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Ein altes Herrenhaus im Moor, ein grausamer Mord, ein einsames Mädchen Suffolk, 1913: Hinter dem düsteren und einsam im Moor gelegenen Wake's End findet man den Hausherren Edmund Stearne neben einer grauenvoll zugerichteten Leiche. Er spricht nur diese einzigen Worte: »Ich war es, aber ich habe nichts falsch gemacht.« Seine Tochter Maud ist ein einsames Mädchen, das ohne Mutter aufwächst und unter dem herrischen und lieblosen Vater leidet. Zu dem fürchterlichen Verbrechen schweigt sie beharrlich. Dabei hat sie heimlich die Tagebücher ihres Vaters gelesen und weiß mehr, als sie zugibt. Doch auch Maud ist nicht frei von Schuld. Es wird Zeit, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt … Presse: »Paver ist die Meisterin der Spannung.« THE TIMES »Eine wunderbar stimmungsvolle und sehr unterhaltsame Schauergeschichte.« ANTHONY HOROWITZ »Das Gefühl der Angst wächst beim Lesen mit jedem Umblättern.« SCOTLAND ON SUNDAY» Eine Geschichte von Schrecken und Schönheit.« SUNDAY TELEGRAPH »Michelle Pavers Erzählweise ist unwiderstehlich.« THE TIMES »Eine Geistergeschichte, die es mit den großen Klassikern aufnehmen kann.« EVENING STANDARD» Dieses Buch verfolgt mich noch immer. Absolut fesselnd.« BBC RADIO 2 BOOK CLUB »Ein großartiger Schauerroman.« DAILY MAIL »Eine brillant gemachte atmosphärische Lektüre.« GOOD HOUSEKEEPING »Ein gruseliges Meisterwerk.« WOMAN AND HOME »Diese düstere Erzählung wird Sie in ihren Bann ziehen.« SUN» ›Teufelsnacht‹ ist vieles – ein schauriger Horrorroman, ein Märchen vom Erwachsenwerden, eine Geschichte von Wahnsinn und Einsamkeit.« SCOTLAND ON SUNDAY »Originell und fesselnd.« OBSERVER »Paver ist eine der zeitgenössischen Größen Großbritanniens. Dieser Roman zeigt, warum.« BIG ISSUE
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Seitenzahl: 418
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
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Übersetzung aus dem Englischen von Karin Dufner
© Michelle Paver 2019
Titel der englischen Originalausgabe: »Wakenhyrst« bei Head of Zeus, London, 2019
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Covergestaltung: Sandra Taufer, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von iStockphoto und Shutterstock genutzt
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Cover & Impressum
1966
Maud war die einzige Zeugin
Treffen im Moor
Ein historisches Treffen
In Wake’s End
Er war es nicht
Sechzig Jahre zuvor
1
2
3
Das Geheimnis des Edmund Stearne
Von Patrick Rippon
Exklusiv im Sunday Explorer Magazine
Wie ein Hexenhaus im Märchen duckt sich die alte Villa in einem verwilderten Garten. Ich kann den Blick nicht von dem mit Efeu überwucherten Fenster über der Haustür abwenden. Von diesem Fenster aus hat die sechzehnjährige Maud Stearne im Jahr 1913 beobachtet, wie ihr Vater die Treppe hinunterging, bewaffnet mit einem Eispickel und einem Geologenhammer und mit Mordlust im Herzen.
Edmund Stearne ist uns allen ein Begriff. Wir haben seine Werke bewundert, und sein Verbrechen hat uns erschaudern lassen. Warum hat er es getan? Hat er seine Geheimnisse einem Tagebuch anvertraut? Weshalb gibt seine Tochter nicht die Wahrheit preis?
Über fünfzig Jahre lang hat Maud Stearne als Einsiedlerin gelebt. Als erster Außenstehender bin ich in Wake’s End gewesen und habe mit ihr gesprochen. Was ich erfahren habe, lüftet endlich das Geheimnis, das die Tat ihres Vaters umgibt.
Kaum vorstellbar, dass Edmund Stearne bis zum vergangenen Jahr mit Ausnahme des verschlafenen Städtchens Wakenhyrst in Suffolk ein Unbekannter war. Einheimische haben ihn als wohlhabenden Grundbesitzer und angesehenen Historiker im Gedächtnis. Als einen Mann von makellosem Ruf. Bis zu jenem Sommertag, als er den ersten Menschen, der ihm über den Weg lief, auf die grausigste und abscheulichste Weise niedermetzelte.
Maud war die einzige Zeugin. Bei der Verhandlung gegen ihren Vater sagte sie nur ein paar Worte, danach äußerte sie sich nicht mehr dazu. Maud, Maud, alle Wege führen zurück zu Maud.
Ihr Vater verbrachte den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt, wo er jede wache Minute darauf verwendete, drei erstaunliche Gemälde anzufertigen, die die Welt im Sturm erobern sollten. Inzwischen sieht man sie überall, und es werden in Großbritannien mehr von seinen Drucken verkauft als von denen sämtlicher Impressionisten zusammen. Dennoch wurden die Bilder nach seinem Tod für ein Butterbrot an das Stanhope Institute of Psychiatric History veräußert.
Jahrelang verstaubten sie im Verborgenen, bis vor einem Jahr eine Wissenschaftlerin in einem Lagerraum über eine alte Teekiste stolperte. »Mir standen die Haare zu Berge«, berichtet Dr. Robin Hunter (36) exaltiert, eine rothaarige Dame mit weißen Vinylstiefeln und Minirock. »Ich wusste, dass ich an einer großen Sache dran war.«
Der Rest ist Geschichte. Die Bilder wurden ausgestellt und machten Furore. Edmund Stearne mag ein Gentleman aus der edwardianischen Ära gewesen sein, doch sein Werk ist erstaunlich modern. Es passt in unsere Zeit der Beatniks, Hippies und des LSD. Doch was die öffentliche Aufmerksamkeit wirklich erregte, war das Rätselhafte an der ganzen Sache.
Und um dieses Rätsel zu lüften, fuhr ich nach Wake’s End.
»Wake’s End liegt an einer Straße, die ins Nirgendwo führt«, warnte mich die Barfrau im Eel Grigg in Wakenhyrst. »Da fährt man nur hin, wenn man unbedingt hinwill.«
Das wollte ich auch. Maud Stearne höchstpersönlich hatte mich eingeladen.
Ich fuhr über das Gemeindeland und an der Kirche St. Guthlaf’s vorbei. Wake’s End liegt nur anderthalb Kilometer von dort entfernt, steht jedoch ein wenig abseits. Es schmiegt sich in die Biegung eines von Weiden gesäumten Baches und wird von einer drei Meter hohen Hecke geschützt, die nur so von handbeschriebenen Schildern strotzt: Privatgrund! Schießen, Aalfang oder unbefugtes Betreten strengstens untersagt! Zutritt verboten!
Wake’s End erweckt allerdings nicht nur durch diese Hecke den Eindruck, als wäre es aus der Zeit gefallen, sondern auch durch das sagenumwobene Guthlaf’s Fen.
Heutzutage bezeichnen wir windumtoste, von Entwässerungsgräben durchzogene Heiden als Moor. Doch die feuchte Wildnis, die Wake’s End umgibt, ist ein wirkliches Moor, der Überrest der uralten Marschen, die einst ganz East Anglia unter Wasser setzten. Es gilt als das älteste, tiefste und sumpfigste Moor überhaupt. Hier haben die berüchtigten Moortiger gelebt: Wilde, die ihr Gliederreißen mit selbst gebrautem Opium bekämpften und nichts fürchteten außer den Geistern, die in den Sümpfen umgingen.
Bei einer früheren Expedition habe ich mich hineingewagt. Schon nach zehn Schritten hatte ich mich verirrt. Hohe, verdorrte Schilfhalme ragten empor. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass sie mich vertreiben wollten. Es dämmerte, und ein modrig fauliger Geruch stieg mir in die Nase. Hinter mir raschelte etwas, und ich stellte fest, dass sich das Schilf für ein Geschöpf teilte, das für mich unsichtbar war. Kein Wunder, dass Maud verrückt ist, dachte ich. Immerhin hat sie ihr ganzes Leben hier verbracht.
Aber ist sie wirklich verrückt? Jeder beschreibt mir Maud anders.
»Eine typische alte Jungfer. Klammert sich auf ungesunde Weise an ihren Vater«, äußert ihre Schwägerin Tabitha Stearne (66).
