The Atlas Complex - Olivie Blake - E-Book

The Atlas Complex E-Book

Olivie Blake

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Beschreibung

Das lang erwartete Finale der explosiven Atlas-Trilogie von Bestsellerautorin Olivie Blake. Die talentiertesten Magier wurden auserwählt – aber nur die Klügsten werden überleben. Die Ereignisse in der Bibliothek von Alexandria spitzen sich zu, und jeder der sechs Auserwählten muss sich die Frage stellen, ob die Suche nach grenzenloser magischer Macht sie verändert. Wie sie sich selbst beschränken können, um menschlich zu bleiben. Oder wen sie verraten müssen, um ihre wahren Ziele zu erreichen. Für Leser*innen von Leigh Bardugo, Cassandra Clare oder Sarah J. Maas »The Atlas Six versetzt sechs ebenso gerissene wie begabte Charaktere in eine magische Bibliothek und lässt sie gegeneinander antreten. Was folgt, ist ein wunderbarer Wettstreit des Intellekts, der Leidenschaften und der Magie – halb Krimi, halb Fantasymysterium und von Anfang bis Ende eine wahre Freude.« (Holly Black)

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Seitenzahl: 853

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Olivie Blake

The Atlas Complex

Macht ist grenzenlos

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck und Alexandra Jordan

 

Über dieses Buch

 

 

Die talentiertesten Magier wurden auserwählt – aber nur die Klügsten werden überleben. Die Ereignisse in der Bibliothek von Alexandria spitzen sich zu, und jeder der sechs Auserwählten muss sich die Frage stellen, ob die Suche nach grenzenloser magischer Macht sie verändert. Wie sie sich selbst beschränken können, um menschlich zu bleiben. Oder wen sie verraten müssen, um ihre wahren Ziele zu erreichen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Olivie Blake liebt und schreibt Geschichten - die meisten davon fantastisch. Besonders fasziniert ist sie dabei von der endlosen Komplexität des Lebens und der Liebe. Sie arbeitet in Los Angeles, wo sie von ihrem Lieblings-Pitbull gnädig toleriert wird. Ihr selbst publiziertes Buch „The Atlas Six“ wurde auf TikTok zur Sensation, bevor es von Tor Books erneut veröffentlicht und in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde.   

Inhalt

[Widmung]

Inhalt

Die sechs Auserwählten

Weiterführende Hinweise

Anfang

Der Komplex

I Existentialismus

Eilif

Nico

Tristan

Parisa

The Ezra Six

EINS Julian

Gideon

II Hedonismus

Reina

Libby

Callum

Parisa

Intermezzo

Dalton

III Stoizismus

The Ezra Six

ZWEI Li

Nico

Intermezzo

Libby

IV Nihilismus

Tristan

Reina

Intermezzo

V Rationalismus

Parisa

Callum

Dalton

Nico

The Ezra Six

DREI Eden

Libby

Intermezzo

VI Determinismus

Reina

Callum

Parisa

Nico

Tristan

Dalton

Gideon

Nico

Libby

Callum

Parisa

Reina

Gideon

Sharon

Intermezzo

VII Relativismus

Libby

Nico

Callum

Tristan

Intermezzo

Parisa

Gideon

VIII Naturalismus

Libby

Callum

The Ezra Six

VIER Sef

Tristan

Reina

IX Leben

Libby

Parisa

Reina

The Ezra Six

FÜNF James

Gideon

The Ezra Six

SECHS Nothazai

Ende

Danksagung

Weiterführende Lektüre

Für Garrett, meine Muse.

Ohne dich gäbe es dies alles nicht.

Inhalt

Anfang

 

I Existentialismus 

II Hedonismus 

III Stoizismus 

IV Nihilismus 

V Rationalismus

VI Determinismus

VII Relativismus 

VIII Naturalismus 

IX Leben

 

Ende

Die sechs Auserwählten

Caine, Tristan

Tristan Caine ist der Sohn von Adrian Caine, Kopf eines magischen Verbrechersyndikats. Tristan würde es stören, mit Bezug auf seinen Vater vorgestellt zu werden, doch Tristan stören die meisten Dinge. Geboren in London (Vereinigtes Königreich), Studium an der London School of Magic. Ehemaliger Risikokapitalgeber bei der Wessex Corporation, ehemaliger Schützling von Millionär James Wessex sowie ehemaliger Verlobter von Eden Wessex, Verhältnis zerrüttet. Tristan studierte an der Fakultät für Illusion, wenngleich sein exaktes Fachgebiet ins Reich der Physik gehört. Er durchschaut nicht nur Illusionen, sondern ist obendrein Quantenphysiomagier, kann also physikalische Bestandteile auf Quantenebene manipulieren (siehe auch: Quantentheorie; Zeit; Illusionen → Illusionen durchschauen; Bestandteile → magische Bestandteile). Gemäß den Eliminierungsbedingungen der Alexandrinischen Gesellschaft kam Tristan die Aufgabe zu, Callum Nova zu töten. Tristan scheiterte, offenbar aus Gewissensgründen. Ob sich diese Entscheidung rächen wird, bleibt abzuwarten.

 

Ferrer de Varona, Nicolás (auch de Varona, Nicolás oder de Varona, Nico)

Nicolás Ferrer de Varona, genannt Nico, wurde in Havanna (Kuba) geboren und in jungen Jahren von seinen wohlhabenden Eltern in die Vereinigten Staaten geschickt, wo er ein Studium an der renommierten New York University for Magical Arts abschloss. Nico ist ein außergewöhnlich begabter Physiomagier und besitzt mehrere zusätzliche Fähigkeiten außerhalb seines Fachgebiets (siehe auch: lithosphärische Besonderheiten; Seismologie → Tektonik; Gestaltwandeln → Mensch zu Tier; Alchemie; Tränke → alchemistisch). Nico pflegt enge Freundschaften zu den NYUMA-Absolventen Gideon Drake und Maximilian Wolfe sowie, trotz langjähriger Feindschaft, ein Bündnis mit Elizabeth »Libby« Rhodes. Nico verfügt über ausgezeichnete Nahkampftechniken und ist bekanntermaßen mindestens ein Mal verstorben (siehe auch: Alexandrinisches Archiv → Überwachung). Sein Körper ist, wenn auch nicht völlig unverwundbar, so doch an die hohen Anforderungen seines Überlebensstils gewöhnt.

 

Kamali, Parisa

Zwar kann über Parisa Kamalis frühe Jahre oder ihre wahre Identität lediglich spekuliert werden, doch man weiß, dass Parisa in Teheran (Iran) als jüngstes von drei Geschwistern auf die Welt kam. Nachdem sie als Jugendliche in eine Ehe gezwungen worden war, trennte sie sich schließlich von ihrem Mann und besuchte die École Magique de Paris. Sie ist eine äußerst fähige Telepathin, unterhält verschiedenste Bekanntschaften (Tristan Caine; Libby Rhodes) und betreibt allerlei Experimente (Zeit → mentale Chronometrie; Unterbewusstsein → Träume; Dalton Ellery). Im Duell auf Astralebene gegen ein anderes Mitglied ihres Jahrgangs stürzte sich Parisa vom Dach des Alexandrinischen Herrenhauses in den Tod – entweder eine taktische Finte oder Ausdruck eher privater Abgründe (siehe auch: Schönheit, Fluch der → Callum Nova).

 

Mori, Reina

Geboren in Tokio (Japan) und mit erstaunlichen naturmagischen Fähigkeiten ausgestattet. Reina Mori ist das uneheliche Kind eines unbekannten Vaters und einer wohlhabenden Nichtmagierin. Ihre Mutter, die Reina nie als Tochter anerkannte, heiratete kurz vor ihrem frühen Tod einen Mann (von Reina nur als »der Geschäftsmann« bezeichnet), der sein Vermögen mit medäischer Waffentechnologie machte (siehe auch: Wessex Corporation → Patent für perfekte Fusion, #31/298-396-Mai 1990). Reina wuchs im Verborgenen bei ihrer Großmutter auf und besuchte das Osaka Institut für Magie. Statt eines naturmagischen Studiengangs wählte sie die Literatur der Antike mit Schwerpunkt Mythologie. Reina allein bietet die Erde höchstselbst ihre Früchte an, und zu Reina allein spricht die Natur. Bemerkenswerterweise jedoch sieht Reina selbst ihre Talente woanders (siehe auch: Mythologie → Generationen; Anthropozän → Göttlichkeit).

 

Nova, Callum

Callum Nova, Angehöriger des südafrikanischen Medienkonzerns Nova, ist Illusionist der Manipulationsklasse, dessen Kräfte bis ins Metaphysische reichen – in anderen Worten: ein Empath. Geboren in Kapstadt (Südafrika). Callum studierte recht bequem an der Hellenistischen Universität in Athen, bevor er ins Familienunternehmen einstieg und sich dem lukrativen Geschäft mit medäischen Schönheitsprodukten und -illusionen verschrieb. Nur ein einziger Mensch auf Erden weiß, wie Callum tatsächlich aussieht. Zu seinem Leidwesen wollte genau dieser Mensch ihn töten. Zu Tristans Leidwesen war sein Wille nicht stark genug (siehe auch: Verrat, nichts ist so endgültig wie). Atlas Blakely kritisierte Callum für seine mangelnde Inspiration, da er mit seiner maßlosen Macht nichts anzufangen wisse, doch neuerdings fühlt sich Callum ausgesprochen inspiriert (siehe auch: Reina Mori).

