Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht -  - E-Book

Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht E-Book

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Beschreibung

Wer sich mit den Theorien oder Positionen von Philosophinnen und Philosophen auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, ihre Texte entweder als Ganzschriften oder in Auszügen zu lesen, sie zu analysieren, zu interpretieren und Stellung zu ihnen zu beziehen. So ist es kein Wunder, dass philosophische bzw. ethische Texte das zentrale Medium eines jeden Philosophie- bzw. Ethikunterrichts darstellen. Eine Auseinandersetzung mit Texten bedeutet jedoch nicht, dass der Unterricht immer nur einer hermeneutischen Wüste gleichen muss. Dieses Buch will anhand von Texten aus den unterschiedlichen Epochen der Philosophiegeschichte und den verschiedensten Disziplinen zeigen, dass der unterrichtliche Umgang mit Texten abwechslungsreich und kreativ gestaltet werden kann, um den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit zu geben, tief in die jeweilige philosophische Intention der Autorinnen und Autoren einzudringen. Zu Beginn des vorliegenden Bandes führen die Herausgeber zunächst in das Thema ein, bevor sich ein Theorie- und ein Praxisteil anschließen. Während der Theorieteil sich der grundsätzlichen Bedeutung von Texten im Philosophie- und Ethikunterricht widmet, wird im Praxisteil anhand konkreter Beispiele demonstriert, welche unterrichtlichen Verfahren des Umgangs mit Texten motivierend und ertragreich sein können. Der Band schließt mit einer weiterführenden Auswahlbibliographie ab.

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Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf zwölf Themenbände angelegt, die bis 2025 erscheinen werden:

1 Philosophieren mit Filmen im Unterricht2 Philosophieren mit Gedankenexperimenten3 Philosophieren mit Dilemmata4 Philosophieren mit Bildern und Comics5 Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht6 Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht7 Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht8 Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht9 Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht10 Philosophieren mit Bildern und Fotos11 Digitale Medien im Philosophie- und Ethikunterricht12 Hörbücher, Hörspiele und Hördokumentationen im Philosophie- und Ethikunterricht▶ Ausführliche Informationen unter: www.philosophie-didaktik.de

Martina und Jörg Peters

Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht

Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-3662-3

eISBN (ePub) 978-3-7873-4087-3

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Einführung:

Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht

Martina Peters, Jörg Peters

1 Texte im Philosophie- und Ethikunterricht

»Lesen Sie den Text!«

Hubertus Stelzer

Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!

Vanessa Albus, Leif Marvin Jost

Lob des »Nach-Textes«

Patrick Baum

Lesen erleichtern: Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht

Klaus Blesenkemper

Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht

Klaus Langebeck

Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

Helmut Engels

Verfahren der Texterschließung

Barbara Brüning

Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht

Lothar Ridder

Textarbeit im philosophischen Unterricht

Volker Haase, Donat Schmidt

Arbeit am Logos – Textrezeption

Volker Pfeifer

2 Beispiele aus der Praxis

»So kann man nicht philosophieren! Irgendwelche Zitate raussuchen!«

Antje Knopf

Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht

Anita Rösch

Inhaltsaffine Texterschließung

Klaus Goergen

Philosophisch puzzeln

Steffen Goldbeck

Zehn Arten, einen Text zu lesen

Johannes Rohbeck

»Nein, nicht schon wieder ein Text.«

Alexander Chucholowski

Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht

Tobias Saum

Resonanztheorie und Bonbonmodell

Rolf Sistermann

Wie kann man philosophischen Unterricht digital unterstützen?

Klaus Blesenkemper

Methoden der Textarbeit

Michael Wittschier

Methoden der Textarbeit im Philosophieunterricht

Roland Henke, Matthias Schulze

Auswahlbibliographie

EINFÜHRUNG

Die Bedeutung des Textes für den Philosophie- und Ethikunterricht

Martina Peters, Jörg Peters

Wer sich wissenschaftlich mit von Philosophinnen und Philosophen aufgestellten Theorien oder von ihnen vertretenen Positionen auseinandersetzen will, kommt nicht umhin, ihre Texte entweder als Ganzschrift oder zumindest in (essentiellen) Auszügen zu lesen, sie zu analysieren, zu interpretieren und Stellung zu ihnen zu beziehen.

Ähnlich verhält es sich in der Schule: Wer Philosophie- oder Ethikunterricht durchführen will, kann nicht darauf verzichten, Texte einzusetzen, bilden diese doch die wichtigste Grundlage, um philosophische bzw. ethische Inhalte näherzubringen. Wer dagegen glaubt, man könne im Philosophie- bzw. Ethikunterricht auf Textarbeit gänzlich verzichten und sich bei der Vermittlung philosophischer Ideen ausschließlich auf andere Methoden, wie etwa das textfreie Unterrichtsgespräch, konzentrieren, irrt.

Wie wichtig Textarbeit generell für das Philosophieren an Schulen ist, zeigen schon allein die umfangreiche fachdidaktische Auseinandersetzung mit diesem Thema und die damit verbundenen, zahlreich diskutierten Aspekte. Drei von ihnen sollen im Folgenden genauer in den Blick genommen werden:

Die Frage, ob ausschließlich Originaltexte gelesen werden sollen oder ob es auch eine unterrichtliche Legitimation für Nach-Texte gibt;

die Frage, ob es sinnvoll wäre, im Unterricht neben Textauszügen auch Ganzschriften einzusetzen und

die Frage, welche Methoden sich für die Besprechung von Texten besonders eignen.

Originaltext und Nach-Text

Um es direkt zu sagen: Wo immer es möglich ist, sollten Schülerinnen und Schüler mit Eintritt in die Sekundarstufe II im Philosophie- oder Ethikunterricht eigentlich nur noch Originaltexte lesen. Die fachdidaktische Diskussion um den Stellenwert von Originaltexten eröffnete Volker Steenblock 1999, als er sich in einem kurzen Beitrag für die Zeitschrift Ethik & Unterricht populären Präsentationsformen philosophischer Texte zuwandte. Dabei ging es ihm unter anderem darum, mögliche Gründe aufzuzeigen, warum auch Nach-Texte ihren Platz im Philosophieunterricht verdienen.1 Steenblock sprach damals noch davon, dass man Texte um-schreiben oder um-schreiben könne. Das Um-schreiben von Texten bestehe vor allen Dingen in einer »Vereinfachung der Sprachgestalt«, während beim Um-schreiben der Kerngedanke eines philosophischen Textes in einen neuen Kontext gesetzt werde, wozu z. B. »die Veränderung der Textsorte, etwa durch Dialogisierung« zähle.2 Den Begriff ›Nach-Text‹ benutzte Steenblock das erste Mal im Jahr 2008 und erläuterte, dass darunter Texte zu verstehen seien, in denen z. B. die Lehre einer Philosophin oder eines Philosophen nach ihr bzw. ihm dargestellt werde, also beispielsweise ›nach Aristoteles‹3.

Während Primärliteratur leicht als ein geschriebenes Werk bestimmt werden kann, das entweder den Ausgangspunkt oder den Gegenstand für eine wissenschaftlichen Untersuchung darstellt, ist es deutlich schwieriger, eine Kurzdefinition von Nach-Texten vorzunehmen. Dies zeigen unter anderem die Ausführungen von Klaus Blesenkemper, der Nach-Texte in die Kategorien ›Nach-‹, ›Mit-‹ und ›In-Texte‹ unterteilt, wobei er unter ›In-Texten‹ »Originalbeiträge von Schulbuchautoren« versteht, »in die […] philosophische Positionen eingebettet sind«4, unter ›Mit-Texten‹ »Gespräche mit Philosophen zu Texten und Positionen«5 und unter ›Nach-Texten‹ solche Texte, die »im engeren Sinne als Nacherzählungen philosophischer Texte (ggf. in leichter Sprache)«6 angesehen werden können. Wie für Steenblock stellen auch für Blesenkemper Nach-Texte eine Option dar, vor allem im Unterricht der Sekundarstufe I, unter Umständen aber auch im Oberstufenunterricht, eingesetzt zu werden. Einen solchen Umstand sieht er dann gegeben, wenn beispielsweise in einem Oberstufenschulbuch für das Fach Philosophie zunächst der Originaltext abgedruckt ist und dieser durch einen Nach-Text so ergänzt wird, dass innerhalb einer Lerngruppe – sofern nötig – eine Differenzierung erfolgen kann.7 Blesenkemper weist ferner explizit darauf hin, dass der Einsatz von Nach-Texten dann gerechtfertigt sei und diese Lernprozesse unterstützen könnte, wenn die Lehrenden bei der Auswahl dieser Methode zur Vermittlung von philosophischen bzw. ethischen Inhalten immer die Art und Weise, die Adressaten und den unterrichtlichen Kontext berücksichtigen würden.8

Dass in Nach-Texten Fehler auftauchen können und daher grundsätzlich die Gefahr gegeben ist, unabsichtlich Unrichtiges oder gar Falsches zu vermitteln, ist nicht von der Hand zu weisen und wird von Klaus Blesenkemper ebenso wie von Patrick Baum oder Vanessa Albus und Leif Marvin Jost hervorgehoben. Die beiden Letzteren lehnen Nach-Texte aber nicht nur aus diesem Grund ab, sondern auch, weil sie »nur Interpretation und Deutungen sind, deren Plausibilität die Lernenden als Anfänger in Philosophie nicht überprüfen können« und man sie im schlimmsten Fall »als Instrument zur weltanschaulichen oder politischen Manipulation«9 einsetzen könne. Die Fälle, die Albus und Jost hinsichtlich des Manipulationsvorwurfs vortragen – einmal Nach-Texte zu den Theorien von Karl Marx, die in der ehemaligen DDR durch die SED-Leitung so bearbeitet wurden, dass sie immer auf Parteikurs lagen, und einmal Nach-Texte aus christlichmissionierendem Philosophieunterricht der Nachkriegszeit, die das Scheitern Kants an der Kritik der philosophischen Gottesbeweise belegen sollen –, werden in einer aufgeklärten pluralistischen Gesellschaft in dieser Form nur schwerlich vorkommen. Der derzeitig gültige Kernlehrplan Nordrhein-Westfalens von 2014 weist weder Namen von Philosophinnen oder Philosophen noch spezifische Werke aus, die im Philosophieunterricht zu lesen und zu besprechen wären. Somit hat jede Lehrkraft die Freiheit zu entscheiden, welche Texte – also auch Nachtexte – sie in ihrem Unterricht einsetzen möchte. Macht sie einen Nach-Text zum Unterrichtsgegenstand, so ist es ihre Pflicht zu kontrollieren, ob der gewählte Nach-Text die Intention des Primärtextes, etwa die Darstellung einer Theorie, tatsächlich wiedergibt.10 Dazu ist Expertise notwendig, die Oberstufenlehrerinnen und -lehrer der Fächer Philosophie bzw. Ethik aufgrund ihres universitären Studiums eines der beiden Fächer sowie der praktischen Ausbildung im Referendariat besitzen sollten.

