Allein mit dir in der Unendlichkeit - Olivie Blake - E-Book
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Allein mit dir in der Unendlichkeit E-Book

Olivie Blake

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Beschreibung

Nichts erschüttert dein Leben so stark wie die Begegnung mit einem Menschen, der dich so sieht, wie du bist.
Sally Rooney für die GenZ


Regan und Aldo könnten unterschiedlicher kaum sein und doch verbindet sie, dass sie sich in diesem Leben seltsam fremd fühlen. Wo ist hier der richtige Platz für sie?

Für Regan sind die Menschen vorhersehbar und unspannend, besonders sie selbst. Sie begegnet der Langeweile des Daseins nach dem Studium, indem sie so impulsiv wie möglich lebt und sich vorstellt, dass jede unüberlegte Entscheidung eine neue, alternative Zukunft für sie schafft.

Für Aldo fühlt sich die Welt beunruhigend chaotisch an. Er übersteht die Tage, indem er sie in strikte Routinen unterteilt, ein beinahe mathematisches Gerüst aus Regeln und Formeln. Ohne sie würde der gesamte Rahmen seiner Existenz zusammenbrechen.

Erst in der Beziehung zueinander finden sie die Sicherheit, nach der sie so lange gesucht haben. Doch die Realität findet immer wieder einen Weg in ihren eigenen, kleinen Kosmos. Und je heftiger die beiden sich ineinander verlieben, desto deutlicher wird, dass die Welt nicht nur aus zwei Menschen bestehen kann.

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Seitenzahl: 460

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Nichts erschüttert dein Leben so stark wie die Begegnung mit einem Menschen, der dich so sieht, wie du bist.

Regan und Aldo könnten unterschiedlicher kaum sein, und doch verbindet sie, dass sie sich in diesem Leben seltsam fremd fühlen. Wo ist hier der richtige Platz für sie?

Für Regan sind die Menschen vorhersehbar und unspannend, besonders sie selbst. Sie begegnet der Langeweile des Daseins nach dem Studium, indem sie so impulsiv wie möglich lebt und sich vorstellt, dass jede unüberlegte Entscheidung eine neue, alternative Zukunft für sie schafft.

Für Aldo fühlt sich die Welt beunruhigend chaotisch an. Er übersteht die Tage, indem er sie in strikte Routinen unterteilt, ein beinahe mathematisches Gerüst aus Regeln und Formeln. Ohne sie würde der gesamte Rahmen seiner Existenz zusammenbrechen.

Erst in der Beziehung zueinander finden sie die Sicherheit, nach der sie so lange gesucht haben. Doch die Realität findet immer wieder einen Weg in ihren eigenen, kleinen Kosmos. Und je heftiger die beiden sich ineinander verlieben, desto deutlicher wird, dass die Welt nicht nur aus zwei Menschen bestehen kann.

Olivie Blake liebt und schreibt Geschichten – die meisten davon fantastisch. Besonders fasziniert ist sie von der endlosen Komplexität des Lebens und der Liebe. Sie arbeitet in Los Angeles, wo sie von ihrem Lieblings-Pitbull gnädig toleriert wird. Ihre Fantasy-Trilogie The Atlas Six wurde auf TikTok zur Sensation.

»Ein Buch zum Genießen« Publishers Weekly

»Die Seiten vergehen wie im Flug in diesem Roman, der intim, kompliziert und äußerst romantisch ist.« Booklist

www.penguin-verlag.de

Olivie Blake

ALLEINMITDIRINDERUNENDLICHKEIT

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Carola Fischer

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel Alone with you in the ether

bei Tor Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2020 by Olivie Blake

Published by arrangement with Tor Publishing Group. All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde im Auftrag von Tom Doherty Associates durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München, nach einem Entwurf von Jamie Stafford-Hill