 

Rhodes, Elizabeth (auch Rhodes, Libby)

Elizabeth »Libby« Rhodes ist eine begabte Physiomagierin. Gebürtig aus Pittsburgh in Pennsylvania (Vereinigte Staaten von Amerika). Libbys Kindheit war stark von der langen Krankheit und dem anschließenden Tod ihrer älteren Schwester Katherine geprägt. Libby besuchte die New York University of Magical Arts, wo sie ihren Rivalen und späteren Verbündeten Nicolás »Nico« de Varona sowie ihren Ex-Freund Ezra Fowler kennenlernte. Als Kandidatin der Geheimgesellschaft war Libby an mehreren bemerkenswerten Experimenten (siehe auch: Zeit → vierte Dimension; Quantentheorie → Zeit; Tristan Caine) und moralischen Dilemmata (Parisa Kamali; Tristan Caine) führend beteiligt, bevor sie spurlos verschwand, was die verbliebenen Kandidaten der Gruppe zu der Annahme verleitete, sie sei verstorben (siehe auch: Ezra Fowler). Nachdem sie sich im Jahr 1989 wiederfand, beschloss Libby, mittels der Energie einer Atomwaffe ein Wurmloch durch die Zeit zu erschaffen (siehe auch: Wessex Corporation → Patent für perfekte Fusion, #31/298-396-Mai 1990). So kehrte sie mit einer prophetischen Warnung im Gepäck zu ihrem Jahrgang in die Alexandrinische Gesellschaft zurück.

Weiterführende Hinweise

Alexandrinische Gesellschaft, die

Archiv → verlorenes Wissen

Bibliothek (siehe auch: Alexandria; Babylon; Karthago; antike Bibliotheken → Islam; antike Bibliotheken → Asien)

Rituale → Initiation (siehe auch: Magie → Opfer; Magie → Tod)

 

Blakely, Atlas

Alexandrinische Gesellschaft, die (siehe auch: Alexandrinische Gesellschaft → Kandidaten; Alexandrinische Gesellschaft → Kuratoren)

Kindheit und Jugend → London (England)

Telepathie

 

Drake, Gideon

Fähigkeiten → unbekannt (siehe auch: menschlicher Verstand → Unterbewusstsein)

Wesen → Subspezies (siehe auch: Systematik → Wesen; Spezies → unbekannt)

Kriminelle Verbindungen (siehe auch: Eilif)

Kindheit und Jugend → Kap-Breton-Insel, Nova Scotia (Kanada)

Studium → New York University of Magical Arts

Fachgebiet → Reisender (siehe auch: Traumreiche → Navigation)

 

Eilif

Verbindungen → unbekannt

Kinder (siehe auch: Gideon Drake)

Wesen → Wasserwesen (siehe auch: Systematik → Wesen; Wasserwesen → Meerjungfrau)

 

Ellery, Dalton

Alexandrinische Gesellschaft, die (siehe auch: Alexandrinische Gesellschaft → Kandidaten; Alexandrinische Gesellschaft → Forscher)

Animation

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Parisa Kamali)

 

Fowler, Ezra

Fähigkeiten (siehe auch: Reisen → vierte Dimension; Physiomagie → Quantum)

Alexandrinische Gesellschaft, die (siehe auch: Alexandrinische Gesellschaft → nicht initiiert; Alexandrinische Gesellschaft → Aussortierung)

Kindheit und Jugend → Los Angeles, Kalifornien (Vereinigte Staaten von Amerika)

Studium → New York University of Magical Arts

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Atlas Blakely)

Frühere Anstellung (siehe auch: NYUMA → Studienberater)

Persönliche Beziehungen (siehe auch: Libby Rhodes)

Fachgebiet → Reisender (siehe auch: Zeit)

 

Hassan, Sef

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Forum, das; Ezra Fowler)

Fachgebiet → Naturmagier (mineralisch)

 

Jiménez, Belen (auch Araña, Dr. J. Belen)

Kindheit und Jugend → Manila (Philippinen)

Studium → Los Angeles Regional College of Medeian Arts

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Forum, das; Nothazai; Ezra Fowler)

Persönliche Beziehungen (siehe auch: Libby Rhodes)

 

Li

Identität (siehe auch: Identität → unbekannt)

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Forum, das; Ezra Fowler)

 

Nothazai

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Forum, das)

 

Pérez, Julian Rivera

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Forum, das; Ezra Fowler)

Fachgebiet → Technomagier

 

Prinz, der

Animatur → allgemein

Identität (siehe auch: Identität → unbekannt)

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Ezra Fowler; Eilif)

 

Wessex, Eden

Persönliche Beziehungen (siehe auch: Tristan Caine)

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Wessex Corporation)

 

Wessex, James

Bekannte Verbindungen (siehe auch: Forum, das; Ezra Fowler

Anfang

Atlas Blakely wurde geboren, als die Erde im Sterben lag. Das ist eine Tatsache.

Genau wie dies: Das Erste, was Atlas Blakely wirklich begriff, war Schmerz. Und auch dies: Atlas Blakely ist ein Mann, der Waffen geschmiedet hat. Der Geheimnisse gehütet hat.

Und dies: Atlas Blakely ist ein Mann, der bereitwillig das Leben seiner Schutzbefohlenen aufs Spiel setzt und jeden verrät, der ihm aus Dummheit oder Verzweiflung vertraut.

Atlas Blakely ist eine Ansammlung von Narben und Makeln, ein professioneller Lügner von Geburt an. Ein Mensch mit dem Zeug zum Schurken.

Vor allem aber ist Atlas Blakely schlicht und einfach ein Mensch.

***

Seine Geschichte setzt am gleichen Punkt ein wie Ihre. Sie verlief ein bisschen anders – kein aalglatter Schnösel, kein Tweedanzug mit unerträglich scharfen Bügelfalten –, auch wenn sie ebenfalls mit einer Einladung ihren Anfang nahm. Wir reden hier schließlich von der Alexandrinischen Gesellschaft, da braucht jeder eine Einladung. Selbst Atlas.

Selbst Sie.

Ein dünner harziger Film hatte Atlas’ Einladungskarte überzogen, nachdem sie in der verwahrlosten Wohnung seiner Mutter bedauerlicherweise neben dem Mülleimer in direkter Nachbarschaft zu irgendeiner fragwürdigen Substanz gelandet war. Das Mahnmal der üblichen donnerstäglichen Missetaten (nämlich der Mülleimer und sein Inhalt) vegetierte unheilschwanger auf einem Quadratmeter verbrannten Linoleums und unter einem schwankenden Turm aus Nietzsche, de Beauvoir und Descartes. Wie üblich wucherte der Müll bedrohlich über die Ränder hinaus; alte Zeitungen, Imbisskartons und schimmelige Rübenreste vereinten sich mit Stapeln ungelesener Literaturzeitschriften, Gedichtfragmenten und einem Porzellangefäß voller sorgsam gefalteter Papierserviettenschwäne, neben dem das klebrige Quadrat aus elfenbeinfarbigem Karton fast unterging.

Fast, natürlich. Aber nicht ganz.

Atlas Blakely, damals dreiundzwanzig, klaubte die Karte zwischen zwei schweißtreibenden Schichten im Pub vom Boden auf. Für diesen Job hatte er ordentlich katzbuckeln müssen, trotz eines Hochschulabschlusses, eigentlich zweier, und dem Potenzial für einen dritten. Er betrachtete seinen kunstvoll kalligraphierten Namen und beschloss, dass die Karte an einem klebrigen Flaschenboden hereingekommen sein musste. Seine Mutter würde noch einige Stunden weiterschlafen, also steckte er das Pappstück ein und erhob sich. Sein Blick fiel auf das Foto seines Vaters – falls das die richtige Bezeichnung für den Mann war, dessen Porträt noch immer im Bücherregal stand und Staub sammelte. Dazu stellte er keine Fragen, genauso wenig wie zu der Karte.

Atlas’ anfängliche Reaktion auf die Alexandrinische Vorladung ließ sich am ehesten als Widerwille bezeichnen. Zwar hegte er weder Medäern noch Akademikern gegenüber besondere Berührungsängste, da er selbst der einen Sorte angehörte und Abkömmling der anderen war; doch beiden musste man misstrauen, so viel wusste er inzwischen. Er hatte sie wegwerfen wollen, die Karte, doch das Konglomerat aus Gin und mutmaßlich Tamarindenchutney, das seine Mutter immer telefonisch beim Asia-Händler um die Ecke bestellte (»Das riecht genau wie Pa«, sagte sie manchmal, wenn sie gerade bei klarem Verstand war) leimte das Pappstück am Innenfutter von Atlas’ Hosentasche fest.

Sein Alexandrinischer Kurator William Astor Huntington war, wie Atlas formulieren würde, geradezu rätselversessen, was alle Beteiligten nicht nur reichlich Zeit, sondern auch Nerven kostete. Als Atlas später am selben Abend an der Karte in seiner Tasche herumfingerte – gerade hatte er mal wieder einen Kerl hinausgeworfen, dessen Whisky-Pegel seinen eigenen Verstand um ein Mehrfaches überstieg –, stellte er fest, dass der eingewobene Zauber eine verschlüsselte Botschaft sein musste, wofür er ebenfalls weder Zeit noch Nerven gehabt hätte, wäre er nicht vierundzwanzig Stunden zuvor von der Liebe (oder was auch immer das war, was hauptsächlich seinen Penis befallen hatte) brutal verletzt worden. Später beurteilte Atlas Blakely Huntingtons Rattenfängermethoden als narzisstisches Gehabe. Bei den meisten reichten knapp fünf Minuten, um sie von der Geheimgesellschaft zu überzeugen.

Doch zu diesem Urteil gelangte Atlas wie gesagt erst später. Damals litt er an Liebeskummer und Unterforderung. Er langweilte sich, so ganz grundsätzlich. Mit der Zeit begriff er, dass sich die meisten Menschen langweilten, insbesondere die potenziellen Kandidaten der Geheimgesellschaft. Es gehört zu den kleinen, feinen Grausamkeiten des Lebens, dass ausgerechnet den Zielstrebigen oft das Talent fehlt, ihre Ziele auch umzusetzen. Wahrhaft talentierte Menschen dagegen neigen zu orientierungslosem Herumstolpern. Ironie des Schicksals; seltsam, aber unvermeidlich. (Atlas Blakelys Erfahrung nach schrottet man das Leben eines anderen Menschen am effektivsten, indem man ihm exakt das gibt, was er will, und sich dann höflich verabschiedet.)

