The Age of Darkness - Das Ende der Welt - Katy Rose Pool - E-Book

The Age of Darkness - Das Ende der Welt E-Book

Katy Rose Pool

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Beschreibung

Herzen brechen, Städte fallen und eine uralte Macht erwacht zum Leben

Nach der Zerstörung der Stadt der Gnade ist ein uralter Gott wiederauferstanden und in einen menschlichen Körper gebannt. Der Prophet Pallas hat ihn in seiner Gewalt und will ihn zwingen, die Sechs Prophetischen Städte zu unterwerfen. Doch jeden Tag wird der alte Gott stärker. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er sich befreien und die Welt zerstören wird.
Fernab von Pallas Athos lernt Anton unterdessen, seine prophetische Gabe zu beherrschen. Um die alte Macht zu bezwingen, macht er sich zusammen mit Jude, Hassan und Ephyra auf eine verzweifelte Suche ans Ende der Welt. Ihnen bleibt nicht viel Zeit, denn auf dem Spiel steht nicht weniger als ihrer aller Leben und das Schicksal der Welt.
Katy Rose Pool begeistert ihre Leser*innen mit einem atemberaubenden Plot und großartigem Worldbuilding. Vor allem aber überzeugen ihre wunderbar menschlichen Figuren. Perfekte Lektüre für Fans von Leigh Bardugo und Sarah J. Maas.

Alle Bände der »Age of Darkness«-Reihe:
The Age of Darkness – Feuer über Nasira (Band 01)
The Age of Darkness – Schatten über Behesda (Band 02)
The Age of Darkness – Das Ende der Welt (Band 03)

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Seitenzahl: 656

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KATY ROSE POOL

DAS ENDE DER WELT

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Text © 2021 Katy Pool

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel »Into the Dying Light. An Age of Darkness Novel« bei Henry Holt and Company, New York.

Henry Holt® is a registered trademark of Macmillan Publishing Group, LLC, 120 Broadway, New York, NY 10271

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair

Lektorat: Katja Hildebrandt

Covergestaltung: semper smile

kk · Herstellung: UK

Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-24097-4V003

www.cbj-verlag.de

I

DER HÜTER DER BOTSCHAFT

Kapitel 1

BERU

Beru blickte auf die vor dem Altar versammelten Zeugen, die ein Meer aus Schwarz und Gold bildeten. Auf ihrer Schulter spürte sie den sanften Druck von Pallas’ Hand, eine Mahnung an die Zeugen – und an Beru –, wer hier das Sagen hatte. Ihre Haut prickelte. Der Gott in ihr war unruhig, er sträubte sich gegen Pallas’ Hand, zerrte an dem Vierblättrigen Siegel, das ihn in Beru gefangen hielt.

Sie konnte die giftige Bosheit des Gottes spüren, nahm sein unstillbares Verlangen, Pallas niederzustrecken, als leises Summen in ihrem Hinterkopf wahr.

»Heute«, verkündete Pallas, »ist ein großer Tag. Ein Tag, an dem durch einen göttlichen Richterspruch die Frevler bestraft und die Würdigen belohnt werden.«

Seine langen Finger gruben sich kurz in Berus Schulter, als er Lazaros zunickte. Der Zeuge schlich wie ein Schatten zu ihr, seine Gottesfeuer-Narben schimmerten im Fackelschein.

Beru spürte seine kalten Hände, als er den Gottesfeuer-Ring um ihren Hals aufschloss. Das Metall löste sich von ihrer Haut und mit einem Ruck strömte die Macht des Gottes durch sie hindurch. Es war fast schmerzhaft.

Wir könnten ihn niederstrecken, flüsterte der Gott in ihrem Kopf. Dann wären wir frei.

Ohne den Halsring floss der zuvor eingedämmte Hass des Gottes wie ein ätzendes Gift durch Beru. Sie ließ sich nicht davon beirren, sondern trat vor den Altar und hob die Hände. Sie nahm die unsichtbaren Esha-Ströme wahr, die durch den Tempel pulsierten, und zog mit der Drehung ihres Handgelenks an ihnen, woraufhin das Portal des Tempels aufflog. Leuchtend weißes Licht flutete in das Heiligtum. Die Versammelten keuchten ehrfürchtig auf.

Pallas’ Stimme hallte durch den Raum. »Wer von den Gläubigen soll als Erster die Offenbarung empfangen?«

Die Menge teilte sich, und ein Zeuge trat auf den Altar zu, eine in Ketten gelegte Frau mit dunklem, strähnigem Haar hinter sich herziehend. Sie sah schwach und schmutzig aus, ein gefangenes, halb verhungertes Geschöpf, doch in ihren Augen lag ein wildes Funkeln.

»Unbefleckter«, sagte der Zeuge und verbeugte sich, am Altar angekommen, vor Pallas. Dann wandte er sich an Beru. »Heiliger Schöpfer. Ich ersuche um Offenbarung und bringe dir diese gottlose Sünderin, damit du das Urteil über sie fällst.«

Die gefesselte Frau stand zitternd, aber mit festem Blick vor ihnen.

Beru war übel. Früher hatte sie sich mit alchemistischer Tinte Markierungen zugefügt – eine Linie für jeden Mord, den ihre Schwester begangen hatte, um Beru am Leben zu erhalten. Für all die Menschen, deren Gabe sie in den vergangenen zwei Monaten gestohlen hatte, gab es jedoch keine Zeichen auf ihrem Körper, dabei überstieg ihre Zahl die von Ephyras Opfern bei Weitem. Das Grauen, das sie dabei empfand, ließ niemals nach, es war jedes Mal so schlimm wie beim ersten Mal.

»Komm näher«, sagte Pallas und trat beiseite, um den Zeugen und seine Gefangene zum Altar zu lassen.

Der Zeuge kniete sich vor Beru nieder, während die Gefangene stehen blieb, bis der Zeuge brutal an ihrer Kette riss und sie mit einem schrillen Aufschrei stolpernd auf die Knie fiel.

Beru wusste, was Pallas von ihr erwartete, welche Rolle sie für ihn spielen sollte. Und sie wusste auch, dass sie mitspielen würde. Aber erst würde sie ihn zappeln lassen. Ihn im Ungewissen darüber lassen, ob sie sich diesmal vielleicht weigerte. Ob sie diesmal vielleicht entschied, dass sich das Spiel für sie nicht mehr lohnte.

Ob sie diesmal vielleicht zuschlagen würde.

Jeder Befehl, den Pallas ihr erteilte, war sorgfältig kalkuliert. Was würde er als Nächstes von ihr verlangen? Etwas so Schlimmes, dass sie zögern würde? Dass sie sich tatsächlich weigern würde? Offener Ungehorsam Berus bedeutete Strafe für Ephyra, die Pallas in der Zitadelle eingesperrt hatte. Aber Pallas wusste nicht, wo Berus Grenze lag.

Ebenso wenig wie Beru selbst.

Als sie die Hände hob, strömte die Macht des Gottes wie kaltes Feuer in ihre Handflächen und Fingerspitzen. Die Gefangene funkelte sie rebellisch an. Beru zwang sich, der Frau ins Gesicht zu sehen, die weit aufgerissenen braunen Augen und den harten Zug um ihren Mund in sich aufzunehmen, während sie mit der Macht des Gottes nach der Gabe der Frau griff und ihre pulsierende Wärme zu fassen bekam. Die Gefangene stieß einen gequälten Schrei aus, als Beru die Finger spreizte, an der Gabe zog und sie Stück für Stück aus dem Körper der Frau zupfte.

Beru versuchte, die entsetzlichen Folterlaute auszublenden, damit diese Geräusche sich nicht in ihrem Kopf einnisteten wie die anderen gellenden Schreie, die sie verfolgten. Einen Augenblick später war es vorbei – ihrer Gabe beraubt brach die Frau zusammen.

»Die Frevlerin wurde geläutert«, verkündete Pallas. »Nun folgt die Belohnung der Würdigen. Was verderbt war, wurde gereinigt und in einen Segen für die Gläubigen verwandelt.«

Der Zeuge, der zu Berus Füßen kniete, erhob sich.

Beru streckte noch einmal die Hände aus, und die helle, zitternde Gabe, die sie der Gefangenen entrissen hatte, umgab den Zeugen, während Beru sie sorgfältig mit seinem Esha verwob. Mit einem Aufschrei fiel der Zeuge erneut auf die Knie.

Ehe Beru wusste, wie ihr geschah, fuhr sie zu Pallas herum, und von einer der Fackeln sprang Gottesfeuer in ihre Hände. Pallas erstarrte, seine blauen Augen weiteten sich. Die Zuschauer keuchten auf, während Beru von der giftigen Genugtuung des Gottes vollständig eingenommen wurde.

Mit fest zusammengekniffenen Augen und schwer atmend rang Beru mit dem Gott, der versuchte, die Kontrolle zu übernehmen. Sie spürte ihn wie einen dunklen Nebel, der in ihren Geist eindrang.

Sie suchte nach einer Erinnerung, um ihn zurückzudrängen.

Als ich sieben war, habe ich unter der Akazie im Garten einen Vogel mit einem gebrochenen Flügel gefunden, dachte sie. Ich habe ihn zu Ephyra gebracht und sie hat ihn geheilt.

Sie sah die Szene im Kopf vor sich, hielt sich daran fest. Daran, wie die winzige gefiederte Brust des Vogels unter Ephyras Berührung gezittert hatte. Daran, wie der Vogel von ihnen weggehüpft war und sich dabei den geheilten Flügel gerichtet hatte. Wie er sich mit einem kurzen Zwitschern verabschiedet hatte, bevor er zu den anderen Vögeln hoch oben in den Ästen der Akazie geflogen war.

