert zu werden. Er saß, mit dem Revolver im Anschlag, genau hinter der Geisel. Als sie ein einsames Straßenstück kurz nach dem verschlafenen Dorf Kukup im mittleren Bali passierten, zeigte er seinen Gefolgsmännern im Wagen einen nach unten gerichteten Daumen. Alle nickten, und so vollstreckte der Anführer das Todesurteil mit einem einzigen wohlgezielten Genickschuss.

Die Leiche entsorgte man bei einer passenden Gelegenheit hinter einem dicht blühenden Ixorastrauch am Straßenrand. Jihadi 1 rief auf dem Smartphone des Hingerichteten einen Fernsehsender in Denpasar an und gab bekannt, wo der tote französische Konsul aufzufinden sei. Dann warf der Anführer der Dschihadisten das jetzt herrenlose Gerät mit einer verächtlichen Geste auf den leblosen Körper.

Kapitel 2

Zwei Tage später kam ein junger schwarzbärtiger Moslem mit einer bösen Beinverletzung ins Krankenhaus von Singaraja nahe der Nordküste Balis. Er erklärte die nicht mehr frische Wunde mit einem Motorradunfall. Der behandelnde australische Arzt schöpfte sofort Verdacht, denn an der schweren Blessur schien bereits jemand in dilettantischer Manier operiert zu haben, so als hätte man eine Kugel oder mehrere Splitter entfernen wollen. Der ernste und gefasste Patient behauptete, ein Freund hätte versucht, Schmutz aus der Wunde zu waschen. Diese habe sich dann leider wegen fehlender Desinfektionsmittel entzündet. Der Doktor meinte leichthin, dass auch Gin oder Wodka zur Sterilisierung nützlich gewesen wären, und vergaß dabei, dass er zu einem Moslem sprach. Der junge Mann verzog jedoch keine Miene und ließ sich die eitrige Wunde ohne Schmerzensäußerungen versorgen.

Natürlich wusste der Arzt über die Terrorattacke am Jimbaran Beach Bescheid – die Schreckensmeldung hatte ja in der ganzen Welt Aufsehen erregt. Er folgte getreu der Verpflichtung, jede schwere Verletzung der Polizei zu melden. Die Sicherheitsbehörden reagierten umgehend. Der junge Moslem wurde wortlos und ohne Widerstand seinerseits direkt vom Behandlungsraum im Spital in einen Streifenwagen verfrachtet und bei Major Peng Peng in Denpasar abgeliefert.

Zuallererst galt es selbstredend, den Verhafteten zu identifizieren. Seine Fingerabdrücke schienen jedoch in der Datei für Terrorismusverdächtige nicht auf. Er gab nur den Namen Hasan an, und so bemühte sich der Polizeimajor angelegentlich, den vollen Namen aus ihm herauszuprügeln. Der Bärtige blieb aber hartnäckig bei Hasan. Da erinnerte sich Major Siloso daran, dass es auf manchen indonesischen Inseln durchaus üblich ist, nur einen einzigen Namen statt eines Vornamens und eines Nachnamens zu tragen, und so begnügte er sich schließlich mit Hasan. Mehr war aus dem wortkargen Mann ohnedies nicht herauszuholen, obwohl ihn der Major systematisch mit Ohrfeigen und Fausthieben traktierte und mit seinen diversen Schusswaffen bedrohte. Da das Kommando in Denpasar über keinerlei entsprechende Ausrüstung verfügte, überstellte man den Verdächtigen für die erforderlichen Spezialverhöre zur IIS, derIndonesian Internal Security, auf Java.

DasBefragungszentrumder IIS, wie es in der Amtssprache der Republik Indonesien offiziell hieß, hatte man mithilfe der AIC, der US-amerikanischenAgency for International Cooperation, eingerichtet. Es befand sich in einer spartanisch konzipierten ehemaligen Kaserne, welche die sparsame, weil vornehmlich merkantil orientierte niederländische Kolonialmacht erbaut hatte, und damals fernab jeglicher menschlicher Besiedlung in einer großen Lichtung des javanischen Regenwalds lag.

Nun war das Verhörzentrum umringt von einem Kampong, also einer chaotischen Ansammlung von Hütten, die man aus Bambusgestängen, Palmblättern, Sisalseilen und Wellblech behelfsmäßig zusammengebastelt hatte. Diese Unterkünfte waren durch rostbraune morastige Lehmwege verbunden und überwiegend von Kindern, Hühnern, Kakerlaken und Moskitos bewohnt. Die Zufahrt zur einstigen Kaserne stellte zwar die einzige asphaltierte Straße weit und breit dar, diese war jedoch während der fast täglich niedergehenden Regenschwalle und donnernden Wolkenbrüche ebenso knietief überflutet wie die gesamte Umgebung, da keinerlei Kanalisationssystem existierte. In der Monsunsaison konnten die Wassermassen stellenweise auch bis zu einem Meter hoch sein, weshalb viele Hütten in der Gegend auf Pfählen gebaut waren. Die einzigen massiven Gebäude im Kampong, die Polizeistation, die Moschee und die Gebetshäuser, standen hingegen direkt auf dem schlammigen Boden und litten daher ständig unter feuchtem und verschimmeltem Mauerwerk.

Ins Befragungszentrum der IIS wurden prinzipiell nur politische Häftlinge eingeliefert: Der mutige Journalist, der einen Korruptionsskandal in der Telekombranche mit politischen Verzweigungen aufgedeckt hatte, der gewissenhafte Lehrer, der seinen Schülern über die Gräueltaten bei der von den Amerikanern unterstützten Niederschlagung des kommunistischen Aufstands im Jahr 1965 erzählt hatte, der korrekte Wahlbeobachter, der von Unregelmäßigkeiten bei den letzten Regionalwahlen auf Java gesprochen hatte, die idealistische Umweltaktivistin, die das verboteneslash and burneiner von ausländischen Großinvestoren betriebenen Ölpalmenplantage und die nachfolgende Luftverpestung durch giftige Rauchschwaden aufgezeigt hatte, oder der vorlaute junge Blogger, der in den sozialen Netzwerken die Misswirtschaft und den Nepotismus der politischen Kaste des Landes angekreidet hatte. Ob nun im Wandel der Systeme eine Diktatur oder ein pseudodemokratisches Regime das Heft in der Hand hielt, die sicherheitspolizeiliche Verhöranstalt leisteteallenindonesischen Machthabern gute Dienste und war fast immer voll ausgelastet.