»Miss Maud hat ihren Dad gehasst«, murmelt ein Bursche im Pub.
»Sie läuft nachts im Moor herum«, meint ein anderer. »So was würden wir niemals tun.«
Tabby Stearne meldet sich wieder zu Wort: »Ich fürchte, die Gute ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Soweit ich gehört habe, hat man bei ihr kleine tote Tiere gesehen, die in den Bäumen hängen.«
Wer also ist die wahre Maud Stearne?
Maud Stearne ist neunundsechzig und hat eine gebeugte Haltung wie viele große Frauen. Sie trägt einen schäbigen Pulli, eine Hose, alte Gummistiefel und einen Regenmantel. Zwar hat sie den kräftigen Knochenbau ihres Vaters geerbt, allerdings nicht sein unverschämt gutes Aussehen. Als sie in der Tür von Wake’s End steht, weicht sie meinem Blick aus. Ihre Augen huschen hin und her, als beobachte sie etwas, das nur sie sehen kann.
Sie schüttelt mir nicht die Hand. Ich bin nur ein unbedeutender kleiner Schreiberling, der den Dienstboteneingang hätte benutzen sollen. »Ich muss weg«, herrscht sie mich barsch an. »Die Köchin zeigt Ihnen alles.« Ehe ich mich versehe, marschiert sie zur Rückseite des Hauses und über eine wackelige Brücke ins Moor.
»Was haben die Bilder zu bedeuten?«, rufe ich ihr nach.
»Die habe ich noch nie gesehen.«
Sie will die Bilder tatsächlich noch nie gesehen haben? Wenn meine Theorie stimmt, geht es in ihnen eigentlich um Maud Stearne.
Niemand vergisst die Gemälde von Edmund Stearne. Der erste Eindruck ist eine Farbenexplosion wie von einem zerschmetterten Buntglasfenster. Wenn man sich weiter vorbeugt, erkennt man winzige, bösartige Gesichter, die einen anstarren. Man möchte zurückweichen, kann es aber nicht. Sosehr man sich auch sträubt, man wird weiter in die bizarre Welt des Mörders hineingezogen.
Keines der Bilder hat einen Titel, dafür tragen sie alle dasselbe Geheimnis. In der Mitte steht eine Frau in einem langen, schwarzen Kleid. Man sieht nur ihren Rücken und ihr wehendes helles Haar, umgeben von einem Strudel übernatürlicher Geschöpfe. Der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind, so akribisch bis ins letzte Detail dargestellt, dass sie lebendig sein könnten. Grotesk, hypnotisch, ja sogar böse. Kein Wunder, dass Stearne mit Hieronymus Bosch verglichen wird, dem spätmittelalterlichen Meister des Makabren.
Aber was sind das für Geschöpfe? Elfen? Trolle? Feen? Sind sie der Schlüssel zu dem rätselhaften Mord? Wer ist die unbekannte Frau?
Die Köchin ist ein Gebirge von einer Frau in Kittelschürze. Sie strahlt die Macht und Gewaltbereitschaft einer Gefängniswärterin aus. Ich schätze ihr Alter auf zwischen fünfzig und fünfundsiebzig – dauergewelltes Haar, verkniffener, scharlachroter Mund. Sie bedenkt mich mit einem eiskalten Blick. Wenn man nicht in Suffolk geboren ist, kommt man aus Sicht der Ortsansässigen vom Mars.
Sie ist nicht gesprächig, aber als sie mich herumführt, wird mir klar, dass sie und »Miss Maud« einander auf eine Weise hassen, die zu kultivieren es Jahrzehnte dauert. Meine Besichtigungstour erscheint mir seltsam geplant. Ich bekomme nur zu sehen, was Maud mir zeigen will. Ich frage mich, ob das sagenumwobene Notizbuch auch dazugehört.
In Wake’s End herrscht kein Wohlstand, so viel steht fest. An den dicken mittelalterlichen Mauern wirft der Schimmel Blasen. Die modrigen Möbel stammen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Zeit ist 1913 stehen geblieben.
Die Atmosphäre im Arbeitszimmer ist so seltsam, als sei Edmund Stearne soeben erst gegangen. Auf einem Waschtisch befinden sich zwei silberne Bürsten mit verfilzten hellen Haarsträhnen. Auf dem Schreibtisch liegt ein vergilbtes maschinengeschriebenes Manuskript. Das Buch der Alice Pyett. Mystikerin(1451–1517). Übersetzung und Exegese von E. A. M. Stearne, D. Phil. Cantab. Daran hat er also vor dem Mord gearbeitet.
Doch noch immer kein Notizbuch.
Mauds Schreibtisch steht in der Bibliothek auf der anderen Seite des Flurs. Von hier aus blickt man auf einen struppigen Rasen mit Bäumen und etwas, das einem Wunschbrunnen ähnelt: eine runde Steinmauer mit einem Eimer an einem Seil. Dort hat man Edmund nach dem Mord gefunden. In diesem Garten hat er die Tat begangen. Schon seit Jahrzehnten hat Maud diese Aussicht, wenn sie aus dem Fenster schaut.
Auf ihrem Schreibtisch liegen ein blauer Flügel aus Porzellan (ja, ein Flügel) und ein rotes Buch mit eingeprägten goldenen Initialen: E. A. M. S. Edmund Algernon Montague Stearne. Mein Mund wird ganz trocken. Bis jetzt hat Maud die Existenz dieses Buches stets abgestritten. Und jetzt hat sie es offen für mich liegen gelassen. Was führt sie im Schilde? Und, was noch wichtiger ist, darf ich einen Blick ins Buch riskieren?
»Fünf Minuten«, brummt die Köchin. »Mehr kriegen Sie nicht.«
Ich bin zu aufgeregt, um ihr zu widersprechen. Seine Schrift schreit mir von der ersten Seite entgegen: Edmund Stearne – privat, 1906. Sieben Jahre vor dem Mord.
Erst ist da nur Gekritzel. Dann fünf Jahre lang nichts. Ab dem Jahr 1911 ist jede Seite bis zum Rand gefüllt. Seine Handschrift ist klein und unleserlich, doch hin und wieder springen mir merkwürdige Sätze entgegen.
… durch einen engen, mit ochsenblutfarbenen Kacheln gefliesten Flur, die zu heiß sind, um sie zu berühren, und abstoßend glitschig …
… die Wölbung ihrer Oberlippe …
Es gibt auch Engel, aber längst nicht so viele.
Sie war entsetzlich verändert.
Dazwischen kunstvolle kleine Skizzen: abstoßende mittelalterliche Gesichter, eine Fledermaus, eine Kröte, eine Elster. Jede davon ist verstörend lebensecht und eigenartig bedrohlich.
Ich weiß, was du getan hast.
Es ist nur ein Bild. Es kann mir nicht schaden …
Ein hoher, dünner Schrei aus dem Moor …
… ich werde die Antwort bei Pyett finden.
Die letzte Seite ist leer bis auf einen hingekritzelten, doppelt unterstrichenen Satz: Lieber Gott, hoffentlich irre ich mich.
Warum hat Maud das Notizbuch nicht der Polizei übergeben? Was verbirgt sie?
Im Prozess hat sie ausgesagt, sie sei am Tag des Mordes oben gewesen. Als sie aus dem runden Fenster am Ende des Flurs schaute, habe sie beobachtet, wie ihr Vater mit einem Eispickel und einem Hammer die Vortreppe hinunterging.
»Der Herr hat den Verstand verloren!«, rief sie dem Hausburschen zu. »Holen Sie Hilfe!« Dann rannte sie in den Garten. Zu spät. Edmund beugte sich bereits über eine Leiche.
Laut Leichenbeschauer war der erste Schlag tödlich gewesen. Der Eispickel hatte Augapfel und Gehirn durchbohrt. Zumindest wäre das zu hoffen, denn Edmund trennte die Kopfhaut ab, hackte ein Stück Schädel entzwei und wühlte in der grauen Masse, als suche er etwas. Und Maud sah alles mit an.
Was dann folgte, ist eines der größten Geheimnisse dieses Falls. Aus bislang ungeklärten Gründen landete Edmund Stearne im Brunnen, wo er sich laut schreiend gegen eine wimmelnde Masse lebendiger Aale wehrte.