Umschlagabbildungen: © Daniel Prudek

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-31340-1V002

www.penguin-verlag.de

Für das alte Du,

von dem alten Ich

Inhalt

Erster Teil– Die Momente davor

Zweiter Teil – Die Gespräche

Dritter Teil – Die Schlüssel

Vierter Teil – Die ersten Male

Fünfter Teil – Die Variablen

Sechster Teil – Die Wendungen

Dank

Eine Hypothese

Besonders zu Anfang gab es Zeiten, in denen Regan versuchte, den genauen Moment zu bestimmen, als alles den unausweichlichen Kollisionskurs eingeschlagen hatte. Momente waren für Regan ungemein wichtig geworden. Es war Aldo, der die Formen und Pfade ihres Denkens verändert hatte, und so trug er jetzt wahrscheinlich die Schuld daran, dass sie alles in Bezug auf die Zeit betrachtete.

Ihre eigene Hypothese war recht einfach: Es gab einen einzelnen Moment, der für jede Ereignisfolge danach verantwortlich war. Regan war nicht so wissenschaftsbegeistert wie Aldo – und sicher auch nicht so ein Genie wie er –, aber ihre Auffassung von Kausalität war durchaus methodisch. Alles war eine Konsequenz, die sich von einem festen Eintrittspunkt aus wellenartig ausbreitete, und es war ein Spiel für sie geworden (wahrscheinlich von ihm gestohlen), den Ursprung aufzudecken.

Hatte es in dem Moment begonnen, als Aldo ihr in die Augen geblickt hatte? Als er ihren Namen ausgesprochen oder ihr seinen genannt hatte? War es der Moment gewesen, als sie zu ihm gesagt hatte: Steh auf, du kannst hier nicht sitzen, oder hatte es überhaupt nichts mit ihm zu tun? Konnte selbst dieser Moment das Ergebnis von etwas sein, das Tage, Wochen, gar Lebzeiten zuvor begonnen hatte?

Bei Regan lief alles auf Heiligkeit hinaus. Zwischen den Museumsführungen schlenderte sie gern durch ihre Lieblingsabteilungen im Art Institute, die sie normalerweise passend zur Religiosität ihrer Stimmungen auswählte. Was nicht heißen soll, dass sie speziell von religiöser Kunst angezogen wurde; meist beabsichtigte sie, ihre geheimen Sehnsüchte mit dem im glänzenden Rahmen angebeteten Gott (der manchmal, aber nicht immer Gott war) in Einklang zu bringen. In frühen katholischen Gemälden suchte sie nach Ehrfurcht. In modernen Werken nach Raffinesse. In zeitgenössischen nach der Dynamik der Erschütterung. Die Gottheiten hatten sich im Laufe der Zeit verändert, der Akt der Hingabe jedoch nicht. Das war die Qual der Kunst und der fortwährenden Vergötterung ihrer Schöpfung. Für jedes Gefühl, das Regan heraufbeschwören konnte, gab es Künstler*innen, die das Gleiche auf wunderschöne Weise durchlitten hatten.

Das Umherschlendern war an dem Tag eine klare Sache – eine Konstante, wie Aldo sagen würde –, nicht aber die Waffensammlung. Wenn sich Regan in der Vergangenheit zu einem Besuch der Waffensammlung entschlossen hatte, dann, weil sie für die Heiligkeit des Zwecks stand: Hier gab es keine Frivolität. Stattdessen aber die Ironie des Friedens: leere Waffenhülsen, schreiend rote Wände, Fossilien der Eroberung. Es erinnerte sie an eine Zeit, in der sich die Menschen während der Gewaltausübung noch in die Augen sahen, was ein paradoxes Gefühl der Genugtuung in ihr hervorrief. Es war intim, weil es das nicht war. Es war religiös, weil es das nicht war. Es war schön, im tiefsten Inneren, es war pervertiert, seelenlos und hässlich, und daher spiegelte es etwas Masochistisches in Regan.

Die Wahl der Waffensammlung an dem Tag schloss auch Signifikanz mit ein; sie hatte, kosmisch betrachtet, die wellenartige Wirkung von Konsequenz. Aber was war dann die Ursache gewesen? War sie Aldo begegnet, weil das Schicksal absichtlich eingegriffen hatte oder weil sich ihrer beider Art zu grübeln bereits so sehr glich? War es ausgedacht, Gott, der aus einer Maschine herabstieg, oder lag es daran, dass sie leer war, wo er leer war, und beide daher unweigerlich danach strebten, Erfüllung zu finden?