Die verschlüsselte Botschaft führte ihn zum Abort einer Kapelle aus dem sechzehnten Jahrhundert, von dort auf das Dach eines kürzlich fertiggestellten Wolkenkratzers und dann auf eine Schafweide. Irgendwann gelangte er zum Londoner Hauptquartier der Alexandrinischen Gesellschaft und fand sich in einer heruntergekommeneren Version des Raumes wieder, in dem er später seine sechs eigenen Kandidaten begrüßen würde – die anstehende Renovierung wurde, wie Atlas erst später erfuhr, von jemandem finanziert, der kein Alexandriner war, nie initiiert worden war, wahrscheinlich nie jemanden hatte töten müssen, niemals, wie schön für den betreffenden Spender. Vermutlich schlief er nachts wie ein Baby. Aber darum geht es hier selbstverständlich nicht.

Worum geht es dann? Es geht um einen Mann, ein Genie namens Dr. Blakely, der in den späten Siebzigern eine Affäre mit einer seiner Erstsemestlerinnen hatte, aus der ein Kind entstand. Es geht um fehlende Gelder für psychische Behandlungen. Es geht um latente Schizophrenie, die irgendwann nicht mehr latent ist, die irgendwann ausreift und zu voller Blüte gelangt, bis man auf das Kleinkind guckt, das einem das Leben ruiniert hat, und begreift: Erstens, man würde bereitwillig für dieses Kind sterben, und zweitens, man wird wahrscheinlich ohnehin für dieses Kind sterben, ob nun aus eigener Entscheidung oder nicht. Es geht darum, dass niemand es als Missbrauch bezeichnet, weil es allem Anschein nach einvernehmlich war. Es geht darum, dass man gar nichts tun kann, außer die Frage aufzuwerfen, ob sie denn unbedingt diesen Rock tragen oder ihrem Dozenten solche Blicke hatte zuwerfen müssen. Es geht darum, dass die Karriere eines Mannes auf dem Spiel stand, seine Lebensgrundlage, seine Familie! Es geht um die Stimmen, die Atlas Blakely erstmals als Dreijähriger im Kopf seiner Mutter vernimmt – die Zweischneidigkeit ihrer Existenz, ihr Genie, das irgendwo absplittert, sich mit etwas Dunklerem verzahnt, das keiner der beiden begreift. Es geht um ein Kondom, das platzte oder eventuell nie vorhanden war.

Es geht darum, dass es in dieser Geschichte keine Schurken gibt, oder vielleicht gibt es keine Helden.

Darum geht es: Jemand bietet Atlas Blakely Macht an, und Atlas Blakely nimmt das Angebot, ohne zu zögern, an.

***

Später erfährt er, dass ein anderes Mitglied seines Jahrgangs, Ezra Fowler, sein eigenes Kärtchen unter der Schuhsohle fand. Keinen blassen Schimmer, wie das da gelandet ist. Hätte es schon fast weggeworfen, fast drauf geschissen, hatte bloß nix Besseres vor, und hier sitzen wir jetzt.

Ivy Breton, NYUMA-Absolventin mit Auslandsjahr in Madrid, fand ihre Einladung in einem antiken Puppenhaus auf der Nachbildung eines Queen-Anne-Stuhls, die ihre Großtante, eine Bastlerin, eigenhändig aufpoliert hatte.

Folade Ilori, gebürtige Nigerianerin mit Abschluss von der Universitá Medeia, entdeckte ihre Karte auf den Flügeln eines Kolibris in den Weinbergen ihres Onkels.

Alexis Lai aus Hongkong, Studium an der Nationalen Universität für Magie in Singapur, fand ihre Einladung sorgfältig versteckt in den Knochen eines Skeletts in Portugal, das ihr Ausgrabungsteam dem Neolithikum zuordnete. (Fälschlicherweise, aber das ist ein anderer Abgrund für eine andere Gelegenheit.)

Neel Mishra, der andere Brite, der eigentlich Inder ist, sieht seine Geheimbotschaft in seinem Teleskop – sie steht wortwörtlich in den Sternen.

Und dann Atlas mit seinem Mülleimer und Ezra mit der Schuhsohle. Dazu bestimmt, einander in die Augen zu sehen, die Ungeheuerlichkeit in dieser Offenbarung zu erkennen und mit ein bisschen Gras zu feiern.

Nachdem Alexis gestorben ist und Atlas eine düstere Version von Tja, fuck, am besten einfach weitermachen denkt, findet er heraus, wie genau sie jeweils ausgewählt worden waren. (Dies passiert, nachdem Atlas von Dalton Ellerys Existenz erfährt, aber bevor sein Kurator Huntington ganz »spontan« beschließt, in Rente zu gehen.) Offenbar misst die Geheimgesellschaft die magischen Hinterlassenschaften jedes einzelnen Menschen auf der Welt. Das ist alles. Das ist ihre Entscheidungsgrundlage, und die ist … nicht gerade beeindruckend. Fast schon frustrierend simpel. Sie gucken, wer eine Scheißmenge an Magie produziert und ob den Preis für diese Magie bereits jemand anderes gezahlt hat, und wenn nicht, sagen sie: He!, das könnte doch was sein. Ein wenig komplexer gestaltet sich das weitere Verfahren noch, aber im Großen und Ganzen läuft es so.

(Das ist nicht die Langversion der Geschichte, weil die Langversion Sie nicht interessiert. Sie wissen bereits, was es mit Atlas auf sich hat oder haben eine ungefähre Vorstellung, was bei ihm los ist. Sie wissen, dass seine Geschichte kein gutes Ende nimmt. Es steht in Großbuchstaben an der Wand – was zugegebenermaßen heißt, dass auch Atlas es sieht. Er ist schließlich nicht dämlich. Er ist nur gewaltig am Arsch, egal wie man es dreht und wendet.)

Es geht darum, dass Ezra Fowler extrem viel Magie produziert. Genau wie alle anderen, die über diese Schwelle treten, aber rein mengenmäßig führt Ezra die Liste an.

»Ich kann Wurmlöcher öffnen«, erklärt Ezra eines Abends bei Smalltalk und Suchtmittelkonsum. (Wesentlich länger braucht er, um irgendwann von dem Ereignis zu erzählen, das seine spezifische magische Fähigkeit überhaupt freigesetzt hat, nämlich die Ermordung seiner Mutter bei einem Hassverbrechen, wie man es später nennen würde, als könnte man ein Heilmittel finden, indem man einen Virus als Zusammenschluss einzelner, nicht in Verbindung stehender Symptome behandelt.) »Kleine Wurmlöcher nur, aber trotzdem.«

»Wie klein?«, fragt Atlas.

»Meine Größe.«

»Ach so, ich dachte schon, das wär jetzt so eine Art Schrumpfgeschichte.« Atlas atmet Rauch aus. »Weißt schon. Alice im Wunderland oder so.«

»Nee«, sagt Ezra, »sie sind schon ungefähr normal groß. Also, wenn Wurmlöcher normal wären.«

»Woher weißt du, dass es Wurmlöcher sind?«

»Ich wüsste nicht, was sie sonst sein sollten.«

»Cool, cool.« Drogen erleichtern dieses Gespräch erheblich. Andererseits galt das für jedes Gespräch, das Atlas führte. Schwer zu glauben, aber die Gedanken anderer Menschen zu hören macht jede Beziehung ungefähr eine Million Mal komplizierter. Atlas ist ein Grübler. Er war als Kind schon vorsichtig, hat immer streng darauf geachtet, seine Herkunft zu verbergen, seine Prellungen, seine Wohnung, seine Mangelernährung, seine fortgeschrittenen Fähigkeiten im Fälschen der mütterlichen Unterschrift, vorsichtig, so vorsichtig, still und unauffällig, aber … Ist er zu still? Müssen wir uns Sorgen machen? Sollten wir mal mit seinen Eltern sprechen? Nein, nein, er ist ein ganz toller Schüler, so hilfsbereit, vielleicht einfach nur schüchtern. Ist er zu charmant? Ist das nicht etwas unnatürlich, mit fünf Jahren schon so charmant zu sein, mit sechs, siebenachtneun? Er ist einfach so wohlerzogen für sein Alter, so reif, so weltgewandt, benimmt sich nie daneben, müssen wir uns fragen …? Sollten wir mal prüfen, ob …? Ah, zu voreilig, da ist sie schon, eine rebellische Phase, genau aufs Stichwort, ein Makel, Gott sei Dank.

Gott sei Dank. Doch ein ganz normales Kind.

»Wie bitte?«, fragt Atlas, als ihm auffällt, dass Ezra immer noch redet.

»Das hab ich noch nie jemandem erzählt. Das mit den Türen.« Er starrt auf das Bücherregal im Freskensaal, das Mobiliar, das Zukunftsatlas so belassen wird.

»Türen?«, wiederholt Atlas ausdruckslos.

»Ich nenne sie Türen«, sagt Ezra.

Atlas weiß, was Türen sind, ganz allgemein gesprochen. Er weiß, dass er sie nicht öffnen sollte. Manche Türen sind aus gutem Grund geschlossen. »Wo führen deine Türen hin?«

»In die Vergangenheit. Oder in die Zukunft.« Ezra knibbelt an einem Stückchen Nagelhaut. »Sonst wohin.«

»Kannst du jemanden mitnehmen?«, fragt Atlas und denkt: Ich will es nur sehen. Ich will nur sehen, was passiert. (Bekommt er je seine wohlverdiente Strafe? Wird es ihr je besser gehen?) Ich will es nur wissen. Doch ihm ist klar, er will es zu sehr, um es laut auszusprechen, denn in Ezras Gehirn schrillt ein Alarmglöckchen auf, das außer ihm nur Atlas hört. »Ich bin bloß neugierig«, erklärt er in einen Rauchring hinein. »Dein eigenes Wurmloch, verdammt, hab ich ja noch nie gehört.«

Schweigen.

»Du kannst Gedanken lesen«, bemerkt Ezra nach einem kurzen Augenblick. Feststellung und Warnung zugleich.

Atlas macht sich nicht die Mühe, darauf zu reagieren. Genau genommen stimmt es auch gar nicht. Lesen ist ein sehr elementarer Vorgang, und Gedanken sind im Normalfall unleserlich. Was Atlas mit den Gedanken anstellt, ist komplizierter, als die Leute begreifen, und übergriffiger, als ihnen lieb ist. Aus purem Selbstschutz behält Atlas die Details für sich. Dennoch gibt es einen Grund dafür, dass die Leute ihn meistens mögen, sofern er das möchte, denn eine Begegnung mit Atlas Blakely fühlt sich ein bisschen so an wie ein Debugging des eigenen Codes. Zumindest kann es sich so anfühlen, wenn man es zulässt.