Maud sagte, sie habe es gar nicht mitbekommen, da sie die Leiche angestarrt habe. Im nächsten Moment kam das Hausmädchen herausgestürmt. Die Frau hatte den Toten im hohen Gras nicht bemerkt, aber ihren Arbeitgeber schreien gehört, und wollte ihm zu Hilfe eilen.
»Lassen Sie das!«, rief Maud, womit sie sich in den Augen der Öffentlichkeit ihr eigenes Grab schaufelte. Die Presse bezeichnete sie als »gefühllos und unweiblich«. Dass sie eher unscheinbar wirkte, machte es auch nicht besser.
Doch die Schuld ihres Vaters stand außer Zweifel. Nachdem die Polizei ihn aus dem Brunnen gezogen hatte, beruhigte er sich und gestand. »Ich war es, aber ich habe nichts falsch gemacht.«
Er erklärte nie den Beweggrund seiner Tat. Zwischen ihm und dem Opfer habe es keine Meinungsverschiedenheiten gegeben. Er habe einfach den ersten Menschen niedergemetzelt, der ihm über den Weg gelaufen sei. In seinen Taschen wurden grüne Glasscherben gefunden, die mit denen in den Augäpfeln, den Ohren und der Zunge des Opfers übereinstimmten, sowie vier Blätter einer Pflanze namens Salomonssiegel. Drei weitere steckten in der Kehle des Opfers.
All das bewies seine Schuld, doch für mich bedeutet es viel mehr. Denn schon seit Jahrhunderten wird das Salomonssiegel in der Hexerei verwendet.
Was haben Hexen mit Edmund Stearne zu tun? Eine ganze Menge. Denn ich halte ihn für unschuldig.
Dort unten im Brunnen hat er nicht geschrien, weil er verrückt war, sondern weil er schon seit seiner Kindheit eine panische Angst vor Aalen hatte. Sein Arzt in Broadmoor schrieb in die Krankenakte: »Sein Verhalten ist durchaus rational. Der einzige Hinweis auf eine Manie ist seine enorme Angst vor den winzigen Wesen, die er glaubt, malen zu müssen, und dennoch scheint er damit nicht aufhören zu können.«
Der einzige Hinweis auf eine Manie! Am Tag des Mordes war Edmund also keineswegs geistesgestört, den Verstand hat er erst später in der Irrenanstalt verloren.
Was den Mord betrifft, haben wir nur Mauds Aussage, die gegen ihn spricht. Und diese Aussage steht auf tönernen Füßen.
Warum hat sie gerufen: »Der Herr hat den Verstand verloren!«, obwohl er nichts weiter tat, als mit einem Eispickel und einem Hammer das Haus zu verlassen?
Wieso hat sie den Hausburschen weggeschickt? Er war ein kräftiger Junge von sechzehn Jahren und wäre sicher allein mit Edmund fertiggeworden.
Wie ist Edmund Stearne im Brunnen gelandet? Hat ihn jemand vor dem Mord hineingestoßen, um ihn aus dem Weg zu schaffen? Hat ihm jemand die Gegenstände in die Taschen gesteckt und die Waffen und die Aale in den Brunnen geworfen?
Aber was hat das alles mit Hexerei zu tun?
Nicht nur die Blätter des Salomonssiegels verweisen darauf, sondern auch das Glas. Ich habe es im winzigen Museum von Wakenhyrst entdeckt. Laut Experten stammt es aus dem Mittelalter und weist Spuren von Urin und einem giftigen Nachtschattengewächs auf, beides gängige Zutaten eines »Hexenfläschchens«. Das ist ein altes Zaubermittel gegen den bösen Blick.
Außerdem kann es kein Zufall sein, dass einer von Edmunds Vorfahren ein Hexenstecher gewesen war, der die Angeklagten auf verräterische Warzen untersuchte. Oder dass John Stearne unter einer Decke mit dem berüchtigten Hexenfahnder steckte, der 1645 in Bury St. Edmunds vierzig Menschen aufknüpfen ließ. (Ein weiterer Richter war am weltberühmten Hexenprozess in Salem, Massachusetts, beteiligt. Filmleute würden das einen amerikanischen Blickwinkel nennen, womit Mauds Geschichte sogar noch einen Hauch von Hollywood erhielte.)
Und um das Maß voll zu machen: In Wakenhyrst wird gemunkelt, dass Maud Stearne sich selbst für eine Hexe hält.
Das will ich keinesfalls behaupten. Doch beging sie womöglich im Jahr 1913 den Mord – im Glauben, sie sei tatsächlich eine Hexe – und schob ihn dann ihrem Vater in die Schuhe? Und dieser nahm, um seine Tochter zu schützen, die Schuld edelmütig auf sich?
Warum hat sie es getan? All das steht in meinem Buch. Die Fakten passen zusammen, und sie lüften das Geheimnis um Edmund Stearne.
Seine Bilder sind verschlüsselte Hinweise auf Mauds Schuld. Den Mittelpunkt eines jeden Gemäldes bildet eine Hexe. Die Geschöpfe, die sie umschwärmen, sind ihre bösen Gehilfen.
Und die Hexe ist Maud.
Mord im Garten von Patrick Rippon
Erschienen bei Titan.
Informationen zum Leserrabatt finden Sie auf Seite 48.
Brief von Maud Stearne an Dr. Robin Hunter, 14. November 1966
Liebe Dr. Hunter,
ein anonymer »Menschenfreund« hat mir Mr Rippons unverschämten Artikel zugeschickt, und da ich jeden weiteren Kontakt mit diesem abscheulichen kleinen Mann verweigere, wende ich mich an Sie. Soll ich mich als Verrückte und Mörderin abstempeln lassen? Natürlich weiß Mr Rippon, dass ich es mir nicht leisten kann, ihn zu verklagen.
Hinter diesen Lügen über Hexerei steckt nur meine Köchin. Sie und meine Schwägerin wollen mich in ein Heim stecken und das Moor verkaufen. In meiner Kindheit erstreckte es sich noch bis hinter die Kirche. Doch dieser Teil war Gemeindeland und wurde nach dem Krieg verkauft. So arm ich auch sein mag, werde ich niemals gestatten, dass mein Moor entwässert und in eine Weide für Schweine verwandelt wird.
Naiverweise habe ich angenommen, diese Bande loszuwerden, indem ich einem Eindringling Zutritt zu Wake’s End gewähre. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen. Sollten Sie mich weiter belästigen, werde ich das Notizbuch verbrennen. Damit Sie das nicht als leere Drohung auffassen, habe ich eine willkürlich herausgerissene Seite beigefügt. Mehr werden Sie nie erfahren. Niemals werde ich Ihnen oder sonst jemandem meine »Geschichte« erzählen. Ich will in Ruhe gelassen werden.
Maud Stearne
Brief von Dr. Robin Hunter an Miss Maud Stearne, 16. November 1966
Liebe Miss Stearne,
bitte verzeihen Sie, dass ich Sie erneut behellige. Ich flehe Sie an, das Notizbuch nicht zu beschädigen. Gerade war ich zum ersten Mal seit der Renovierung in St Guthlaf’s und habe eine so erstaunliche Entdeckung gemacht, dass ich Ihnen einfach schreiben musste.
Ich hatte von dem mittelalterlichen Gemälde gehört, das unter der Bezeichnung »Weltgericht von Wakenhyrst« läuft und 1911 unter bemerkenswerten Umständen gefunden wurde, bis heute hatte ich es jedoch nie mit eigenen Augen gesehen. Wie Sie wissen, handelt es sich um eine typische Darstellung des Jüngsten Gerichts, in der die Hölle überzeugender wirkt als der Himmel. Was es für mich außerordentlich interessant macht, sind jedoch die Parallelen zu den Gemälden Ihres Vaters.
Mir ist bewusst, dass Sie sich nicht damit beschäftigen wollen, doch auf dem Gemälde Nr. 2 Ihres Vaters ist mir ein Detail aufgefallen, das ich für sehr bedeutsam halte. Drei der darauf abgebildeten Gestalten sind zu Recht hochgelobt worden. Sie wurden zunächst »Die drei Dämonen« genannt, heute kennen wir sie jedoch als »Erde«, »Luft« und »Wasser«. Es ist die abscheuliche »Erde«, die mir in St Guthlaf’s die Augen geöffnet hat.