War es wichtig, wo es begonnen hatte, und würde es wichtig sein, wo es endete? Entweder war es sehr wichtig, weil alles eine Konsequenz von etwas war und daher das, was aus ihnen werden würde, gewissermaßen vorherbestimmt war –, oder es war völlig unwichtig, weil Anfänge und Enden nicht so bedeutsam waren wie die Momente, die hätten geschehen, oder die Folgen, die hätten eintreten können. Entweder war es alles, die ganze Geschichte zu kennen, zurückzublicken und ihre Form zu sehen, während man an ihrer Peripherie stand; oder es war nichts, weil die Dinge als Ganzes weniger fragil waren und dadurch weniger schön als die Bruchstücke innerhalb des Rahmens.

Am Ende würde Regan die Antwort kennen. Nachdem sie von dort, wo sie sich befunden hatte, um eine Ecke gebogen war, würde sie erkennen, dass es weniger auf die Frage des Zeitpunkts ankam, sondern mehr auf die Hingabe an den Moment, ab dem es kein Zurück mehr gegeben hatte. Am Ende ging es immer um Zeit, so wie es schon am Anfang gewesen war.

Denn ausnahmsweise befände sich in einem Moment, der entweder alles oder nichts war, noch jemand anderes in Regans Universum, und von da an würde alles so sein, wie es war, nur ein klein wenig anders.

Erster TeilDie Momente davor

Der Tag davor war nichts Besonderes. Er war nur deshalb besonders, weil er so gar nicht besonders war, oder vielleicht, weil er sich sehr bald als gar nicht besonders zeigen würde. Im Rückblick war immer alles seltsamer – eine komische kleine Konsequenz der Zeit.

Aldo, der nicht sehr häufig mit seinem Nachnamen, Damiani, angeredet wurde und noch seltener mit seinem Vornamen Rinaldo, hatte fünf Minuten vor seinem Auftritt stummer Meditation einen Joint gedreht. Den rollte er zwischen den Fingern und starrte ins Nichts.

Setting:Die Luft an diesem Nachmittag ist auf eine Art frisch und unbewegt, wie es in Chicago nur etwa eine Woche lang Mitte September vorkommt. Am Himmel scheint hell die Sonne, und die Blätter am Baum über ihm sind weitgehend reglos.

Handlung:Aldohebt den Joint an seine Lippen und befeuchtet das Zigarettenpapier.

Der Joint war nicht angezündet, weil er nachdachte. Er war in diesen Park gekommen, um ein Problem zu lösen, während er auf dieser Bank saß, und er hatte dort schon zehn Minuten lang gesessen. Davon hatte er neuneinhalb nachgedacht und vier gedreht, und jetzt war er seit gut dreißig Sekunden beim Fake-Rauchen. Muskelgedächtnis, hatte Aldo immer gefunden, war der Schlüssel zum Öffnen jeglicher Tür, die nicht aufgehen wollte. Für ihn war der Akt des Problemlösens definitiv eine Frage des Aberglaubens.

Aldoblickt ins Publikum. Da ihm nichts auffällt, was unstimmig wäre, sieht er wieder weg.

Der Mechanismus seines Rituals war einfach: Den Joint an die Lippen setzen, einatmen, ausatmen, die Hand sinken lassen. Das war die Formel. Formeln verstand er. Er führte den Joint an seine Lippen, sog tief ein und stieß ins Nichts wieder aus.

Eine Brisestreicht durch das Blätterdach über ihm.

Aldos rechter Daumen klopfte auf seinen Oberschenkel und schlug den Takt von Griegs In der Halle des Bergkönigs,

Einsatz Soundtrack.

der dann seine restlichen Finger ansteckte. Sie trommelten gegen den Stoff seiner Jeans, ungeduldig, während seine linke Hand weiterhin die Bewegung des Rauchens imitierte.