Jedes kleine Detail davon erdete sie, erinnerte sie daran, wer sie war und was sie fühlen konnte. Sie ließ sich von diesen Gefühlen einnehmen wie von Licht, das durch den Nebel brach.

Du willst es, sagte der Gott und zerrte an dem Siegel. Ich kann das Verlangen in dir spüren, du brennst ebenso wie ich darauf, ihn zu erledigen.

Zwischen zwei Atemzügen zog sie es in Betracht. Pallas zu töten. Den Gott freizulassen.

Doch sie konnte nicht. So böse Pallas auch war, der Gott wäre schlimmer. Wenn sie ihn freiließe, würde ihn nichts davon abhalten, die Welt vollkommen zu verwüsten, wie er es in Behesda getan hatte, während Beru als blinder Passagier im Innern der Bestie hilflos hatte zusehen müssen.

Sie spürte jemanden in ihrer Nähe. Lazaros stand hinter ihr, jederzeit bereit, sie nötigenfalls mit Gottesfeuer-Ketten zu bändigen.

Sie ließ die Hände sinken, wodurch das Gottesfeuer erlosch, und wandte sich wieder dem Zeugen und der gefesselten Frau am Altar zu. Der Zeuge rappelte sich stöhnend auf.

»Seht!«, sagte Pallas, und als wäre nichts passiert, trat er geschmeidig vor Beru.

Der Zeuge vollführte einen Sprung. Mit seiner neu gewonnenen, gestohlenen Gabe konnte er weiter und höher springen als ein normaler Mensch. Die Vorführung wirkte linkisch und irgendwie unbeholfen, aber er würde mit der Zeit lernen, seine Gabe zu beherrschen.

Beru begegnete Pallas’ eisigem Blick. Grauen erfasste sie. Auch wenn es ihr gelungen war, den Gott zu stoppen, ließ sich der Schaden nicht mehr rückgängig machen. Und Ephyra würde dafür bezahlen.

Am Abend kehrten sie zur Residenz des Archons in der Zitadelle zurück, wo Beru erneut der Halsring angelegt wurde. Sie hatte sich inzwischen an das leichte Brennen des Rings gewöhnt, und es war eine Erleichterung, nicht mehr die Emotionen des Gottes spüren zu müssen, die sich wie Sturmwolken über ihren Geist legten.

Beru setzte sich ans Feuer, während Lazaros sich am Fenster postierte. Der Zeuge folgte ihr wie ein Schatten – er wachte darüber, dass Beru den Gott in ihr unter Kontrolle behielt und sie selbst keinen Millimeter aus der Reihe tanzte. Denn sosehr Pallas es anscheinend genoss, Beru vor seinen Anhängern herumzukommandieren, legte er keinen Wert darauf, Zeit mit ihr allein zu verbringen. Er wusste nur allzu gut, wie sehr der Gott seinen Tod wünschte und danach strebte, frei zu sein.

Lazaros machte Beru nervös. Die Zeugen schlossen sich Pallas aus vielerlei Gründen an, aber Lazaros’ Hingabe übertraf alles. Als Beweis für seine Treue hatte er sich selbst seine Gabe herausgebrannt. Eine solche Ergebenheit entzog sich jeder Erklärung – und Beru war aufgefallen, dass Lazaros selbst einigen der anderen Zeugen nicht ganz geheuer war.

Auch nach zwei Monaten hatte sie sich noch immer nicht so richtig an seine wachsamen grauen Augen gewöhnt, an das Zickzackmuster der Narben auf seinem Gesicht, an seine zaghafte Art. Am meisten jedoch ging ihr auf die Nerven, wie ehrfurchtsvoll er sie anstarrte. Pallas benutzte sie als Werkzeug, aber Lazaros betete sie regelrecht an. Sie wusste nicht, was sie mehr verabscheute.

Draußen wurde es bereits dunkel, als es an der Tür klopfte. Lazaros ging auf leisen Sohlen hinüber und öffnete.

Flankiert von zwei Zeugen trat Ephyra in den Raum. Um ihre Handgelenke waren Gottesfeuer-Fesseln geschlungen, die anders als Berus Halsring niemals abgenommen wurden. Beru bemerkte einen frischen Striemen auf Ephyras Wange, und ihr steifer Gang ließ darauf schließen, dass es noch mehr Verletzungen gab, die Beru nicht sehen konnte.

Beru erhob sich von ihrem Platz, ging zu ihrer Schwester und umarmte sie.

»Danke, dass ihr sie hergebracht habt«, sagte Beru mit schneidender Stimme zu den Zeugen. »Ihr dürft euch jetzt entfernen.«

Sie zögerten, während Beru sie unverwandt ansah, und warfen über Berus Schulter einen Blick zu Lazaros. Erst auf sein Zeichen hin zogen sie sich zurück.

»Bringt uns das Abendessen«, rief Beru ihnen nach.

»Und Wein«, fügte Ephyra hinzu.

Sobald die Tür zugefallen war, zog Beru das Kinn ihrer Schwester zu sich heran, um den Striemen genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Mir fehlt nichts!«, fauchte Ephyra und schlug mit einem nervösen Seitenblick zu Lazaros Berus Hand weg.

»Es tut mir so leid«, sagte Beru betrübt. Mit der auf Ephyras Gesicht prangenden Wunde schien Pallas Beru daran erinnern zu wollen, dass es immer Ephyra sein würde, die für Berus Ungehorsam leiden musste.

Die Treffen mit Ephyra gehörten zu dem Deal, den Beru mit Pallas ausgehandelt hatte, aber Beru wusste, dass Pallas damit ein weiteres Druckmittel gegen sie in der Hand hatte. Er konnte Beru diese Gnade jederzeit wieder entziehen, wenn sie nicht tat, was er wollte.

»Muss es nicht«, entgegnete Ephyra mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. Sie zog etwas aus den Falten ihrer Jacke hervor. »Ich habe dir was mitgebracht.«

Lazaros war wie der Blitz bei ihnen. Ephyra verdrehte die Augen, ließ das Geschenk jedoch in Lazaros’ Handfläche fallen. Es war nur eine Muschel, gesammelt am Strand unterhalb der Residenz des Archon basileus.

Nachdem Lazaros sie eingehend begutachtet hatte, hielt er die Muschel Beru hin und presste sie in ihre geöffnete Hand. Seine Berührung fühlte sich immer kalt an, wie Gottesfeuer. Beru unterdrückte ein Schaudern und zog ihre Hand weg.

»Danke«, sagte sie zu Ephyra und trat ans Fenster, um die Muschel zu den anderen auf die Fensterbank zu legen. »Komm, setzen wir uns.«

Gemeinsam gingen sie zum Kamin und wärmten sich am Feuer die Hände. Nach den heißen Sommermonaten wurde es Herbst in Pallas Athos, Frost lag in der Luft.

Minuten später brachten Diener, die vor der Verhaftung des Archon basileus zu dessen Personal gehört hatten, das Abendessen – geschmortes Lamm mit Walnüssen und Granatäpfeln auf einem Bett aus Safranreis, und zum Hinunterspülen einen Krug Wein.

Beru und Ephyra, für die es normal gewesen war, von Resten zu leben und in Bruchbuden zu wohnen, hatten sich erst daran gewöhnen müssen, wie luxuriös hier alles war. Und auch die mitfühlenden, prüfenden Blicke, die Ephyra Beru beim Essen zuwarf, sowie Berus nagende Schuldgefühle, wenn sie versuchte, die Gesichter all jener Menschen zu verdrängen, die sie heute gefoltert hatte, waren neu.

Es waren achtzehn gewesen, mehr als sonst. Sie wollte gar nicht daran denken, was das bedeutete – nämlich dass Pallas’ Botschaft sich herumsprach, dass immer mehr Menschen sich seiner Sache anschlossen und loszogen, um Begnadete zu finden, zu fangen und zu verstümmeln.

»Es tut mir leid«, brach es auf einmal aus Beru hervor und sie legte ihre Gabel nieder.

Ephyra berührte den Striemen auf ihrer Wange. »Beru, ich habe dir doch gesagt –«

»Nicht das«, sagte Beru. »Zumindest nicht nur das. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt nachvollziehen kann, wie es für dich gewesen sein muss. All die Jahre Menschen umzubringen, nur um … Es tut mir leid.«

»Beru, das war nicht deine Schuld«, entgegnete Ephyra und sah sie eindringlich an.

»Ich habe dich ein Monster genannt«, sagte Beru, Tränen schnürten ihr die Kehle zu.

Ephyra wandte den Blick ab. »Vielleicht bin ich eines.«

»Und was bin dann ich?«, fragte Beru. »Diese Menschen heute im Tempel … Ich bin eine Heuchlerin. Ich habe dir wegen allem, was du für mich getan hast, Vorwürfe gemacht. Aber jetzt, wo ich in derselben Lage bin …«

Ephyra legte ihre Hand auf Berus und hielt sie ganz fest, in ihren dunklen Augen tobte ein Sturm. »Du könntest niemals ein Monster sein. Du bist meine kleine Schwester. Und wir werden …« Sie warf einen kurzen Blick zu Lazaros, und Beru verstand, was sie hatte sagen wollen.

Wir werden einen Ausweg finden.

»Alles wird gut«, sagte Ephyra. Mit einem matten Lächeln tätschelte sie Berus Hand.

Beru antwortete, indem sie Ephyras Hand einmal fest drückte, um ihrer Schwester klarzumachen, wie gefährlich ihre ungesagten Worte waren.