Ich hatte schon einige Stunden vor dem »Weltgericht« verbracht, doch erst als der Pastor die Lichter löschte, bemerkte ich in einer Ecke einen schuppigen kleinen Teufel. Er ist nackt und kauert mit obszön gespreizten Beinen da, und obwohl er gerade eine Sünderin mit seinem Speer aufgespießt hat, gilt sein lüsternes Grinsen nicht ihr, sondern uns.
Ich warf einen kurzen Blick auf mein Notizbuch, auf dessen Umschlag »Die drei Dämonen« vom Gemälde Ihres Vaters abgedruckt sind. Die Erde zwinkerte mir anzüglich zu. Wieder betrachtete ich den Teufel. Auch er zwinkert, und sein krötenähnliches Grinsen ähnelt sehr dem der »Erde«.
Genau genommen ist es identisch. Und da wusste ich es. Die Geschöpfe in den Bildern Ihres Vaters sind weder Feen noch Elfen und ganz eindeutig keine Dämonen. Es sind Teufel.
Bitte entschuldigen Sie mein unzusammenhängendes Geschreibsel. Es ist drei Uhr morgens. Aber bitte beantworten Sie diesen Brief. Ich möchte unbedingt Ihre Meinung dazu hören.
Mit herzlichen Grüßen
Robin Hunter Ph. D.
Eastern Daily Press, 20. November 1966
Sturm beschädigt historisches Anwesen
Das Unwetter, das gestern Nacht über Suffolk hinwegfegte, richtete in der Gemeinde Wakenhyrst große Schäden an. Am schlimmsten betroffen war das historische Anwesen Wake’s End, das frühere Zuhause des berühmten Künstlers Edmund Stearne. Das Dach gilt als einsturzgefährdet. Laut Expertenmeinung werden die Reparaturkosten mehrere Tausend Pfund betragen.
Brief von Maud Stearne an Dr. Robin Hunter, 24. November 1966
Lieber Dr. Hunter,
wenn Sie übermorgen um zwei Uhr mittags nach Wake’s End kommen, können wir den Verkauf meiner »Geschichte« besprechen.
Freundliche Grüße
Maud Stearne
»Wer andere dazu bringen kann, Absurditäten zu glauben, kann sie auch dazu bringen, Grausamkeiten zu begehen.«
Voltaire
Maud wurde von einem gellenden Schrei aus dem Schlaf geschreckt. In der Dunkelheit lag sie da und hörte, wie ihr Bruder sich in seinem Bett umdrehte. Das grollende Schnarchen des Kindermädchens drang durch die Wand. Sie wusste nicht, ob der Schrei echt war oder ob sie ihn nur geträumt hatte.
Da war er wieder. Ihr Magen verkrampfte sich. Der Schrei kam von unten, von Maman, und bedeutete, dass das Stöhnen angefangen hatte. Bitte, bitte, lass sie nicht sterben, dachte sie.
Jedes Jahr bekam Maman dieselbe Krankheit, die häufig mit einem Baby endete. Ihre Mitte schwoll so an, dass sie kein Korsett tragen konnte, und Dr. Grayson ließ sie ständig schlückchenweise Brandy trinken, den sie verabscheute. Darauf folgte die schreckliche Zeit, die die Dienstboten als Stöhnen bezeichneten. Mamans Mitte zerplatzte, und Maud versteckte sich im Kinderzimmer und hielt sich die Ohren zu.
Bestenfalls endete das Stöhnen mit einem blutigen Nachttopf, dann war es gleich vorbei. Das Zweitbeste war ein totes Baby, doch das Schlimmste war ein lebendiges Kind, denn Maman weinte immer, wenn es starb – und das geschah jedes Mal. Maman achtete darauf, nicht in Vaters Gegenwart zu weinen, weil er das nicht leiden konnte.
Da Maud inzwischen fast neun war, wusste sie, dass sie die Pflicht hatte, ihre Mutter zu retten. Sie musste etwas unternehmen, um die Babys abzuwehren. Mit Beten hatte sie es schon versucht, doch das wirkte nicht, vermutlich, weil es Gott war, der die Babys schickte.
Ihr Blick wanderte zu den Fenstern, die zum Moor zeigten. Das Moor war mächtig. Vielleicht konnte es ihr helfen.
Vater hasste das Moor. Er hatte Richard und Maud verboten, die Brücke zu überqueren und es zu betreten. Außerdem mussten alle Fenster, die in diese Richtung zeigten (oder besser gesagt, fast alle), stets geschlossen bleiben. Die Köchin hatte strikten Befehl, niemals Fisch oder Geflügel aus dem Moor zu servieren. Insbesondere keine Aale. Laut Vater waren Aale schmutzig, weil sie sich von toten Tieren ernährten.
Auch das Kindermädchen konnte das Moor nicht leiden. »Geh da bloß nicht hin«, sagte sie zu Maud und näherte sich ihr mit ihrem aufgedunsenen Gesicht. »Sonst kommen die Dämonen und Irrlichter und locken euch in einen feuchten Tod.« Bemerkenswerterweise teilte der Gärtner Cole diese Ansicht nicht. Er ging oft zum Moor und fing sich eine Schleie zum Abendessen. Wenn man schaute, wo man hintrat, konnte einem im Moor nichts passieren, meinte er.
Insgeheim teilte Maud seine Auffassung. Für sie war das Moor ein verbotenes Reich voller magischer Geschöpfe, nach dem sie sich hoffnungslos und verzweifelt sehnte. Über dem Lode, der der Entwässerung diente, wehte im Sommer der Duft von Mädesüß, und aus dem Schilf drang das Quaken der Frösche. Im Winter hörte Maud draußen auf dem Weiher das Eis brechen, und Scharen von Gänsen zogen über den Himmel. Eines Nachmittags waren sie dicht über den Garten geflogen, und das Flattern ihrer Schwingen hatte Maud das erhebende Gefühl gegeben, sie könne ebenfalls fliegen. Es war ihr größter Kummer, dass sie die Fenster nicht öffnen und den Flügeln lauschen durfte.
Zum siebten Geburtstag hatte Cole ihr ein Geschenk aus dem Moor mitgebracht, die abgestreifte Haut einer Schlange. Maud bewahrte sie hinter einem losen Stück Wandvertäfelung unter ihrem Bett auf. Sie war ihr größter Schatz.
Als sie nun das Stöhnen ihrer Mutter hörte, wusste sie, dass der Zeitpunkt gekommen war, um sie zu benutzen. Wenn sie auf den Stuhl am Fenster kletterte, konnte sie das Moor sehen. Sie würde mit der Schlangenhaut zu ihm beten, damit Maman nichts zustieß.
Mit einem Blick auf ihren schrecklichen Bruder kroch sie aus dem Bett, lockerte die Wandvertäfelung und holte ihren Schatz heraus. Da Richard weiterschlief, schlich sie zum Stuhl, raffte ihr Nachthemd, stieg hinauf, duckte sich hinter den Vorhang und spähte am Rand der Jalousie vorbei.
Ihr stockte der Atem. Auf der Fensterbank saß eine Eule.
Zuerst sah sie nur ihre auf dem Rücken zusammengefalteten Flügel. Als die Eule ihren Kopf drehte, waren ihr mondweißes Gesicht und die tiefschwarzen Augen zu erkennen.
Das Kindermädchen behauptete, es sei ein Todesomen, wenn ein Vogel ans Fenster klopfte. Allerdings klopfte die Eule nicht an die Scheibe, sondern starrte Maud an.
Bitte beschütz Maman, betete sie lautlos. Bitte mach, dass die Babys wegbleiben.
Die Eule wandte sich ab und glitt davon in die Nacht. Das Moor war in blaues Mondlicht getaucht. Die Weiden standen reglos am Rand des Lode. Die Schilfhalme ragten aus dem Wasser empor wie aufgepflanzte Speere.
Das Kindermädchen behauptete, Eulen würden Unglück bringen, doch Cole sagte, das gelte nur für den Fall, dass man eine erschoss. Maud wusste, dass diese Eule eine Botin vom Moor war. Sie hatte auf dem Fensterbrett gegenüber von ihrem Bett gesessen, nicht von Richards. Und sie hatte Maud angesehen.
Sollte das heißen, dass ihr Gebet erhört worden war und dass Maman keine Gefahr drohte?
Während des Stöhnens durfte Maud das Kinderzimmer nicht verlassen, aber sie musste herausfinden, ob es Maman gut ging.