Baum wendet gegen das von Albus und Jost angeführte Argument, es handele sich bei Nach-Texten nur um »Interpretation und Deutung«, ein, dass auch bekannte Philosophen – vor allen Dingen dann, wenn sie eine Position als falsch erachten – zunächst einmal das zusammenfassen, wogegen sie sich wenden wollen. Diese Zusammenfassungen, so Baum, dürften nach den von Albus und Jost aufgestellten Kriterien auch als nichts anderes als Deutung oder Interpretation eines Sachverhalts betrachtet werden. Als Beispiel führt er das Werk Versuch über den menschlichen Verstand (An Essay Concerning Humane Understanding, 1690) von John Locke an, in dem der englische Philosoph zunächst umfassend Descartes’ Gedanken zu den ideae innatae darstellt, um sich anschließend gegen diese Vorstellung auszusprechen und zu zeigen, warum sie nicht haltbar sei.11

Die angeführten Argumente machen evident, dass die von Albus und Jost in Bezug auf Nach-Texte vertretene Auffassung nur bedingt nachvollziehbar ist, zumal beispielsweise Peters und Rolf unmissverständlich darauf hingewiesen haben, dass Nach-Texte keinen Ersatz für Primärtexte darstellen sollen und können und Baum explizit betont, dass Nach-Texte nicht den Zugang zu Primärtexten verstellen dürfen.12 Trotz aller Kritik ist das Ansinnen von Albus und Jost als Ideal gerechtfertigt und dürfte insofern breite Zustimmung erfahren. Allerdings lehrt die Realität, dass aufgrund der Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nicht in allen Philosophie- oder Ethikkursen ausschließlich mit Primärtexten gearbeitet werden kann. Aus diesem Grund wäre es eventuell sinnvoller, sich dafür auszusprechen, dass im Philosophie- oder Ethikunterricht der Sekundarstufe II immer dann, wenn es möglich ist, auf Primärtexte zurückgegriffen werden soll.

Anders als in der Sekundarstufe II ist allerdings der Umgang mit Nach-Texten in der Sekundarstufe I zu bewerten. Je nach Alter der Schülerinnen und Schüler können diese komplexe philosophische Ideen kognitiv noch gar nicht erfassen, so dass bei der Textarbeit auf andere Textformen und/oder -arten zurückgegriffen werden muss. Hier mögen sich, je nach Thema und Jahrgangsstufe, unter anderem auch Nach-Texte – unter der Voraussetzung, dass der Sachgehalt richtig dargestellt ist – anbieten, weil sie in kindlicher oder jugendlicher Diktion die Lehren von philosophischen Größen darstellen und somit für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar sind.

Textausschnitte und Ganzschriften

Der Appell von Steffen Goldbeck, sich im Philosophie- bzw. Ethikunterricht der Sekundarstufe II wieder der Erarbeitung von philosophischen Ganzschriften zuzuwenden13, ist nicht nur legitim, sondern scheint in einer Zeit, die insbesondere durch Schnelllebigkeit geprägt ist, nahezu geboten. Goldbeck macht darauf aufmerksam, dass der nordrhein-westfälische Kernlehrplan von 2014 zwar die Behandlung von Ganzschriften nicht explizit ausschließt, sie aber auch nicht – wie die Richtlinien für das Fach Philosophie von 1999 – ausdrücklich einfordert.14 So heißt es wörtlich im alten Lehrplan: »Verpflichtend ist, dass im Verlauf des Philosophieunterrichts von 11/I bis 13/II mindestens einmal eine philosophische Ganzschrift im Unterricht behandelt wird.«15 Eine erneute unterrichtliche Verpflichtung der Auseinandersetzung mit einer Ganzschrift wäre schon deshalb angebracht, um Schülerinnen und Schülern die Chance zu ermöglichen, sich über einen längeren Zeitraum hinweg intensiv mit einer philosophischen Theorie zu beschäftigen. Diese Art der Textarbeit wieder zu etablieren, wäre darüber hinaus auch aus wissenschaftspropädeutischen Gründen sinnvoll, weil sie dazu beiträgt, die Lernenden auf das Studium an Universitäten oder Hochschulen vorzubereiten. Schließlich wären Schülerinnen und Schüler auch noch gefordert, sich eine Weile gegen einen Zeitgeist zu stellen, der sie nie zur Ruhe kommen lässt, der sie permanent mit Neuem überhäuft und der von ihnen mehr oder weniger verlangt, Sensationsnachrichten am laufenden Band zu konsumieren, um über Oberflächlichkeiten mitreden zu können.

Mit der Bearbeitung von Ganzschriften würde der Philosophie- bzw. Ethikunterricht folglich dazu beitragen, dass sich Schülerinnen und Schüler wieder bewusst auf einen Gegenstand konzentrieren, sich auf ihn besinnen und ihn mit Ruhe angehen. Dieses Ansinnen unterstreicht der Schweizer Pädagoge Carl Bossard aus allgemeinpädagogischer Sicht, wenn er sagt: »Die Schule hat einen wunderschönen Namen. Er stammt aus dem Altgriechischen. Aristoteles’ geschliffener Begriff müsste [eigentlich] Programm sein: scholé, was so viel wie Muße heisst. […] Die Schule, die scholé, wäre jener Ort, an dem sie noch möglich sein müsste, eine gewisse Muße. Ein Ort, an dem man füreinander Zeit hat und einander zuhört, zueinander findet und sich aneinander reibt, miteinander lernt und gemeinsam zu Neuem unterwegs ist. Das ist der tiefe Sinn von Schule. Bildung basiert auf scholé. Lernen kann man nicht beschleunigen. Lernen kennt keine Autobahnen, keine Schnellstrassen und keine abgekürzten Routen oder gar Überholspuren. Da gelten Feldwege und da gehören Bergpfade dazu. Manchmal auch Unterholz und Dickicht. Und natürlich Umwege. Darum braucht Lernen Zeit. Eben: scholé!«16

Die Auseinandersetzung mit einer Ganzschrift bedarf der Zeit, der Muße, der Kontemplation. Auf diese Weise kann sich der Philosophie- oder Ethikunterricht als Gegenkraft zu einem lauten Zeitgeist erheben. Bereits 1807 plädierte Jean Paul in seiner Schrift Levana oder Erziehungslehre dafür, Kinder gegen den Zeitgeist zu erziehen. Der Zeitgeist, so Jean Paul, würde genug Wirkung entfalten, während Schule und Elternhaus für eine kompensatorische Balance sorgen müssten.17 Auf den Philosophie- bzw. Ethikunterricht übertragen bedeutet die Beschäftigung mit Ganzschriften, sich einerseits gegen die Schnelllebigkeit des Zeitgeists zu stellen und – damit verbunden – zugleich Entschleunigung und Abstand von der Hektik des Alltags zu erfahren. In ähnlicher Form äußert sich auch Julian Nida-Rümelin, wenn er rät, Schülerinnen und Schülern mehr Zeit zu geben, damit sie sich nicht nur mit einer philosophischen bzw. ethischen Frage oder einem philosophischen oder ethischen Problem intensiv auseinandersetzen, sondern durch die längerfristige Beschäftigung mit einem Gegenstand auch zu einem abgewogenen Urteil gelangen können: »Wichtiger denn je ist das zentrale humanistische Bildungsideal, das sich in zwei Begriffe fassen lässt: Es geht um Persönlichkeitsbildung und Urteilskraft. Junge Menschen müssen in die Lage versetzt werden, sich selbst ein verlässliches Urteil zu bilden. Angesichts eines immensen Angebots an Informationen, Meinungen und Ideologien müssen Schüler und Studenten unterscheiden lernen. Sie müssen Zeit haben, Argumente abzuwägen. Das ist es letztlich, was die Schule vor allem braucht: Zeit, um zu vertiefen.«18 Der Münchener Philosoph umreißt hier nicht nur die Aufgaben von Schule und Universität im Allgemeinen, sondern des Philosophieunterrichts im Besonderen. Etwas zu vertiefen bedarf der Kontemplation und nicht der Hektik, wie auch der Neurobiologe Gerhard Roth konstatiert19. Tatsächlich erfahren wir unsere Epoche »als dynamisches Gebilde. Tempo und Rasanz sind ihre Merkmale«20, die sich in Phänomenen wie TikTok, kurzen Schnittfolgen in Filmen oder blitzschnell nacheinander geposteten Sensationsnachrichten äußern.