(Eines Tages, Jahre später, nachdem Neel mehrmals gestorben ist, Folade hingegen nur zweimal, als sie darüber diskutieren, ob sie Ivy in ihrem Grab lassen sollen oder nicht – falls das womöglich das Archiv vorübergehend zufriedenstellt …? –, wird Alexis Atlas erzählen, dass sie es mag, das Gedankenlesen. Nicht nur hat sie nichts dagegen, sie findet es tatsächlich richtig gut. Tagelang brauchen sie kein Wort miteinander zu wechseln, geradezu perfekt. Sie schweigt lieber. Um sie zu zitieren: »Kinder, die Tote sehen können, sprechen nicht gern.« Das sei echt bei allen so, versichert sie ihm. Atlas fragt, ob es eine Selbsthilfegruppe gibt, »du weißt schon, für die Kinder, die Tote sehen können und jetzt so richtig, richtig wortkarge Erwachsene sind«, und sie lacht und beschnipst ihn mit Badeschaum. »Hör auf zu reden«, sagt sie und streckt ihm die Hand entgegen. »Okay«, sagt er und steigt zu ihr in die Wanne.)

»Wie fühlt sich das an?«, fragt Ezra.

Atlas bläst einen weiteren perfekten Rauchring in die Luft und lächelt das blöde Lächeln der völlig Zugedröhnten. Zum ersten Mal in seinem Leben treibt seine Mutter irgendwo irgendetwas, von dem er überhaupt nichts weiß. Er hat nicht nach ihr geguckt. Hat es auch nicht vor. Wird es unweigerlich irgendwann tun, denn das ist der Lauf der Dinge. Die Flut kehrt immer zurück. »Was, Gedankenlesen?«

»Immer genau das Richtige zu sagen«, stellt Ezra klar.

»Beschissen«, antwortet Atlas.

Ganz intuitiv verstehen sie es beide. Die Gedanken eines Menschen zu lesen, den man nicht ändern kann, ist so sinnlos wie die Zeitreise zu einem Ende, das man nicht umschreiben kann.

***

Die Moral von der Geschichte lautet: Hüte dich vor dem Mann, der dir unbewaffnet gegenübertritt. Doch die Moral von der Geschichte lautet ebenso: Hüte dich vor gemeinsamen Momenten der Verletzlichkeit zwischen zwei erwachsenen Männern, deren Mütter verstorben sind.

Was immer sich da zwischen Ezra und Atlas entspinnt, es legt den Grundstein für all das Verderben, das folgt. Es ist der Nährboden für jede Katastrophe, die sich anbahnt. Nenn es eine Entstehungsgeschichte, nenn es Aberglaube. Eine zweite Chance auf so etwas Ähnliches wie Leben, was natürlich der Anfang vom Ende ist, denn das Dasein ist im Großen und Ganzen sinnlos.

Was nicht heißen soll, dass der Rest ihres Jahrgangs unsympathisch wäre. Folade – oder Ade, wenn der Übermut mit ihr durchgeht – schert sich als Älteste der Gruppe einen Scheißdreck um die anderen, was völlig in Ordnung ist. Sie hält sich für eine Dichterin, ist stark abergläubisch und als Einzige zudem religiös, was die anderen eher beeindruckend als seltsam finden, weil ihr dadurch ebenfalls als Einzige friedliche Momente vergönnt sind. Sie ist Physiomagierin, genau gesagt Atomistin – die beste, die Atlas je getroffen hat, bis er Nico de Varona und Libby Rhodes kennenlernt.

Ivy, ein reiches Mädchen mit sonnigem Gemüt und Viralbiomagierin, könnte jederzeit innerhalb von fünf, sechs Tagen ein Massensterben herbeiführen. (Später wird Atlas denken: oh. Die hätten wir töten sollen. Was er irgendwie auch tut. Aber nicht so, wie er es hätte tun sollen, oder zumindest nicht so, dass es irgendetwas gebracht hätte.)

Neel ist der Jüngste unter ihnen, aufgekratzt und großmäulig und absolut einundzwanzig. Er hat gemeinsam mit Atlas in London studiert, wobei sie nie ein Wort miteinander gewechselt haben, weil Neel mit den Sternen beschäftigt war und Atlas mit der Kotze seiner Mutter oder mit der heimlichen Entwirrung ihrer Gedanken. (Im Leben seiner Mutter gibt es nicht nur seelischen, sondern auch einiges an physischem Siff. Zunächst versuchte Atlas, in ihrem Kopf klar Schiff zu machen, ihre Ängste gegenüber dem Unbekannten neu zuzuordnen, denn ein aufgeräumter Geist führt zu einer halbwegs sauberen Wohnung, oder andersherum? Einer dieser Versuche befreite das Gemüsefach für eine Woche erfolgreich von nicht identifizierbarem Schmodder aus der Hölle, doch dann wurde es bloß noch schlimmer, die Paranoia verschärfte sich – als hätte sie gespürt, dass jemand bei ihr eingestiegen war, dass ein Einbrecher da gewesen war. Kurz wurde es so schlimm, dass Atlas das Ende kommen sah. Doch es kam nicht. Und darüber war er froh. Aber er war auch absolut am Arsch.) Neel ist Divinist und sagt immer Dinge wie: »Lass heute lieber die Finger von den Erdbeeren, Blakely, die sind hinüber.« Das nervt zwar, doch Atlas weiß, sieht es ganz deutlich, dass Neel es ehrlich meint, dass er nie in seinem Leben auch nur einen unmoralischen Gedanken gehegt hat, außer vielleicht einen oder zwei über Ivy. Die sehr hübsch ist. Wenn auch eine wandelnde Todesbotschaft.

Dann ist da noch Alexis. Sie ist achtundzwanzig und angepisst von den Lebenden.

»Die macht mir Angst«, gesteht Ezra bei mitternächtlichem Shepherd’s Pie.

»Jupp«, stimmt Atlas aus vollem Herzen zu.

(Später wird Alexis seine Hand halten, kurz bevor sie geht, und sagen, dass es nicht seine Schuld ist, obwohl es doch seine Schuld ist, was Atlas wissen wird, weil sie innerlich denkt: Du Vollidiot, du dummes kleines Arschloch. Ohne jeden Groll, denn Alexis ist wirklich nicht nachtragend, und laut wird sie sagen: »Verschwende es nicht, Blakely, okay? Du hast dich entschieden, schön, so ist es jetzt nun mal, aber verdammt nochmal verschwende es nicht.« Doch natürlich tut er genau das. Das und nichts anderes.)

»Liegt das an dieser Totenbeschwörerei? An den Knochen?« Ezra starrt ins Leere. »Sind Knochen unheimlich? Sei ehrlich.«

»Seelen sind unheimlicher als Knochen«, verrät Atlas ihm. »Geister auch.« Er schaudert.

»Haben Geister Gedanken?«, fragt Ezra, die Zunge schon etwas träge.

»Ja«, antwortet Atlas.

So häufig kommen die gar nicht vor, die Geister. Das meiste stirbt und bleibt dann auch tot.

(Wie Alexis, zum Beispiel.)

»Worüber denken sie nach?«, bohrt Ezra weiter.

»Meistens nur über eine einzige Sache. Immer und immer wieder.« Zwanghafte Verhaltensstörung, regelmäßig eine der ersten Diagnosen, wenn Atlas sich mal wieder von irgendwem zurechtbiegen lassen will. Mit ziemlicher Sicherheit falsch, denkt er. Ihm ist klar, dass er irgendwo auf dem Spektrum liegt, das tut jeder – das ist ja der Witz bei einem Spektrum –, aber Zwangsstörung? Unwahrscheinlich. »Bei denen, die in dieser Welt hängen bleiben, geht es meistens um eine bestimmte Sache.«

»Echt?«, fragt Ezra. »Was denn so, zum Beispiel?«

Atlas kaut auf seiner Daumenkante herum. Seine Mutter besitzt siebzehn Flaschen von derselben Handcreme, und auf einmal wünscht er sich sehnlichst, er hätte eine davon hier. Einen kurzen Moment lang denkt er, er sollte nach Hause gehen.

Der Moment vergeht. Er atmet aus.

»Wen kümmert’s, was die Toten wollen?«, sagt Atlas.

Er ist nicht blöd. Sollte er irgendwann sterben, dann bleibt er fort.

***

Üblicherweise ernennen die Alexandriner ihre Kuratoren nicht aus den eigenen Reihen. Das wissen Sie nicht, weil Sie so weit noch nicht gekommen sind, doch tatsächlich wird die Geheimgesellschaft gar nicht von ihren eigenen Auserwählten geführt. Ihre initiierten Mitglieder sind zu wertvoll, zu beschäftigt, und außerdem – wie unfassbar grausam wäre das, jemanden umbringen zu müssen, nur um dann einen Bürojob anzutreten und das Telefon zu bewachen? Nein, die Geheimgesellschaft wird fast ausschließlich von ganz normalen Menschen betrieben, die ganz normale Bewerbungsprozesse durchlaufen und ganz normale Lebensläufe haben. Sie haben auf so gut wie keine relevanten Daten Zugriff, daher spielt es eigentlich keine Rolle, wie viel sie wissen.

William Astor Huntington war Professor für Altphilologie an der NYUMA, bevor ihm die Stelle als Kurator angeboten wurde. Als der Alexandrinische Rat, der wiederum tatsächlich aus Auserwählten besteht, Huntingtons unkonventionelle und leicht besorgniserregende Wahl seines Nachfolgers hinterfragte, hatten alle Ratsmitglieder plötzlich ein feines, aufdringliches Summen im Ohr. Das war ausgesprochen irritierend – und Atlas Blakely hatte ein so strahlendes Lächeln, eine so vorbildliche Akte, dass sie einstimmig beschlossen, die Sitzung vorzeitig zu beenden und nach Hause zu gehen.