Der Flur im obersten Stockwerk war nicht allzu angsteinflößend, weil außer Richard und Maud nur die Dienstboten dort schliefen. Die Treppe nach unten in den ersten Stock war da schon schwieriger. Maud wich der knarzenden Stufe aus und öffnete unten die Tür.
Die Türen zum Zimmer ihrer Eltern am Ende des Korridors waren offen. Vater stand im gelben Schein der Lampe da, eine scharlachrote Säule in seinem Morgenmantel aus chinesischem Brokat.
Zum Glück kehrte er Maud den Rücken zu und sprach mit jemandem, den sie nicht sehen konnte. Wahrscheinlich mit dem alten Dr. Grayson. Sie konnte ihn zwar nicht verstehen, doch er klang ruhig. Sicher würde er nicht so gelassen sein, wenn etwas im Argen lag. Da sie keine Dienstboten bemerkte, nahm sie an, dass Daisy und Valerie bei Maman im Ankleidezimmer waren, wo das Stöhnen normalerweise stattfand. Maud nahm all ihren Mut zusammen und pirschte sich weiter heran.
Dr. Grayson redete tatsächlich mit Vater. »Allmählich befürchte ich, es könnte sich um eine erbliche Störung handeln«, sagte er leise.
»Erblich?«, fuhr Vater ihn an. »In unserer Familie ist noch nie so etwas vorgekommen.«
»Alter Junge, ich meinte damit Mrs Stearnes Familie.«
»Aha. Aber sie kann doch weitere Kinder bekommen?«
»Ganz sicher. Obwohl ich vielleicht eine kleine Ruhepause …«
Maud schloss aus Vaters Schweigen, dass er nicht sehr erfreut war. Der Arzt vermutlich auch. Aber in diesem Moment entdeckte er Maud. »Siehe da, wir haben Publikum.«
Als Vater sich umdrehte, wäre Maud beinahe in Ohnmacht gefallen. »Was hast du unten zu suchen?«, fragte er barsch. »Wo ist dein Kindermädchen?«
Er beugte sich über sie. Sein Gesicht war so streng und schön wie das des Alabasterritters in der Kirche, seine Pupillen glichen schwarzen Löchern in einer eisblauen Iris.
Als Maud sich noch immer nicht von der Stelle rührte, legte er ihr die Hand auf die Schulter und versetzte ihr einen leichten Stoß. »Los, geh, sonst erkältest du dich noch.« Es war das erste Mal, dass er sie berührte, und obwohl es nicht schmerzhaft war, empfand sie Ehrfurcht vor der Kraft seiner Finger.
Doch nicht einmal Vater würde verhindern, dass sie herausfand, was aus Maman geworden war. Deshalb versteckte sie sich auf der untersten Stufe, anstatt nach oben zu gehen.
Sie hörte Röcke rascheln und sah Daisy aus dem Ankleidezimmer kommen. Das alte Hausmädchen machte ein finsteres Gesicht und hatte einen abgedeckten Nachttopf in der Hand.
Maud duckte sich und stellte fest, dass Daisy ins Badezimmer eilte. Darauf folgte das laute Gurgeln der Toilettenspülung, und ein süßlicher Kupfergeruch stieg Maud in die Nase, wie an dem Tag, als sie das Schwein geschlachtet hatten.
Vor Erleichterung sackte sie zusammen. Das Moor hatte ihr Gebet erhört. Mamans Krankheit hatte auf die bestmögliche Weise geendet: mit einem blutigen Nachttopf.
Am nächsten Morgen vor dem Frühstück rief Vater das Kindermädchen zu sich. Mit zorniger Miene kehrte das Kindermädchen ins Kinderzimmer zurück und verabreichte Maud eine Tracht Prügel mit einer harten Bürste. Ihre Augen waren gerötet, als sie zum Morgengebet ins Frühstückszimmer kam.
Während Vater mit seiner Lesung begann, wanderten ihre Gedanken zu der Eule. Wenn sie eine Maus aus einer der Fallen in der Speisekammer stibitzte, konnte sie sie vielleicht damit anlocken.
»Dein Wille geschehe«, betete Vater. Zu Mauds Erleichterung schweifte sein Blick über sie hinweg zur Bank der Dienstboten. »Steers«, wandte er sich an den Butler. »Ada ist nicht angemessen gekleidet.«
Hinter Maud wurde nach Luft geschnappt, und Ada brach in Tränen aus. Mit der gleichmütigen Neugier, die die Geretteten gegenüber den Verdammten hegen, stellte Maud fest, dass dem Küchenmädchen eine Locke aus der Haube gerutscht war. Wie schade. Maud hätte Ada gern weiter hiergehabt. Aber Ada kannte die Regeln. Kein offenes Frauenhaar in Wake’s End. Deshalb flocht das Kindermädchen Mauds Haar auch so fest, dass es wehtat. Richard, der Quälgeist, zog ständig an ihren Zöpfen, die ihr bis zur Taille reichten. Wie gern hätte Maud sie abgeschnitten, doch das verstieß ebenfalls gegen die Regeln.
Es gab zwei verschiedene Sorten von Regeln, die jeden Moment von Mauds Tag bestimmten. Die einen galten in der Unterschicht und wurden Aberglaube genannt. Vater verabscheute sie, was bedeutete, dass die Dienstboten sie hinter seinem Rücken befolgten. Daisy zum Beispiel stellte den Hexen einen Teller mit Milch und Brot vor die Tür der Stiefelkammer. Die Köchin wehrte Unglück ab, indem sie einen Hühnergott an ihren Bettpfosten hängte. (Selbst Vater tat das, auch wenn es sich bei seinem Feuerstein um eine Kindheitserinnerung handelte.)
Und dann gab es Vaters Regeln, die viel strenger waren, weil er Gott auf seiner Seite hatte. Dazu gehörte, nie im Garten herumzutollen und im Erdgeschoss immer still zu sein. Am meisten hasste Maud das Tierverbot. Vater duldete Blossom und Bluebell, weil er sie für die Kutsche brauchte. Doch Hunde waren in Wake’s End nicht erlaubt, und Jessop hatte Befehl, jede Katze zu ertränken, die sich aufs Grundstück verirrte.
Was diese beiden Regelkataloge so gefährlich machte, war, dass man bestraft wurde, wenn man sie verwechselte, obwohl man sie oft nicht auseinanderhalten konnte. Wenn man Salz verschüttete, musste man eine Prise über seine linke Schulter werfen. Aber tat man das, um damit den Teufel zu blenden, wie das Kindermädchen behauptete? Oder hatte es damit zu tun, dass Judas Iskariot beim letzten Abendmahl auch Salz verschüttet hatte?
Maud malte sich die beiden Regelkataloge als zwei gewaltige dornige Mauern aus, die sie erdrückten. Sie wusste genau, was der Apostel Matthäus mit seinen Worten »Der Weg ist schmal, und wenige sind ihrer, die ihn finden« gemeint hatte.
Wie das Haus in Wake’s End war auch die Kirche St Guthlaf’s gleichzeitig Freund und Feind.
Von außen wirkte sie hauptsächlich feindselig. Der Turm hatte Schlitzaugen, und an den Dachtraufen fletschten Ungeheuer die Zähne. Am schlimmsten war die steinerne Krähe am Portal. Sie kauerte auf dem Kopf eines schreienden Mannes und hatte die Klauen in seine Augäpfel geschlagen.
Drinnen fürchtete sich Maud am meisten vor den Teufeln. Sie waren ins Taufbecken, in die Säulen und selbst in die Decke eingemeißelt. Vater sagte, früher seien auch die Wände damit bemalt gewesen, doch die Puritaner hätten sie übertüncht. Maud fand die Teufel aus Stein schon schrecklich genug.
Am Sonntag nach dem Stöhnen fühlte sich Maud ohne Maman ziemlich verunsichert. Als sie Vater durch den Mittelgang folgte, nickte sie den Enden der Sitzreihen besonders höflich zu: den Einhörnern, den Meerjungfrauen, dem Wilden Mann, den Sieben Todsünden. Sie vertraute darauf, dass sie sie beschützen würden.
Als sie die Sitzreihe ihrer Familie erreichten, besserte sich die Lage ein wenig. Die gemütliche alte Truhe an der Wand hatte für den Fall einer Überschwemmung kurze Stummelbeine und bestand aus Eichenholz, das ursprünglich aus dem Moor stammte. Die Schnitzereien halfen Maud dabei, während der Predigt von Mr Broadstairs wach zu bleiben. Für den heiligen George hatte sie nicht viel übrig, aber sie liebte den Drachen, der bestimmt gleich den Speer entzweibeißen und davonfliegen würde.