Das angesprochene Tempo lässt sich auch in Schulbüchern nachweisen. Selbst in Unterrichtswerken für die Sekundarstufe II sind kaum noch längere oder gar lange Texte zu finden, wie dies in Schulbüchern der 1970er und 1980er Jahre noch üblich war. Vielmehr sind heutige Schulbücher primär durch kürzere, schnell zu rezipierende Texte gekennzeichnet, mit denen meist auf Doppelseiten einzelne Problemfelder erschlossen werden sollen. Es scheint, als würden Autorinnen und Autoren von Philosophie- oder Ethik-Schulbüchern für die Sekundarstufe II dazu neigen, nur noch die Kerngedanken von Theorien anzubieten. Dies liegt vor allen Dingen darin begründet, dass Schulbuchautorinnen und -autoren dem Zwang unterliegen, die Vorgaben von Schul- oder Kultusministerien, die in Richtlinien, Lehr- oder Bildungsplänen ihren Niederschlag finden, so umzusetzen, dass Schülerinnen und Schüler möglichst gut auf das Abitur vorbereitet werden (können). Dies führt dazu, dass, um alle geforderten Inhaltsfelder mit ihren Schwerpunktthemen abzudecken, in der Regel nur noch zentrale Aspekte von Theorien in Schulbücher aufgenommen werden können.

Die Vorgaben der nordrhein-westfälischen Richtlinien von 1999 sahen also vor, eine Ganzschrift im Unterricht zu behandeln. Was aber genau ist eigentlich eine Ganzschrift? In den Richtlinien wird sie folgendermaßen definiert: »Unter ›Ganzschrift‹ ist nicht ein umfangreiches Werk zu verstehen, sondern ein zusammenhängender Text, der kontinuierlich besprochen wird, und zwar in einem Zeitraum von einem Quartal oder einem ganzen Kurshalbjahr.«21 Es ist bemerkenswert, dass unter einer Ganzschrift nicht unbedingt ein »umfangreiches Werk« einer Philosophin oder eines Philosophen zu verstehen ist. Diese Bestimmung ist insofern essentiell, als es selbst unter günstigsten Umständen kaum möglich wäre, Schriften wie Platons Politeia, Martin Heideggers Seinund Zeit oder Hannah Arendts Vita Activa in Gänze im Philosophie- oder Ethikunterricht zu besprechen. Legt man – wie in den Richtlinien von 1999 unter anderem vorgeschlagen – als Unterrichtszeit ein Quartal zugrunde, so entspricht dies im Idealfall einem Zeitkontingent von 30 Unterrichtsstunden à 45 Minuten (= zehn Wochen), also ungefähr genau so viel Lehr- und Lernzeit, wie für ein Seminar in einem Semester an Universitäten zu Verfügung steht. Selbst dort können nur bestimmte Aspekte oder Kapitel eines Werkes und nur selten eine ganze Schrift behandelt werden. Vielleicht wäre es sogar ratsam, den Terminus ›Ganzschrift‹ durch den Begriff ›Langtext‹ zu ersetzen, weil unter ihm sowohl ungekürzte als auch gekürzte Texte subsumiert werden können. Unter einem Langtext wäre dann zu verstehen:

eine nicht zu umfangreiche Ganzschrift wie etwa Thomas Nagels

Was bedeutet das alles?

(Einführung in die Philosophie),

ein Aufsatz wie etwa Judith Jarvis Thomsons

Eine Verteidigung der Abtreibung

(Recht auf Abtreibung),

ein Kapitel aus einem Buch wie etwa das 5. Kapitel aus Lockes

Zwei Abhandlungen über die Regierung

(Arbeit als Quelle von Eigentum),

ein längerer Textauszug aus einer Ganzschrift ohne Auslassung wie etwa die erste und der Beginn der zweiten Meditation aus Descartes’

Meditationen

(Herleitung des cogito),

ein längerer Textauszug mit Auslassungen, der dennoch einen in sich geschlossenen Gedankengang aufzeigt, wie sich dies z. B. für Kants

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

anbietet (Entwicklung des kategorischen Imperativs).

Ganzschriften bzw. Langtexte können dazu beitragen, die Sach-, Methoden- und Urteilskompetenz von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Daher sollte man, so Goldbeck, »die Erarbeitung einer Ganzschrift […] im Philosophieunterricht ernsthaft in Erwägung ziehen«22. Aus den vielen komprimiert dargestellten Vorteilen, die ein solches Vorgehen mit sich brächte, erwächst zwangsläufig der Vorschlag, die Besprechung von Ganzschriften bzw. Langtexten wieder in Lehrplänen zu verankern. Ob dies allerdings geschehen wird, bleibt abzuwarten.

Methoden

Helmut Engels hat bereits 1980 darauf hingewiesen, dass die »bevorzugte Methode« im Philosophie- bzw. Ethikunterricht die Arbeit mit Texten sei, weil Schülerinnen und Schüler auf diese Weise besonders effektiv sowohl mit der Philosophie als auch mit dem Philosophieren vertraut gemacht werden können. Er betont in diesem Zusammenhang, dass philosophische Texte sich in der Regel nicht von selbst verstehen, sondern der Auslegung bedürfen: »Ziel der Interpretation ist der von einer Autorin bzw. einem Autor intendierte Sinn, das, was die Autorin bzw. der Autor in [ihrem bzw.] seinem Text ausdrücken will. Mag es noch so schwierig sein, herauszufinden, was die Autorin bzw. der Autor wirklich gemeint hat, so ist als Regulativ dieses Ziel unverzichtbar, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht den Eindruck erhalten sollen, es komme bei der Interpretation nur darauf an, sich etwas Gescheites zu denken, ansonsten sei es in das subjektive Belieben des Einzelnen gestellt, was einer aus dem Text herausholt.«23 Ein Text kann aber, so Engels weiter, »erst als verstanden gelten, wenn die häufig unausgesprochene Frage benannt ist, als deren Antwort der Text aufzufassen ist, bzw. wenn das unausgesprochene Problem erfasst ist, das der Text lösen soll.«24

Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es zahlreiche Verfahren, die entweder durch eine enge Unterrichtssteuerung, durch eigenständig handhabbare Verfahren oder durch selbstständige Arbeit25 gekennzeichnet sind. Da mittlerweile zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I je nach Bundesland entweder Philosophie, Praktische Philosophie, Philosophieren mit Kindern, Ethik, L-E-R oder Werte und Normen belegt haben, sie aber mit sprachlich sehr unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen am Philosophie- bzw. Ethikunterricht teilnehmen, geht ein Trend derzeit dahin, die Textarbeit durch geschlossene oder halboffene Aufgabenformate so zu lenken, dass alle Schülerinnen und Schüler das Ziel der Stunde erreichen können.26

Dadurch, dass jeglicher Unterricht mittlerweile sprachsensibel gestaltet werden muss, lässt sich ein weiterer Trend beobachten. Er besteht darin, dass Lehrerinnen und Lehrer auch im Philosophie- bzw. Ethikunterricht mehr und mehr textlich differenzieren (müssen), da doch oft Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Sprachniveaus in einem Kurs zusammensitzen. Während die einen die sprachlichen Anforderungen mit Leichtigkeit meistern und sich gerne mit Originaltexten auseinandersetzen, gibt es auch etliche Schülerinnen und Schüler, die Texte nur in vereinfachter Form verstehen können, weil sie Defizite sowohl im sprachlichen Ausdruck als auch im Verstehen aufweisen (sei es, dass sie aus sogenannten bildungsfernen Haushalten stammen, sei es, dass sie Deutsch als Zweit- oder Drittsprache gerade erst erlernen).27 Schließlich müssen auch Förderschülerinnen und-schüler berücksichtigt werden, für die selbst Nach-Texte oft noch zu schwierig sind, so dass diese weiter vereinfacht werden müssen, will man als Lehrkraft sicherstellen, dass auch sie dem Unterricht folgen können.

Die Methodenangebote, wie mit Texten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht verfahren werden kann bzw. soll, sind mittlerweile nahezu unüberschaubar. So lassen sich aus unterschiedlichen Denkrichtungen verschiedene Unterrichtsmethoden ableiten: Der Analytischen Philosophie etwa geht es darum, den Argumentationsgang einer philosophischen Theorie nachzuvollziehen und deren Plausibilität zu prüfen; die Dialektik fokussiert das Aufdecken von Widersprüchen, die Darstellung von Schwachstellen sowie die Kritik an der vorgestellten Theorie; und die Dekonstruktion konzentriert sich auf die Analyse von Sprache bzw. Texten, oder genauer: auf die Auslegung von Zeichen, Sinn und Bedeutung, wobei diese Begriffe wiederum infrage gestellt werden.28

In Bezug auf Textsorten macht Christa Runtenberg beispielsweise anhand von Fabeln, philosophischen Essays, philosophischen Aphorismen, theatralen Formen des Philosophierens und der klassischen Textinterpretation deutlich, dass nicht nur philosophische bzw. ethische Texte, sondern auch literarische Texte im Oberstufenunterricht Philosophie bzw. Ethik eine Rolle spielen können, da es einerseits keine wirkliche Demarkationslinie zwischen Philosophie und Literatur gebe und zum anderen die literarische Form philosophische Lernprozesse fördere.29

Schon Mitte der 1980er Jahre wies Wulf D. Rehfus darauf hin, dass verschiedene Textsorten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht genutzt werden könnten. Die vier von ihm unterschiedenen Textsorten (1. Texte, die eine Position argumentativ begründen oder herleiten, 2. Texte, die ein philosophisches Denkmodell konstruieren, 3. Texte, die bildhaft eine Auffassung deutlich machen, und 4. Texte, die eine Theorie rekonstruieren)30 haben Henke und Schulze aufgegriffen, um zu zeigen, dass Texte im Philosophie- und Ethikunterricht als Diskussionspartner dienen und dass es für Lehrkräfte bei der Vorbereitung der Textarbeit wichtig ist, sich unter anderem zu fragen, auf welches Problem der zu behandelnde Text überhaupt eine Antwort gibt, welche zentralen Einsichten Schülerinnen und Schüler durch ihn erhalten (sollen), welche Methode sich für den ausgewählten Text (besonders) eignet und welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler durch die Erschließung des Textes erwerben werden.31 Legt man die im Vorfeld zu beachtenden Fragen, die unterschiedlichen Textsorten und gegebenenfalls auch noch eine zu berücksichtigende Denkrichtung zugrunde, dann lässt sich unschwer erkennen, dass nicht jede Methode zu jedem Text passt32. Darüber hinaus wäre bei der Methodenwahl noch zu beachten, welche Fähigkeiten ein Philosophie- oder Ethikkurs mitbringt und wie man als Lehrkraft zu den zum ausgesuchten Text möglichen Methoden steht. Um erfolgreich zu unterrichten, sollte die angedachte Methode also sowohl zu Text, Schülerinnen und Schüler als auch zur Lehrkraft passen.