Aldo dachte über Quantengruppen nach. Speziell Hexagone. Es war seine feste Überzeugung, dass das Hexagon die bedeutendste Form in der Natur war, nicht nur wegen, aber auch nicht vollkommen ohne Bezug zu seiner Vorliebe für die Apis – allgemein bekannt als die Honigbiene. Bezeichnenderweise ahnte ein Großteil der Menschen nicht, wie viele Bienenarten existierten. Die Hummel war langsam und dumm genug, um sich streicheln zu lassen, was irgendwie süß war, wenn auch nicht ganz so interessant.

Der Erzähler, ein alternder, arthritischer Mann im Besitz vieler Bücher: Wir unterbrechen Ihre sorgfältige Prüfung von Aldo Damianis intrusiven Gedanken für einen notwendigen akademischen Einblick. Der große Kurt Gödel, ein Logiker des zwanzigsten Jahrhunderts und Freund von Albert Einstein, glaubte, dass eine kontinuierliche Flugbahn von »Lichtkegeln« in Richtung Zukunft bedeute, dass man immer zum selben Punkt in der Raumzeit zurückkehren könne. Es ist Aldo Damianis grundlegende These, dass sich diese Kegel auf eine systematische, vielleicht sogar vorhersagbare Weise entlang hexagonaler Bahnen bewegen.

Hexagone. Quantengruppen. Symmetrie. Die Natur liebte das Gleichgewicht, insbesondere die Symmetrie, erreichte sie aber nur selten. Wie oft brachte die Natur Perfektion hervor? Fast nie. Mathe war anders. Mathe hatte Regeln, endlich und konkret, aber dann ging es einfach weiter. Das Problem und der Kick abstrakter Algebra bestanden darin, dass Aldo sie mehr als sieben Jahre lang gründlich studiert hatte, und er könnte sie noch weitere sieben Millionen Jahre studieren und würde immer noch fast nichts verstehen. Er könnte unzählige Lebenszeiten mit dem Studium der mathematischen Grundlagen des Universums verbringen, und das Universum würde immer noch keinen Sinn ergeben. In zwei Wochen könnte es schneien, es könnte seitlich regnen, und dann wäre dieser Park nicht mehr für ihn verfügbar. Er könnte für das Nichtrauchen verhaftet werden oder jeden Moment sterben, und dann müsste er im Gefängnis nachdenken oder überhaupt nicht mehr, und das Universum würde weiterhin ungelöst bleiben. Seine Arbeit würde niemals erledigt werden, und das allein war schon tragisch, belebend, perfekt.

Auf die Minute pünktlich

Aus Aldos Hosentasche:ein Vibrieren, das das Publikum im selben Augenblick instinktiv in die eigene Tasche greifen lässt.

rief sein Vater an.

Aldo verstaute den Joint in seiner Hosentasche und zog sein Handy hervor. »Hallo?«

»Rinaldo. Wo bist du?«

Darauf gab es eine lange Antwort und eine kurze, und wahrscheinlich würde Masso auf beiden bestehen. »Bei der Arbeit.«

»Meinst du die Uni?«

»Ja, Dad. Ich arbeite an der Uni.«

»Hm.« Das wusste Masso bereits, aber danach zu fragen, war ein weiteres Ritual. »Worüber denkst du heute nach?«

»Bienen.«

»Ah. Das Übliche also?«

»Ja, so was in der Art.« Es war nie leicht zu erklären, woran er gerade arbeitete. Auch wenn es nett von seinem Vater war zu fragen, wussten doch beide, dass er fast nichts von dem begriff, was Aldo zu sagen hatte. »Ist alles in Ordnung, Dad?«

»Ja, ja, alles gut. Wie fühlst du dich?«

Es gab eine richtige Antwort auf diese Frage und viele, viele falsche. Ganz ähnlich den Quantengruppen wurde diese Frage nicht leichter, je häufiger man sie Aldo stellte. Tatsächlich war es so: Je öfter er die Szenarien durchspielte, desto mehr veränderten sich die Variablen. Wie fühlte er sich? Es war ihm schon früher schlecht gegangen. Es würde ihm wieder schlecht gehen. Das würde in der gleichen Weise zyklisch und schwankend verlaufen wie das Wetter. In zwei Wochen würde es regnen, dachte er.