Es gab keinen Ausweg. Nicht für Beru. Denn mit jedem Tag, der verstrich, verschob sich das Kräfteverhältnis – nicht zu ihren Gunsten und auch nicht zu denen von Pallas, sondern zugunsten des Gottes. Sein Wille wurde stärker, und Beru wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, bis er vollends die Oberhand gewann.

Und das wäre ihrer aller Verderben.

Kapitel 2

HASSAN

Als Hassan die Tür des Dreibettzimmers in der Herberge Drei Palmen, in der er wohnte, aufstieß, waren seine Glieder vor Erschöpfung und Wut schwer wie Blei.

Durch das offene Fenster wehte die klebrig-salzige Seeluft herein. Hector lag ausgestreckt auf einer Matratze und hob eine Hand zum Gruß. In der anderen hielt er, wie Hassan auffiel, bereits einen Becher Wein.

»Ist Jude nicht da?«, fragte Hassan, kickte die Tür mit dem Fuß zu und schluckte den heißen Zorn hinunter, der in ihm aufstieg. Judes und Hectors Schicht am Hafen endete normalerweise zur selben Zeit, mehrere Stunden bevor Hassan im Frachtbüro Feierabend machen konnte. Doch Jude schien zu Hassans zunehmendem Verdruss ständig einfach zu verschwinden.

»Ich muss dir was sagen«, sagte Hector leise und setzte sich auf. Als er Hassans Miene und dessen sichtlich mürrische Stimmung bemerkte, fragte er stattdessen: »Was ist los? Hat wieder mal jemand Tinte auf dem Kassenbuch verschüttet?«

Hassan stieß den Atem aus und ließ sich auf das gegenüberliegende Bett fallen. »Heute waren sogar noch mehr Zeugen auf dem Marktplatz.«

»Ah«, sagte Hector wissend. »Lass mich raten – sie schieben jetzt die Schuld an der Zerstörung Behesdas den Begnadeten in die Schuhe? Erzählen jedem, dass Pallas der Gläubige zu ihrer aller Rettung gekommen ist?«

Nach der Zerstörung Behesdas waren Tausende aus der in Trümmern liegenden Stadt geflohen und nach Tel Amot geströmt. Manche hatten dort ein Schiff nach Charis, Pallas Athos oder sogar Endarrion bestiegen, die meisten jedoch waren wie Hassan, Hector und Jude in der Hafenstadt geblieben. Mit den Geflüchteten waren die Zeugen gekommen und hatten die Verzweiflung der Menschen ausgenutzt, um sie zu rekrutieren. Bei dem bloßen Gedanken daran stieg in Hassan eine neue Welle der Wut hoch, und er musste unwillkürlich an die Zeugen denken, die die geflüchteten Herati in der Agora von Pallas Athos terrorisiert hatten.

»Je früher der Archon basileus sich bei uns meldet, desto besser«, knurrte Hassan. »Dann können wir endlich nach Pallas Athos und etwas gegen die Zeugen unternehmen.«

Ihre Stellen am Hafen und im Frachtbüro hatten sie nicht nur angenommen, um sich in Tel Amot über Wasser zu halten, während sie über ihren nächsten Schritt nachdachten. Als Buchhalter im Frachtbüro hatte Hassan Zugang zu Informationen über Transporte von und nach Pallas Athos, und es war ihm gelungen, Nachrichten an den Archon zu schmuggeln, die er in Sonderlieferungen von Palmwein an dessen Anwesen in Pallas Athos versteckte. Es war ein Risiko gewesen, aber Hassan hatte instinktiv gespürt, dass sich der Archon basileus gegen die Übernahme von Pallas Athos durch den Hierophanten zur Wehr setzen und alles in seiner Macht Stehende tun würde, um ihn aufzuhalten.

Einen ganzen Monat lang hatten sie Nachrichten hin- und hergeschickt, ehe der Archon zur Hilfe bereit war und sie einen Plan ausarbeiten konnten, wie sie nach Pallas Athos kämen, ohne vom Hierophanten entdeckt zu werden. Und jetzt wartete Hassan nur noch auf das letzte Puzzleteil – ein vom Archon geschicktes Schiff, mit dem sie sicher in den Hafen von Pallas Athos gelangen würden.

Er wartete nun schon seit fast zwei Wochen und seine Geduld näherte sich dem Ende.

»Genau darüber wollte ich mit dir reden.« Hector räusperte sich. »Es ist etwas passiert.«

Hassan erfasste ein ungutes Gefühl.

»Heute ist ein Schiff aus Pallas Athos angekommen«, fuhr Hector fort. »Die Mannschaft hat erzählt, dass der Archon basileus von Pallas’ Männern verhaftet worden ist.«

Hassans Magen krampfte sich zusammen. »Was? Das kann doch nicht … Sag mir, dass das ein Witz ist.«

Doch Hectors ernste Miene bewies das Gegenteil.

Sechs Wochen Planung umsonst. Hassan verschlug es vor Wut den Atem. Der Archon war ihr einziger Verbündeter in Pallas Athos, und nun hatte der machthungrige Hierophant ihn ausgeschaltet. Hassan hätte wissen müssen, dass sich der Archon nicht mehr lange an der Macht halten würde. Sie hätten schneller sein müssen.

»Wir finden schon einen Weg«, meinte Hector matt.

»Wie denn?« Hassan explodierte förmlich. »Ohne den Archon kommen wir doch nicht mal aus dem Hafen! Der Hierophant lässt die Stadt strengstens überwachen.«

Sie würden noch einmal ganz von vorn anfangen müssen, diesmal ohne Unterstützung aus Pallas Athos.

»Keine Ahnung!« Hector war seine Verärgerung anzuhören. »Aber irgendjemanden muss es doch geben, der uns helfen kann.«

Mit auf einmal wieder leiser, zögernder Stimme sagte Hassan: »Also, eine Möglichkeit wäre da noch.«

Hector hievte sich ächzend vom Bett hoch und kratzte sich den zotteligen Bart, den er sich hatte wachsen lassen. Nach sechs Wochen Schufterei als Hafenarbeiter hatte er Muskeln zugelegt, aber jetzt schien er in sich zusammenzuschrumpfen. »Bitte fang nicht schon wieder davon an. Dafür habe ich noch nicht genug getrunken.«

»Wir brauchen Verbündete«, stellte Hassan lapidar fest. »Und der Orden des Letzten Lichts ist trotz deiner Probleme mit ihm –«

»Sie sind nicht unsere Verbündeten«, stieß Hector erregt hervor. »Ehrlich, Hassan. Du hast vorgegeben, der Prophet zu sein, Jude ist mit dem echten Propheten verschwunden und ich habe meinen Eid gebrochen. Auf der Liste der Leute, mit denen sie sich verbünden wollen, stehen wir ziemlich weit unten.«

»Aber nicht weiter unten als der Hierophant«, wandte Hassan hartnäckig ein. »Wir sollten wenigstens versuchen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wir haben keine andere Option mehr.«

»Was ist mit den Leuten von der Verlorenen Rose?«, fragte Hector. »Noch immer keine Antwort?«

Hassan schüttelte den Kopf.

»Ihr Plan, die Reliquien zu schützen, ist auf ganzer Linie gescheitert, ihr schlimmster Albtraum ist wahr geworden, und was machen sie? Inselhopping?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Hassan. Von der Existenz der Verlorenen Rose hatte er überhaupt nur erfahren, weil er in der Großen Bibliothek von Nasira eine einst von seinem Vater versteckte Schriftrolle gefunden hatte. Es handelte sich um einen Pakt, der besagte, dass die Wächter der Verlorenen Rose die Vier Heiligen Reliquien beschützten, aus denen die Gaben hervorgegangen waren.

Vielleicht war die Vorstellung, dass dieser geheime Wächterbund ihnen zu Hilfe kommen könnte, nur Wunschdenken von ihm. Vielleicht flößte ihm auch die Tatsache, dass sein Vater irgendwie mit diesen Leuten in Verbindung gestanden hatte, Hoffnung ein. Und Jude hatte ihm erzählt, dass er die Vorsteherin der Verlorenen Rose in Endarrion kennengelernt hatte. Dass sie ihm die Reliquie des Herzens zurückgegeben und ihnen dabei geholfen hatte, die Reliquie des Sehens aufzuspüren. Für Hassan war dies wie ein Zeichen gewesen, dass die Verlorene Rose irgendwo da draußen war und sie leitete. Auch wenn er sich bei solchen Gedanken dumm und kindisch vorkam.

Niemand würde einfach so alles für sie regeln.

»Vielleicht …« Hassan brach ab und blickte zu Hector. Er war sich nicht sicher, ob er den Satz fortsetzen sollte, tat es aber trotzdem. »Vielleicht sollte ich zurück nach Nasira gehen.«

Hector riss die Augen auf.

Hassan hatte eine Entscheidung getroffen – vor zwei Monaten, als sie die Scherben aufgesammelt und sich aus den Trümmern von Behesda gemeinsam eine Art Plan zurechtgezimmert hatten. Hassan hätte zurück nach Nasira gehen, zusammen mit Khepri, Zareen und den anderen gegen Lethia kämpfen können, deren Position durch die Abreise des Hierophanten aus Nasira geschwächt war.

Er hatte es nicht getan. Er war bei Jude und Hector geblieben, um den Hierophanten – Pallas – aufzuhalten. Um ihnen dabei zu helfen, Beru zu retten, das Mädchen mit der Macht eines Gottes in sich. Damals hatte er es für die richtige Entscheidung gehalten – die Welt zu retten, um sein Volk zu retten.