Sie bewunderte auch die am unteren Rand der Truhe eingeschnitzten Frösche. Cole bezeichnete Frösche als die Nachtigallen des Moores. Aber die Köchin beharrte darauf, dass ein Frosch im Haus eigentlich eine verkleidete Hexe sei. Letzte Woche hatte sie einen in der Spülkammer entdeckt und ihn sofort ins Feuer geworfen. Das Kindermädchen hatte erzählt, er habe überall Blasen bekommen und noch eine Ewigkeit gezuckt.
Maud wurde übel. Sie wünschte, sie hätte Maman sehen können, aber das durfte sie nie nach dem Stöhnen. Viele Wochen lang nicht. Maman machte die Kirche erträglich. Sie beschützte Maud vor den Teufeln, während Maud sie vor der Familiengruft und der Skulptur beschützte.
Die Gruft befand sich auf dem Friedhof in der Nähe des Wegs. Oben war sie mit einem Gedenkstein versehen, und es führten glitschige Stufen hinunter in die von Spinnweben durchsetzte Finsternis. Laut Kindermädchen konnte man durch die Gitterstäbe die Särge sehen. Maman wandte im Vorbeigehen stets den Blick ab.
Maud mochte den Alabasterritter Sir Adam de Braunche, der mitsamt seinem Alabasterskelett im Mittelgang der Kirche lag. Doch Maman hatte aus irgendeinem Grund panische Angst vor dem Skelett. Maud nahm dann immer ihre Hand und platzte fast vor Stolz, wenn ihre Mutter flüsterte: »Wie mutig du bist, ma petite Mode?«
Endlich war die Predigt vorbei, und sie standen auf, um zu singen. Als die Orgel einsetzte, geriet Maud ins Schwanken. Plötzlich wusste sie, warum Maman sich vor Sir Adam und der Familiengruft fürchtete. Sie glaubte, dass sie sterben musste.
Schwarze Punkte schwebten vor Mauds Augen. Sie malte sich den blutigen Nachttopf und den in den Flammen zuckenden Frosch aus.
Das Kindermädchen kniff sie in den Arm.
Vater drehte sich um und starrte sie an.
Als Maud umkippte, erhob sich der Drache von der Truhe und flog auf sie zu.
Das Kindermädchen wollte sie verprügeln, weil sie sich in der Kirche ungehörig benommen hatte, aber Vater rief sie in sein Arbeitszimmer und verlangte eine Erklärung.
Maud war erst dreimal hier gewesen. Der Raum befand sich nicht nur hinter einer, sondern gleich hinter zwei doppelflügligen Türen, damit Vater ungestört arbeiten konnte. Wenn man die erste Tür öffnete, war man in einem schauderhaft dunklen Schacht gefangen, wo man warten musste, während man sich vor dem grauste, was einen erwartete.
Als Maud in diesem Schacht stand, zermarterte sie sich das Hirn nach etwas, das sie Vater antworten könnte. Sie konnte ihm nicht sagen, dass ihr wegen Maman und des blutigen Nachttopfs flau geworden war. Dann hätte er nämlich gewusst, dass sie ihm in der Nacht des Stöhnens nicht gehorcht hatte.
Endlich erklang seine Stimme: »Herein!«
Sie öffnete die innere Tür.
Er saß am Schreibtisch und schrieb etwas. Das Kratzen seines Füllfederhalters hallte durch die Stille. »Warum, glaubst du, bist du hier?«, begann er, ohne den Kopf zu heben.
Maud schluckte. »Weil ich in der Kirche ohnmächtig geworden bin.«
»Weil du das Gebet anderer unterbrochen und dein eigenes vernachlässigt hast.«
»Ja, Vater.«
Sie beobachtete, wie er seinen Füllfederhalter mit dem Reiniger abwischte, den Maman letzte Weihnachten für ihn bestickt hatte. Dann richtete er sein Notizbuch parallel zur Schreibtischunterlage aus grünem Leder aus. Das Notizbuch hatte einen scharlachroten Einband. Seine Initialen waren in Gold eingeprägt. Wie gerne hätte Maud gewusst, was darin stand.
»Warum bist du ohnmächtig geworden?«, fragte er leise.
Ihr Verstand war wie leer gefegt. »Äh, ich habe einen Frosch betrachtet.«
Seine Miene verfinsterte sich. »Du lügst.«
»Ich habe einen Frosch betrachtet, Vater. Er ist in die Truhe eingraviert und hat mich …« Sie verstummte. Wenn sie von dem verbrannten Frosch erzählte, würde sie die Köchin in Schwierigkeiten bringen. Und die würde Maud dann unter ihrem Hemdchen kneifen, wo man es nicht sah. »Er hat mich an eine tote Kröte erinnert, die ich im Garten gesehen habe«, schwindelte sie.
»Du hättest beten sollen.«
»Ja, Vater.«
Er rückte sein Notizbuch ein kleines Stück zurecht. »Schaust du dir gern die Schnitzereien an?«
Maud war erstaunt. Vater sprach sonst kaum mit ihr und interessierte sich nicht dafür, was ihr gefiel. »Ja, Vater«, murmelte sie zögernd.
»Und warum, glaubst du, sind sie auf dieser Truhe?«
»Äh … weil Frösche Geschöpfe Gottes sind und in den Himmel kommen?«
»Was bringt dich denn auf diese Idee?«
Sie holte tief Luft. »Weil Miss Broadstairs behauptet, dass Tiere nicht in den Himmel kommen, weil sie keine Seele haben. Aber ich weiß genau, dass sie sich irrt. Ich habe Beweise gefunden.«
»Aha. Und wo hast du diese Beweise gefunden?«
»In der Bibel. Dort, wo Jesaja davon spricht, einen neuen Himmel zu erschaffen, wo Wolf und Lamm zusammen auf dem heiligen Berg weiden, ohne einander Schaden zuzufügen.«
Vater machte kein finsteres Gesicht mehr. Zu beiden Seiten seines Schnurrbarts waren zwei Linien entstanden. Er lächelte. »Aber das hat Jesaja nur bildlich gemeint. Weißt du, was das bedeutet?«
Sie nickte, obwohl sie nicht sicher war. Sie konnte gar nicht fassen, dass sie tatsächlich ein Gespräch mit Vater führte. Am liebsten sollte es niemals aufhören.
»Und genauso«, fuhr er fort, »sollen diese Schnitzereien nicht einfach die Geschöpfe Gottes darstellen. Die Frösche sind Symbole der Verderbtheit. Weißt du, was ein Symbol ist?«
»Ja, Vater«, erwiderte sie prompt. »Wie in der Offenbarung des Johannes: ›Ich sah drei unreine Geister gleich den Fröschen‹?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie alt bist du, Maud?«
»Acht drei viertel. Am 26. Mai werde ich neun.«
»Und liest du gerne in der Bibel?«
Beinahe hätte sie die Wahrheit gesagt, nämlich, dass sie nur die Bibel las, weil sie keine andere Lektüre hatte, und ob sie bitte, bitte die Bibliothek benutzen dürfe. Doch vorsichtshalber nickte sie nur.
»Deine Kenntnisse von der Heiligen Schrift sind beeindruckend, aber du darfst nicht damit prahlen. Geistige Überheblichkeit wirkt abstoßend, insbesondere bei einer Frau.«
»Ja, Vater«, antwortete sie erfreut. Beeindruckend. Er hatte sie als beeindruckend bezeichnet.
Er griff zum Füllfederhalter und schlug das rote Notizbuch auf. »Du darfst jetzt gehen. Du schreibst hundertmal, dass es falsch ist, sich in der Kirche umzuschauen, anstatt sich seinen Gebeten zu widmen.«
»Danke, Vater.«
Als sie das Arbeitszimmer verließ, schwebte sie im siebten Himmel. Sie hatte sich die Prügel erspart und Vater beeindruckt. Und da war noch etwas: Sie hatte das Gefühl gehabt, er habe das heutige Datum in sein Notizbuch geschrieben. Führte er Tagebuch wie Miss Broadstairs, deren Buch mit hübschen kleinen vergoldeten Schlössern versehen war?
Wie gerne hätte Maud gewusst, ob er etwas über sie aufgeschrieben hatte.