All das zeigt, dass Atlas nicht ohne Aufwand in diesem Büro, auf diesem Stuhl gelandet ist. Sie müssen ihn dafür nicht bewundern, aber Sie könnten, wenn Sie wollten. Für den Kuratorposten braucht es diplomatisches Geschick, und ein Diplomat war Atlas, ein fingerfertiger Strippenzieher; er hatte sein ganzes Leben nichts anderes geübt. Könnte man einwenden, dass Atlas Blakely noch nie ein ehrliches Wort über die Lippen gekommen war? Könnte man. Niemand würde widersprechen, am allerwenigsten er selbst.

Jedenfalls begriff Atlas als Erster die Initiationsbedingungen der Geheimgesellschaft. Auf der Forschungsstelle sitzt ein Auserwählter, der über nichts anderes nachdenken kann. Eine altertümliche Pistole, kurze Distanz, der Abzug löst aus, bevor er bereit ist, o Scheiße o Scheiße, die Hände zittern, noch mal der Abzug, diesmal ist es übel, aber nicht tödlich, fuckfuckfuck ich Idiot, hilf mir doch wer …

Am Ende brauchte es vier Leute, um das durchzuziehen. Atlas, der die Erinnerungen aus zweiter Hand durchlebt, denkt sich: Heilige Scheiße. Danke, ich verzichte.

»Aber die Bücher«, gab Ezra zu bedenken.

Atlas packte gerade seinen Koffer, als Ezra in sein Zimmer kam, um ihm auf die Nerven zu gehen oder vielleicht bloß um ihm noch einmal alles in Erinnerung zu rufen. Atlas' Hände waren völlig ausgetrocknet, er hatte kein Wort vom Pubbesitzer im Erdgeschoss gehört, der ihn anrufen sollte, sobald irgendwas nicht stimmte, aber vielleicht ließen die Schutzzauber keine nachbarschaftlichen Anrufe durch …? Dieses Haus wollte, dass er jemanden tötete; mal ehrlich, wer konnte da schon sagen, ob das Telefon richtig funktionierte?

»All die verdammten Bücher.« Ezra seufzte aus tiefstem Herzen.

Wir haben noch nicht besprochen, wie sehr Atlas Bücher liebt. Wie Bücher ihm das Leben retteten. Nicht in diesem Stadium seines Lebens, denn das ging gerade hübsch den Bach hinunter. Sondern früher. Bücher waren seine Rettung gewesen.

(Er hatte nicht begriffen, dass ihn eigentlich ein Mensch gerettet hatte, denn es waren Menschen, die Bücher schrieben; Bücher waren lediglich die Halteseile, die Rettungsleinen, die ihn immer wieder zurückzogen. Doch damals arbeitete er in einem schmierigen Pub und dachte, er würde Menschen hassen. Was er auch tat. Was wir alle von Zeit zu Zeit tun. Jedenfalls erlag er da einem kleinen, aber entscheidenden Irrtum.)

Als Atlas älter wurde und begriff, was für ein hartes Leben vor ihm lag – klinisch gesprochen waren das die Phasen von Leere und fehlendem Selbstwert, von dumpfer Wut mit ihrer verschwommenen, ziellosen Unkonzentriertheit, den Anfällen asozialen Verhaltens, Schüben von Isolation und Autoaggression –, war er wenigstens in einem Palast intellektueller Sammelwut gefangen gewesen, umgeben von bergeweise Büchern, die einmal dem zerbröselnden Verstand seiner Mutter eine Form gegeben hatten. Erst da lernte er sie wahrhaftig kennen, zwischen den markierten Zeilen, auf den Seiten mit den Eselsohren. Allein in den Büchern begegnete er ihr in ihrem bitteren, rasenden Hunger, einer Frau, die, bei lebendigem Leibe von der Liebe verschlungen, mit äußerster Verzweiflung gesehen werden wollte. In den Büchern, in denen sie einen Brief aufbewahrte, eine handschriftliche Notiz, die bewies, dass nicht alles nur in ihrem Kopf passiert war – dort, wo sich später dieses unüberschaubare Labyrinth bilden sollte –, womit sich ein Mann immer bequem aus der sprichwörtlichen Affäre ziehen konnte. In den Büchern, in denen sie Trost gefunden hat, bevor und nachdem ihr Leben durch die Geburt eines ungewollten Sohnes entzweigeteilt worden war.

»Die Mühe hättest du dir sparen können«, murmelte Atlas seiner Mutter einmal zu. Das Ganze ist doch eine gemeine Falle, dachte er. Man lässt eine unsichtbare Uhr ablaufen, auf ein Ende hin, das man nicht einmal miterlebt. Wie die Geschichte ausgeht, wird man nie erfahren, also … macht man einfach und bemüht sich und muss unausweichlich scheitern, muss ausnahmslos leiden, und wozu? Wäre sie doch lieber dortgeblieben, an der Uni, wo ihr genialer Verstand vielleicht Raum zum Wachsen gehabt, Erfüllung und ein Ziel gefunden hätte. Lieber dort als hier, wo Atlas ihr den Speichel von der Wange wischte und ihrem teilnahmslosen, düsteren Blick begegnete.

»Wenn ein Ökosystem kippt, erschafft die Natur ein neues«, sagte sie, was wohl nicht viel zu heißen hatte. Gar nichts womöglich.

Beim ersten Mal verstand Atlas sie nicht. »Wie bitte?«, sagte er, also wiederholte sie: »Wenn ein Ökosystem kippt, erschafft die Natur ein neues«, und er dachte: Wovon zur Hölle faselst du?, aber dann, später, fällt es ihm wieder ein, in diesem wichtigen Moment, in dem er nicht weiß, wessen Idee es überhaupt ist. Ezras vielleicht, oder vielleicht hat Atlas sie ihm eingepflanzt. Vielleicht hatten sie sie beide.

Wenn ein Ökosystem kippt, erschafft die Natur ein neues. Kapierst du’s nicht? Die Welt geht nicht unter. Nur wir.

Aber vielleicht … vielleicht könnten wir größer sein als das. Vielleicht hatte sie das gemeint. Vielleicht sind wir zu Größerem bestimmt.

(Davon ist Atlas allmählich immer überzeugter. Ja, das musste sie gemeint haben.)

Es spielt keine Rolle, wo es anfing. Oder wo es endet. Wir sind Teil des Kreislaufs, ob es uns gefällt oder nicht, also sei lieber kein Ödland.

Sei die Heuschrecken. Sei die Plage.

»Sind wir mal die Götter«, sagt Atlas laut, und man darf nicht vergessen, dass er unter Drogen steht, dass er seine Mutter vermisst, dass er sich selbst hasst. Es ist von ganz entscheidender Bedeutung, dass Atlas Blakely in diesem Moment ein verängstigtes, trauriges, einsames Geschöpf ist, eine Sommersprosse am Arsch des jüngsten drohenden Untergangs der Menschheit. Atlas Blakely ist es egal, ob er es bis zum Morgen schafft, oder zum Morgen danach, oder danach. Ihm ist völlig egal, ob er vom Blitz getroffen wird und heute Abend stirbt. Atlas Blakely ist ein neurotischer Typ um die zwanzig (fünfundzwanzig, um genau zu sein) auf verzweifelter Sinnsuche, unter dem Einfluss von mindestens drei bewusstseinsverändernden Substanzen und in der Gegenwart seines eventuell allerersten echten Freundes, und als er das ausspricht, denkt er erst einmal überhaupt nicht über die Konsequenzen nach. Er versteht das Konzept von Konsequenz noch nicht! Er ist ein Kind, ein Idiot im Grunde, er kennt einen winzigen Ausschnitt menschlicher Lebenserfahrung und begreift noch nicht, dass er Staub ist, ein Sandkorn, nur ein Haufen verschissener Würmer. Das begreift er erst, als Alexis Lai an seine Tür klopft und sagt: Hi, ich will gar nicht groß stören, aber Neel ist tot, er ist gestorben und in seinem Teleskop steckt ein Zettel, auf dem steht, dass du ihn umgebracht hast.

An dem Punkt wird Atlas Blakely klar, dass er es verkackt hat. Es braucht noch mindestens zwei tote Neels, bis er das laut ausspricht, aber er weiß es schon jetzt, in diesem Augenblick, auch wenn er niemandem sagt, was ihm durch den Kopf geht, nämlich: Ich hätte nicht um Macht bitten sollen, wenn ich eigentlich Sinn wollte.

Aber jetzt hat er beides. Tja. Wie Sie sehen, stecken wir in einer Sackgasse.

***

»Und was soll das heißen?«, fragt Libby Rhodes, deren Hände noch immer qualmen. Helle Spuren laufen ihr über die Wangen, an ihren Schläfen vermischt sich Salz mit Ruß. In ihrem Haar klebt Asche, zu ihren Füßen gekrümmt liegt Ezra Fowler.

Ezras letzter Atemzug ist keine zehn, fünfzehn Minuten her, seine letzten Worte sind es nur wenige Sekunden länger, und auch dies wird unausgesprochen bleiben: dass Atlas trotz seiner Wut, obwohl er nicht weiß, welche Gefühle er beim Verlust des Mannes erwartet hatte, den er einst liebte und derzeit hasst, dennoch Gefühle hat. Sehr intensive Gefühle.

Doch vor langer Zeit hat er eine Entscheidung getroffen, denn irgendwo da draußen gibt es ein Universum, in dem ihm das erspart blieb. Irgendwo gibt es mindestens eine Welt, in der Atlas Blakely mit einem Mord vier andere Leben rettete, und jetzt besteht der einzige Weg nach vorn darin, diese Welt zu finden. Oder zu erschaffen.

So oder so gibt es nur ein mögliches Ende für diese Geschichte.

»Das soll heißen«, antwortet Atlas und blickt vom Boden auf, »was wollen Sie noch zerstören, Miss Rhodes, und wen werden Sie dafür verraten?«

Der Komplex

als Anekdote zur Menschheit

Die eine Seite der Medaille ist eine Geschichte, die Sie kennen. Völkermord. Sklaverei. Kolonialismus. Krieg. Ungleichheit. Armut. Tyrannei. Mord, Ehebruch, Diebstahl. Hässlich, brutal, kurz. Sich selbst überlassen, gibt sich der Mensch unweigerlich niederen Trieben und selbstzerstörerischer Gewalt hin. In jedem Menschen steckt die Kraft, das Wesen der Welt zu erkennen und sie dennoch vernichten zu wollen.