Hasan wurde am Militärflughafen bei Jakarta von einem unmarkierten Transportfahrzeug mit vergitterten Fenstern im Bereich für die Häftlinge abgeholt. Auf löchrigen und rissigen Straßen passierte der Gefängniswagen unzählige Kampongs und dazwischen verstreute winzige Subsistenzfarmen, bis er das Befragungszentrum erreichte. Diese Fahrt durch die Hüttendörfer lief für den Arrestierten wie ein Zeitrafferfilm seiner Kindheit und Jugend ab, die Hasan in einem ähnlich tristen und hoffnungslosen Milieu, ohne echte Bildung und Berufschancen, auf Sumatra verbracht hatte. Nur durch den Imam seiner Moschee erhielt er mit der Hinwendung zu einem kämpferischen Islam einen Lebensinhalt und eine Bestimmung. Der fundamentalistische Vorbeter vermittelte auch Hasans dreimonatiges Training in einem Camp der Taliban in der Provinz Helmand in Afghanistan.

Hasans Aufenthalt im Befragungszentrum begann mit dem üblichen Datensammeln: Fingerabdrücke, Irisscan, DNA-Abstrich. Der Dschihadist wunderte sich über den ungewöhnlichen Habitus der Offiziellen. Alle trugen sie hellgraue Anzüge mit hochgeschlossenen, durchgeknöpften Jacken, anthrazitfarbenen Stehkrägen und keinerlei Rangabzeichen. Wären nicht die Waffengürtel um die Taille gewesen, hätten die Wärter, Folterknechte und Gefängnisbürokraten genauso gut Hotelportiere sein können. Die Dienstposten wurden offensichtlich von Einwohnern der Insel Java monopolisiert: überall dieselben mattbraunen, glatten, grinsenden Gesichter, dieselben kohlschwarzen geraden Haare, dieselben kleinen Staturen. Hasan begriff bald, dass es sich hierbei um eine groß angelegte Tarnungsoperation handelte, um die Wiedererkennung und die Identifizierung der in diesen sensiblen Funktionen agierenden Beamten im zivilen Leben zu erschweren.

Nach der Verrichtung der Notdurft führte man den jungen Moslem zu seinem ersten Verhör vor. Sein Gegenüber war einer dieser nun schon gewohnten anonymisierten Javaner. Dessen Grinsen fiel vielleicht noch etwas süffisanter aus als das seiner Kollegen. Oder bildete sich das Hasan aus der Situation heraus nur ein? Die intime Zwiesprache fing mit konventionellen Methoden an, wie sie auch schon Major Siloso in Denpasar angewandt hatte, nun jedoch ein wenig angereichert durch ausgedrückte Zigarettenstummel auf den Brustwarzen. Da diese hitzigen Berührungen beim Häftling keinerlei Wirkung zeigten, musste er sich vollständig entkleiden, und die Prozedur des Auslöschens von glosenden Glimmstängeln auf empfindlichen Körperteilen wurde sodann auf dem Penis wiederholt. Der Gemarterte reagierte darauf nur mit mehreren, mit gepresster Stimme hervorgestoßenen Ausrufen „Allahu akbar!“. Der Geheimdienstbeamte erkannte, dass für diesen Fanatiker intensivere Befragungen vonnöten waren, überließ solche heftigeren Einvernahmen aber für den nächsten Tag einem Spezialisten.

Hasan wurde in eine Massenzelle für 15 Gefangene abgeführt, die insgesamt nicht mehr als etwa 25 Quadratmeter zur Verfügung hatten. Auf dem Betonboden ausgebreitete fleckige Leintücher mussten als Schlafstätten herhalten. Ein Leitungshahn an der Wand diente als einzige Wasserquelle. Für die Blasen- und Darmentleerung war ein Loch im Boden vorgesehen, das nach jedem Gebrauch mit Eimern von Wasser ausgeschwemmt wurde, damit die Zelleninsassen nicht am bestialischen Gestank des Urins und der Fäkalien erstickten. Das war auch schon die ganze Ausstattung.

Beim Anblick der Männer verstand Hasan, dass er unter ihnen der alleinige fundamentalistische Moslem war, und er fühlte sich deshalb sogleich isoliert. Die anderen Häftlinge waren entweder bartlos oder hatten das dünne Schnurrbärtchen auf der Oberlippe, wie es Malaien und Indonesier gerne tragen. Für seine Lebensmission der Ausrottung möglichst vieler Ungläubiger fand er unter diesen Mitgefangenen höchstwahrscheinlich keine Anhänger. Er kauerte sich daher auf das einzige freie Leintuch, schwieg und hörte zu. Die drückende schwüle Luft stumpfte alle ab, sodass sich Gespräche nur sehr schleppend entwickelten.

Ein Häftling aus Bandung beklagte sich über die miserable Verpflegung bei der IIS und begann, von den saftigen und würzigen Satayspießen mit Huhn und süßscharfer Erdnusssauce zu erzählen, die seine Frau zubereitete. Ein Gefangener von der Insel Madura wollte Hühnerfleisch lieber durch Garnelen ersetzen, die in den Küstengewässern seiner Heimat besonders schmackhaft waren, und bevorzugte pikantere Chilitunke und Zwiebeln als Beilagen. Diese kulinarische Konversation war aber eher von wehmütigem Verzicht als von Gourmandise geprägt. Manche klagten brummelnd mit, andere hoben lamentierend die Arme, bis ein frustrierter Inhaftierter aufschrie:

„Schluss mit der Marter!“

Damit brachte er die Satayliebhaber brutal zum Verstummen.

Beim sogenannten Abendessen erfasste Hasan den Grund für die Beschwerden. Ein spöttisch grinsender Wärter im üblichen Hotelportiersanzug öffnete die Tür und schob ein kleines, niedriges Blechtablett in die Zelle. Darauf hatte die Gefängnisküche ein flaches Bett von klebrigem, ungewürztem und beinahe erkaltetem Reis angerichtet. Hasan wollte auf das Hauptgericht warten, doch ein anderer Insasse klärte ihn auf, dass das schon alles sei und für 15 Münder reichen musste. Die Männer scharten sich hockend um das Tablett auf dem Boden, formten hastig mit den Fingern klumpige Bällchen aus dem Reis und verschlangen diese gierig vor Hunger. Einige sehr geschwächte Häftlinge kamen bei diesem Wettessen kaum zum Zug, und es fand sich auch keine mildtätige Seele, die ihnen Reiskugeln abgab. Beim Fressen endete die Solidarität der Regimegegner. Hasan dachte autosuggestiv an mollige, dickflüssige, reichhaltige und dem Gaumen schmeichelnde Erdnusssauce, als er die wenigen trockenen Happen verzehrte, die er ergattert hatte.