Zum Aufbau des Buches

Im diskursiven Bereich der Methoden für den Philosophie- und Ethikunterricht ist es die Textarbeit, die so viele Publikationen hervorgebracht hat, wie sonst keine andere. So liegen nicht nur zahlreiche Aufsätze zu diesem Thema vor, sondern auch vielfältige Darstellungen in philosophiedidaktischen Abhandlungen. Die Auswahl für den vorliegenden Band war insofern schwieriger als für andere Methoden, weil aktuell diskutierte Themen aufgegriffen, (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern sowie anderen Interessierten viele Unterrichtsbeispiele vorgestellt und mannigfaltige Möglichkeiten zum methodischen Umgang mit Texten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht in beiden Sekundarstufen präsentiert werden sollen.

Wie alle Bücher dieser Reihe ist auch der vorliegende Band in einen Theorie-, einen Praxis- und einen Methodenteil gegliedert. Im Theorieteil wird zunächst der Diskussion Aufmerksamkeit geschenkt, ob ausschließlich Originaltexte oder auch Nach-Texte ihren Platz im Unterricht der Sekundarstufen I und II finden sollten. Danach wird gezeigt, warum Texte als zentraler Bestandteil für den Philosophie-bzw. Ethikunterricht angesehen werden müssen, und schließlich werden die von Textrezeption, Texterschließung und Textinterpretation verfolgten Ziele besprochen.

Der anschließende Praxisteil macht dann an einer großen Anzahl von Beispielen deutlich, welche Chancen Texte im Unterricht bieten und wie sie konkret eingesetzt werden können.

Der umfangreiche Materialteil enthält mehrere Methodensammlungen. Innerhalb der Sammlungen wird entweder erläutert, welche Methode sich warum auf welchen Text anwenden lässt, oder es wird an Beispielen deutlich gemacht, wie Texte so aufbereitet werden können, dass Schülerinnen und Schüler sich gerne mit ihnen auseinandersetzen.

Wie üblich schließt auch dieser Band mit einer umfänglichen Auswahlbibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen, die sich dieses Mal auf den Umgang mit Texten an Schulen konzentriert.

1 Vgl. Steenblock, Volker: »Plaudern, ›Umschreiben‹, Faszinationsinszenierung«, in: Ethik & Unterricht 10, 1999, Heft 3: Rechte und Pflichten, S. 43.

2Ibid.

3 Vgl. Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Thurnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47–63: S. 56.

4 Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 22–31: S. 31.

5Ibid., wobei Blesenkemper hier noch eine Unterteilung der Mit-Texte in a) fiktionale Interviews mit authentischen Textausschnitten, die die gestellten Fragen beantworten sollen, b) fiktive Gespräche mit bzw. zwischen Philosophen über ihre Lehre und c) Gespräche mit fiktionalen Experten über die Lehre von Philosophinnen und Philosophen vornimmt.

6Ibid.

7 Vgl. Blesenkemper, Klaus: »Ein Ziel auf drei guten Wegen? Exemplarisch-empirische Analyse von Schulbüchern für den Philosophieunterricht nach dem neuen Kernlehrplan für den Oberstufenunterricht in NRW«, in: Martens, Ekkehard (Hrsg.): Empirie und Erfahrung im Philosophieunterricht, Siebert Verlag, Hannover 2017, S. 134–162: S. 156–157.

8 Blesenkemper, Klaus: »Lesen erleichtern. Nach-, Mit- und In-Texte im philosophischen Unterricht«, a.a.O., S. 31.

9 Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 9–10: S. 10.

10 Vgl. Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 12–13: S. 13.

11 Ibid.

12 Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: »Vorwort«, in: Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen, Arbeitstexte für den Unterricht, RUB 15062, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 5 und vgl. Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, a.a.O., S. 13.

13 Vgl. Goldbeck, Steffen: »Philosophisch puzzeln. Philosophische Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode erschließen«, S. 173–197 in diesem Band.

14 Vgl. ibid., S. 174.

15 Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 4716, Ritterbach Verlag, Frechen 1999, S. 17.

16 Bossard, Carl: Bildung braucht ›scholé‹, Beitrag auf der Seite Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. vom 03. November 2018, veröffentlicht am 08. Februar 2019, auf: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildung-braucht-schole.html (Stand: 19.10.2022).

17 Vgl. Paul. Jean: »Levana oder Erziehungslehre«, in: Paul, Jean: Sämtliche Werke, Bd. 36, Achte Lieferung, Erster Band, Verlag Georg Reimer, Berlin 1827, §35, S. 54–55.

18 Nida-Rümelin, Julian: »Digitalisierung: Silicons Valleys aufgeblähte Utopie«, in: Luzerner Zeitung, Ausgabe vom 26. September 2018, S. 15.

19 Vgl. Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Klett-Cotta, Stuttgart 2011.

20 Bossard; Carl: Bildung braucht ›scholé‹, a.a.O.

21 Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Philosophie, a.a.O., S. 17.

22 Vgl. Goldbeck, Steffen: »Philosophisch puzzeln. Philosophische Ganzschriften mit der Textpuzzlemethode erschließen«, a.a.O., S. 175 in diesem Band.

23 Engels, Helmut: »Zum Umgang mit Texten im Philosophieunterricht«, in: Philosophie. Anregungen für die Unterrichtspraxis 1980, Heft 2: Methodenfragen, S. 16–24: S. 16.

24Ibid.

25 Vgl. Langebeck, Klaus: Verfahren der Texterschließung im Philosophieunterricht«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7, 1985, Heft 1: Textverstehen, S.3–11: S. 7–10,

26 Vgl. Chucholowski, Alexander: Texte verstehen im Philosophie und Ethikunterricht, S. 213–222: S. 222 in diesem Band.

27 Vgl. Saum, Tobias: »Sprachsensibler Umgang mit Texten im Philosophieunterricht. Strategien und Methoden zur Unterstützung der Schüler«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 42, 2020, Heft 3: Lesestrategien, S. 76–86: S. 76–77.

28 Vgl. dazu Rohbeck, Johannes: »Didaktische Potenziale philosophischer Denkrichtungen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 22, 2000, Heft 2: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts, S. 82–93 und vgl. Ridder, Lothar: »Methoden der Interpretation im Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes: Philosophische Denkrichtungen, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2001, Bd. 2, Thelem, Dresden 2001, S. 116–143: S. 117, der sich zu diesem Themenkomplex ausführlich äußert.

29 Vgl. Runtenberg, Christa: »Die Schatzkiste – Das Deuten von Texten«, in: Runtenberg, Christa: Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen, Basiswissen Philosophie, UTB 4653, Wilhelm Fink, Paderborn 2016, S. 77–93: S. 82–93.

30 Vgl. Rehfus, Wulff D.: Der Philosophieunterricht. Kritik der Kommunikationsdidaktik und unterrichtspraktischer Leitfaden, problemata, Bd. 109, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstadt 1986, S. 121–125.

31 Vgl. Henke, Roland; Schulze, Matthias: Methoden der Textarbeit, S. 293–312: S. 294 in diesem Band.

32 Vgl. ibid.

1 TEXTE IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT

»Lesen Sie den Text!«

Hubertus Stelzer

Nichts erklärt Lesen und Studieren besser als Essen und Verdauen. Der philosophische eigentliche Leser häuft nicht bloß in seinem Gedächtnis an wie der Fresser im Magen, da hingegen der Gedächtniskopf mehr einen vollen Magen als einen starken und gesunden Körper bekömmt; bei jenem wird alles, was er liest und brauchbar findet, dem System und dem inneren Körper, wenn ich so sagen darf, zugeführt, dieses hierhin und das andere dorthin, und das Ganze bekommt Stärke.

Georg Christoph Lichtenberg1

Einen Diskussionsbeitrag zu leisten, der sich dem Lesen philosophischer Texte im Unterricht widmet, der also zum Widerspruch reizt und anspornt, Gegenpositionen zu formulieren, scheint zunächst und auf einen ersten Blick eine unergiebige, ja eher angestrengte Angelegenheit zu sein. Wer würde als Philosophielehrer2 das Lesen von Texten aus der Tradition schriftlich fixierter Philosophie grundsätzlich in Frage stellen? Wer könnte sich vorstellen, den Philosophieunterricht in einzelnen methodischen Schritten ohne Textarbeit zu gestalten? Hat sich doch gezeigt, dass auch die sogenannte Martens-Rehfus-Debatte nicht über die Tatsache hinwegsehen kann, dass beide das Lesen von Texten grundsätzlich als sinn- und bedeutungsvoll für die methodische Umsetzung ihres jeweiligen fachdidaktischen Ansatzes ansehen.3

Vermutet der erste Blick auf das Lesen im Philosophieunterricht also zunächst eine (durchaus beachtenswerte) Übereinstimmung in fachdidaktischer und unterrichtspraktischer Hinsicht, so erhält der zweite Blick, der ein wenig genauer auf das hinblickt, was als Lesen im Unterricht geschieht, eine überraschende Wendung und erschrickt über den Riss, der sich dem aufmerksamen und gegenüber einem allzu offensichtlichen Konsens skeptischen Beobachter bereits im Vorfeld andeutet und der mitten durch die ursprüngliche Einheit eines lese- und somit textorientierten Unterrichtsmodells klafft.