Jetzt war er sich nicht mehr so sicher.

Knarrend öffnete sich die Tür, und Jude kam mit gesenktem Kopf herein, der ganze Körper zusammengesunken vor Erschöpfung. Eine angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus, eine Stille, die jedes Mal, wenn sie sich zu dritt in einem Raum aufhielten, drückender zu werden schien.

»Unten gibt es was zu essen«, sagte Jude stumpf, während er seine abgetragene Jacke auszog.

»Hab schon gegessen«, antwortete Hector.

Hassan sagte nichts, sondern beobachtete nur, wie Jude den Raum durchquerte, ihren gemeinsamen Kleiderschrank aufriss und mit knappen, steifen Bewegungen seine Jacke aufhängte.

»Der Archon basileus ist festgenommen worden«, sagte Hassan in Richtung von Judes verkrampften Schultern.

Jude drehte sich nicht um. »Ich weiß. Ich war bei Hector, als wir davon gehört haben.«

»Und was bitte hat dich davon abgehalten, hierherzukommen und mir zu sagen, dass unser gesamter Plan ruiniert ist?«, fragte Hassan und stand auf.

»Ich war unterwegs«, gab Jude kurz angebunden zurück. »Was ist schon dabei?«

»So einiges. Wir sitzen jetzt schon geschlagene sechs Wochen in Tel Amot und überlegen, wie wir den Hierophanten aufhalten können, und du hast kaum einen Finger gerührt, um uns dabei zu unterstützen. Ich habe mir den Plan ausgedacht. Ich habe mit dem Archon basileus Kontakt aufgenommen. Die Hälfte der Zeit weiß ich nicht einmal, wo du bist! Willst du überhaupt nach Pallas Athos zurück?«

Endlich wirbelte Jude zu ihm herum. »Willst du denn? Oder willst du lieber so schnell wie möglich zurück nach Nasira?«

Er hatte es also gehört. Das überraschte Hassan nicht – er war inzwischen daran gewöhnt, mit zwei Menschen zusammenzuwohnen, die übernatürlich gut hören konnten.

»Ich will nach Pallas Athos«, erwiderte Hassan hitzig. »Ich will den Hierophanten aufhalten. Ich will dieses Mädchen vor ihm retten und den Gott stoppen, wie wir es geplant haben.«

Jude starrte ihn stumm an. Hassans Frage hatte er nicht beantwortet.

Hassan holte tief Luft, um sich zu fassen. »Wir stecken da gemeinsam drin, aber manchmal kommt es mir vor, als wärst du ganz woanders.«

Sofort wurde Judes Gesicht von einem unsagbar schrecklichen Schmerz überschattet, den Hassan bereits in der ersten Woche in Behesda gesehen hatte, als sie die Trümmer nach einem Lebenszeichen von dem Propheten, Anton, abgesucht hatten. Vergeblich. Auf dem Rückweg nach Tel Amot schien Jude seinen Schmerz weggesperrt und irgendwo ganz fest in sich verschlossen zu haben, so als könnte er ihm dadurch die Luft abdrücken und ihn ersticken. Aber Hassan sah, dass es umgekehrt war – der Schmerz erstickte ihn.

Er wusste, dass Jude kaum schlief, erst in den frühen Morgenstunden ins Bett ging und sich mit der Schufterei im Hafen verausgabte, bis er vor Erschöpfung umfiel. Er trainierte geradezu zwanghaft mit Hector, absolvierte Übungskämpfe und Koahs mit einem Eifer, der an Besessenheit grenzte. Und manchmal machte er urplötzlich scheinbar grundlos dicht – wie neulich, als Hassan vorgeschlagen hatte, unten in den Drei Palmen am Kartentisch ein bisschen Dampf abzulassen. Da war Jude ohne ein Wort aus dem Zimmer gestürmt und erst am folgenden Morgen zurückgekehrt.

Und vor etwa einem Monat war es zu einem Vorfall gekommen, bei dem Jude in eine regelrechte Straßenschlägerei verwickelt wurde. Er gegen ein halbes Dutzend Zeugen. Sie kamen nicht gegen ihn an. Einen hätte er beinahe umgebracht. Hassan und Hector mussten gemeinsam ihre ganze Kraft aufbringen, um ihn wegzuziehen.

Hassan kannte diese Art von Zorn nur allzu gut. Ebenso wie Hector. Sie alle wussten, was es wirklich war – Trauer. Eine Trauer, die einen zerreißen konnte, wenn man es zuließ.

»Er ist tot, Jude«, sagte Hassan bestimmt. »Und der beste Weg, damit fertigzuwerden, ist weiterzumachen. Zu beenden, was du mit ihm angefangen hast. Dem Hierophanten Einhalt zu gebieten.«

»Er ist nicht …« Jude verstummte und blickte mit mahlendem Kiefer Richtung Fenster. »Wenn du aufgeben willst, dann tu’s. Geh zurück nach Nasira. Ich halte dich nicht davon ab.«

Bevor Hassan antworten konnte, marschierte Jude schon aus dem Zimmer.

Ein Schwall salziger Luft, der durch das Fenster hereinwehte, ließ Hassan frösteln, als er sich auf das Bett sinken ließ.

»Du gehst doch nicht wirklich zurück nach Nasira, oder?«, fragte Hector in die lange Stille hinein, die auf Judes Abgang folgte. »Was ist mit dem Hierophanten? Was ist mit Beru?«

Hassan hob den Kopf, um Hector anzusehen. Als Hector eines Abends zu tief ins Glas geschaut hatte, hatte er Hassan anvertraut, was ihm das Mädchen bedeutete. Diese Enthüllung hatte bei Hassan einen wunden Punkt berührt, denn dadurch hatte er an Khepri denken müssen und daran, was er in Nasira zurückgelassen hatte. Trotz der Lügen und des zerstörten Vertrauens zwischen ihnen vermisste er sie so sehr, dass es ihm manchmal schier die Luft abdrückte.

»Unser Plan ist gescheitert«, sagte Hassan. »Wir haben keine Verbündeten mehr und ich kann nicht untätig hier herumsitzen, Hector. Nicht noch einmal.«

Das hätte ihn zu sehr an die ersten Wochen in Pallas Athos erinnert, nachdem der Hierophant Nasira eingenommen hatte. Als Hassan in Lethias Villa gesessen und gewartet hatte, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwelche Informationen zu erhalten, sich auf irgendeine Art nützlich machen zu können.

»Warte einfach … noch ein paar Tage. Eine Woche.«

Hectors sanfter, beschwörender Ton nahm ihm den Wind aus den Segeln. Er schluckte die Einwände, die ihm auf der Zunge lagen, hinunter. Vielleicht hatte er ja doch noch nicht jeden Stein umgedreht.

»Ich werde mit Jude reden«, versprach Hector. »Wir finden eine Lösung. Einen Schmuggler, der uns mitnimmt, oder … oder wir könnten als blinde Passagiere –«

»Eine Woche«, willigte Hassan ein. Mit einer festen Frist fühlte er sich besser, so als hätte er die Dinge unter Kontrolle. Die eine Woche konnte er Hector gewähren. Das war er ihm schuldig für die Rolle, die er dabei gespielt hatte, als der Gott auf die Welt losgelassen wurde. Sie alle hatten ihren Teil dazu beigetragen, dass der Gott dem Hierophanten in die Hände fiel. »Aber so oder so, nach dieser Woche werde ich Tel Amot verlassen.«

Kapitel 3

EPHYRA

Was auch immer Beru getan – oder nicht getan – hatte, diesmal musste es etwas Schlimmes gewesen sein.

Das war Ephyras erster Gedanke, als die Zeugen sie am nächsten Tag schon wieder aus ihrer Kammer zerrten. Normalerweise bestraften sie sie gleich hier, aber vielleicht reichte es ihnen diesmal nicht, Beru als Beweis nur die Blutergüsse zu zeigen. Vielleicht sollte Beru diesmal zusehen.

Ephyra versuchte, nicht daran zu denken, als sie durch die ihr unvertraute Residenz des Archon basileus von Pallas Athos geführt wurde. Die riesige, weitläufige Villa, die hoch über dem Meer auf einer Klippe thronte, erinnerte fast an ein Schloss. Doch für Ephyra war sie ein Gefängnis. Sie durfte sich nur in ihrer Schlafkammer aufhalten, in dem daran angrenzenden, zum Meer hin gelegenen Hof, und natürlich in Berus Zimmer, in dem sie täglich gemeinsam zu Abend aßen. Jetzt aber brachten die Zeugen sie an einen Ort in der Residenz, an dem sie noch nie gewesen war.

Sie erreichten eine gewaltige zweiflüglige Tür, die nach ihrem Öffnen den Blick auf einen luxuriös in Gold und Weiß gehaltenen Raum freigab. Ephyra sah einen marmornen Schreibtisch vor einer Regalreihe voller Bücher, Schmucktafeln und Vasen. Es schien sich um eine Art Büro zu handeln – vielleicht hatte der Archon basileus hier seine Amtsgeschäfte geführt, bevor der Hierophant ihn in Ketten gelegt hatte.

Weiter hinten im Raum, vor einem Fenster, durch das helles Sonnenlicht flutete, erwartete sie der Hierophant höchstpersönlich. Wie er so dastand in seiner blendend weißen Robe, von einem goldenen Strahlenkranz umgeben, konnte Ephyra fast verstehen, warum die Priester von Pallas Athos ihn so verehrten.