Um 3 Uhr in der Nacht knallte die Zellentür auf und der Lichtkegel einer Taschenlampe suchte und fand Hasan unter den zusammengekrümmten Gestalten auf den Leintüchern; das Ausstrecken beim Schlafen war ja wegen des Platzmangels unmöglich. Zwei Wärter packten den jungen Islamisten und schleppten ihn durch düstere und dumpfe Korridore mit zahllosen Zellentüren, hinter denen das Grauen und die Todesangst hausten.

Die Aufseher brachten Hasan schließlich in einen riesigen, grell erleuchteten Saal, der offenbar in der vormaligen Kaserne als Unterkunft für einen ganzen Zug einer Kompanie gedient hatte. Der Raum war in Kojen unterteilt, aus denen eine Kakofonie aus schrillen, qualvollen Schreien drang. Hasan wurde in ein freies Abteil geschoben, wo bereits ein Offizieller mit finsterer, unausgeschlafener Miene neben einer Art von elektrischem Stuhl auf ihn wartete. Der Scherge zurrte den Häftling mit breiten Lederriemen am Stuhl fest und setzte ihm einen verkabelten Stirnreif aus Metall auf. Dann wandte sich der Folterer einer einfachen Schaltvorrichtung zu und jagte dem Opfer mehrere Elektroschocks durch den Körper. Wäre der Stuhl nicht am Boden festgeschraubt gewesen, hätte ihn Hasan samt seinem eigenen Körper mit seinen grotesken Zuckungen und seinem wilden Aufbäumen durch die Koje geschleudert. So aber konnte der Gemarterte nur an den Ledergurten zerren, bis er blutunterlaufene Striemen an den Gliedmaßen hatte.

„Das war jetzt erst dieniedrigsteStufe“, kommentierte der Folterknecht, den das grausame Schauspiel der Ausgesetztheit und Hilflosigkeit vor ihm munter gemacht hatte. „Wir haben noch den Rest der Nacht Zeit, um die ganze Skala zu durchlaufen. Wenn du aber ausspuckst, wer deine Bandengenossen sind und wo ihr euch verkriecht, dann höre ichgleichauf.“

Der junge Fundamentalist blieb stumm, und sein Scherge bewegte daher den Kontrollhebel für die Stromstärke um eine Kerbe höher. Das Gezerre an den Lederriemen wurde noch verzweifelter. Sonst gab es jedoch keine andere Reaktion des Gefolterten. Die beiden Partner des Grauens durchliefen bis zur Morgenstunde die gesamte Tonleiter der Schockapparatur, doch als auch die höchste Intensitätsstufe keinerlei Ergebnisse zeitigte, informierte der Folterer vorschriftsgemäß den Leiter des Befragungszentrums. Dieser verschärfte als Sofortmaßnahme die Haftbedingungen durch Gewahrsam in einer Einzelzelle. Weiters ordnete er für die kommenden Nächte die Anwendung der sogenanntenrobusten amerikanischen Methodenan.

Hasans private Zelle hatte wohl einstmals bestenfalls als Abstellkammer gedient, denn sie umfasste kaum mehr als zwei Quadratmeter. Die Wände waren von der tropischen Feuchtigkeit aufgeweicht und von einem giftgrünen Mauerschimmel befallen, der das Gefängnisloch mit einem aufdringlichen Geruch von Moder und Verwesung erfüllte. Glasscheiben im Gitterfenster betrachtete man augenscheinlich als überflüssigen Luxus, und so konnte die schwüle Luft von draußen ungehindert in die enge Klause einströmen. Hasan vermutete sogar, dass die unverglasten Fenster eine absichtliche Bosheit bedeuteten, um das Raumklima so oppressiv wie nur möglich zu machen. Einen Wasserhahn suchte der Häftling in der Zelle vergeblich. Dieser Mangel rächte sich am Nachmittag, als Hasans Kehle – durch die brütende Hitze – trocken wie Papier wurde. Bis dahin hatte er den Tag damit verbracht, den Koran von der ersten Sure an zu rezitieren und die fetten Kakerlaken, die in der Zelle scharenweise herumrannten, mit den Sandalen zu erschlagen. Nun schrie der Islamist lauthals und desperat nach Wasser, und nach einer Weile antwortete eine mitleidlose Stimme durch die Tür:

„Halt das Maul, du unverschämter Hund. Du bekommst nur Wasser aus der Regentonne und die ist heute noch leer.“

Der junge Moslem flehte seinen Gott inständig um einen baldigen Regenguss an. Es dauerte trotzdem bis zum späten Nachmittag, bis sich die Schleusen des Himmels endlich öffneten. Das intensive Prasseln weckte eine Spur von Hoffnung in Hasan, und tatsächlich kam nach dem Versiegen des Niederschlags ein Blechnapf voll mit Wasser durch den Türspalt. Der Gefangene musste jedoch erst Blätter und kleine Zweige aus der Flüssigkeit von zweifelhaftem Wert klauben, ehe er von ihr in gierigen Schlucken trinken konnte.

Am Abend erwartete Hasan selbstverständlich Essen. Als er selbst bei längst fortgeschrittener Dunkelheit noch keines erhalten hatte, rief er nach dem Wärter. Dieser hatte eine vernichtende Botschaft:

„Die Anordnungen sagen, dass wir dir diese Nacht ein robustes Verhör um die Ohren hauen. Da kriegst du vorher keinen Fraß, denn sonst kommt er dir bloß als Kotze hoch und du richtest eine Schweinerei an.“

Hasan blieb also nichts anderes übrig, als den Rest des Wassers den ganzen Abend hindurch zu rationieren und mit kleinen Schlucken den brennenden Magen zu besänftigen. Dann rollte er sich auf seinem Leintuch zusammen und lenkte die Bangigkeit seines Herzens durch weitere Korandeklamationen ab. Von der Außenwelt drang nur das beharrliche Schnarren der Zikaden in die Zelle, das seine Rezitation mit einem monotonen Rhythmus begleitete.

In jener Nacht holte man den inhaftierten Islamisten schon um 2 Uhr ab. Die amerikanische Befragungsmethode ist zeitraubender als die elektrische, das ahnte Hasan verschreckt. Der in einem Trainingszentrum in Langley, Virginia, ausgebildete Spezialist begann routinemäßig mit einer Unterwasserbehandlung. In der Tat, wie vom Wärter im Wesentlichen vorhergesagt, verspürte Hasan nach jedem atemlosen Auftauchen aus der Wanne einen stechenden Brechreiz, der seinem Magen aber nur die letzten Verdauungssäfte entrang und ab dem fünften Mal gerade noch ein verkrampftes Würgen hervorrief. Der Folterexperte beobachtete diese Reaktionen mit großem professionellem Interesse, musste doch die weitere Vorgehensweise elastisch auf Hasans Verhalten abgestimmt werden. Die Fragen nach den Komplizen und dem Versteck der mutmaßlichen Terroristenbande wiederholten sich gebetsmühlenartig, fanden jedoch keinen Widerhall.