Die klaffende Wunde

Unter der klassisch dekorierten Tagesdecke des lesenden Bildungsideals an den weiterführenden Schulen brodelt es gewaltig. Klagen über Textmüdigkeit und Textverdrossenheit4, wie sie Martens in der eigenen Unterrichtspraxis bereits 1983 wahrnimmt, teilen viele Lehrer landauf, landab bis heute und nehmen sie resignierend zur Kenntnis. Was dabei in der Sekundarstufe II an der Oberfläche des Unterrichtsgeschehens mehr oder minder stark zum Ausdruck kommt (›Schülerinnen und Schüler lesen nicht(s) mehr, verstehen Texte nicht mehr, können schriftlich fixierte Argumentationen nicht mehr nachvollziehen, schon gleich gar nicht als solche erkennen, etc.‹), durchläuft einen jahrelangen Prozess persönlicher Lesebiographien, die zumindest zu Beginn der Lesegeschichte eine positive Entwicklung zu versprechen scheinen. Dieser Prozess vollzieht sich nicht dramatisch und damit nicht so, dass man ihn zu einem Zeitpunkt erkennt und ihn sich bewusstmacht, so dass er eine didaktisch fundierte Intervention zuließe, sondern schleichend, sich über die verschiedenen Unterrichtsfächer ausbreitend, in denen Schülerinnen und Schüler lesen und mit und an Texten arbeiten. Gerade dieser schleichende, in der Unterrichtspraxis selten gemeinsam von Lernenden und Lehrenden reflektierte und deshalb auch nicht expressis verbis artikulierte Prozess der Entfremdung vom Lesen bewirkt bei den Schülerinnen und Schülern im Lauf der schulischen Auseinandersetzung mit Texten nachhaltige Folgen, die sich in Form von Langeweile, Frustration, Desinteresse und schließlich Gleichgültigkeit äußern.

Natürlich unterliegt dieser Befund in seiner Pointierung durchaus der Gefahr der Pauschalierung, und mancher kann ihn vermutlich durch gegenteilige (Lese-)Erfahrungen von und mit Schülerinnen und Schülern entkräften, allerdings werden die meisten Kolleginnen und Kollegen, die aufmerksam und sensibel die Schülerreaktionen im Unterrichtsgeschehen beobachten, bestätigen, dass sich ein Energiesparmodus im Klassenzimmer ausbreitet, sobald sich eine Phase der Textarbeit andeutet. Zwar wird an weiterführenden Schulen viel gelesen und textorientiert gearbeitet, aber gleichzeitig scheint diese Arbeitsweise und Methode der textgebundenen Auseinandersetzung mit Welt und Mensch bei jungen Menschen – zumindest im Unterricht – zunehmend als spannungsarm und erfahrungsfern zu gelten. Wenn aber genau dies im Bildungsprozess passiert – dass Spannung nachlässt und Erfahrung in die Ferne rücken –, droht im Unterrichtsgeschehen ein Kollaps, der in Resignation auf allen Seiten umschlägt.

Das identifikatorische Defizit

Auch die literaturwissenschaftliche Leseforschung der Germanistik, die sich mit empirischen Methoden dem angesprochenen Problem annähert, erkennt dieselbe Tendenz. Namentlich der textbezogene Deutschunterricht in der Sekundarstufe II muss sich in diesem Zusammenhang mit harscher Kritik von Seiten der lesenden Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen. »Ständiger Tenor in der Abwehr der schulischen ›Pflicht‹-Lektüre ist die Klage über die geforderte Art der Behandlung, das Analysieren und kontrollierte Interpretieren, das identifikatorisches Lesen unmöglich macht[e].«5 Mit diesem Beitrag aus der Perspektive des Deutschunterrichts lässt sich die Fragestellung nach der Bedeutung des Lesens im Philosophieunterricht um eine wesentliche Dimension anreichern, die die Frage nach dem Lesen zum Kern führt: Die Pflicht zum Lesen und zur Textarbeit beschreiben Jugendliche – wohl nicht nur im Deutschunterricht – als Ursache eines defizitären Lesens, das nicht mehr in unmittelbarer Beziehung zur Persönlichkeit des Lesers steht. Dieses Defizit als Entzug der Relevanz und Bedeutung des Gelesenen für den Leser verursacht der schulische Lesemodus. Solches Lesen heißt im Gegensatz zum freiwilligen Lesen Pflichtlesen. Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, als würden Schülerinnen und Schüler jede Verpflichtung zum Lesen als fremdbestimmten Zwang erfahren, gleichwohl zeigt sich, dass sie ein verpflichtendes Lesen, das die Relevanz des Gelesenen für den Leser zu thematisieren, zu bedenken und zu würdigen vergisst oder in den Hintergrund rücken lässt, als defizitär erfahren, das damit auf Ablehnung oder auf Gleichgültigkeit stößt. Beide Formen – Ablehnung in ihrer kritischen Dimension für den Unterricht als Anstoß zu einem gemeinsamen Dialog, Gleichgültigkeit hingegen als kaum zu bewältigende Endphase der Auseinandersetzung, in der Argumente nicht mehr greifen und das Engagement der Lehrkraft ins Leere läuft – wirken sich nachhaltig auf das Unterrichtsgeschehen aus und verfestigen sich als Vorurteil gegenüber jeglicher Art des Lesens oder gegenüber den (Nicht-)Lesern.

Somit also ist dort anzusetzen, wo die Kritik am Lesen ihren Anfang nimmt: am Modus des Pflichtlesens. Der Begriff des Pflichtlesens selbst ist dabei nicht unproblematisch. Haben wir doch bereits gesehen, dass nicht die Pflicht als Verpflichtung der Schülerin bzw. des Schülers auf das Lesen eines Textes, sondern das identifikatorische Defizit, insofern und immer dann, wenn die Pflicht zu lesen im Vordergrund zu erhellen vergisst, wohin sie zielt und mit welcher Absicht sie diese Verpflichtung erteilt, als wesentliches Problem dieses Lesemodus zu gelten hat. Da fehlt dann eben noch etwas: das, was die Bedeutung des Lesens für den Leser ausmacht und ohne die das Lesen von Texten in den Dienst der funktionalen Informationsbeschaffung überwechselt. Christian Gefert formuliert dies so:

»Sollten […] abstrakte Aussagen in philosophischen Texten einen Rezipienten zum Philosophieren animieren, müssen sie seine konkreten Deutungen der ›Wirklichkeit‹ berühren und ihm Impulse zur Weiterentwicklung seines eigenen Deutungsvermögens vermitteln. […] Nur wenn der Rezipient in der Auseinandersetzung mit einem philosophischen Text feststellt, dass sich seine gewohnte und verhärtete Deutungsperspektive auf die ›Wirklichkeit‹ […] durch die Begriffe, Thesen und Argumente in einem philosophischen Text ›verflüssigt‹, d. h. dass er die Möglichkeit entdeckt, »begrifflichen Prägungen« in der Deutungsperspektive des Textes weiter nachzugehen, als er es bisher getan hat […], gewinnt der philosophische Text für ihn eine Bedeutung als Impuls zum eigenständigen Philosophieren, d. h. zum Weiterdenken.«6

Im extremen Fall – und man darf vermuten, dass dieser in der Unterrichtspraxis nicht eintritt, ich unterstelle ihn also und wähle ihn bewusst als Folie, um das aufleuchten zu lassen, was als Lesen im Philosophieunterricht geschehen kann –, im extremen Fall also wählt man einen philosophischen Text für die Unterrichtsgestaltung, weil er zu diesem Thema im entsprechenden Absatz des Lehrplans oder im Inhaltsverzeichnis des entsprechenden Kapitels des Lehrbuchs aufgeführt ist. Die Arbeitsanweisung für die Schülerinnen und Schüler lautet dann: »Lesen Sie den Text!«. Gemeinsam arbeiten sie anschließend, anhand markierter und notierter Zentralbegriffe aus dem Text, den Fragenkatalog zum Text aus dem Lehrbuch ab. Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer erfüllen ihre Pflicht. Nicht die Erfüllung der Pflicht in diesem einen Fall bewirkt die Konsequenzen für das Leseverhalten, die wir bereits beschrieben haben, die Katastrophe bahnt sich vielmehr dann – und eben: schleichend! – an, wenn über Jahre hinweg, sozusagen in fächerübergreifender Zusammenarbeit, Schülerinnen und Schüler ständig und ausschließlich mit diesem Lesemodus konfrontiert werden, ihn somit als den für die Schule typischen und spezifischen Lese- und Arbeitsmodus erkennen, einüben und schließlich automatisiert anwenden. Darin liegt das Problem. Punktuelle Ansätze methodischer Leseförderung greifen dem gegenüber nicht und bleiben meist auf die Primar- und Sekundarstufe I konzentriert. Danach kann man lesen, pflichtlesen eben. Die ersten Wunden brechen auf. Und dies umso mehr, je tiefer die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit den Mangel eines verpflichtenden Lesens wahrnehmen, das sie nicht in Zusammenhang mit sich und in Bezug zu ihrem eigenen Selbst bringen können. Sie können anwenden, was sie als Lesemodus erlernt haben, die Relevanz des Gelesenen für ihre Lebenswelt erschließt sich ihnen jedoch nicht.