Maud hatte Lady Clevedon einmal sagen hören, dass Maman aus einer belgischen Kaufmannsfamilie stamme, weshalb der arme Dr. Stearne wohl wahre Wunder bewirken müsse, um ihr guten Geschmack beizubringen. Seitdem hasste Maud Lady Clevedon wie die Pest.
Seltsamerweise schien Maman dieser Einschätzung zuzustimmen. »Es war wunderbar von deinem Vater, mich zu heiraten«, meinte sie zu Maud. »Ich schulde ihm alles, und es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass er stolz auf mich ist.«
Das bedeutete, dass sie stets schön sein musste. Wenn Mamans Mitte so angeschwollen war, dass sie kein Korsett tragen konnte, hüllte sie sich in die edelsten Hausgewänder. Sobald sie wieder gesund war, verbrachte sie den Großteil des Tages damit, sich umzuziehen: Frühstückskleid, Ausgehkleid, Nachmittagskleid, Abendkleid.
Die Mode dieser Zeit stand ihr ausgezeichnet. Sie hatte es nicht nötig, sich den Busen auszupolstern, und ihr Schwanenhals eignete sich großartig für die mit Knochen verstärkten Kragen, die ihr bis zu den Ohren reichten. Erst Jahre später wurde Maud klar, dass ihre Wespentaille nur das Ergebnis von festem Schnüren gewesen sein konnte. Sie musste mit nahezu ständigen Schmerzen gelebt haben.
Manchmal kam Maman ins Kinderschlafzimmer, um ihre Sprösslinge zu küssen, wenn sie schon im Bett lagen. Maud hörte das Rauschen ihrer Röcke und schnupperte den milchigen Geruch ihrer Haut und den Duft der kleinen, in die Achselhöhlen ihrer Kleider eingenähten Säckchen mit Veilchenpulver. »Dors bien, ma petite Mode«, flüsterte sie, und dann tauschten sie mit den Wimpern Schmetterlingsküsse aus. So unscheinbar Maud auch sein mochte, Maman schien sie wirklich zu lieben.
Ein anderer Weg, um Vater stolz zu machen, war es, ihm aufs Wort zu gehorchen. Maman spielte nie Klavier, um ihn nicht zu stören, und bewahrte auch keine Erinnerungsstücke an ihre toten Babys auf, weil er das nicht billigte. Seiner Ansicht nach schickte es sich, für sie zu beten und ihre Namen in den Familiengrabstein einzumeißeln, doch Reliquien seien etwas für Katholiken, und außerdem sei es besser, sich nicht an einen Verlust zu klammern.
Maud wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Maman seine Meinung nicht teilte, bis er sich an einem Aprilnachmittag für Forschungsarbeiten in London aufhielt.
Valerie war unten und bügelte ein Mieder für den Abend, während Maman sich im Ankleidezimmer befand. Maud war im Schlafzimmer und durfte als besondere Belohnung mit dem Schmuckkästchen ihrer Mutter spielen. In einer der kleinen Schubladen entdeckte sie einen Gegenstand, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war eine winzige, mit silbernen Rosen verzierte ovale Schatulle aus dunkelblauer Emaille, in der sieben feine Haarlöckchen lagen. Jede wurde von einem gelben, mit winzigen Buchstaben bestickten Band zusammengehalten. Maud erkannte die Namen ihrer toten Brüder und Schwestern, für die sie jeden Abend beten musste.
»Versprich, dass du Vater nichts davon verrätst«, sagte Maman ruhig von der Tür aus.
»Ich schwöre es«, erwiderte Maud. »Ich erzähle es auch nicht Richard oder dem Kindermädchen oder sonst jemandem.«
»Braves Mädchen. Und jetzt leg sie zurück.«
Maud tat es. »Doch wo hast du sie her?«, flüsterte sie. Maman durfte die toten Babys nie sehen. Dr. Grayson ließ sie stets wegbringen, bevor der Schlaftrunk aufhörte zu wirken.
»Das war leicht«, antwortete ihre Mutter spöttisch. »Ich habe die Hebamme bestochen.«
»Aber macht es dich nicht traurig, wenn du daran erinnert wirst?«
Maman vollführte eine ungeduldige Handbewegung. »Natürlich, aber so etwas kann man nicht einfach vergessen. Ich will es auch nicht.«
Maud betrachtete sie mit neuem Respekt. Maman hatte sich nicht nur einmal, sondern gleich siebenmal über Vaters Wünsche hinweggesetzt.
Einige Tage später unternahmen Maud und Maman eine Ausfahrt zum Gemeindeland, als die Kutsche plötzlich anhielt. Zu Mauds Überraschung steuerte Biddy Thrussel auf Mamans Fenster zu. Biddy war die Kräuterfrau des Dorfes, eine dicke, mondgesichtige Frau, die in einem kleinen Häuschen lebte. Einen Fingernagel hatte sie so spitz gefeilt, dass man damit Wasser hätte teilen können, was immer das auch bedeuten mochte. Maud beobachtete, wie Biddy einen Knicks machte und Maman dann ein Fläschchen mit einer grünlichen Flüssigkeit überreichte. Maman verstaute sie in ihrem Täschchen, drückte Biddy einen Schilling in die Hand und wies Jessop an weiterzufahren.
Maud erkundigte sich, was in dem Fläschchen war.
Maman zögerte. »Ein Kräutertonikum.«
»Was ist ein Tonikum?«
»Es fördert meine Gesundheit.«
»Schmeckt es gut?«
»Ich weiß nicht, ich habe es noch nie versucht. Aber ich glaube schon.«
Als sie fast zu Hause waren, meinte Maman: »Dein Vater würde nicht wollen, dass ich etwas von Biddy annehme. Deshalb reden wir nicht mehr darüber. Entendu, ma petite?«
»Entendu, Maman.«
»Braves Mädchen.«
Bis Ostern, als Maman wieder krank wurde, vergaß Maud das Tonikum. Diesmal war es kein richtiges Stöhnen, sondern nur eine Unpässlichkeit, die einige Tage andauerte und mit einem blutigen Nachttopf endete.
Allerdings hegte Maud keinen Verdacht, dass die Angelegenheit mit den Babys komplizierter sein könnte, als man ihr weisgemacht hatte, bis sie endlich Gelegenheit fand, Vaters Notizbuch zu lesen.
Es war Anfang Mai, und das feuchte Wetter machte die Waschwoche zu einer Quälerei. Lady Clevedon riet Maman, Vater um Geld für eine Waschfrau von außerhalb zu bitten, doch sie tat es nie. Das Ergebnis war, dass die Dienstboten alle sechs Wochen schlechte Laune hatten und dass es im Haus nach Bleiche stank.
Da Vater von dem Geruch Kopfschmerzen bekam, war er nach Ely gefahren, um Bücher zu kaufen. Dr. Grayson war oben bei Maman, und das Kindermädchen kümmerte sich um Richard, der Keuchhusten hatte.
Maud war unten im Flur. Die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters stand offen, denn Sarah hatte den Teppich gerade mit feuchten Teeblättern bestreut, die sie nun zusammenfegte. Maud drückte sich um den Beistelltisch herum, der mit einem indischen Schal bedeckt war. Auf dem Tisch stand eine Glaskuppel voller ausgestopfter Fledermäuse. Mauds Großvater hatte sie vor ihrer Geburt gefangen, und seitdem residierten sie auf dem Beistelltisch. Maud mochte sie, denn es waren die einzigen Tiere, die im Haus gestattet waren.
Am Ende des Flurs öffnete sich eine mit grünem Filz bezogene Tür, und Daisy rief Sarah zu, sie solle ihr mit der Mangel helfen. Als sie fort war, spähte Maud ins Arbeitszimmer. Vaters Notizbuch lag auf dem Schreibtisch.
Nein, nein, das durfte sie nicht.
Oder vielleicht doch?
Er hatte nur wenig geschrieben, und seine Handschrift war so winzig, dass sie sie kaum entziffern konnte: … der Triumphbogen ist eine Schande, wir müssen ihn neu verputzen lassen … der alte Clevedon ist so verdammt geizig … Maud zuckte zusammen. Vater hatte ein unanständiges Wort benutzt.
Einige Absätze weiter unten entdeckte sie ihren Namen. »Maud ist viel intelligenter als Richard. Ein Jammer, dass sie kein Junge ist.« Sie errötete vor Freude. Schon oft hatte sie dasselbe gedacht.