Nach einer Stunde begann den Spezialisten die ergebnislose Unterwassertherapie zu langweilen und er ging zu einer anderen amerikanischen Sonderbehandlung über. Er setzte Hasan an Händen und Füßen gefesselt auf den Boden und stülpte ihm einen Plastiksack über den Kopf. Dann wurde das Erdrosseln simuliert, zunächst mit einer dünnen und dennoch sehr reißfesten Nylonschnur und danach mit einer Drahtschlinge. Die zweite Variante hatte der Scherge jedoch noch nicht so gut im Griff, denn als Hasans Hals einmal vor überanstrengtem, atemringendem Röcheln fast zu zerplatzen drohte, zog der Folterer die schlecht biegsame Metallschlaufe noch enger zu und verletzte dabei die Kehle und die Stimmbänder seines Opfers. Ab diesem Zeitpunkt konnte Hasan nur mehr lallen statt sprechen. In dieser Nacht weigerte er sich aber ohnedies, sinnbehaftete Laute zu bilden, obwohl der Folterknecht im stündlichen Rhythmus vorgetäuschtes Ertrinken und Erdrosseln abwechselte.

Das Befragungszentrum musste in der nächsten Nacht seinen letzten Trumpf gegen den bislang unbeugsamen Hasan ausspielen, das sogenannteTrapez. Den einschlägigen Experten dafür versahen seine Kollegen in schlüssiger Weise mit dem anerkennenden Etikett „der Trapezartist“. Dieser hatte sich im riesigen Saal der Martern seine eigene Ecke eingerichtet, über die er ganz alleine herrschte. Als sein wichtigstes Gerät diente tatsächlich ein Trapez wie im Zirkus, also eine waagrechte Holzstange, die an zwei Seilen hing. Diese glitten über zwei an der Decke befestigte Laufrollen, sodass es ein sinniger Mechanismus erlaubte, die Höhe des Trapezbügels zu verändern.

Zwei Wärter lieferten Hasan an. Seine Hände waren vorsorglich bereits in der Zelle auf dem Rücken gefesselt worden. Es verblüffte den Gefangenen, keinen elektrischen Stuhl und keine Wasserwanne für die Tortur vorzufinden, sondern nur eine in der Luft schwebende Holzlatte. Welche zusätzlichen Qualen konnte man ihm denn damit schon zufügen? Er war ja ohnedies total ausgehungert und beinahe vollständig dehydriert, da am vergangenen Tag kein Niederschlag gefallen und folglich die Regentonne leer geblieben war. In Hasans Vorstellung schien das Potenzial an Leiden daher auch so längst ausgeschöpft zu sein.

Dieses Trapez im Foltersaal bot dem fantasiebegnadeten Geist hingegen mancherlei Möglichkeiten, so wie auch die gleichnamige Vorrichtung unter der Zirkuskuppel. Der Trapezartist begann schlicht und einfach mit der Einstiegsvariante. Er zog einen kurzen, aber belastungsfähigen Sisalstrick durch Hasans Handfessel, knüpfte ein Ende sorgfältig an der Fessel fest und vertäute das andere mit mehreren Knoten am Trapezbügel. Mit kräftigen Rucken hievte der Scherge dann das Trapez samt der menschlichen Last auf eine Höhe von etwa zwei Metern. So ließ er Hasan einige Minuten lang hängen. Dieser versuchte verzweifelt, seinen Rumpf in einem möglichst horizontalen Gleichgewicht zu stabilisieren, damit nicht die gesamte Schwerkraft seines Körpers auf die Schultergelenke wirkte.

Urplötzlich verpasste der Folterknecht den herunterbaumelnden Beinen einen wuchtigen Schub, der das Trapez zum Schwingen brachte. Weitere derbe Stöße am vorbeischwebenden Körper versetzten das Trapez in eine weit ausholende Pendelbewegung, womit Hasans desperate Bemühungen, seinen Rumpf in Balance zu halten, zur Aussichtslosigkeit verdammt waren. Seine Arme wurden von hinten über den Kopf gerissen, und mit einem trockenen Knacken, das wie das Brechen von spröden Knochen klang, sprangen die Oberarmköpfe aus den Gelenkpfannen des Schulterblatts. Hasan verspürte einen noch nie gekannten Schmerz, der wie ein Blitzschlag in sein Nervensystem fuhr und in seinem Gehirn stumme Wahnsinnsschreie auslöste. Sein Mund konnte hingegen nur frenetisches Lallen hervorbringen.

Der Trapezartist ließ den Gemarterten auf den Betonboden herunter, um die animalischen Laute vielleicht verstehen zu können. Das war jedoch vergeblich. Daher wandelte der Folterer das Trapez wieder in das grauenvolle Pendel um und schaltete ein Aufnahmegerät ein. Nachdem er etwa zwei Minuten an Tonmaterial gesammelt hatte, brach er die Vorführung von Hasans Trapezkunststücken ab. Er band den Häftling von der Trapezstange los, und wie ein barbarischer Chiropraktiker renkte der javanische Folterknecht Hasans Oberarmknochen mit einigen brutalen Handgriffen notdürftig in die Schultergelenke ein.

Zurück in seiner Zelle flehte Hasan Allah den Gnädigen um Verzeihung dafür an, dass er unter dem unsäglichen Druck der Folter Gotteskrieger verraten hatte. Dann lallte der Islamist eine Passage aus dem Koran über die Verheißungen des Paradieses für wahrhaft fromme Moslems, und zwar jene herrliche über Versprechungen süßer Früchte und schöner Mädchen mit großen, dunklen Augen. Schließlich setzte Hasan eine Erdrosselung, diesmal eine reelle und keine simulierte, mit seinem Leintuch in Szene, das er zu diesem Zweck an einem Ende am Fenstergitter festknotete. Ein langsamer, aber ehrenrettender Tod für einen Terroristen, der beim Verhör durch seine Feinde zusammengebrochen war.

Das Befragungszentrum leitete den Datenträger mit Hasans zweiminütigem Lallen an ein Speziallabor des Jakarta International College weiter. Dort führten amerikanische Experten in mühsamer Kleinarbeit eine Sprachanalyse durch. Drei wiederkehrende Begriffe kristallisierten sich dabei aus den Wortfetzen heraus:Jamaal Islamiya,Jimbaran BeachundBuleleng.