Als die Zeugen Ephyra in den Raum schoben, merkte sie, dass Pallas nicht die einzige anwesende Person war. Illya Aliyev lehnte am Schreibtisch, die Arme vor der Brust verschränkt, und schaffte es, zugleich elegant und lässig zu wirken.

Ephyra hätte ihn am liebsten umgebracht.

Mit unergründlicher Miene musterte er sie kurz. Sein Blick blieb an den dünnen Ketten um ihre Handgelenke hängen. Schnell sah Ephyra weg, bevor sich ihre Augen begegnen konnten.

In den vergangenen zwei Monaten hatte sie ihn nur einige Male von Weitem gesehen – auf der anderen Seite eines Hofes oder am Ende eines Gangs. Genug um zu wissen, dass er sich mit seiner üblichen Mischung aus Charme, mangelndem Moralempfinden und der Bereitschaft, auch die widerwärtigsten Dinge zu tun, wenn sie von ihm verlangt wurden, erneut das Vertrauen des Hierophanten erschlichen hatte. Aber nun standen sie sich zum ersten Mal seit jenem Tag in Behesda wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Der andere Lieblingslakai des Hierophanten mit den Gottesfeuer-Narben war nirgends zu sehen, also war Beru nicht hier.

»Bitte«, sagte Pallas mit sanfter Stimme zu Ephyra. »Nimm doch Platz.«

Als wäre Ephyra freiwillig zu diesem Treffen gekommen. Als wäre sie hier ein Gast und keine Gefangene.

»Ich stehe lieber«, entgegnete sie und blieb, wo sie war.

»Du bist sicher neugierig, warum ich dich habe rufen lassen.«

Und ob sie das war. Seit ihrer Ankunft in Pallas Athos hatte sie den Hierophanten kaum zu Gesicht bekommen. Er schien sich damit zu begnügen, sie in ihrer Kammer einzusperren, und ließ sie nur holen, wenn er sie als Druckmittel gegen Beru brauchte.

Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass es hier um etwas anderes ging. Sie wusste nur nicht, worum, und das machte sie nervöser als die Aussicht, ein weiteres Mal verprügelt zu werden.

»Illya hat mir erzählt, dass du nicht zum ersten Mal in meiner Stadt bist«, fuhr der Hierophant fort. »Du hast hier vor nicht allzu langer Zeit einen Priester getötet, nicht wahr?«

Vor nicht allzu langer Zeit. Wie viele Monate war das her, vier, fünf? Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.

»Du warst berüchtigt. Nicht nur in dieser Stadt. Die Blasse Hand. Mörderin der Frevler.«

Ephyra musterte ihn, um herauszufinden, worauf er hinauswollte. Auf ein Geständnis?

»Was wollt Ihr?«, fragte sie gereizt.

Den Hierophanten schien Ephyras Reaktion nicht zu verärgern. Dennoch antwortete er nicht sofort, sondern strafte sie mit einem sich in die Länge ziehenden Schweigen, um Ephyra auf die Folter zu spannen.

»Ich möchte«, sagte er dann langsam, »dass du deine Arbeit hier fortsetzt.«

»Meine Arbeit?«

»Der Archon basileus befindet sich gegenwärtig in der Zitadelle und wartet auf seinen Tod«, sagte der Hierophant. »Ich möchte, dass du ihn von seinem Warten erlöst.«

Ephyra verschlug es vor Überraschung die Sprache. Sie sollte den Archon für ihn umbringen?

»Warum ich?«, fragte sie schließlich. »Ihr habt doch einen Gott in Eurer Gewalt.«

Darauf erwiderte der Hierophant nichts, zuckte mit keiner Wimper. Seine Miene blieb unergründlich und gelassen, verriet nicht das Geringste.

Aber Ephyra kannte die Antwort. Sie kannte sie, weil sie Berus Schwester war. Denn auch wenn Pallas noch so viel Macht über Beru besaß, gab es doch ein paar Dinge, zu denen er sie auch mit Drohungen nicht bringen konnte. Nicht einmal, um Ephyra zu schützen.

»Ich hatte den Eindruck, dass du für diese Rolle am besten geeignet wärst«, antwortete der Hierophant schließlich.

Er wollte ablenken, aber er hatte ja recht, in mehr als einer Hinsicht. Er hatte auf ihren Ruf verwiesen, auf die berühmte Blasse Hand und die Angst, die sie verbreitete, besonders in dieser Stadt, in der sie nicht nur einen Durchschnittsbetrüger oder ganz normalen Unhold getötet hatte, sondern einen eigentlich unantastbaren Priester. Und nun hatte Pallas sie in der Hand, genauso wie Beru. Ephyra war für ihn eine bisher unangezapfte Quelle der Macht – und dabei ging es ihm nicht nur um ihre Gabe, sondern auch darum, der Welt zu zeigen, dass er jemanden wie sie unter seine Kontrolle gebracht hatte, womit er seine Macht demonstrieren konnte.

»Vielleicht brauchst du ein bisschen Zeit zum Nachdenken«, schlug der Hierophant vor. »Das kannst du wohl am besten heute Abend allein in deinem Zimmer.«

Jetzt erkannte sie, was er im Schilde führte. Er würde sie so lange von Beru fernhalten, bis sie einwilligte. Jede der Schwestern war ein perfektes Pfand, das er gegen die andere einsetzen konnte.

Ephyra hatte noch nie einen Sinn für Taktik gehabt, aber selbst sie wusste, dass sie hoffnungslos unterlegen waren.

»Oder vielleicht … Illya«, sagte der Hierophant, ohne seinen irritierenden Blick von Ephyra abzuwenden. »Du hast doch eine ganze Weile mit unserer Mörderin verbracht, nicht wahr?«

Bisher war es Ephyra erfolgreich gelungen, so zu tun, als wäre Illya gar nicht da, doch jetzt schoss ihr Blick unwillkürlich zu ihm. Er trommelte gelangweilt mit den Fingern auf den Schreibtisch, als hätte er Besseres zu tun.

Ephyra spürte instinktiv, woher Pallas so viel über sie und Beru wusste, dass er sie perfekt gegeneinander ausspielen konnte. Das ganze Arrangement trug Illyas Handschrift. Das war seine Vorgehensweise – manipulieren, jede Schwäche, die er finden konnte, ausnutzen, bis er die Menschen dort hatte, wo er sie haben wollte. Und selbst wenn man es kommen sah, fiel man darauf herein.

»Ja, Unbefleckter«, gab Illya zurück, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Eine ganze Weile.«

Sie hatte sich von Zeit zu Zeit gefragt, was Illya dem Hierophanten über sie erzählt hatte, über sie und ihn. Sein Lächeln, das Funkeln in seinen Augen und sein anzüglicher Ton genügten ihr als Antwort. Ihre Wangen röteten sich vor Wut.

»Du bist erbärmlich«, sagte sie zu Illya. »Der ganze Unsinn, den du mir in Behesda erzählt hast, dass du alles wiedergutmachen, deine Fehler aus der Welt schaffen willst – und sobald sich das Blatt wendet, kriechst du wie ein braves Schoßhündchen zurück zum Hierophanten.«

Illya lächelte nur unbekümmert weiter.

Wie gern hätte Ephyra ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht geschlagen. Ihm wehgetan, nur um zu wissen, dass sie es noch konnte. Um ihren nächsten Worten mehr Ausdruck zu verleihen, machte sie einen Schritt nach vorn, ohne auf den bohrenden Blick des Hierophanten zu achten. »Dafür wirst du bezahlen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, dafür wirst du bezahlen.«

Illya sah an ihr vorbei zum Hierophanten. »Seht Ihr? Ich habe Euch ja gesagt, es braucht mehr als ein paar Blutergüsse, um sie zu brechen.«

Ephyra musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um sich nicht quer durch den Raum auf ihn zu stürzen und ihn zu erwürgen. Ohne die Gottesfeuer-Handfesseln hätte sie es getan. So aber blieb ihr nichts, als ihn wutentbrannt anzustarren.

»All diese Macht«, sinnierte der Hierophant, Ephyra von Kopf bis Fuß musternd. Gegen ihren Willen zitterte sie. »Was könnte diese Macht in den Händen eines anderen bewirken. Den richtigen Händen. Vielleicht …« Er sah zurück zu Illya. »Deinen?«

Ephyra wurde von Grauen erfasst. Sie wusste, wozu der Hierophant Beru zwang: Sie musste seinen Gegnern die Gabe entziehen und sie auf die Zeugen übertragen. War es das, was Illya wollte? Dass man ihm Ephyras Gabe einpflanzte? Immerhin hatte er sich dadurch überhaupt erst zu ihr hingezogen gefühlt: weil sie diese Macht besaß.

»Die Toten zum Leben erwecken zu können«, sagte der Hierophant. »Mit einer bloßen Berührung zu töten. Zu leben – wenn auch nicht ewig, so doch sehr, sehr lange. Du würdest sehr viel besseren Gebrauch von dieser Gabe machen als sie, nicht wahr?«

»Ja.« Illya stolzierte mit einem lüsternen Funkeln in seinen Augen auf Ephyra zu. »Vor allem würde ich lernen, diese Gabe zu kontrollieren. Was ihr nie gelungen ist.«

»Oft können diejenigen, denen diese Gaben verliehen werden, gar nicht richtig damit umgehen«, stimmte der Hierophant ihm zu.

Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, unterdrückte den Instinkt, sofort anzugreifen, selbst als Illya sie am Handgelenk packte. Ihre Haut brannte unter seiner Berührung.