Die Schrift oben auf der Seite war ein wenig einfacher zu lesen. Grayson liegt mir mit Methoden in den Ohren, eine Empfängnis zu verhüten. Ich halte so etwas für abstoßend, unnatürlich und falsch, das habe ich ihm auch mitgeteilt. Ich bezweifle, dass er das Thema noch einmal anschneiden wird.
In diesem Moment hörte Maud eine Kutsche in der Auffahrt. Panik ergriff sie. Vater war zurück.
Sie knallte das Notizbuch zu und hastete zur Tür. Seine Schritte hallten bereits auf der Treppe.
Steers eilte auf dem Weg zur Haustür an ihr vorbei. Kurz bevor er sie geöffnet hatte, lüpfte Maud den indischen Schal und schlüpfte blitzschnell unter den Beistelltisch.
Sie hörte, dass Steers ihrem Vater Hut, Stock und Handschuhe abnahm und ihm aus dem Mantel half. »Nein danke, Steers, ich packe die Bücher selbst aus.« Der indische Schal reichte nicht ganz bis zum Boden. Maud konnte die blank polierten Spitzen von Vaters Schuhen sehen. Lautlos flehte sie die Fledermäuse an, sie zu beschützen.
Steers teilte Vater mit, Dr. Grayson befinde sich gerade bei Mrs Stearne. Vater steuerte auf die Treppe zu, während Steers sich ins Dienstbotenquartier zurückzog. Maud wollte schon die Flucht ergreifen, als Sarah hereingelaufen kam, um das Arbeitszimmer aufzuräumen.
Von oben wehten Stimmen herunter. Dr. Grayson ging, und Vater begleitete ihn zur Tür. Maud spitzte angestrengt die Ohren, als sie unterwegs vor ihrem Versteck stehen blieben.
Dr. Grayson war so nah, dass sie ihn durch seinen Schnurrbart atmen hören konnte. »Mrs Stearne braucht Ruhe«, meinte er leise. »Ruhe, das ist die Lösung. Vielleicht nicht jede Nacht, was?«
»Keine Ahnung, wovon Sie reden«, entgegnete Vater kühl.
Aus Dr. Graysons gestammelter Entschuldigung schloss Maud, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte.
Kurz darauf gelang es ihr, sich ins Kinderzimmer zu flüchten. Dr. Grayson wurde einige Wochen lang nicht in Wake’s End gesehen.
Das feuchte Wetter dauerte an. Der Totengräber auf dem Kirchhof musste eimerweise Wasser abschöpfen, wenn er ein Grab aushob, und in Wake’s End überschwemmte der Lode den Rasen.
Im Kinderzimmer grübelte Maud über das nach, was sie in Vaters Notizbuch gelesen hatte. Die Empfängnis fand dann statt, wenn Gott einer Frau ein Kind schenkte, so stand es bei Jesaja: »Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären.« War Vater deshalb so zornig auf Dr. Grayson, weil dieser vorgeschlagen hatte, das zu verhindern?
Sie erinnerte sich an ein Gespräch zwischen dem Kindermädchen und der Köchin, das sie belauscht hatte.
»Kaum bekommt er Master Richard oder Miss Maud irgendwo zu Gesicht, werde ich verwarnt«, murmelte das Kindermädchen. »Es ist doch nicht mein Fehler, dass er seine eigenen Kinder nicht leiden kann?«
Die Köchin kicherte. »Aber er hat Spaß daran, sie zu machen, was?«
Das Kindermädchen lachte schnaubend, was bei ihr selten vorkam. »Bah, wie unanständig von Ihnen!«
Maud fühlte sich beklommen und verwirrt. Es war doch Gott, der die Babys schickte. Was hatte denn Vater damit zu tun?
Kurz nach Mauds neuntem Geburtstag reiste Vater mit Maman nach Brüssel, um deren Onkel zu besuchen. Und erstaunlicherweise durften Richard und Maud mit.
Anfangs war Maud außer sich vor Aufregung. Sie war noch nie weiter gekommen als bis nach Bury St Edmunds. Allerdings entpuppte sich das Ausland als gewaltige Enttäuschung. Das Meer konnte sie nicht sehen, weil es dunkel war, und in Brüssel war es genauso wie zu Hause, denn das Kindermädchen und die Regeln waren mit von der Partie.
Drei Dinge gruben sich in ihr Gedächtnis ein: Großonkel Bertrand, ein Kettenanhänger in Form einer Libelle und ein Flügel aus Porzellan.
Vater bezeichnete Großonkel Bertrand als vulgär. Maud mochte ihn, weil er Maman das Klavierspielen erlaubte. Es war die erste Musik, die Maud hörte, mal abgesehen von Kirchenliedern, und sie empfand sie als verwirrend. Doch sie war ausgesprochen stolz auf ihre Mutter.
Die Libelle war ein verspätetes Geburtstagsgeschenk von Maman. Sie war Mauds erstes Schmuckstück und bestand aus blauer, gepunkteter Emaille. Maud freute sich sehr, weil Maman sich erinnert hatte, wie sehr sie Libellen liebte.
Den Porzellanflügel fand Maud eines Nachmittags, als Vater in einer Bibliothek war, wo er Bücher über eine Frau namens Alice Pyett las. Maman ging währenddessen mit Richard und Maud in einen Park, in dem sie selbst als kleines Mädchen gespielt hatte.
Bei dem Park handelt es sich um eine staubige, von dürrem, braunem Gras bewachsene Fläche. Doch daneben befand sich ein Friedhof mit wunderschönen schattigen Bäumen. Während der schreckliche Richard einen Trotzanfall bekam und von den Erwachsenen beruhigt werden musste, zwängte sich Maud durch eine Lücke im Zaun und ging auf Entdeckungsreise.
Sie war fasziniert. Dieser Friedhof hatte nichts mit dem von St Guthlaf’s gemeinsam. Jeder Grabstein war mit einem hübschen ovalen Porträt des Verstorbenen versehen. Die Kindergräber waren mit Lilienkränzen und kleinen Porzellanengeln geschmückt. Maud war begeistert von ihren Flügeln. Sie waren rubinrot, saphirblau und smaragdgrün wie die Schmetterlinge auf den Bildern zu Hause im Salon.
Auf dem Friedhof begegnete Maud einem etwa gleichaltrigen Mädchen, das ihr in gebrochenem Französisch erklärte, dass die Mutter gerade das Familiengrab pflegte. Obwohl Maud nie viel für Puppen übriggehabt hatte, fand sie die des Mädchens höchst interessant. Da ihre Mutter sich keine richtigen Puppen leisten konnte, hatte das Mädchen einige der Engel aus den Kränzen gerettet und klopfte nun die Flügel mit einem Hammer ab.
Im Gras entdeckte Maud einen abgeschlagenen Flügel, der himmelblau glänzte. Die Federn waren in einem dunkleren Blau eingezeichnet. Er erinnerte sie an die Gänse, die über das Moor hinweggeflogen waren.
Gerade hatte sie den Flügel in ihrer Manteltasche verstaut, als das aufgedunsene, gerötete Gesicht des Kindermädchens über ihr auftauchte. »Hier steckst du also!«
In Schimpf und Schande wurde Maud zurück zu Großonkel Bertrand geschleppt. Selbst Maman war verärgert. »Wir erzählen Vater nichts davon«, verkündete sie streng. »Er wäre außer sich, wenn er wüsste, dass du auf einem katholischen Friedhof gespielt hast.«
Maud war verzweifelt. Dabei ahnte Maman noch gar nichts von dem Flügel. Später im Bett legte sie den Flügel aufs Kissen, damit Maman ihn sah.
Ihre Mutter blickte zwischen dem Flügel und Maud hin und her. »Willst du den Flügel unbedingt behalten?«
Maud nickte.
Maman strich Maud das Haar aus der Stirn. »Dann habe ich ihn nicht gesehen.«
»Aber ich habe ihn gestohlen«, flüsterte Maud. »Ich habe ihn auf dem …«
»Sprich es nicht aus. Wenn man über Dinge redet, werden sie wahr. Ich habe ihn nie gesehen. Wir sprechen nicht darüber. Es ist nie geschehen. Entendu?«
»Entendu«, erwiderte Maud zweifelnd.
Sie war eine Diebin. Sie hatte gegen eines der Zehn Gebote verstoßen. Doch laut Maman war es nicht geschehen.
Ende der Leseprobe