Die Nennung derJamaal Islamiya, von den Medien mit JI abgekürzt, bescherte den Beamten derIndonesian Internal Securityan sich keine Überraschung. Diese islamistische Terrorgruppe zeichnete nämlich für die mörderische Anschlagsserie am Kuta Beach auf Bali verantwortlich, hatte damit international traurige Berühmtheit erlangt und in Indonesien Angst und Schrecken verbreitet. Es erregte jedoch in höchstem Maße Besorgnis und Beunruhigung, dass die berüchtigte JI mit dem Überfall auf das Hotel Ritz-Carlton – nach weit über zehn Jahren mit nur geringfügigen Zwischenfällen – jetzt wieder groß angelegte terroristische Aktionen wagte.

Die IIS hatte ja eigentlich gehofft, dieser kriminellen Organisation durch Razzien und geheimdienstliche Zersetzungsmaßnahmen schon den radikalfundamentalistischen Nährboden entzogen zu haben. Aber anscheinend lassen sich religiöser Fanatismus und auch die politisch-ideologischen Spielarten von blindwütigen Eiferern nicht einfach durch Verfolgung mittels staatlicher Organe ausrotten. Noch dazu heizten die westlichen Mächte mit ihren Übergriffen in Afghanistan, Libyen, Syrien und im Irak das islamistische Feuer immer wieder an und trieben den Rekrutierern der Terroristenbanden Scharen von zornentbrannten jungen Männern zu. Wenn etwa die gegenwärtige Lage im Irak oder in Libyen symptomatisch die Segnungen der sogenanntenliberalen Demokratierepräsentiert, dann ist es nachvollziehbar, dass diese Männer leidenschaftlich und entschlossen nach Alternativen suchen. Selbst innerhalb der IIS, genauso wie in den irakischen und pakistanischen Sicherheitsapparaten, gab es Sympathien für diese Sichtweise der Islamisten, aber ein derartiges Einverständnis durfte selbstverständlich nicht öffentlich zur Schau gestellt werden.

In den nächsten Tagen suchten Armeehubschrauber von Singaraja aus den balinesischen Distrikt Buleleng systematisch nach Hinweisen auf Camps oder Trainingslager der JI ab. In der Tiefebene findet man nur die ungebrochene, friedfertige Harmonie aus bewässerten Reisfeldern, Palmen, Bananenstauden, Hüttendörfern, Pagoden und Tempeln vor, die wohl kaum ein Ambiente für islamistische Gotteskrieger bietet. In den mittleren Lagen dominieren die wie Farnblätter gefächerten und über sanfte Hänge gleitenden sattgrünen Reisterrassen, dieHimmelstreppen, wie sie auf Bali auch genannt werden. Dazu setzen spektakuläre, aus dem Regenwald wie aus Riesenschlünden hervorbrechende Katarakte zuweilen überraschende Akzente, und immer wieder schmücken Pagoden und Tempel die pittoreske Landschaft, manche auf heiligen Inseln in tiefblauen Bergseen thronend. In der Zone über 1800 Meter Seehöhe, rund um den erloschenen Vulkan Gunung Catur, spähten die Hubschrauberbesatzungen hingegen sehr aufmerksam. Hier kommen abgesehen von einigen Kaffeeplantagen kaum Spuren menschlicher Zivilisation vor, und so konnte man in dieser abgeschiedenen Gegend am ehesten ein Versteck der Islamisten erwarten.

Einer der Hubschrauberpiloten machte in diesem Gebirgszug ein gerodetes flaches Terrain aus, das eine Landung ermöglichte. Tatsächlich entdeckte man bei der Rekognoszierung der Umgebung in einer Waldlichtung Reste von Zeltpflöcken in der ziegelroten Erde und eine verkohlte, jedoch noch kürzlich verwendete Feuerstelle. Man setzte gleichsam per Dekret und aus Missmut wegen des Fehlens jeglicher anderer Hinweise fest, dass die JI genau hier das gesuchte Lager aufgeschlagen haben musste. Aber von den Terroristen selbst gab es weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie hatten sich offensichtlich die Taktik des raschen Ortswechsels nach Kampfeinsätzen angeeignet, die vom Vietkong während des Vietnamkriegs so erfolgreich praktiziert worden war. Es konnte sogar als wahrscheinlich gelten, dass die Dschihadisten Bali gänzlich verlassen hatten, um auf einer der vielen Inseln Indonesiens mit überwiegend moslemischer Bevölkerung eine unauffälligere Camouflage zu finden.

Jedenfalls besaß die IIS nach ihrer eigenen Einschätzung jetzt ausreichende Indizien, um das Wiedererstarken derJamaal Islamiyamit einer guten Dosis Plausibilität nachzuweisen und in ganz Südostasien, in Abstimmung mit den kooperierenden Sicherheitsbehörden der Region, die höchste Terrorwarnstufe in der Farbe Brandrot auszurufen.

Kapitel 3

Der Airbus A380 legte haargenau die glatte und saubere Landung auf dem Changi International Airport hin, die man von einem robotermäßig programmierten Piloten der Singapore Airlines erwarten durfte. Robin wunderte sich über die Durchsage an Bord, die in Erinnerung rief, dass in Singapur Drogendelikte mit der Todesstrafe geahndet werden. Es erschien ihr doch als ziemlich ungewöhnlich, dass man sie in einem angeblich touristenfreundlichen Land mit einer derart massiven Strafandrohung willkommen hieß. Vielleicht ist das typisch für meinen neuen Dienstort, nahm Robin vorläufig einmal an. Sie hatte sich naturgemäß vor dem Abflug noch auf Singapur und die Aufgaben hier vorbereitet, und dennoch traf man bei den Missionen immer wieder auf das Überraschende und das Neuartige. Das machte ja auch den Reiz der Auslandseinsätze aus. Die eigenartige Empfangskultur gehörte offensichtlich zu den originellen Facetten hier in diesem Inselstaat.

Nach dem Gate wartete ein schmächtiger Chinese in Chauffeuruniform auf Robin, der noch geschniegelter und konformistischer aussah als die ihr von Hongkong her vertrauten, aus der Volksrepublik stammenden dienstbaren Geister. Er hielt ein säuberlich weißes Schild mit dem schwarzen Aufdruck OCEAN WORLD hoch. Der kleine Chauffeur hatte wahrscheinlich einenMannerwartet – er dachte beim Vornamen Robin möglicherweise an Robin Hood oder Robin Williams –, denn er reagierte zunächst gar nicht auf sie. Erst als sie ihm unabweisbar ihre Identitätskarte unter die Augen drückte, ließ er sich ein Nicken entlocken. Ich habe meinen Decknamen trotzdem gut gewählt, stellte Robin befriedigt fest, denn dieser konnte sowohl männlich als auch weiblich sein und somit peinliche Verwirrungen bei Machos aller Schattierungen stiften.