»Die Blasse Hand ist nur ein Beispiel von vielen, dass jene, die Macht zu haben scheinen, in Wirklichkeit innerlich schwach sind«, sagte Illya. »Eine Mörderin, die Tote zum Leben erwecken, einen Gott zurückholen kann, aber nicht einmal weiß, wie man heilt.«

Ihre Augen begegneten sich, als er mit unveränderter Miene den Daumen unter die schmale Gottesfeuer-Fessel an ihrem Handgelenk schob und kaum eine Sekunde lang auf ihren Puls drückte.

»Sie hat es nie gelernt. Was für eine Ironie!« Er ließ ihr Handgelenk fallen und drehte sich wieder zum Hierophanten um.

Ephyra hielt die Luft an.

»Jammerschade«, sagte der Hierophant beinahe amüsiert. »Aber wir haben wohl alle unsere Schwächen.«

Seine strahlenden Augen verweilten noch kurz auf Illya, und als er zurück zu Ephyra blickte, beeilte sie sich, so etwas wie Angst oder Wut auf ihrem Gesicht erkennen zu lassen anstatt der heillosen Verwirrung, die sie ergriffen hatte. Ihr Puls, den Illya berührt hatte, raste.

Denn wieder einmal hatte sie ihn unterschätzt. Wieder einmal hatte er sie ausgetrickst, hatte ihr Sand in die Augen gestreut und ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie oft hatte er sie belogen, seitdem sie sich hier in Pallas Athos zum ersten Mal begegnet waren? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Er war ein Lügner, das zumindest hatte sie immer gewusst.

Und soeben hatte er den Hierophanten angelogen.

Kapitel 4

JUDE

Mit erwartungsvoll klopfendem Herzen schlüpfte Jude in das Lasterhaus und wappnete sich gegen den süßlichen Duft von Rauch und Parfüm. Das Vorderzimmer war bevölkert von Liebesdienerinnen, die durchsichtige Kleider trugen und sich auf Sitzkissen und niedrigen, um Tische arrangierte Liegen rekelten. Direkt am Eingang hielt eine Kurtisane Hof, umringt von einem Grüppchen gut gekleideter Männer, die laut lachten. Hinter ihnen zupfte ein Junge auf einem Saiteninstrument, das Jude noch nie gesehen hatte, eine schwungvolle Melodie.

Ein Mädchen mit einem Serviertablett trat zu Jude. »Ist etwas für dich dabei?«

»Ich will zu Zinnia«, entgegnete Jude.

Das Mädchen kniff die Augen zusammen und ihr zuckersüßes Lächeln verschwand. »Sie nimmt keine Laufkundschaft. Nur mit Termin.«

»Ich habe einen Termin.«

Das Mädchen wirkte nicht überzeugt, sagte jedoch nur: »Setz dich.«

Sie übergab das Tablett einer anderen Bedienung und verschwand hinter einem Vorhang.

Jude nahm steif auf einem freien Sitzkissen Platz.

»Hallo«, raunte eine Stimme links von ihm.

Als er sich in die Richtung drehte, lächelte ihn ein Junge an, der lässig neben ihm fläzte. Er schien ein wenig jünger als Jude zu sein, hatte blonde Haare und haselnussbraune Augen, und in einem Ohr glitzerte eine Perle.

»Wartest du auf etwas?«, fragte der Junge und kam Jude immer näher, dem lieblicher Jasminduft in die Nase stieg. »Ich kann dir solange die Zeit vertreiben, wenn du möchtest.«

Das Funkeln in den Augen des Jungen und die kokett hochgezogenen Mundwinkel deuteten auf einen ganz bestimmten Zeitvertreib hin.

»Nein!«, platzte Jude heraus und wich zurück. »Ich meine, das passt schon, danke. Alles bestens.«

Der Junge zuckte mit der entblößten Schulter, seine Haut schimmerte golden im dämmrigen Licht. »Wie du willst.«

Diese Geste erinnerte Jude so stark an Anton, dass es ihm den Atem verschlug.

»Hier treibst du dich also die ganze Zeit herum«, sagte in diesem Moment eine vertraute Stimme in ungläubigem Ton.

Jude sprang auf, als Hector durch die Eingangstür trat.

»Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet.« Argwöhnisch ließ Hector den Blick durch den Raum schweifen. Ein Mädchen, das sich auf dem Fensterbrett rekelte, musterte Hector interessiert.

Jude mahlte mit dem Kiefer. »Was willst du denn hier? Bist du mir gefolgt?«

»Ich habe mir Sorgen gemacht«, entgegnete Hector, während er mit großen Schritten auf ihn zutrat. »Und ich muss sagen, wenn ich mich hier so umsehe, wohl zu Recht.«

Jude errötete. »Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.«

Einige Herumstehende, die gerade nichts zu tun hatten, starrten sie ziemlich unverhohlen an und amüsierten sich sichtlich über das vermeintliche Drama.

Hector schien zu merken, welche Aufmerksamkeit sie auf sich zogen, und senkte die Stimme, als er vor Jude stand. »Ich verurteile dich doch gar nicht. Ich verstehe das. Irgendwie. Wenn man trauert, macht man manchmal Sachen, die man sonst niemals –«

»Es ist wirklich nicht so, wie du denkst«, schnitt Jude ihm das Wort ab, weil er verhindern wollte, dass Hector diesen Gedanken zu Ende führte. »Aber ich erkläre es dir später, in Ordnung?«

»Ihr seid also zu zweit?«

Ein Mädchen war hinter dem Vorhang hervorgekommen, lehnte mit vorgeschobener Hüfte am Türrahmen und musterte Hector und Jude. Mit ihrer blassblauen Tunika und der unscheinbaren grauen Hose war sie sehr viel schlichter gekleidet als die anderen. Jude bemerkte, dass Hectors Wangen sich rot färbten, was ganz untypisch für ihn war.

Am liebsten wäre Jude im Boden versunken. Auf einmal erschien ihm der Gedanke, dass Hector den wahren Grund für seinen Besuch hier erfuhr, gar nicht mehr so schlecht.

»Um Kerics willen«, murmelte Jude und rieb sich die Schläfe, während er sich zu einer Entscheidung durchrang. »Dann komm mit.«

»Wie bitte?« Hectors Stimme war auf einmal ganz hoch und gepresst. »Jude, ich glaube nicht …«

»Komm einfach mit. Du willst wissen, was ich hier zu suchen habe? Ich zeige es dir.«

Hector wirkte immer noch zutiefst argwöhnisch, aber Jude polterte an ihm vorbei und nickte dem Mädchen zu, das sich daraufhin umdrehte und ihn durch den Satinvorhang führte. Einen Augenblick später hörte Jude einen leisen Fluch, gefolgt von Hectors eiligen Schritten hinter ihm.

Sie durchquerten einen Korridor mit zahlreichen Torbögen, zum Teil mit einem Vorhang davor, zum Teil mit freiem Blick auf privatere Versionen des Vorderzimmers, in denen sich mehr oder weniger leicht bekleidete Leute aufhielten. Es gab auch geschlossene Türen, hinter denen Geräusche hervordrangen, die Jude unwillkürlich erröten ließen. Auf ihrem Weg begegneten ihnen ein paar Angestellte, die das Mädchen – Zinnia – fröhlich begrüßten.

»Warum arbeitest du hier?«, fragte Jude, als sie in einen anderen Korridor einbogen.

»Ich mag das Ambiente«, gab sie schnippisch zurück. »Warum? Verletzt es etwa dein Zartgefühl?«

»Nein«, sagte er, doch sein roter Kopf verriet ihn.

»Worauf stehst du denn? Auf Jungs, die so niedlich rot werden wie du? Mädchen, die dir zeigen, wo’s langgeht?« Sie blickte nach hinten zu Hector. »Große, breitschultrige Männer mit dunklen Augen?«

Hector hüstelte verlegen.

»Du weißt, dass ich nicht deswegen hier bin«, sagte Jude finster.

»Schade eigentlich«, entgegnete Zinnia. »Du siehst aus, als müsstest du lernen, dich zu entspannen.«

Jude würdigte Zinnia keiner Antwort, sondern folgte ihr zähneknirschend, als sie eine Tür am Ende des Korridors aufstieß, die zu einem weiteren Salon führte, möbliert mit einem niedrigen Sofa und einem Tisch, auf dem ein Silbertablett mit Kristallgläsern und einer Karaffe mit dunklem Rotwein standen. Das Mädchen schlenderte zum Tisch und bedeutete ihnen mit einer Geste, auf dem Sofa Platz zu nehmen, während sie ein Glas Wein einschenkte. Jude setzte sich, Hector hingegen blieb an der Tür stehen.

»Also«, sagte Zinnia und reichte ihm das Weinglas. »Jude Weatherbourne. Was kann ich für dich tun?«

Jude lehnte den angebotenen Wein ab. »Ich … Moment mal, du weißt, wer ich bin?«

Sie zuckte die Schultern und nahm einen Schluck Wein. »Ich bin gut in meinem Job. Deshalb bist du doch hier, oder?«

Er nickte langsam.

»Ich weiß auch, dass du in den letzten Monaten schon sechs Kopfgeldjäger angeheuert hast«, fuhr sie fort. »Sie haben dir alle dasselbe gesagt. Warum also glaubst du, dass ich dir eine andere Antwort liefern kann?«

»Es heißt, Frau Tappans Orakeldienst sei der beste«, gab Jude zurück.