Die andere Seite der Medaille heißt Romito 2. Vor zehntausend Jahren, als seine Artgenossen lediglich dank ihres Jagdgeschicks überlebten, wurde ein Mann mit einer schweren Form von Kleinwüchsigkeit von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter betreut, ohne dass seine Mitmenschen davon irgendeinen – Zitat: »ersichtlichen Vorteil« – hatten. Trotz knapper Ressourcen wurde ihm eine ganz grundlegende Würde zuteil: Er durfte am Leben bleiben, weil er zu ihnen gehörte, weil er lebte. Sich selbst überlassen, kümmern sich die Menschen unweigerlich umeinander, selbst unter großen Einbußen. In jedem Menschen steckt die Kraft, das Wesen der Welt zu erkennen und sie dennoch retten zu wollen.

Es gibt nicht nur entweder diese oder jene Seite. Beides ist wahr.

Werfen Sie eine Münze und beobachten Sie, auf welcher Seite sie landet.

IExistentialismus

Eilif

Der blonde Mann, der in der Grand Central Station aus dem medäischen Transporttunnel trat, trug eine extrem auffällige Sonnenbrille. Und außerdem mehrere Schichten Illusionszauber. Manche waren erst kürzlich aufgelegt worden, die meisten jedoch schon vor Jahren oder gar Jahrzehnten. Also keine hastig übergeworfene Verkleidung, sondern eher eine permanente kosmetische Korrektur. Die Pilotenbrille hatte einen interessanten Farbverlauf; der Goldton schillerte vom oberen Rand zur Mitte hin ins Silberne. Die Brille erinnerte Eilif an eine Perle mit schimmernder Hülle, Schatz eines gefühlskalten Ozeans. Vielleicht hatte diese Brille ihre Aufmerksamkeit erregt oder das unangenehme Gefühl, dass der Mann ihr mit unergründlichem Blick direkt in die Augen sah.

Das war nicht Nico de Varona. Ärgerlich, möglicherweise katastrophal. Doch Eilif war klug genug, um ihre voraussichtlich allerletzte Chance zu ergreifen.

»Da«, sagte sie ungeduldig zu dem Navy SEAL neben sich. Er zog eine Grimasse, als schmerzten ihm die Ohren. Warum nur? »Der da. An dem klebt überall Blut.«

Dem Mann hing der Dunst von den Schutzzaubern des Hauses, das er verlassen hatte, noch immer deutlich an, entströmte wellenförmig seinen Poren. Wie eine Aura aus giftigen Dämpfen oder ein mieses Parfüm. Wobei dieser Mann sicher nur teures Parfüm auflegte.

»Das ist Ferrer de Varona? Trägt er eine Illusion oder so?«, fragte der Marine – nicht an Eilif gewandt, sondern an das Maschinchen in seiner Ohrmuschel. Der Kerl war gar nicht in Blau gekleidet, schon gar nicht Marineblau. Eilif beschlich der Verdacht, dass sie sich mit Amateuren eingelassen hatte. »Im Briefing hieß es doch, die Zielperson ist eher klein, Latino, dunkle Haare …«

Eilif beobachtete, wie sich die Menschenmenge für den Blonden freundlich teilte. Nein. So etwas passierte definitiv nicht in New York City. Sie zerrte den SEAL am Ärmel. Es waren insgesamt drei, doch dieser stand ihr am nächsten. »Schnappt ihn euch. Los.«

Er riss seinen Arm los. »Ich glaube, der Tracker spinnt irgendwie.«

Wieder sprach er nicht mit ihr. Schade, sie hätte ihm gesagt, dass etwas Magisches ihm das eingeflüstert hätte; dass sein komischer Tracker immer irgendwie spinnen würde, weil er ein überaus gewöhnlicher Mensch war, und dies war eben der Preis der Gewöhnlichkeit. Ja, der SEAL besaß einiges an Muskeln, wahrscheinlich einigermaßen schnelle Reflexe, was sich insgesamt zu einer überdurchschnittlichen Leistung summierte, wenn auch von nicht weiter beachtenswerter Sorte. Eine gute Tötungsmaschine. Von denen war Eilif allerdings schon vielen begegnet. Bleibenden Eindruck hatte bisher keine hinterlassen.

Sie wartete nicht ab, bis der SEAL von seinem medäischen Befehlshaber das Offensichtliche erfuhr. Sie hechtete in die Schneise, die der Blonde bei seinem wichtigtuerischen Auftritt hinterließ, was Hektik bei den anderen zwei Marines in der Nähe auslöste. Gut. Sie würden ihr nachsetzen, Eilif würde den Blonden stellen, und dann würde sehr schnell sehr klar werden, dass nichts in Ordnung war, dass Nicolás Ferrer de Varona sie wieder einmal an der Nase herumgeführt hatte und dass sie statt seiner nun ihn vorfanden: einen ebenso außergewöhnlichen Blonden, der ganz offenbar aus demselben Haus gekommen war. Das Haus mit dem Blut in den Schutzzaubern.

Von hinten zischte etwas an ihr vorbei, irgendwo oberhalb ihrer Schulter. Eilif folgte dem Goldschopf durch die niedrigen Bogengänge und preschte hinter ihm Richtung Straße.

»Die rennt!«

»Er meinte doch, das könnte passieren. Bleib einfach an ihr dran …«

Eilif achtete nicht auf sie, sondern jagte ihrer Freiheit hinterher, vielleicht auch ihrem Verderben. »Stopp!«, rief Eilif vom Bahnhofseingang aus. Rauchwölkchen begleiteten ihre Stimme. Es fühlte sich gut an, es wieder zu benutzen, dieses Ding in ihrer Brust, das manche als ihre Magie bezeichnen würden. Eilif bezeichnete es als ihr Selbst. Um zu überleben, musste sie es verbergen, ihr Selbst-Sein, ihr Ja-Sein – das Ding, das ihr die Hoffnung auf ein Morgen gab. Im Gegensatz zu ihren Deals. Die gaben ihr das Gefühl von einem Jetzt, einem Irgendwann, einem Heute.

Ihr Ruf teilte die Menschen auf der Straße wie einen Vorhang, den Pulk aus Glücksjägern und Fahrrädern und ewig köchelnder Wut. Ein Mann mit silbernen Ohrstöpseln merkte nichts und lief einfach weiter. Einen Augenblick lang staunte Eilif über die Effektivität von modernem Matrosenwachs. Viel wichtiger aber: Der Blonde war stehen geblieben, die Schultern rührten sich nicht mehr in ihrer Hülle, einem weißen Leinenhemd. Zunächst wirkte er völlig unberührt von der feuchtheißen Vormittagsluft des Frühsommers, doch Eilif bemerkte die Magie, die ihm schwallweise entströmte. Als er sich umdrehte, entdeckte sie eine feine Schweißperle auf seiner Stirn, die rasch hinter die Unnahbarkeit der spiegelblanken Brille rann.

»Hallo«, sagte er mit karamellweicher Stimme. »Mein Beileid.«

»Wofür?«, fragte Eilif, die ihn zum Stillstand gebracht hatte und gar nicht tot war. Noch nicht.

»Ich fürchte, du wirst die Begegnung mit mir bereuen. Geht fast allen so.« Ein völlig unzerknirschtes Lächeln legte sich auf seinen magisch manipulierten Mund, während die beiden SEALs die Wirkung von Eilifs Befehl abschüttelten, sich rechts und links von ihr aufbauten und hoffentlich demnächst als hilfreich erwiesen.

»Den da«, sagte sie und stieß sie an. Zwei Köpfe fuhren zu dem Blonden herum, zwei Hände legten sich zeitgleich auf die Gewehre, die ihn nicht verfehlen würden.

Verhaften, lautete die Anweisung. Bezwingen, hieß es in den Bestimmungen zu Eilifs Deal; wie ein Tier, das aus seinem Käfig ausgebrochen war. Ihr war klar, dass im echten Leben, abseits der Pläne von Strategen und Theoretikern, Wörter oft ihre Bedeutung wechselten. Bezeichnenderweise verhielt es sich mit ihren eigenen Worten genauso. Versprochen hatte sie den Zutritt zu dem Haus mit den blutigen Schutzzaubern. Lebendig oder tot, bevorzugte Zielperson oder nicht, der Blonde war jetzt ihre einzige Rettung. Nehmt ihn, zerteilt ihn in kleine Ster, formt ein Vorhängeschloss aus seinem gebrochenen Leib, egal. Ihre Seite des Vertrags hing nicht vom Zustand der Lieferung ab. Nach so vielen Jahren, so vielen Deals hatte sie gelernt, genau aufs Kleingedruckte zu achten.

Zum Ausweiden brauchte es keine Magie. Das wusste Eilif. Doch bei bestimmten Gelegenheiten schadete ein bisschen Magie keinesfalls, also tat sie ihr Bestes, um den Blonden hier festzuhalten. Sie kannte ihn nicht, konnte ihn nicht hassen. Dennoch konnte sie für ihr eigenes Leben mit dem seinen bezahlen.

Bedauerlicherweise ging alles schief, und das nahezu sofort. Eilif hatte ein feines Gespür für das Leise, für minimale Bewegungen, wie den Unterschied zwischen einem Wunsch und einem Bedürfnis. Oder das hauchdünne Zögern eines Schützen. Der SEAL links von ihr erlitt einen Gedankengang oder etwas sehr Ähnliches. Einen Puls der Sehnsucht eher, einen Stich von Reue.

Jemand, merkte sie, schlug hier zurück.