Sie war sehr erleichtert, dass sie nach dem langen, ermüdenden Flug den lästigen Befragungen und Leibesvisitationen entging, welche die anderen Passagiere wegen des Terroralarms in Singapur erdulden mussten. Als hochrangige Mitarbeiterin derAgency for International Cooperationgenoss sie eben gewisse Privilegien. Fortwährend unverbindlich lächelnd, schleuste der Delegierte vonOcean Worlddie Angekommene unbehelligt durch Türen und Gänge, die eigentlich nur dem Flughafenpersonal vorbehalten waren. Im Bereich der Gepäckausgabe kreisten schon die Koffer von Robins Flug auf einem Fließband herum. Punkto Effizienz war der Changi International Airport einfach unschlagbar.

Im Auto verlangte Robin vom Ozeanweltchinesen, sofort in ihr Quartier an der staatlichen Universität NUS gebracht zu werden. Während der Fahrt hatte die AIC-Delegierte Mühe, die Augen offen zu halten, so ermattet war sie. Robin nahm nur vage einen von Kokos- und Fächerpalmen sowie Hibiskussträuchern gesäumten Expressway, eine Brücke mit einem Blick auf die spektakuläre Skyline von Singapur, der sie beinahe aus dem Halbschlaf gerüttelt hätte, und einen weiteren Expressway entlang eines gigantischen Containerdocks wahr. Sie erinnerte sich durch einen Gedächtnisschleier, dass laut ihrer Briefings Singapur als der größte Umschlaghafen der Welt galt. Also musste man ja auf riesige Portanlagen gefasst sein.

Der Fahrer kommunizierte mit seiner Passagierin durch ausdrucksstarkes Schweigen – das half auch nicht gerade beim Munterwerden. Erst als sie eine Abfahrt der Stadtautobahn zur linken Hand nahmen, merkte Robin, dass sie die ganze Zeit schon im Linksverkehr dahingekreuzt waren. Die exzentrischen Briten hatten hier wie in den meisten ihrer Exkolonien die absonderliche Gepflogenheit hinterlassen, auf der „falschen“ Straßenseite zu fahren. Nach einigen schwingenden Kurven, die Robins müden Kopf wie eine Bowlingkugel hin und her rollen ließen, erreichten sie einen aus mehreren Wohntürmen bestehenden Compound. Der Chauffeur deponierte Robin samt Gepäck vor Block A. Schon im Dämmerschlaf dösend, schwankte sie in den Aufzug und dann in das Appartement auf dem zwölften Stock, das lokale AIC-Mitarbeiter für sie reserviert hatten.

Es war später Nachmittag. Entgegen der geläufigen Empfehlung zur Bekämpfung des Jetlags, am Ankunftsort sogleich den dortigen Tagesrhythmus aufzunehmen, warf sich Robin erschöpft auf das Bett, nachdem sie sich noch rasch der Schuhe, der Hose und der Bluse entledigt hatte. Die Reisende aus Übersee fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte von finsteren und bedrohlichen Gestalten, die Namen wie Ahmed und Salah trugen.

Nach einigen Stunden schreckte sie auf. Die Luft in der Wohnung stand zäh und pappig wie aufgequollener Hefeteig. In ihrer Übereilung, ins Bett zu kommen, hatte Robin darauf vergessen, die Klimaanlage einzuschalten. Doch der schwere Druck auf Robins Lungen war gar nicht der eigentliche Grund für das verfrühte Erwachen. Aus der Wohnung über ihr drang nämlich das immer schrillere und eindringlichere Geschrei einer Frau:

„Pähn, Päähn, Pääähn!“

Dieses hatte Robin offenkundig aus dem Schlaf gerissen. Sie mühte sich auf, da sie ohnehin die AirCon aufdrehen musste, allerdings auch, um aus einem professionellen Impuls heraus einen Horchposten einzunehmen.

Die Rufe der Frau in einem für Robin noch unbestimmten asiatischen Akzent galten anscheinend einer Person namens Paine und erschallten zusehends lauter und beharrlicher. Diese Person rührte sich aber nicht. Sie blieb gespenstisch still. Erst nach einem hysterischen, lang gezogenen „Päääähn!“ hörte man ein phlegmatisches Brummen aus dem entfernteren Teil der Wohnung, so als würde das Gezeter dort nur in sehr gedämpfter Form wahrgenommen und kaum Beachtung verdienen. Die männliche Stimme klang rein mechanisch, so als ob sie schon oft in automatisch gesteuerter Weise auf ähnliche Störungen reagiert hätte. Trotz des bescheidenen Echos ließ die Frau nicht locker, und als sie mit ihrem schneidenden Organ in einem besonders unangenehmen und fordernden Tonfall nach dem Mann schrie, schien sich dieser doch ihrer zu erbarmen und sprach beruhigend wie ein Psychotherapeut und in einem breiten Amerikanisch:

„Was hast du denn? Möchtest du Kekse? Vielleicht auch Schokoladebonbons? Die magst du doch so gerne, nicht wahr? Und etwas trinken solltest du auch dazu. Nimm doch ein Glas Wasser. Oder lieber Orangensaft?“

Daraufhin verlor die so Bevormundete komplett die Kontrolle und kreischte in einem wachsenden Crescendo:

„Ich will keine Kekse! Ich will kein Getränk! Ich will Geld! Ich führe den ganzen Haushalt und du scherst dich einen Dreck darum. Ich koche, wasche, bügle, putze. Alles mache ich alleine und du zahlst nicht dafür! Selbst ein Dienstmädchen wird besser behandelt. Du glaubst, wenn du mich alle paar Wochen einmal aufs Bett legst und dich an mir befriedigst, reicht das schon. Als ob ich von deinem hilflosen Gefummel etwas hätte!“

Paine war perplex und stammelte:

„Ich kaufe dir doch alle Kleider, die du nur willst … Gleich morgen gehen wir auf die Orchard Road … und du suchst dir … etwas Schönes aus.“

Die Frau holte tief Luft und verkündete mit lauter, pathetischer Stimme:

„Ich lasse mich mit den billigen Klamotten, die du mir alle heiligen Zeiten schenkst, nicht mehr abspeisen. Ich will Cash, und zwar Riesen und nicht mickrige Beträge. Dann kaufe ich mir selbst die eleganten Kleider, die mir zustehen! Und deine dürftigen Sexspielereien können mir gestohlen bleiben!“

Das lieferte das Signal für Paine, die Tür zum kleinen Küchenbalkon zu schließen. Es brauchte ja nicht der ganze Block A von Kent Vale seine Schlafzimmergeheimnisse zu erfahren. Robin hörte nur mehr einige Satzfetzen von ihm, wie:

„Beruhige dich doch.“

„Ich werde das schon regeln.“

„Ich gebe dir jetzt gleich 500 Dollar, das genügt doch, oder?“

Dann übertönte das einsetzende Surren des Motors der Klimaanlage auf dem Balkon das herzergreifende Schluchzen der Frau. Ehe es mit der Zeit überhaupt still wurde, ließ sich nur noch leises Argumentieren sowie das hektische Öffnen und Zuschlagen von Schranktüren aus der Wohnung vernehmen. Die beiden Streithähne hatten sich offenbar in einen Teil des Appartements zurückgezogen, der für Robin nicht mehr gut abzuhören war.