Stärkung durch Lesen

Lichtenberg sieht ebenfalls die Gefahr von Defiziten beim Lesen, Defizite, die sich bei ihm so darstellen, dass Lesen seiner wesentlichen Bedeutung und Relevanz für den Leser verlustig geht, wenn es nicht in erster Linie dazu dient, das eigene System zu stärken. Um Stärkung zu erlangen, liest, nach Lichtenberg, der philosophische eigentliche Leser, und er gewinnt diese Stärke, indem er das Gelesene sichtet und anschließend schichtet, um es in den »inneren Körper« einzugliedern, so dass dieser nach dem Lesen ein anderer geworden ist, aufgebaut durch den Gewinn an Stärke.7 Auch Gefert spricht ja davon, dass ein philosophischer Text für die Leserin bzw. den Leser an Bedeutung gewinnt, wenn seine Aussagen dessen Wirklichkeitsdeutungen berühren8 – und dieses Berühren führt dazu, dass der Leser im Gelesenen etwas sieht, was auf ihn deutet und insofern für ihn bedeutend wird. Solches Lesen können wir als sehendes Lesen bezeichnen, sehend, wie es in der griechischen Antike verstanden wurde9 – der Leser erkennt sich selbst und seine Welt (seine Lebenswelt) in den Zeichen der Schrift wieder. Er sieht, was und indem er liest. Und das, was er sieht, ist bedeutend für ihn und sein Leben. Seine Tätigkeit als Leser erhält Relevanz dadurch, dass er liest, dass seine Begegnung mit dem Text für dessen Verständnis relevant ist und dass die lesende Erstbegegnung, seine persönliche Leseerfahrung darüber entscheidet, ob er den Text in Bezug zu sich selbst bringen kann, zur eigenen Lebenswelt und zu seinen sich daraus ergebenden praktischen Interessen. So erfahren sich die Schülerin bzw. der Schüler nicht nur als methodische Interpreten eines Textes, sondern auch als lesende Subjekte, die sich in die Interpretation und in das Verständnis mit seinen ihren eigenen Leseerfahrungen einbringen.

Sehendes Lesen als Ergänzung

Wir müssen davon ausgehen, dass innerhalb des schulischen Unterrichts solch sehendes Lesen, gelinde gesagt, einen eher untergeordneten Rang einnimmt. Wenn unsere Beschreibung schulischen Lesens mit den Verhältnissen in der Praxis übereinstimmt, dann überwiegt Pflichtlesen derart, dass sehendes Lesen, das sich dem identifikatorischen Defizit stellt, zwar immer wieder gewollt, aber eher selten als eigener Lesemodus vorgestellt und eingeübt wird. So stelle ich zum Schluss noch einen Versuch vor, wie es im Rahmen des Philosophieunterrichts möglich werden kann, im Laufe eines Schuljahres sehendes Lesen einzuführen und anzuwenden.

Um die Besonderheit des sehenden Lesemodus herauszustellen, bietet es sich an, für die Einübung in sehendes Lesen ein philosophisches Tagebuch zu führen. Darin können die Schülerinnen und Schüler ihre persönlichen Notizen eintragen, die zum einen dazu dienen, eigene Leseerfahrungen begrifflich zu fixieren, und zum anderen Grundlage für den Dialog über ihre Leseerfahrungen bieten.

Zuerst wird es darum gehen, das, was ich sehe, wenn ich den Text lese, kleinschrittig einzuüben. Die Aufmerksamkeit für die eigenen Wahrnehmungen am Text muss man beständig üben, wird aber bei regelmäßiger Übung und Wiederholung intensiviert und erweitert. Dabei gilt es, diese Wahrnehmungen am Text von bloßen Stimmungen und Befindlichkeiten zu unterscheiden, sie auf ihre Begründbarkeit hin, von der her sie klarer und dichter werden, zu überprüfen. Es wird zu Beginn vermutlich auch darum gehen, die Artikulation dieser begründeten Wahrnehmungen zu erlernen, welche Möglichkeiten der adäquaten Formulierung vorhanden sind. Im Gespräch darüber finden Schülerinnen und Schüler Maßstäbe für die Begründung von persönlichen Wahrnehmungen und reflektieren sie zugleich von der konkreten Anwendung her. Ansatzpunkte für die Eintragungen ins Tagebuch gibt es viele: Erwartungen vor dem Lesen des Textes, Beobachtungen eigener Erfahrungen mit dem Lesen unmittelbar nach dem Leseakt, verzögerndes Lesen, das bewusst Pausen einlegt, die der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen gewidmet sind, Vergleich der Leseerfahrung nach mehrmaligem Lesen, z. B. vor und nach einer methodischen Interpretationseinheit usw. Methodisch ist es notwendig, die einzelnen Übungen aufeinander aufzubauen, regelmäßig anzuwenden und immer wieder ins gemeinsame Gespräch zu überführen. Und damit wären die Wunden dann geheilt? Das wäre vermutlich zu viel erwartet.

Allerdings wäre wahrscheinlich ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet, dass Schülerinnen und Schüler die Aufforderung »Lesen Sie den Text!« nicht automatisch mit Langeweile, Müdigkeit und Verdrossenheit verbinden.

Quelle: Stelzer, Hubertus: »›Lesen Sie den Text!‹«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38, 2016, Heft 1: Jugendliteratur, S. 15 – 19.

1 Lichtenberg, Georg Christoph: »Einfälle und Bemerkungen«, in: Lichtenberg, Georg Christoph: Werke in einem Band, Bibliothek Deutscher Klassiker, hrsg. von der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Aufbau-Verlag, Weimar/Berlin 41982, Heft F (202), S. 93.

2 Mit dem im Text verwendeten generischen Maskulinum sind stets alle anderen Geschlechter mitgemeint.

3 Tiedemann, Markus: »Problemorientierte Philosophiedidaktik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 35, 2013, Heft 1: Außerschulische Lernorte, S. 85–96.

4 Martens, Ekkehard: Einführung in die Didaktik der Philosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983, S. 104.

5 Schön, Erich: Zur aktuellen Situation des Lesens und zur biographischen Entwicklung des Lesens bei Kindern und Jugendlichen, Vorträge – Reden – Berichte, Bibliotheksgesellschaft, Bd. 19, Bibliotheks- und Informationssystem der Univ. Oldenburg, Oldenburg 1996, S. 37und vgl. Graf, Werner: Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz, Leseforschung, Bd. 1, LIT Verlag, Münster 2004, S. 21.

6 Gefert, Christian: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchungen zum Zusammenspiel argumentativdiskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen, Dresdner Hefte für Philosophie, Bd. 8, Thelem, Dresden 2002. S. 50. Geferts Ansatz theatralen Philosophierens versteht sich »als didaktisches Verfahren zur Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen. Als ein solches Verfahren grenzt es sich von ›konventionellen‹ Verfahren der ‚Texterschließung’ ab, die den philosophiedidaktischen Diskurs prägen, und betont den in der philosophiedidaktischen Diskussion wichtigen Aspekt einer Handlungs- und Produktionsorientierung innerhalb philosophischer Bildungsprozesse« (ibid., S. 121).

7 Goethe versieht in einem Brief an Schiller seine Anmerkungen zur Lektüre Kants mit einem interessanten Nachsatz: » … Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« (Staiger, Emil (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, revidierte Neuausgabe von Dewitz, Hans-Georg, it 3125, Insel Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 719). Was Lichtenberg als Stärkung bezeichnet, taucht bei Goethe als Belebung auf, Lesen wird also in einer Dimension verstanden, die mit aktiver Bereicherung zu tun hat.

8 Vgl. Schön, Erich: Zur aktuellen Situation des Lesens und zur biographischen Entwicklung des Lesens bei Kindern und Jugendlichen, a.a.O., S. 37 und vgl. Graf, Werner: Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz, a.a.O., S. 21.

9 Es handelt sich bei άναγιγνωσκειν um den Akt des Lesens, in dem der Leser die Wirklichkeit wiedererkennt (identifiziert), die sich ihm in den Zeichen der Schrift meldet. Vgl. Liddell, Henry George; Scott, Robert: A Greek-English Lexicon, revised and augmented throughout by Jones, Sir Henry Stuart with assistance of McKenzi, Roderick, Clarendon Press, Oxford 1940, S. 12 und vgl. Pape, Wilhelm: Griechisch-Deutsch Handwörterbuch,3 Bde., Bd. 1: A-K, bearbeitet von Sengebusch, Maximilian, Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 31880. S. 18ff.

Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen!

Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht*

Vanessa Albus, Leif Marvin Jost

Der didaktische Imperativ »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen.« fordert dazu auf, eine Auseinandersetzung mit der »schwierigen Sprache« der Philosophen im Philosophieunterricht nicht etwa mittels Textaskese oder durch Nutzung von »Nach-Texten« zu umgehen, sondern die Schülerinnen und Schüler zu einem selbständigen und routinierten Umgang mit den fachsprachlichen Anforderungen zu befähigen. Die »schwierige Sprache« der Philosophen erscheint vielen Lehrerinnen und Lehrern als unüberwindbares Hindernis im Unterricht aller Altersklassen.1 Vor dem Hintergrund dieser Anforderung an die Unterrichtspraxis haben sich drei philosophiedidaktische Reaktionen ergeben, die hier vorgestellt werden.

Wie umgehen mit schwierigen Texten im Unterricht?

Verzicht auf Primärquellen

Zunächst stellt die komplette Kapitulation vor den sprachlichen Ansprüchen philosophischer Texte eine mögliche Konsequenz dar. Im Philosophieunterricht der ersten Art wird auf das Medium Text radikal verzichtet. Zahlreiche philosophische Methoden wie etwa das neosokratische Gespräch oder das Gedankenexperiment ermöglichen Denkschulung auch ohne Textarbeit. Der Schwerpunkt des textfreien Philosophieunterrichts liegt folglich auf der Vermittlung von philosophischen Denkmethoden, die im Einzelfall auch dazu führen können, dass sich Schülerinnen und Schüler die Inhalte von klassischen philosophischen Texten ohne Textlektüre eigenständig erdenken.2 Wie unverzichtbar die textfreie Vermittlung von Denkmethoden im Philosophieunterricht auch sein mag, so lässt sich gegen einen gründlichen Verzicht auf Texte im Philosophieunterricht doch einwenden, dass die systematische Ausblendung der ideengeschichtlichen Perspektive zentrale Elemente der philosophischen Bildung unberücksichtigt lässt. Komplette Textaskese ist also mit dem philosophischen Bildungsanspruch, wie er in der Philosophiedidaktik formuliert ist und in Zeiten des Zentralabiturs auch bildungspolitisch eingefordert wird, unvereinbar.