Noch eine Schweißperle zeigte sich und verschwand hinter der schillernden Brille des Blonden. Der SEAL rechts von Eilif zuckte auf wie eine Kerzenflamme. Zorn vielleicht, oder Begehren. Eilif kannte ihn gut, den Blitz der Eingebung, auf den es auch bei vielen ihrer eigenen Fähigkeiten ankam. Die optische Täuschung, die unter bestimmten Umständen wie ein Sinneswandel aussehen konnte. Hinter ihr war die Bewegung erlahmt, es folgten keine weiteren SEALs. Egal welche atmosphärische Veränderung die beiden neben ihr in diesen gefährlichen Schwebezustand versetzt hatte, jetzt verschmolzen sie, vereinten sich in leichterer, höherer Berufung. Wie Cumuluswolken, die sich zu einem durchscheinenden Cirrusschleier formten, oder ein Akkord in Moll, der sich in Dur auflöste.

»Das Problem ist deine Verzweiflung«, sagte der Blonde. Erst nachdem die Schüsse hätten knallen sollen, fiel Eilif auf, dass er sie direkt ansprach. Eine seltsame, überdeutliche Stille umgab sie, das Schweigen der SEALs war auf die Menschenmenge übergegangen, und eine theatergleiche Stille hatte sich über die Straße gelegt, als würde gleich das gesamte Publikum aufspringen und in tosenden Applaus ausbrechen. »Es ist wirklich nicht persönlich gemeint«, fügte der Blonde hinzu und beobachtete ihr verspätetes Gedankenrattern.

Ein kompletter Häuserblock in Schweigestarre versetzt. Die SEALs, die Nico de Varona hatten überwältigen sollen, nutzten am Ende nichts. Dann war es jetzt es vielleicht so weit. Vielleicht war es jetzt vorbei.

Nein. Nicht heute, nicht jetzt.

»Geht mir genauso«, erwiderte Eilif kühn und versuchte, nur an eins zu denken: Du bist mein.

Bedenklicherweise schlüpfte jedoch noch ein anderes Element durch ihr fest gespanntes Gedankengewebe; kein Zögern, sondern Schlimmeres. Wie die Schweißperle des Blonden: ein Stück Schmerz, geboren aus einer unbedachten Gefühlsregung. Der Nervenkitzel der Verfolgungsjagd. Der Siegesrausch. Das Zucken ihrer Schwanzflosse. Die zarten Kerben an ihrer Wade – jeder Deal, mit dem sie ihr Leben neu erschaffen, ihr Schicksal in neue Bahnen lenken wollte. Und dann ganz am Ende, wie eine Welle, die brach: ein vereinzeltes Aufschimmern ihres Sohnes Gideon.

Unklug, bei diesem Kraftakt so viel von sich selbst durchsickern zu lassen, wo sie doch seinen Willen brechen wollte. Die Risse setzten sich zweifellos bis zu ihm fort, Unreinheiten wie kleine Rostflecken, Löcher, durch die ein vereinzelter widerborstiger Gedanke entschlüpfen konnte. Dennoch spürte sie, wie sich der Mund des Blonden mit einem alten, vertrauten Verlangen füllte, dem sauren Geschmack der Begierde. Das verschaffte ihr meist etwas Zeit. In diesem Fall gerade genug, um dem nächststehenden SEAL das Gewehr aus der Hand zu reißen.

Gerade genug, um von der Gejagten zur Jägerin zu werden, und sei es nur dieses eine Mal.

Sie richtete die Mündung auf den Blonden, Finger am Abzug, einen Strom uralter Flüche im Kopf. »Komm mit mir«, sagte sie sirenensüß, das Säuseln eines zeitlosen Versprechens. Sie spürte genug, um zu wissen, dass er die üblichen Wünsche der Sterblichen empfand; den erwartbaren Schmerz des Unerwiderten und Unerfüllten. Er musste lediglich tun, was alle taten, und nachgeben.

Der Blonde ließ sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze rutschen, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte. Azurblau. Beryllblau wie die verlockenden Wellen des Meeres. Aus dem Augenwinkel sah Eilif einen Navy SEAL weinen. Tränen rannen ihm in bezwingender Entrückung über die Wangen. Der andere war auf die Knie gefallen. Ein Taxifahrer sang etwas, eventuell ein Kirchenlied. Mehrere Passanten küssten den Asphalt. Der Blonde vollbrachte das Unmögliche: ihr zu widerstehen und zugleich alle anderen außer Gefecht zu setzen; als würde er zwei Hälften des Universums zusammenhalten oder eine Welle am Sand festnähen.

Etwas zu spät kam Eilif die Erleuchtung, dass die Magie des Blonden nicht aus purer Verschwendungslust so im Übermaß aus ihm herausschwappte. Viele Menschen vergeudeten ihre Magie aus schlichter Unkenntnis ihrer Grenzen, in dem Glauben, ihre Machtquelle könne nie versiegen. Der Blonde allerdings war es gewohnt, alles aufzubrauchen. Er wusste genau, auf welche Mengen seiner selbst er verzichten konnte und auf welche nicht.

»Was stellst du mit ihnen an?«, fragte Eilif, die sich trotz ungünstiger Umstände ihre Neugierde nicht verkneifen konnte. Wirklich meisterliche Arbeit; doch sie war beeindruckt.

»Ah, das ist so ein Trick, den ich mir kürzlich angeeignet habe«, sagte der Blonde, offenbar erfreut über ihr Interesse. »Lähmung durch Schmerzfreiheit. Cool, oder? Hab ich letzten Monat irgendwo gelesen. Also, ist nicht böse gemeint, aber ich muss weiter. Ich hab noch eine Rechnung mit einer rachsüchtigen Bibliothek offen. Es wird Vergeltung verlangt, ich muss mich kümmern, das verstehst du doch bestimmt.«

Er trat lässigen Schrittes auf sie zu. Bei genauerer Betrachtung waren seine Augen blutunterlaufen; die eine Iris war so stark geweitet, dass sie endlos schien, fast schwarz. Also doch nicht so mühelos, wie er hier überlebte. Eilif streckte die Hand nach ihm aus, berührte mit den Fingerspitzen die schweißfeuchte Wange. Unter Sirenen gesagt, erkannte sie die Anzeichen von drohendem Schiffbruch. Sie wusste, das Ende kam mit Getöse, wie ein dunkler Strudel.

»Dieser eine, den du zu beschützen versuchst«, hörte sie ihn sinnieren, »warum kommt er mir so bekannt vor?«, und Eilif erkannte vage, dass das Gewehr am Boden lag, dass ihre letzte Chance verstrichen war, dass die Gebete sehr bald enden würden, dass der Blonde sie direkt ihrem Schicksal ausgeliefert hatte, wissentlich oder nicht. Dass er von irgendwoher wusste, wer – aber nicht, was – Gideon war.

Neben ihr rührten sich die SEALs, und der Blick des Blonden glitt zur Seite, aber einen Wimpernschlag später gelang es Eilif, ihn wieder zu sich zurückzuziehen. Sie begriff, dass er weg sein würde, bevor sich die Wirkung seiner Magie vollständig verzogen hatte, doch es gab etwas in ihm, das sie sehen, das sie verstehen musste.

»Sieh mich an«, sagte Eilif. Seine Augen waren blau, prophetisch, bitter. Dunkel vor Zorn, vor Entschlossenheit, vor Wut, wie achtlose Blutspritzer auf einer Ansammlung uralter Schutzzauber.

Der Puls einer tickenden Uhr; sein Ende, verdinglicht wie ihres, wartete auf ihn. »Wie lange hast du noch?«, brachte sie hervor.

Er lachte auf. »Sechs Monate, wenn man die Geschichte glaubt. Was ich leider tue.«

Das Aufblitzen eines Messers, seine Zähne im Dunkel,

»Ich liebe den sicheren Tod«, sagte der Blonde, dessen Augen nun vollständig schwarz waren. »Hat was Romantisches, oder?«

»Ja«, flüsterte sie.

Kerbe für Kerbe, dieses Leben ein Anker, Freiheit im Tausch gegen Überleben,

Seine Augen,

Das Dunkel,

Seine Augen,

***

»Eilif«, sagte eine andere Stimme. Vertraut und älter. Weniger müde, weniger zuckrig. »Deine Zeit ist um.«

Das gleiche Rot leuchtete aus den endlosen Tiefen des Ozeans hervor. Das gleiche rote Schuldbuch blitzte jeder Physik zum Trotz aus den Rissen der Traumzeit auf.

Sie hatte versucht zu entfliehen, doch ohne Erfolg. Der Buchhalter fand sie immer.

Zum allerersten Mal waren der Meerjungfrau die Trümpfe ausgegangen. Sie hatte keine Verhandlungsmasse mehr anzubieten, konnte um keine Versprechungen mehr feilschen, keine Halbwahrheiten mit Sirenengesang vorbringen. Die Kerben an ihrer Wade, die ihre Schulden zählten, funkelten in der Dunkelheit wie Schuppen und ketteten sie an ihren unvermeidlichen Tod. Zu guter Letzt fand sie ihr Ende.

Der Prinz, der Animatist, war auf freiem Fuße. Ihr Sohn verschwunden. Ihr letzter verzweifelter Versuch, mit dem Blonden ihre Schulden zu tilgen, katastrophal schiefgegangen. Dieser Ort mit den Büchern, mit den Blutzaubern, den sie dem Buchhalter versprochen hatte – dort wurden offensichtlich Monster gezüchtet. Wenn das jemand beurteilen konnte, dann Eilif. So als Monster.

Es spielte keine Rolle. Jetzt war alles vorbei, also beschloss sie, das letzte bisschen noch voll auszukosten. Zeit genug für einen oder zwei Flüche, oder vielleicht bloß eine Warnung.

Ich liebe den sicheren Tod, dachte Eilif. Hat was Romantisches, oder?

»Du kannst meine Schulden kriegen«, bot sie dem Buchhalter großzügig an und schenkte ihm ein Lächeln. »Genieße sie, sie haben ihren Preis. Jetzt hast du eigene Schulden. Eines Tages wird sich dein Ende bemerkbar machen, und dann wirst du dich nicht in Unwissenheit flüchten können. Du wirst es kommen sehen und nichts dagegen tun können.«

Nun hatte sie wirklich alle Angst fahren lassen. Und vielleicht genau deshalb entdeckte sie zum ersten Mal etwas in dem sonst so gestaltlosen Schatten des Buchhalters – ein goldenes Aufblitzen, ein hübsches Funkeln. Eine kleine Rune oder ein Symbol auf einer Art Brille, in Form von heimkehrenden Vögeln.