Das berufsbedingte Mithorchen hatte sie halb munter gemacht und ihr vegetatives System meldete sich. Die Verpflegung an Bord reicht ja, selbst in der Business Class, bestenfalls noch so weit, um den ärgsten Hunger bis zur Landung zu stillen. Die Passagiere sollen sich nicht einbilden, für ihre lumpigen Tausende von Dollar über den Flug hinaus versorgt zu sein!

Mitfühlende Kollegen, oder auch Servicemitarbeiter von Kent Vale, hatten die Küche mit dem allernötigsten Mundvorrat ausgestattet. Robin goss einen Teebeutel mit sprudelnd heißem Wasser auf, setzte sich in einen Klubsessel beim Couchtisch im Wohnzimmer und wollte über das soeben Gehörte reflektieren. Doch die Aussicht aus dem Zimmer, welche die an dessen gesamter Längsseite verlaufende Glasfront freigab, lenkte die AIC-Delegierte vorübergehend ab.

Welch ein funkelndes Panorama, welch ein verschwenderisches Lichterspiel bot sich da den Augen! Im Vordergrund eine riesige Condominiumanlage der pompösen Kategorie, prächtig illuminiert aus dem dunklen Terrain aufragend wie ein gigantisches Luxuskreuzfahrtschiff aus der Schwärze der nächtlichen See. Links dahinter die grellen Flutlichter und die sich ständig bewegenden Laufkräne mit ihren bunten Spotlights am West Coast Terminal, wo selbstverständlich auch am Abend mit höchster Intensität Containerschiffe be- und entladen wurden. Zur rechten Hand und weiter zurückversetzt die Werft von Jurong East mit derselben Betriebsamkeit zur späten Stunde und einem Beleuchtungsspektakel ähnlich wie bei einem Megarockkonzert. Und im Hintergrund, jenseits der Meeresstraße von Singapur, die Erdölraffinerien auf der Polderinsel Jurong, die mit ihren Lichterketten auf blinkendem Aluminium und Stahl – Röhren, Stützen, Streben, Pumpen, Ventile – wie Sternengalaxien flimmerten und glitzerten. Ab und zu fauchte ein Raffinerieschlot gleich einem Flammenwerfer rotes Glühen und dicken grauen Qualm mit wütender Energie in den Nachthimmel. Scheinbar unbeeindruckt von all diesen Feuerwerken lag die glatte, pechschwarze Meeresoberfläche da, in der sich die strahlendsten Lichter gedämpft und zerronnen spiegelten und alle anderen ohne Reflexe aufgesogen und für immer von der dräuenden Tiefe verschluckt wurden. Der Meeresarm ruhte in ewiger Gleichmut und wirkte wegen des nächtens unsichtbaren Horizonts grenzenlos, und er bildete doch nur einen winzigen Ausläufer der unermesslichen Weite des Pazifischen Ozeans, die allenfalls geografisch und geodätisch, aber keineswegs sinnlich erfassbar war – es sei denn, man besah sie aus dem Weltall, schränkte die exakt denkende Robin ein.

Sie vermochte sich erst nach einigen Minuten von diesem faszinierenden abendlichen Schauspiel und ihren nachgerade epistemologischen Betrachtungen loszureißen. Was für ein Kontrast zum Blick aus ihrer Wohnung in den Staaten auf einen gesichtslosen und banalen Schlafzimmervorort von Washington! Dort war sie beim aus dem Fenster Schauen noch nie ins Schwärmen oder Sinnieren geraten. Im Gegenteil: Sie fiel dabei immer schwermütigen Anwandlungen anheim und benötigte schnell einen harten Drink.

Allmählich kehrten ihre Gedanken zu Paine zurück. Dieser Typ konnte doch nur der AIC-Mitarbeiter Paine Townsend sein, welcher laut der in ihrem Gedächtnis gespeicherten Kontaktliste im Block A von Kent Vale wohnte. Es wird wohl kaum einen zweiten Amerikaner mit dem ungewöhnlichen Vornamen Paine im selben Block geben. Ein besonders patriotisches Elternpaar hatte seinen Sohn offensichtlich nach Thomas Paine benannt, einem der großen Vordenker der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Dass dieser Sprössling zu einer eher jämmerlichen Figur heranwachsen würde, war eben nicht vorauszusehen. Aber auch andere Kinder hat man voller Pathos Washington oder Lincoln getauft und sie sind trotzdem in ihrem Leben nie aufgefallen, also sollte man zu Paines Eltern nachsichtig sein, überlegte Robin.

So oder so konnte sie es nicht fassen, dass ein Mann wie Paine, dessen Privatleben in so lächerlichen Bahnen verlief, für die AIC arbeitete. Welche Aufgaben waren für ihn in Singapur überhaupt vorgesehen und wie erfüllte er sie? Das musste sie bei ihrem ersten Gespräch mit dem lokalen AIC-Koordinator Clive unbedingt klären. Und wie stand es mit Paines Partnerin? Hatte er sie womöglich wider die Vorschriften in seine Tätigkeit eingeweiht oder sich in einem Moment amouröser Verbundenheit verraten? Gab es ein Dossier über sie? Wurde sie beschattet? Vielleicht operierte sie gar unter dem geschickten Deckmantel der unterdrückten und ausgebeuteten Frau als feindliche Agentin für die Russen oder die Chinesen. Das breit gefächerte Spektrum der asiatischen Schlangen hatte Robin ja bereits bei ihrem Einsatz in Hongkong kennengelernt.

Sie genehmigte sich eine zweite Tasse Tee und begann daneben, ihre beiden Koffer auszupacken. Obwohl Robin einen Aufenthalt von mindestens sechs Monaten in Singapur erwartete, hatte sie wenig an Bekleidung mitgenommen. Ihre Garderobe war nämlich überhaupt nicht auf tropisches Klima ausgerichtet. Daher plante Robin, sich hier in Singapur passend auszustatten, etwa mit Bermudashorts, leichten Baumwollblusen, luftigen T-Shirts und vielleicht sogar einigen schicken, die Figur betonenden Batikkleidern.