Sprachlich vereinfachte Texte lesen

Ein zweiter Ausweg aus der misslichen Situation scheint darin zu bestehen, die Texte der philosophischen Tradition sprachlich und inhaltlich für die Schülerinnen und Schüler zu vereinfachen. Es entstehen die sogenannten »Nach-Texte«3, in denen Philosophiedidaktiker, Lehrerinnen oder gar Laien versuchen, Gedanken klassischer Philosophen für Schülerinnen und Schüler mundgerecht wiederzugeben. In den inzwischen in vielen einschlägigen Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern eingestreuten »Nach-Texten« erläutern historische Größen der Philosophie als fiktive Gestalten zum Beispiel in modernen Talkshows oder am Telefon ihre Lehren in kindlicher oder jugendlicher Diktion.4

Dabei wird übersehen, dass »Nach-Texte« auch nur Interpretation und Deutungen sind, deren Plausibilität die Lernenden als Anfänger im Philosophieren nicht prüfen können. Das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler in die Fachautorität ihrer Lehrerinnen und Lehrer kann also missbraucht werden. Im schlimmsten Fall werden »Nach-Texte« als Instrument zur weltanschaulichen oder politischen Manipulation im Schulunterricht gezielt studiert. Aus der Geschichte des Philosophieunterrichts lassen sich erschreckend viele Beispiele hierfür anführen. In der ehemaligen DDR waren zum Beispiel die »Nach-Texte« zu Marx immer so gestaltet, dass sie sich der aktuellen SED-Linie anpassten. Um den Glauben der Schülerinnen und Schüler zu festigen, informierten schließlich »Nach-Texte« im christlich-missionarischen Philosophieunterricht der Nachkriegsära völlig inadäquat über das vermeintliche Scheitern Kants an der Kritik der philosophischen Gottesbeweise.5

Sachliche Fehler werden auf diesem Weg entweder billigend in Kauf genommen oder unterlaufen, in eher harmlosen Fällen nicht zu Manipulationszwecken, sondern bestenfalls aus fachlicher Unkenntnis. Das Umschreiben von philosophischen Texten für Kinder erweist sich häufig als Gratwanderung zwischen ertragbarer Simplifizierung und sachlicher Unangemessenheit. So ist etwa die materielle Darstellung Leibnizens immaterieller Monaden in einem Kinderbuch ebenso fragwürdig wie der Versuch eines Journalisten der Rheinischen Post, Kants kategorischen Imperativ kindgerecht mit folgenden Worten wiederzugeben: »[Kant] wurde vor allem dadurch berühmt, dass er sich ein Gesetz ausgedacht hat, wie man sich am besten verhalten soll. Seine Idee: Das, was Du dir herausnimmst, dürfen alle anderen auch. Also: Vorsicht!«6

Nicht zuletzt ignorieren die Vertreter einer Didaktik der »Nach-Texte« sprachphilosophische Methoden und Erkenntnisse. Denn spätestens seit dem linguistic turn ist die reine Vernunft als sprachliche Vernunft entlarvt, so dass Untersuchungen zur Sprache von Philosophen nicht allein zum Aufgabengebiet der Philologen und Linguisten gehören, sondern integraler Bestandteil philosophischer Selbstreflexionen sind.7 Was bliebe, wenn man im Prozess des didaktischen Umschreibens einem Herder oder Nietzsche die Metaphern und einem Heidegger die Neologismen nähme?

Aus all diesen Bedenken ergibt sich klar, dass »Nach-Texte« nur in geringen Dosen am Anfang philosophischer Bildungsprozesse eine gewisse Berechtigung haben, wenn sie fachphilosophisch autorisiert sind. Keinesfalls können sie authentische Quellen ersetzen. Der Vorschlag, »Nach-Texte« bis zur Allgemeinen Hochschulreife zu studieren8, erweist sich als unhaltbar.

»Philosophensprache« als Zieldimension philosophischer Bildung

Der dritte Weg besteht schließlich darin, das Problem der anspruchsvollen Philosophensprache als Zieldimension philosophischer Bildung zu begreifen und didaktische Lösungsansätze zu entwickeln, die dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich philosophische Primärquellen eigenständig zu erschließen. Nur dies führt sie langfristig aus der deutungskanonischen Unmündigkeit heraus und befähigt zum eigenen Urteil. Mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler zu einem routinierten Umgang mit philosophischer Primärliteratur zu befähigen, sind potenzielle Hürden bereits in der Stundenplanung in Form einer Bedarfsermittlung aus fachsprachlicher Sicht sowie einer (antizipierten) Ermittlung des Lern- und Sprachstandes der Schülerinnen und Schüler auf den Ebenen Text, Satz und Wort zu berücksichtigen. In der sich anschließenden unterrichtlichen Interaktion bietet es sich an, ausgehend von den sprachlichen Problemen der Schülerinnen und Schüler zum Beispiel gattungsspezifische Sinnerschließungsstrategien – etwa in Hinsicht auf das Fehlen des Vorweg- sowie des Nachstehenden – offen zu diskutieren, um an das Vorwissen der Lernenden über die Textsorte anknüpfen zu können (Textebene), besonders lange und verschachtelte Sätze gemeinsam an der Tafel zu untersuchen, damit zum Beispiel die Hypotaxe segmentiert und attributive Relativsätze zugeordnet werden können (Satzebene), sowie unbekannte, nicht nur fachsprachliche Ausdrücke und Wortverbindungen mittels Begriffsanalysen zu klären (Wortebene).

Sapere Aude!

Diese didaktischen Lösungsansätze reagieren auf die »schwierige Sprache« von Kant und verhelfen den Schülerinnen und Schülern nicht nur dazu, den singulären Textauszug zu verstehen, sondern darüber hinaus auch andere authentische Literaturauszüge des Philosophieunterrichts leichter zu erschließen. Denn die Schülerinnen und Schüler erwerben neben dem rein inhaltlichen Wissen vor allem sprachsensible sowie textadäquate Techniken, mit denen sie philosophische Primärliteratur eigenständig erarbeiten können.

Die »Furcht« etwa vor komplexen und mehrzeiligen Bandwurmsätzen, Fachbegriffen und überhaupt vor Auszügen aus Originaltexten der großen Philosophen wird dann gebannt, wenn sie lernen, sich den sprachlichen Schwierigkeiten zu stellen und mit diesen routiniert umzugehen – das heißt wenn sie lernen, selbständig zum Beispiel Satzgefüge auszudifferenzieren und zu hierarchisieren, sprachliche Register zu identifizieren, syntaktische Verbindungen aufzudecken oder Substantive sowie Adjektive zu klären. Sie müssen demnach angeleitet werden, selbst tätig zu sein, was durchaus im Sinne Kants zu verstehen ist, denn der Schüler soll »nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selber zu gehen geschickt sein soll«9.

Der didaktische Imperativ »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen« fordert Lehrerinnen und Lehrer dazu auf, eine Auseinandersetzung mit der »schwierigen Sprache« der Philosophen nicht etwa mittels Textaskese oder der Nutzung von »Nach-Texten« zu umgehen, sondern die Schülerinnen und Schüler zu einem selbständigen und routinierten Umgang mit den fachsprachlichen Anforderungen zu befähigen.

Quelle: Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! Kant-Texte im sprachsensiblen Philosophieunterricht«, in: Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, hrsg. von Vanessa Albus, Magnus Frank, Thomas Geier. Münster: LIT, S. 219 – 232. Teilabdruck auch in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 9 – 10.

* Gekürzte Fassung von Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219–232.

1 Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, Texte und Materialien für den Unterricht, RUB 15062, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 5.

2 Siekmann, Andreas: »›Die Schrift versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht‹ (Platon). Möglichkeiten des textfreien Unterrichts«, in: Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Methoden des Philosophierens, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 2000, Bd. 1, Thelem, Dresden 2000, S. 108–126.

3 Vgl. Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung von Elementen neuer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47–64 und vgl. Steenblock, Volker: »Plaudern, Umschreiben, Faszinationsinszenierung – Populäre Transformationen philosophischer Texte«, in: Ethik & Unterricht 10, 1999 Heft 3: Rechte und Pflichten, S. 43.

4 Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, a.a.O. und vgl. Rolf, Bernd: »Wozu braucht man eigentlich einen Staat? Eine Fernsehdiskussion zwischen Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 20, 1998, Heft 4: Praktische Philosophie, S. 240–245.

5 Vgl. Albus, Vanessa: Kanonbildung im Philosophieunterricht. Lösungsmöglichkeiten und Aporien, Thelem, Dresden 2013, S. 471ff. und S. 464ff.

6 Kinderseite der Rheinischen Post, zitiert nach Engels, Helmut: »Sprachanalyse in den Fächern Philosophie, Ethik, Praktische Philosophie und Philosophieren mit Kindern. Eine perennierende Aufgabe«, in: Runtenberg, Christa; Rohbeck, Johannes (Hrsg.): Angewandte Philosophie, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 12, Thelem, Dresden 2011, S. 147–182: S. 149. Zu Leibniz siehe: Antoine, Annette; von Boetticher, Annette: Leibniz für Kinder, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2008.

7 Vgl. Albus, Vanessa: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.

8 Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Kant & Co. im Interview. Fiktive Gespräche mit Philosophen über ihre Theorien, a.a.O., S. 5.

9 Kant, Immanuel: »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765–1766«, in: Meyer, Kirsten (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Philosophie, RUB 18723, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010, S. 71–74: S. 73.