Der Windweht etwas stärker und pfeift durch das Blattwerk.

»Mir geht’s gut«, sagte Aldo.

»Schön.« Masso Damiani war Koch, alleinerziehender Vater und immer besorgt, in dieser Reihenfolge. Masso dachte oft über das Universum nach, auf die gleiche Weise wie Aldo, nur anders. Masso fragte das Universum, wie viel Salz er ins kochende Wasser geben sollte oder ob diese oder die andere Rebe die süßesten Früchte hervorbrächte. Er wusste, wann die Pasta fertig war, ohne hinzusehen, wahrscheinlich wegen des Universums. Denn Masso besaß die Gabe der Gewissheit und benötigte keinen Aberglauben.

Aldos Mutter, eine quirlige Dominikanerin – zu jung fürs Muttersein und zu schön, um lange an einem Ort zu bleiben –, war nie sehr präsent gewesen. Wenn sie das Universum je nach etwas gefragt hatte, dann, so stellte sich Aldo vor, hatte sie wahrscheinlich bekommen, was sie wollte.

»Rinaldo?«

»Ich höre zu«, erwiderte Aldo, obwohl er damit meinte: Ich denke.

»Hm«, sagte Masso. »Hast du das Museum ausprobiert?«

»Vielleicht morgen. Heute ist es schön draußen.«

»Wirklich? Das ist gut. Selten.«

Schweigen.

Masso räusperte sich.

»Sag mir, Rinaldo, was machen wir heute?«

Aldos Mund zuckte leicht. »Du musst das nicht immer machen, Dad.«

»Es hilft doch, oder nicht?«

»Ja, natürlich, aber ich weiß, dass du zu tun hast.« Aldo blickte auf seine Armbanduhr. »Bei dir ist es doch fast Mittagszeit.«

»Trotzdem, zwei Minuten habe ich. Ungefähr.«

»Zwei Minuten?«

»Mindestens.«

Aldosummt vor sich hin, während er nachdenkt.

»Also«, sagte Aldo. »Ich glaube, heute sind wir vielleicht mal auf dem Meer.«

»In welchem Jahr?«

Er überlegte. »Wann war der Trojanische Krieg?«

»Ungefähr … im zwölften Jahrhundert vor Christus?«

»Ja. Das passt.«

»Dann kämpfen wir also?«

»Nein, wir laufen aus, denke ich. Sind unterwegs.«

»Wie ist der Wind?«

»Schwach, befürchte ich.« Aldo nahm den Joint wieder zwischen die Finger und rollte ihn langsam hin und her. »Wir könnten wohl ziemlich lange auf dem Meer sein.«

»Nun, das werde ich dann wohl morgen herausfinden müssen.«

»Du musst das nicht machen, Dad.«

Das sagtAldojeden Tag.

»Stimmt, vielleicht mach ich’s nicht.«

Und Massoebenso.

»Was gibt’s heute als Tagesgericht?«, fragte Aldo.

»Ach, Porcini. Du weißt doch, um diese Jahreszeit serviere ich gern Trüffel.«

»Dann halte ich dich nicht länger davon ab.«

»Okay, gute Idee. Gehst du jetzt zurück?«

»Ja, ich muss bald unterrichten. Um drei.«

»Gut, gut. Rinaldo?«

»Dad?«

»Du bist brillant. Sag deinem Verstand, er soll heute nett zu dir sein.«

»Okay. Danke, Dad. Viel Spaß mit den funghi.«

»Na klar.«

Aldo beendete das Gespräch und steckte das Handy zurück in seine Hosentasche. Leider keine Antworten heute. Noch nicht. Vielleicht morgen. Vielleicht übermorgen. Vielleicht viele Monate, Jahre, Jahrzehnte lang nicht. Glücklicherweise gehörte Aldo nicht zu den »Jetzt sofort«-Menschen. Früher hatte das die anderen in seinem Leben frustriert, aber inzwischen war er die meisten von ihnen losgeworden.