Ihre Siebensachen mussten sinnvoll organisiert werden, und so sah sich die Neuangekommene in der Wohnung genauer um. Das Schlafzimmer mit dem Doppelbett, das Wohnzimmer mit der Sitzgarnitur und der Essecke sowie die Küche kannte Robin ja schon. Sie fand noch ein kleineres Schlafzimmer mit einem Einzelbett vor, wahrscheinlich als Kinderzimmer gedacht oder eventuell für ein Dienstmädchen. Die AIC erlaubte es jedoch nicht, dass die Mitarbeiter Hauspersonal heuerten – Sicherheitsrisiko und Zwang zur absoluten Diskretion waren die Gründe. Es gab noch ein zweites Zimmer mit Meeresblick, ziemlich beengt, doch gerade ausreichend, um es als Büro zu Hause einzurichten. Dass das Appartement zwei Badezimmer besaß, betrachtete Robin zunächst als überflüssigen Luxus. Bei näherer Überlegung verhieß das aber, dass sie One-Night-Stands hierher abschleppen konnte, ohne am Morgen danach eine allzu peinliche Nähe und Intimität erdulden zu müssen. Irgendwie hatte die Agency darauf vergessen, Vorschriften über diesen Aspekt menschlicher Beziehungen zu erlassen. Das öffnete also einen Freiraum, den Robin sehr wohl ausnutzen würde.

Wie sie aufgrund ihrer exzellenten körperlichen Fitness erwartet hatte, fühlte sie sich bereits am nächsten Tag gut ausgeschlafen und voll einsatzfähig. Um keinerlei Verdacht zu erregen, würde sie ganz nach den Konventionen vorgehen und zuerst ihr Universitätsinstitut, das Department of Social Studies, aufsuchen, bevor sie ihre eigentliche Mission in Singapur begann. Die Gastdozentin würde für diesen Antrittsbesuch großen Wert auf ihr Äußeres legen und sich damenhaft kleiden, denn damit ging man im konservativen Stadtstaat auf Nummer sicher.

Sie wusch ihr schulterlanges Haar unter der Dusche und steckte es dann zu einem Knoten auf, wie sie es für besondere Anlässe gerne tat. Als ihr Vorbild diente dabei Katharine Hepburn mit ihren kunstfertigen Haarskulpturen im legendären FilmThe African Queen. Die aparte AIC-Delegierte schminkte sich sorgfältig und erforschte ihr Gesicht nach Spuren des anstrengenden Flugs, und wohl auch nach Lebenslinien ihrer 35 Jahre. Sie sah immer noch sehr attraktiv aus, befand sie, mit den graugrünen, rätselhaften Katzenaugen zum strohblonden Haar, den hohen Backenknochen und der fein ziselierten Nase, die ihr sicherlich der französische Ast ihres Stammbaums vermacht hatte – die anderen Äste waren irisch und skandinavisch. Sie hätte sogar für einefemme fataleoder ein blondes Gift durchgehen können, doch dafür fehlten ihr leider die dazugehörigen vollen, sinnlichen Lippen. Diese zogen hingegen nur eine schmale Spur in ihrem Antlitz. Robin verformte ihre Lippen und die Mundwinkel gerne zu einer ironischen und etwas herablassenden Miene, um ihre vorwiegende Einstellung gegenüber dem Rest der Welt kundzutun. Die Frau vor dem Spiegel probierte diesen Ausdruck gleich wieder aus und war zufrieden damit.

Um ihr soeben aufgetragenes Make-up nicht durch die hohe Außentemperatur zu gefährden, entschloss sich Robin, den Shuttlebus zum Department zu nehmen. Sie stellte erstaunt fest, dass das Universitätsgelände im Vergleich zu einem amerikanischen Campus viel offener und weiträumiger gestaltet war. Man ging geradezu verschwenderisch mit dem Platz um und prahlte mit riesigen Grünflächen und überquellender tropischer Vegetation. Die Fahrt quer über den Campus glich somit einer Exkursion durch einen botanischen Garten.

Im Institut ging die Gastdozentin sogleich zur Vorstandssekretärin Hafiza binte Mohammad Harun, also Hafiza Tochter des Mohammad Harun. Ein eher kurzer Name für malaiische Verhältnisse. Die elegante, ja nachgerade hoheitsvolle Erscheinung dieser Frau verblüffte Robin immens. In den USA sind diese Sekretärinnen zumeist nervöse kleine Mäuschen oder böse hässliche Kröten.

Hafizas Antlitz folgte einem perfekten antiken Ebenmaß, nicht zu rund und nicht zu lang gestreckt, gesegnet mit makelloser weicher Haut von vornehm hellem Teint, sanften dunklen Augen und vollen geschwungenen Lippen, um die Robin die Malaiin beneidete. Hafiza war diskret geschminkt, aber alleine schon die immanente ästhetische Ausstrahlung ihres betörenden Gesichtes zog magnetisch die Blicke an. Diese schöne Frau hatte sicherlich prächtiges schwarzes Haar, musste es jedoch unter dem Tudung, dem moslemischen Kopftuch der Malaiinnen, in der Öffentlichkeit verbergen. Das rubinrote Tudung aus feinem Gewebe wurde geschmackvoll durch eine mit Halbedelsteinen besetzte vergoldete Nadel festgehalten und erhielt damit den Status eines modischen Accessoires.

Als Hafiza mit anmutiger Grazie aufstand, um gemessen zu einem Aktenschrank zu schreiten, sah Robin, dass sie einen Sarong aus einem wunderbar fließenden Stoff trug, der wohlgerundete Hüften umschmeichelte. Hafiza konnte alles zwischen 25 und 40 sein, und sie machte den Eindruck, als würde Alter bei ihr keine Rolle spielen und ihre Schönheit in alle Ewigkeit erstrahlen. Robin ertappte sich dabei, dass sie sexuelles Verlangen nach dieser faszinierenden Frau verspürte, doch als Moslemin war Hafiza natürlich unerreichbar für sie.

Sobald die Einstandsformalitäten erledigt waren, fragte Robin nach Professor Tan. Die Vorstandssekretärin händigte ihr sodann mit erhabener Geste die Liste der Institutsmitglieder aus, auf der sich sechs mit dem Namen Tan fanden. Robin würde in Singapur lernen müssen, die vielen Tans auseinanderzuhalten: Der Professor Louis, ihr IT-Assistent im Fachbereich, ihr Akupunkteur, ihr Fußreflexzonenmasseur, ihre Kosmetikerin, ihre Friseurin, alle hießen sie Tan.