Ah, nein, kein Symbol – ein Buchstabe. W.

Eilifs Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, während die Dunkelheit dichter um ihre Schultern strudelte, sie wie eine Welle umfing und schwer in ihre Lungen floss, bevor sie geräuschlos im Nichts versank.

Nico

Die Vorladung musste in der Nacht unter der Tür seiner New Yorker Wohnung hindurchgeschoben worden sein, bevor Nico in den frühen Morgenstunden aufwachte oder – eher – bevor er aufstand, denn geschlafen hatte er gar nicht.

Sie war sehr korrekt, die Vorladung. Eine Aura der Ordnungsliebe umgab den weißen Umschlag, der unzeremoniell an Nicolás Ferrer de Varona adressiert war. Er trug kein komisches Wachssiegel, kein prahlerisches Wappen, keinerlei nennenswerte Merkmale der Überheblichkeit. Solcher Protz war wohl dem Herrenhaus vorbehalten, das Nico einen Tag zuvor verlassen hatte, und so blieb nur ein vage institutionalisierter Ruf zu den Waffen.

(Was genau hatte er von der Alexandrinischen Gesellschaft erwartet? Schwer zu sagen. Sie hatte ihn im Geheimen rekrutiert, hatte ihn aufgefordert, jemanden zu töten, und ihm Antworten auf einige der größten Mysterien des Universums geboten, wenn er in den Dienst von etwas Allwissendem, Uraltem, Arkanem trat. Doch sie hatte ihn auch mit einem Gong zu einem Abendessen gerufen, also lag die Ästhetik wohl recht vage zwischen ideologischer Raffinesse und brutaler Feuerprobe.)

Merkwürdiger war jedoch ein zweiter Umschlag, der noch besorgniserregender an Gideon kein-zweiter-Vorname Drake adressiert war.

»Also.« Die Frau hinter dem Schreibtisch – um die vierzig, wahnsinnig britisch – klickte mit ihrer Maus herum und drehte sich dann erwartungsvoll zu Nico, der unruhig auf dem knarzenden Ledersessel umherrutschte. »Wir haben verschiedene Routinegeschäfte zu besprechen, Mr. de Varona, wie Ihr Kurator Ihnen vermutlich schon angekündigt hat. Allerdings mussten wir Sie leider etwas … dringender als gewöhnlich herbitten«, fügte sie mit Blick auf Gideon hinzu, der neben Nico saß. »Ich nehme an, dass Sie das unter den gegebenen Umständen nachvollziehen können.«

Der Boden unter ihnen erzitterte. Zum Glück saß nur Gideon neben Nico und nicht eine gewisse andere Person, die ihn für den kleinsten magischen Fehltritt tadeln würde, und deshalb blickten beide nur stumm auf die Schreibtischlampe zu Nicos Linker.

»Na ja, Sie wissen ja, was man über Annahmen sagt«, erwiderte Nico.

Gideon gab Nico mit einer winzigen Kopfbewegung zu verstehen, dass er soeben mit einem seltenen (aber nie völlig unmöglichen) Drake'schen Seitenblick gesegnet worden war.

»Sorry«, sagte Nico. »Sprechen Sie weiter.«

»Also, Mr. de Varona, wir dürfen mit Fug und Recht von einem Rekord sprechen«, bemerkte Sharon, wie die Frau ihnen gegenüber offenbar hieß. Auf dem Namensschild, das ordentlich auf ihrem Schreibtisch stand (und das mit derselben Schriftart graviert worden war, die einst die Worte Atlas Blakely, Kurator, geformt hatte) war Sharon Ward, Personalsachbearbeiterin, zu lesen, doch die Personalsachbearbeiterin hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich offiziell vorzustellen. Seit Nico den Raum betreten hatte, hatte sie sogar sehr wenig gesagt.

»Es ist nicht das erste Mal, dass wir rechtliche Probleme mit einem Auserwählten haben«, stellte Sharon klar. »Es ist nur das erste Mal, dass es binnen vierundzwanzig Stunden nach dem Verlassen des Archivs passiert, also …«

»Moment, sorry«, unterbrach Nico sie, und Gideon zog kaum merklich die Augenbrauen zusammen – fragend und gleichzeitig warnend. »Rechtliche Probleme?«

Sharon klickte etwas auf ihrem Bildschirm an und überflog den Text, bevor sie Nico einen flüchtigen Blick zuwarf. »Haben Sie etwa nicht in aller Öffentlichkeit Regierungseigentum im Wert von mehreren Millionen Euro zerstört?«

»Ich …« Objektiv betrachtet hatte sie recht, doch auf spiritueller Ebene empfand Nico ihre Aussage irgendwie als ungenau. »Also, ich meine …«

»Haben Sie etwa nicht den Tod von drei Medäern zu verantworten«, fuhr Sharon fort, »von denen zwei CIA-Beamte waren?«

»Okay«, gab Nico nach, »rein hypothetisch gestehe ich das ein, aber war ich die direkte Ursache? Denn die haben mich zuerst angegriffen«, sagte er nachdrücklich, »also ist das doch, wenn man richtig drüber nachdenkt, eher eine Angelegenheit persönlicher …«

»Entschuldigen Sie.« Mit überheblichem Gesichtsausdruck wandte Sharon sich Gideon zu. »Ich meine, Sie wären für einen der Toten verantwortlich gewesen.«

»Was?« Nico spürte, wie eine Sorge, die er vor fünf Minuten noch nicht gehabt hatte – aber wohl hätte haben sollen –, sich im Raum breitmachte. »Gideon ist doch nicht …«

»Ja«, sagte Gideon geradeheraus. »Für einen davon bin ich verantwortlich.«

»Ihr Name ist Gideon Drake«, sagte Sharon, die Personalsachbearbeiterin, die Nico schon allein wegen ihres Tonfalls unsympathisch wurde. Er wäre bereit gewesen, ihr nach einer freundlichen Konversation und einem Tee ein Kompliment zu ihrem makellosen Twinset zu machen, doch jetzt überlegte er es sich anders. »Und«, fügte Sharon hinzu, »Sie sind kein Auserwählter der Alexandrinischen Gesellschaft.«

»Sie auch nicht«, bemerkte Gideon.

»Nun, nein.« Sharon presste die Lippen aufeinander. »Ich denke doch, dass in diesem Fall eine dieser Aussagen erheblich relevanter ist als die andere.«

»Moment, Sie sind keine Auserwählte?«, fragte Nico und sah Gideon verwirrt an. »Woher wusstest du das?« Woher wusste er das? Nico wandte sich an Sharon, da Gideon sich sehr gideonhaft auf taktisches Schweigen verlegte. »Natürlich sind Sie eine Auserwählte – immerhin befinden wir uns in den Räumlichkeiten der Geheimgesellschaft, oder etwa nicht?«

Einen Moment lang überlegte Sharon sich offenbar mehrere Beleidigungen als Antwort auf Gideons leicht feindseligen, gelassenen Blick. Normalerweise war Gideon überaus höflich, was seinen Gesichtsausdruck nur noch überraschender machte.

»Die Alexandrinische Gesellschaft hat natürlich nicht das geringste Interesse an den rechtlichen Komplikationen, die aus einem Vorfall dieser Art entstehen können.« Sharon sprach jetzt ausschließlich mit Gideon und nicht mehr mit Nico, was einigermaßen beunruhigend war. »Unsere Auserwählten genießen gewissen Schutz. Außenstehende nicht.«

»He, Moment mal.« Nico beugte sich auf dem Stuhl nach vorn. Das Leder unter ihm knarzte; entweder wurde es zu selten genutzt, war neu oder kein echtes Leder. Darum ging es eigentlich nicht, aber es unterstrich den Eindruck, den Nico bekam: dass all das hier sehr uncool und aufgesetzt war. »Sie wissen aber schon, dass ich angegriffen wurde, ja? Ich war das Ziel, und Gideon hat mir das Leben gerettet, und das sollte doch wohl was zählen …«

»Natürlich. Diese Information befindet sich in unseren Akten, sonst würde er nicht hier sitzen«, sagte Sharon.

»Wo würde er denn sonst sitzen? Ach, vergessen Sie’s«, schob er hastig nach, als sowohl Sharons als auch Gideons Gesichtsausdruck ihm nahelegten, dass er darauf wohl auch selbst kommen könnte. »Ich dachte, Sie hätten uns herbestellt, weil Sie uns helfen wollen!«

Sharons grüne Augen fixierten ihn kalt. Sie waren beinahe farblos, und diese unschmeichelhafte Beobachtung machte Nico auf keinen Fall nur, weil er sie nicht mochte. (Vermutlich jedenfalls.) »Mr. de Varona, befinden Sie sich gegenwärtig zufälligerweise in einem Pariser Gefängnis?«

»Ich … nein, aber …«

»Haben Sie eine Vorladung der Pariser Polizei erhalten?«

»Nein, aber trotzdem wurde ich …«

»Sind Sie Ihrer Meinung nach momentan in irgendeiner Weise körperlicher Bedrohung, rechtlicher Verfolgung oder einer anderen Gefahr ausgesetzt?«

»Das ist unfair«, erwiderte Nico, dem nicht gefiel, dass diese Unterhaltung ins Passiv-Aggressive abdriftete. »Ich bin andauernd irgendwelchen Gefahren ausgesetzt. Das kann Ihnen wirklich jeder sagen!«

»Das war’s also«, bemerkte Gideon, ohne Sharons Antwort abzuwarten. »Nico kommt mit einer Warnung davon, und ich komme … nicht ins Gefängnis, was ich wohl schon als Sieg werten sollte.« Nico fiel auf, dass sein Ton nicht unhöflich war. Für ihn war das hier ein Geschäftsmeeting. Ihm war bewusst gewesen, dass er sich zu einer Verhandlung einfand, während Nico mit einem Angebot oder wenigstens einer freundlichen Vorwarnung gerechnet hatte.

Junge, kein Wunder, dass Nico sich ständig anhören musste, er benehme sich wie ein Kind.

»Ich vermute, dass sie meine Erinnerungen löschen werden?«, fragte Gideon.