»Du willst also den fünffachen Preis bezahlen, um genau dieselbe Antwort zu bekommen?«

»Augenblick mal«, schaltete sich Hector ein und gesellte sich endlich zu ihnen. »Kopfgeldjäger? Wir besuchen in einem Lasterhaus eine Kopfgeldjägerin?«

Jude achtete nicht auf ihn. »Ich möchte dich dafür engagieren, das zu erledigen, was die anderen sechs nicht geschafft haben.«

Zinnia kaute auf ihrer Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Die Person, nach der du suchst, ist tot.«

Jude tastete nach dem Tuch um seinen Hals, das ihm bis auf die Brust reichte. Er dachte daran, wie er es in den Trümmern der Gruft der Geopferten Königin gefunden hatte. Wie es ihm zwischen den roten Felsbrocken blau entgegengeleuchtet und sein Herz sich zusammengekrampft hatte, als er es herauszog. Wie er gegraben und gegraben hatte, um einen weiteren Hinweis auf Anton zu finden. Aber er hatte nur das hier zutage gefördert – ein Stück Stoff, das er an seinem Herzen tragen konnte. Sonst nichts.

Er spürte Hectors Blick auf sich. Das war der Grund, warum er Hector nichts erzählt hatte, er konnte das Mitleid in seinen Augen nicht ertragen. Hector hielt Jude für einen Narren, weil er sich so an seine Hoffnung klammerte, aber Jude wollte lieber ein Narr sein, als Anton aufzugeben.

»Er ist nicht tot«, sagte er ruhig.

»Jude«, beschwor Hector ihn mit sanfter Stimme, doch Jude weigerte sich immer noch, ihn anzusehen. »Wir haben in Behesda nach ihm gesucht. Wochenlang.«

»Er lebt«, sagte Jude scharf. »Ich weiß es.«

Er konnte nicht erklären, warum er sich dessen so sicher war. Obwohl die Welt um sie herum eingestürzt war, hatte Anton irgendwie überlebt. Das wusste Jude einfach. Denn wenn er nicht mehr auf dieser Welt gewesen wäre, wenn sein Körper wieder zu Erde geworden und sein Esha in die Luft aufgestiegen wäre, hätte Jude es gespürt. Ebenso wie er es gespürt hatte, als Anton vor vielen Jahren geboren worden war.

Anton war der Prophet. Er konnte nicht tot sein, denn das würde bedeuten, dass es keine Hoffnung mehr gab.

»Du solltest auf deinen Freund hören«, sagte Zinnia nun in sanfterem Ton. »Wenn sechs Seher jemanden zu finden versuchen und kein einziger erfolgreich ist, kann es nur eins bedeuten.«

»Dann lehnst du den Auftrag also ab?«, fragte Jude brüsk, stand auf und ging Richtung Tür. »Komm, Hector. Wir sind hier fertig.«

»Eine Sekunde noch«, sagte Zinnia leicht belustigt. An Hector gewandt fragte sie: »Ist er immer so ruppig?«

Hector lachte laut auf. »In letzter Zeit schon.«

Jude wirbelte mit finsterer Miene zu ihnen herum.

»Vielleicht habe ich etwas anderes für euch beide«, sagte Zinnia. »Wie es der Zufall will, habe ich euch nämlich erwartet.«

»Was?«, fragte Jude. Sein Herz pochte wild, als er einen alarmierten Blick mit Hector wechselte. Das ist eine Falle. Die Zeugen, Pallas – sie sind hier. »Was meinst du damit?«

Hector griff nach dem Heft seines Schwerts, während Jude den gesamten Körper anspannte wie eine Bogensehne, bereit, bei der kleinsten Provokation zu kämpfen oder zu fliehen.

»Frau Tappan hat euren Besuch angekündigt«, sagte Zinnia und wedelte dabei mit der Hand, vollkommen unbeeindruckt von ihrer sichtlichen Beunruhigung. »Sie lässt Grüße ausrichten.«

»Ich bin ihr nie begegnet«, sagte Jude entschieden.

»Doch«, widersprach Zinnia aus tiefster Überzeugung. »Sie hat dir ihre Barke geliehen.«

Judes Anspannung wich schierer Verblüffung. »Lady Bellrose?«

Zinnia lächelte. »Eins ihrer vielen Pseudonyme.«

»Wer?«, fragte Hector zwischen den beiden hin und her blickend.

»Sie ist eine Sammlerin«, erklärte Jude. »Oder hat sich zumindest als eine ausgegeben.« Anton hatte sie als Kopfgeldjägerin bezeichnet. Und sie selbst hatte sich als Vorsteherin des Bundes der Verlorenen Rose vorgestellt. Er sah Zinnia an. »Woher wusste sie, dass ich kommen würde?«

Sie zuckte die Schultern.

Als Jude Lady Bellrose in Endarrion kennengelernt hatte, war sie ihm ziemlich rätselhaft vorgekommen, aber alles, was sie ihm erzählt hatte, hatte sich als wahr erwiesen. Sie hatte gewusst, dass sie die Vier Reliquien finden mussten, um Pallas aufzuhalten, dass das Esha des Gottes im Roten Tor versiegelt war – und sogar, warum Judes Gabe nicht mehr funktioniert hatte und was er brauchte, um sie zurückzuerlangen.

»Aber dann …« Jude hielt inne, während sich die Puzzleteile in seinem Kopf zusammenfügten. »Seid ihr … die Verlorene Rose?«

Zinnia lächelte. »Du bist um einiges schlauer, als du aussiehst.«

»Wie jetzt, die Verlorene Rose?«, echote Hector. »Etwa die Geheimorganisation, mit der Hassan Kontakt aufzunehmen versucht?«

Zinnia breitete die Arme aus. »Und hier sind wir und antworten. Bitte sehr.«

»Wir hätten eure Hilfe schon vor sechs Wochen gebraucht!«

»Hector«, warnte Jude ihn.

»Wir waren beschäftigt«, entgegnete Zinnia. »Mit dem Gott, den ihr und eure Freunde auf die Welt losgelassen habt.«

Jude zuckte zusammen. »Das war nicht unsere Schuld.«

»Ach nein?«

Das brachte ihn zum Verstummen. Sie hatten bei der Wiederauferstehung des Gottes alle ihren Beitrag geleistet, ob absichtlich oder unabsichtlich. Sie waren alle Teil der letzten Prophezeiung.

»Warum meldet ihr euch ausgerechnet jetzt?«

Zinnia stand auf. »Wir haben eine Botschaft für euch.«

Trotz seiner Skepsis keimte Hoffnung in Jude auf. Wenn Lady Bellrose und die Verlorene Rose sich mit ihm in Verbindung setzten, bedeutete das, dass sie Neuigkeiten hatten. Neuigkeiten, die ihn, wie er hoffte, zu Anton führen würden.

»Woher sollen wir wissen, dass du die Wahrheit sagst?«, hakte Jude zur Sicherheit noch einmal nach. »Über die Verlorene Rose und Lady Bellrose? Woher sollen wir wissen, dass du nicht in Wirklichkeit für die Zeugen arbeitest?«

Zinnia schmunzelte, als fände sie diese Vorstellung amüsant. Statt zu antworten, ging sie zu einer marmornen Truhe in der Ecke. Sie murmelte eine Wortfolge, zu schnell, als dass Jude sie hätte verstehen können, und die Truhe öffnete sich. Zinnia entnahm ihr einen Gegenstand, den sie vor ihnen auf den Tisch fallen ließ.

Hector und Jude beugten sich näher heran und betrachteten die Kupferkugel, die über den Holztisch rollte, ehe sie zum Stillstand kam. Sie war so groß wie Judes Faust und graviert mit verschlungenen Schnörkeln, die ein verwirrendes Muster ergaben. Es kam Jude irgendwie bekannt vor. Einen Moment später fiel der Groschen – diese Kugel sah aus wie einer der Orakelsteine, in denen die Propheten ihre Prophezeiungen festgehalten hatten.

Jude hob den Blick zu Zinnia. »Was ist das? Was steht da?«

Sie zuckte die Schultern.

»Schluss mit diesem kryptischen Pferdemist«, forderte Hector.

»Ich mache nicht einen auf kryptisch. Ich weiß es wirklich nicht. Die Botschaft enthüllt sich nur einer einzigen Person.« Sie sah Jude in die Augen. »Dir.«

Den Blick fest auf die Kugel gerichtet hob Jude sie behutsam hoch. In dem Augenblick, in dem er ihre kühle Oberfläche berührte, begann sie zu leuchten. Vor Überraschung hätte er sie beinahe fallen gelassen.

»Hallo, Jude«, ertönte eine vertraute Stimme aus der Kugel. »Ich bin froh, dass du es endlich geschafft hast.«

Lady Bellrose. Sie hatte Jude also tatsächlich erwartet.

»Ich wünschte, wir könnten uns persönlich sprechen, aber andere dringende Geschäfte hindern mich daran«, fuhr sie fort. »Daher hoffe ich, du vergibst mir, dass ich so unhöflich bin, auf diese Weise mit dir Kontakt aufzunehmen. Aber ich brauche deine Hilfe. Oder man könnte es wahrscheinlich auch umgekehrt sehen – ich bin hier, um dir zu helfen.«

Hector und Jude wechselten einen Blick. Das war zu schön, um wahr zu sein.

»Ich weiß, dass du nach einer Möglichkeit suchst, nach Pallas Athos zurückzukehren«, sprach Lady Bellrose weiter. »Und, was vielleicht noch wichtiger ist, nach einem Weg, dieses Mädchen, Beru, aus Pallas’ Gewalt zu befreien. Tatsächlich kann ich dir bei beidem behilflich sein. Hör mir gut zu. Der Archon basileus von Pallas Athos wurde vor Kurzem von Pallas’ Männern festgenommen. Seine Hinrichtung soll zur Herbst-Tagundnachtgleiche stattfinden. Das ist die perfekte Gelegenheit, um Beru da herauszuholen, weil wir dann genau wissen, wo sie sich wann befinden wird. Die Verlorene Rose wird dich nach Kräften unterstützen, die eigentliche Befreiung allerdings musst du übernehmen.