Er blickte über die Schulter zu seiner Maschine,

Requisite:eine 1969er Ducati Scrambler

die mühelos zwischen Autoverkehr und Fußgängern hindurchglitt und, soweit es Aldo betraf, auch durch Zeit und Raum. Warum irgendein Mensch lieber ein Auto als ein Motorrad besaß, ging über seinen Verstand, außer man konnte nicht mit der Möglichkeit eines Unfalls leben. Einmal hatte er sich den Arm gebrochen, das hatte seitlich an der Schulter Narben hinterlassen.

Wenn er einer dieser »Jetzt sofort«-Menschen wäre, würde er wahrscheinlich auf sein Motorrad steigen und direkt in den Lake Michigan rasen, weshalb es vermutlich das Beste war, dass das nicht der Fall war. Aldo war ein »Vielleicht morgen«-Mensch, also verstaute er den Joint wieder in der Hosentasche und nahm seinen Helm von der Bank.

Aldosteht auf und holt tief Luft, wobei er über Hexagone nachdenkt.

Biegungen, dachte er. Eines Tages würde er in eine Kurve fahren, und auf der anderen Seite wäre etwas anderes; etwas, das dem hier sehr ähnlich war, nur um einhundertzwanzig Grad verschieden. Er mimte eine Boxbewegung nach links, schlug einen linken Haken und stieß dann mit dem Fuß gegen das Gras.

Vielleicht wäre morgen alles anders.

———

Währenddessen hatte Regan genau diesen Tag damit begonnen, dass sie aus dem Schlaf hochgefahren war.

Setting:Ein luxuriöses großes Schlafzimmer. Schuhe wurden irgendwo liegen gelassen, Kleidungsstücke einfach hingeworfen. Was auch immer hier passiert ist, keine Mutter würde es gutheißen.

Handlung:Reganschielt zum Wecker, der katastrophale 14 Uhr 21 anzeigt.

»Scheiße, das kann doch wohl nicht wahr sein«, verkündete Regan dem Zimmer.

Neben ihr drehte sich Marc mit einem Stöhnen herum und schaffte es mit Ach und Krach, eine Reihe unverständlicher männlicher Laute auszustoßen. Regan hielt sie für eine Version von »Tut mir leid, Liebling, was ist los?« und antwortete dementsprechend.

»Ich komme zu spät.«

»Wozu?«

»Meinem beschissenen Job, Marcus«, erwiderte Regan, ließ ihre Beine unter der Bettdecke hervorgleiten und stand taumelnd auf. »Diese Sache, die ich von Zeit zu Zeit mache, weißt du?«

»Gibt es im Art Institute nicht diese … was sind die bloß«, brummte Marc und vergrub das Gesicht wieder im Kissen. »Du weißt schon, diese kleinen … Radiodinger. Für Leute, die keine Schilder lesen können.«

»Die Audioguides?«, fragte Regan und hielt sich eine Hand an die Schläfe. Ihr Kopf verurteilte ihre schlechten Entscheidungen vehement mit einem entschiedenen Pochen. »Ich bin kein laufender Audioguide, Marc, ich bin Museumsführerin. Erstaunlicherweise könnte es den Menschen auffallen, wenn ich nicht da bin.«