Lob des »Nach-Textes«

Vielfältige Lektüren für den Unterricht

Patrick Baum

Texte der Philosophiegeschichte haben mitunter den Nachteil, dass sie nicht nur argumentativ komplex, sondern zudem häufig sprachlich sehr intrikat sind. Für die Behandlung im Unterricht bedeutet dies, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur inhaltliche Verständnisbarrieren überwinden müssen, sondern auch auf beachtliche sprachliche Hürden treffen. Diesen Schwierigkeiten begegnen Didaktiker unter anderem dadurch, dass sie – zum Beispiel für Schulbücher – Texte verfassen, die die Gedanken der Philosophen in einfacherer Sprache wiedergeben und so zugänglicher machen sollen. Volker Steenblock hat für Texte dieser Art den launigen Begriff des »Nach-Textes« geprägt (»Darstellung nach Aristoteles« etc.).1 Vanessa Albus und Leif Marvin Jost wenden sich gegen den Einsatz solcher Nach-Texte im Unterricht2; der entscheidende Nachteil dieser Textgattung liegt für sie darin, dass es sich stets um »Interpretationen und Deutungen« handle, »deren Plausibilität die Lernenden als Anfänger im Philosophieren nicht prüfen können«3. Die Rezeptionssteuerung durch Nach-Texte könne im schlimmsten Fall der ideologischen Manipulation Tür und Tor öffnen. Vor diesem Hintergrund stellen Albus und Jost fest, dass solche Nach-Texte »nur in geringen Dosen am Anfang philosophischer Bildungsprozesse eine gewisse Berechtigung haben« und keinesfalls »authentische Quellen« 4 ersetzen können.

Wenn ich auch den grundsätzlichen Impetus von Albus und Jost, den Schülerinnen und Schülern einen Weg zum Original zu bahnen, absolut richtig und unterstützenswert finde, denke ich doch, dass diese recht grundsätzliche Ächtung von Nach-Texten aus mindestens zwei Gründen über das Ziel hinausschießt: Zum einen greift die scharfe Trennung zwischen »authentischer Quelle« und parasitärem »Nach-Text« im Hinblick auf die im Philosophieunterricht verwendeten Texte ein wenig kurz, zum anderen erschöpft sich die unterrichtliche Verwendung von Texten nicht in der blinden, textimmanenten Exegese, die Albus und Jost zu unterstellen scheinen, wenn sie es ablehnen, Nach-Texte »bis zur Allgemeinem Hochschulreife zu studieren«5.

Die Unvermeidlichkeit paratextueller Rezeptionssteuerung

Betrachtet man die Texte, die im Philosophieunterricht gelesen werden – ›authentische‹ Textauszüge und Nach-Texte –, mit der Lupe der strukturalistischen Literaturtheorie, nämlich mit dem von Gérard Genette geprägten Begriff des Paratextes6, rücken sie näher aneinander, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint: Genette versteht unter Paratext »eine vielgestaltige Menge von Praktiken und Diskursen«, die den Text begleiten und ihn so in bestimmte Bedeutungszusammenhänge stellen: »Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.«7 Dieses Beiwerk umfasst nicht nur Texte im eigentlichen Sinne, sondern auch Bilder (in Form von Illustrationen), typographische Entscheidungen (›materieller Paratext‹) sowie Fakten, die die Rezeption des Textes beeinflussen (›faktischer Paratext‹).

Ferner unterscheidet Genette zwischen Paratexten, die den Text unmittelbar begleiten, und solchen, die zumindest anfänglich separat publiziert werden; erstere nennt er ›Peritexte‹, letztere ›Epitexte‹. Zu den Peritexten zählen zum Beispiel der Umschlag, der Waschzettel, die Publikation in einer Schriftenreihe, der Name des Autors, Titel, Unter- und Zwischentitel, Vor- und Nachworte, Motti, Widmungen und Anmerkungen. Epitexte sind etwa die Verlagswerbung, Interviews und Gespräche mit dem Autor, andere Äußerungen des Autors, Rezensionen, Kolloquien, literaturkritische und -wissenschaftliche Debatten.

Die Rezeption eines Textes erfolgt zwingend immer auch über seine Paratexte. Den unverstellten Blick auf die »authentische Quelle« kann es insofern gar nicht geben, immer schon werden Interpretationen und Deutungen durch die den Text begleitenden Paratexte beeinflusst: Lese ich im Unterricht Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Ganzschrift auf der Basis der Erstausgabe von 1785, so lege ich den Text den Schülern mit seinen damaligen Paratexten (Frakturschrift, Orthographie der damaligen Zeit) vor und steuere dadurch implizit die Rezeption; nehme ich eine aktuelle Studienausgabe als Ganzschrift, so verändere ich die Paratexte (modernisierte Orthographie, Vor- oder Nachworte der Herausgeber, Anmerkungsapparat etc.) und steuere dadurch die Rezeption. Welche Ausgabe ist nun die authentische? (Oder wäre gar nur eine Handschrift Kants, vor jedem redaktionellen oder verlegerischen Eingriff, genuin authentisch?)

Nach-Texte als pragmatische Abkürzungen

Nicht anders verfahre ich, wenn ich Textauszüge und Nach-Texte einsetze; beide Textsorten sind im Sinne Genettes bereits Paratexte und gehören zur Rezeptionsgeschichte des (ursprünglichen) Textes. Jede Didaktisierung (Kürzung, Annotation, Konstellation mit anderen Positionen zum Beispiel im Rahmen der Problemorientierung) ist bereits unvermeidlich eine paratextuelle Steuerung der Rezeption. Beim Nach-Text mag dies evidenter sein, aber auch beim Textauszug greifen Mechanismen der Rezeptionssteuerung. Vor diesem Hintergrund scheint mir die scharfe Trennung zwischen (nur vermeintlich) authentischem Textauszug und potenziell irreführendem Nach-Text allein wenig zielführend; es muss in jedem Fall von der fachlich kompetenten Lehrerin bzw. dem Lehrer geprüft werden, ob ein für den Unterricht ausgewählter Textauszug oder Nach-Text die in Frage stehende philosophische Position unverfälscht wiedergibt.

Ist dies der Fall, so gibt es kein prinzipielles Argument gegen den Einsatz von Nach-Texten als pragmatischen Abkürzungen. Allerdings sollten Textauszug wie Nach-Text dabei, und hier stimme ich Albus und Jost ausdrücklich zu, so ausgewählt sein, dass sie Schülern längerfristig den Zugang zum Original bahnen oder zumindest nicht verstellen. (Mancher heute als Originaltext geschätzter Beitrag aus der Philosophiegeschichte ließe sich als fragwürdiger Nach-Text, nämlich als verfälschende Deutung, auslegen – etwa Lockes Auseinandersetzung mit Descartes in seinem Essay on Human Understanding.)

Nach-Texte in Transfer- und Übungsphasen

Auch in anderer Hinsicht können Nach-Texte den Unterricht aus meiner Sicht bereichern, nämlich dann, wenn sie nicht als Ersatz für den Originaltext dienen, sondern in Transfer- und Übungsphasen zum Einsatz kommen. Spätestens an dieser Stelle hätte dann auch der oben erwähnte Locke-Text, wenn er nicht ohnehin kanonisiert wäre, seinen legitimen Platz im Unterricht. In einer Transferstunde (vgl. Guntermann) können die Schülerinnen und Schüler beispielsweise ihr Verständnis einer philosophischen Position dadurch ausweisen, dass sie sich auch mit fragwürdigen Deutungen auseinandersetzen und die Unzulänglichkeit anhand ihrer eigenen Kenntnisse des Originals belegen.

Exemplarisch sei hier etwa auf das Kapitel »Kants Ethik und der Nationalsozialismus« im recht weit verbreiteten Schulbuch Zugänge zur Philosophie: Qualifikationsphase8 verwiesen, das einen Auszug aus dem Eichmann-Protokoll anbietet, in dem Adolf Eichmann, Hauptorganisator der Transporte in die Vernichtungslager, seine ganz eigene Deutung von Kants Ethik vorträgt. Der Auszug aus dem Verhör Eichmanns ist, mit Genette gesprochen, ein Epitext zu Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten; als solcher fordert er die Schülerinnen und Schüler auf, ihr Verständnis der Ethik Kants zu überprüfen.

Didaktisch reduzierte Originaltexte und Nach-Texte haben beide ihren Platz im Unterricht – sofern sie dazu beitragen, zu philosophischer Problemreflexion anzuleiten und sie insgesamt und auf lange Sicht zu befähigen, philosophische Texte auch im Original zu lesen.

Quelle: Baum, Patrick: »Lob des ›Nach-Textes‹. Vielfältige Lektüren für den Unterricht«, in: Ethik & Unterricht 31, 2020, Heft 1: Kant heute unterrichten, S. 12 – 13.

1 Steenblock, Volker: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität. Überlegungen zu einer Nutzung von Elementen neuerer Leseforschung für den Philosophieunterricht«, in: Rohbeck, Johannes; Turnherr, Urs; Steenblock, Volker (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 9, Thelem, Dresden 2008, S. 47–63, hier S. 56–57.

2 Albus, Vanessa; Jost, Leif Marvin: »Kants kategorischer Imperativ im sprachsensiblen Philosophieunterricht. Sapere Aude – Habe Mut, dich Primärquellen zu bedienen! «, in: Albus, Vanessa; Frank, Magnus; Geier, Thomas (Hrsg.): Sprachliche Bildung im Philosophieunterricht, Philosophie und Bildung, Bd. 18, LIT Verlag, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2017, S. 219–232.

3Ibid., S. 220.

4Ibid., S. 221.

5Ibid., S. 222.

6 Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. von Hornig, Dieter, stw 1510, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 10–13.

7Ibid., S. 10.

8 Aßmann, Lothar; Henke, Roland W.; Schulze, Matthias; Sewing, Eva: Zugänge zur Philosophie. Qualifikationsphase, Cornelsen Schulbuchverlage; Berlin 2015, S. 192.