Folgendes kann ich dir anbieten: ein Schiff, das derzeit hier in Tel Amot vor Anker liegt und das dich nach Pallas Athos bringt. Gefälschte Dokumente, mit denen du unerkannt in die Stadt gelangst. In der Stadt schließlich den Namen eines vertrauenswürdigen Verbündeten, der wertvolle Kenntnisse über das Innenleben der Zitadelle besitzt, sowie den eines Alchemisten mit Verbindungen zur Verlorenen Rose, der dir bei allem, was du möglicherweise benötigst, weiterhelfen kann.«

Jude warf einen kurzen Blick zu Hector, der ihn ungläubig anstarrte.

»Ich hoffe, das alles wird dir von Nutzen sein«, sagte Lady Bellrose. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun. Und was mit dem Mädchen – und dem Gott – geschehen soll, sobald du sie gerettet hast, tja, sagen wir einfach, ich arbeite daran.«

Daraufhin erlosch die Kugel und Stille senkte sich wieder über den Raum.

»Was war das denn gerade?«, fragte Hector nach einer Weile.

Jude wiegte die Kugel in seiner Hand. »Darf ich die behalten?«, fragte er Zinnia.

»Sie gehört dir«, antwortete sie. »Oh, das hätte ich fast vergessen.«

Sie ging noch einmal zur Truhe. Als sie zurückkehrte, lag auf ihrer Handfläche ein goldener Ring mit einer eingravierten Kompassrose, den sie Jude hinhielt. »Zeig das dem Kapitän der Longswallow.«

Völlig überwältigt starrte Jude auf den Ring. Er war mit einem einzigen Ziel in das Lasterhaus gekommen: Anton zu finden. Und nun war ihm das alles in den Schoß gefallen. Ein Weg nach Pallas Athos. Der Anfang eines neuen Plans, um den Gott aus Pallas’ Gewalt zu befreien.

Es war genau das, was Hassan seit ihrer Ankunft in Tel Amot so verzweifelt versucht hatte, während Jude damit beschäftigt gewesen war, irgendeinen Hinweis auf Anton zu finden. Er sollte sich freuen. Er sollte dankbar sein – für den Plan, für die Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Doch er konnte nur daran denken, wie es sich anfühlen würde, dieses Schiff zu besteigen und sich damit von seiner letzten Hoffnung, Anton zu finden, zu verabschieden.

»Danke«, sagte Jude unsicher und steckte den Ring und die Kugel ein.

Zinnia prostete ihm mit dem Weinglas zu. »Ich hoffe, es klappt.«

Sie sagte es so beiläufig, als ginge es um den Ausgang eines Kartenspiels und nicht um das Schicksal der Welt.

»Ja«, entgegnete Jude. »Ich auch.«

»Dann sollen wir ihnen also vertrauen?«, fragte Hector, sobald sie aus dem Lasterhaus in den kühlen Abend hinausgetreten waren. »Dieser Lady Bellrose? Der Verlorenen Rose?«

Jude schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Hassan tut es anscheinend«, meinte Hector. »Er hat ja schon die ganze Zeit versucht, Verbindung mit dem Bund aufzunehmen. Vielleicht ist das ein Zeichen – ein gutes. Wir könnten eines gebrauchen.«

»Vielleicht«, sagte Jude. Aber er war mit den Gedanken nicht bei der Verlorenen Rose und Lady Bellrose. Er dachte daran, was Zinnia zu Anfang gesagt hatte – dass er Anton aufgeben sollte. Hector verfiel in Schweigen, während sie gemächlich durch das Rotlichtviertel von Tel Amot in Richtung Meer gingen, wo die Sonne am Horizont versank.

»Also, wollen wir darüber reden?«, fragte Hector schließlich, als sie über die breite Treppe hinunter zum Hafen und zum Nachtmarkt stiegen.

»Worüber?«

Hector packte Jude am Ellbogen und zog ihn zu sich herum. »Du hast – wie viele waren es? Sechs Kopfgeldjäger angeheuert, um den Propheten zu finden? Du hättest mir davon erzählen können. Ich hätte es verstanden, das weißt du. Ich habe das selbst schon mal durchgemacht. Als ich den Orden das erste Mal verließ, habe ich fast ein Jahr lang nach der Blassen Hand gesucht. Alles dafür weggeworfen.«

»Das ist nicht dasselbe«, entgegnete Jude hitzig und riss sich von ihm los.

»Warum?«

»Weil deine Familie schon tot war!«

Kurz hatte Jude den Eindruck, dass Hector ihn schlagen wollte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Augen nahmen einen kalten, mörderischen Ausdruck an. Jude war sich nicht ganz sicher, ob er es nicht verdient gehabt hätte.

Doch dann stieß Hector die Luft aus und sackte in sich zusammen.

»Hector … es … es tut mir leid«, stammelte Jude.

Hector winkte ab. »Muss es nicht. Wie gesagt, ich verstehe es. Ich habe Schlimmeres zu dir gesagt – Schlimmeres getan.«

Jude senkte den Blick. Er wusste, dass sie beide jetzt daran zurückdachten, wie Hector Jude blutend in einer abgebrannten Ruine in Pallas Athos zurückgelassen hatte. Lange Zeit hatte Jude gedacht, das wäre seine letzte Erinnerung an Hector.

Und doch waren sie nun hier. Arbeiteten zusammen, trainierten zusammen. Bemühten sich beide um Heilung. An manchen Tagen aber stand noch immer der Bruch ihrer Freundschaft, die Risse, durch die er verursacht worden war, zwischen ihnen – eine Kluft, die sie vielleicht niemals ganz überwinden würden.

»Du hast mir nie erzählt, warum du zurückgekehrt bist«, sagte Jude leise und hob den Blick wieder zu Hector. »Nach Kerameikos. Nachdem du dich auf die Suche nach der Blassen Hand gemacht hattest.«

Hector fuhr sich mit dem Fingerknöchel über die Lippen. »Das weiß ich gar nicht so genau. Ich glaube, ich hatte das alles satt. Meine Suche. Ich zu sein. Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch«, sagte Jude. Er erinnerte sich noch an die kalte Angst, die er empfand, als er nach seinem Jahr der inneren Betrachtung in das Kastell von Kerameikos zurückgekehrt war und feststellen musste, dass Hector nicht auf ihn gewartet hatte.

Hector bedachte ihn mit einem schmallippigen Lächeln. »Aber nicht so, wie du ihn vermisst. Den Propheten. Anton.«

Jude drehte sich wieder zurück zum Meer. Es tat ihm weh, auch nur seinen Namen zu hören. Er schloss die Augen. »Ich habe ständig diese Träume. Meist kann ich mich kaum an sie erinnern. Nur … nur an ihn.«

Das war nur die halbe Wahrheit. Manchmal wachte Jude auf und hatte das Gefühl, dass Anton gerade neben ihm gelegen hatte. Dann konnte er noch regelrecht seine Wärme spüren und seinen Geruch wahrnehmen. Manchmal waren es beschauliche, süße Träume, in denen sie von der honigfarbenen Spätnachmittagssonne gewärmt wurden, während sie sich küssten. Dann wieder war Anton unerreichbar weit weg und rief Jude zu: Ich bin hier. Ich bin doch hier, Jude, und Jude wachte auf, fix und fertig, voller Wut und absolut sicher, dass es keine grausamere Folter gab.

Er hatte noch nie besonders gut geschlafen, und jetzt war es schlimmer denn je – er machte nächtelang kein Auge zu, hielt sich absichtlich wach, nur damit er dieses Gespenst nicht sehen musste, das ihn auf so süße Art heimsuchte. Doch irgendwann kapitulierte er, sank in den Schlaf und zurück in Antons Arme, weil es nichts gab, was er lieber wollte.

»Ich habe früher von meiner Familie geträumt.« Hector legte die Hand auf Judes Schulter. »Von meinen Eltern, meinem Bruder … gefühlt jede Nacht. Wenn du das zulässt, frisst es dich auf.«

Jude blickte auf Hectors Hand und dachte an die Zeit zurück, in der er derjenige gewesen war, der tröstend die Hand ausgestreckt und nutzlose Beruhigungsfloskeln verteilt hatte.

Er schüttelte die Hand ab. »Vielleicht soll es so sein. Vielleicht habe ich es verdient.«

»Es war nicht deine Schuld.«

Hector verstand das nicht. Jude hatte Anton im entscheidenden Augenblick nicht beschützen können.

»Ich habe versagt«, sagte Jude unvermittelt. »Er ist der Prophet, dazu bestimmt, das Zeitalter der Dunkelheit aufzuhalten. Wie sollen wir es ohne ihn schaffen? Wie soll ich …« Er brach ab. Um ein Haar hätte er ausgesprochen, um was es in Wirklichkeit ging, und das glaubte Jude nicht ertragen zu können.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Hector, und sein Blick bohrte sich in Judes Augen. »Aber wir müssen. Irgendwie.«

Hassan wirkte beunruhigt, als sie ihm Lady Bellrose’ Botschaft in ihrem gemeinsamen Zimmer vorgespielt hatten.

»Sie hat dir das also … einfach so gegeben«, sagte er langsam. »Es hat dort … auf dich gewartet?«