Die Erzählerin, eine Frau mittleren Alters mit einer scharfen Intoleranz gegenüber Unsinn: Charlotte Regan hat einen Abschluss in Kunstgeschichte und würde wahrscheinlich sagen, dass sie selbst auch ein bisschen gepinselt hat, was in vielerlei Hinsicht untertrieben ist. Das College hat sie als Klassenbeste beendet, was früher mal für niemanden eine Überraschung war, ausgenommen vielleicht ihre Mutter, die den Spitzenplatz eines Liberal-Arts-Studiengangs für das Äquivalent des, sagen wir, Gewinnens einer Hundeschau hielt. Zu den Dingen, die Charlotte Regan nicht war, zählte ihre Schwester Madeline, die die beste Absolventin ihres Medizinstudienjahrgangs war, aber das gehört hier natürlich nicht zum Thema. Derzeit ist Charlotte Regan Museumsführerin am Art Institute von Chicago, eine begehrte Stellung in einem der ältesten und größten Kunstmuseen der Vereinigten Staaten. Charlottes Mutter würde sagen, dass es eher ein besseres Ehrenamt als ein richtiger Job sei, aber noch mal, das tut jetzt nichts zur Sache.

Obwohl viele Dinge Regan #blessed sein ließen,

Die Erzählerin, missbilligend: Das meint sie sarkastisch.

darunter in erster Linie ihre Haare, die bezeichnenderweise perfekt waren, und ihre Haut, die gewöhnlich den Folgen ihres Lebensstils standhielt. Allgemein gesprochen war sie dafür geschaffen, spät aufzuwachen und aus der Tür zu stürzen. Ein Schwung Mascara erfüllte den Zweck, vielleicht dazu ein rosafarbener Lip Stain für ihre hohen Wangenknochen, nur damit sie nicht ganz so leichenblass aussah. Sie holte eines ihrer schwarzen Etuikleider hervor sowie ein Paar schwarze flache Ballerinas und schob sich mit ein paar Drehungen den Claddagh-Ring auf den Finger. Dann griff sie nach den Ohrringen, die sie nach dem Collegeabschluss aus dem Zimmer ihrer Schwester geklaut hatte: die kleinen tränenförmigen Granate, mit denen ihre Ohren aussahen, als weinten sie ganz langsam Blut.

Sie hielt inne, um mit ausgefeilter Ambivalenz ihr Spiegelbild zu betrachten. Die dunklen Ringe unter ihren Augen wurden merklich schlimmer. Glücklicherweise hatte ihre Mutter ihr die ostasiatischen Gene für ewige Jugend vererbt, und ihr Vater hatte ihr einen Treuhandfonds eingerichtet, der die Menschen zweimal darüber nachdenken ließ, ob sie sie zurückwiesen, also war es eigentlich nicht weiter wichtig, ob sie geschlafen hatte oder nicht. Regan steckte sich ihr Namenschild an die Brust, wobei sie sich nur einmal in den Daumen stach, und sah auf, um das Endprodukt zu überprüfen.

»Hallo«, sagte sie zum Spiegel und übte ein Lächeln. »Ich bin Charlotte Regan, und ich werde heute Ihre Führerin durch das Museum sein.«

»Was?«, fragte Marc groggy.

»Nichts«, erwiderte sie über die Schulter.

Letzte Nacht hatten sie gevögelt, mit mäßig erfolgreichem Ergebnis, obwohl Marc nie besonders hart wurde, wenn er sich so viel Kokain reingezogen hatte. Aber zumindest war sie mit ihm nach Hause gegangen. Zumindest war sie überhaupt nach Hause gegangen. Es hatte einen Moment gegeben, in dem sie sich vielleicht dagegen entschieden hätte; als ein hinten in der Ecke stehender Fremder die interessantere Wahl hätte sein können, woraufhin sie ein kleines Defilee in seine Richtung riskiert hätte. Es hätte nur ein gehauchtes Lachen gebraucht, ein durchtriebenes Nimm mich mit nach Hause, Fremder, wäre dann nicht alles ganz einfach gewesen? Es gab eine Million spinnenartige Netze von Möglichkeiten, in denen Regan nicht nach Hause gekommen war, nicht mit ihrem Freund geschlafen hatte, nicht rechtzeitig für die Arbeit aufgewacht war, überhaupt nicht aufgewacht war.

Sie fragte sich, was sie da draußen in diesen ganzen Spiegelscherben ungelebter Leben machte. Vielleicht gab es eine Version von ihr, die um sechs Uhr aufgewacht und auf dem Seeuferweg joggen gegangen war, obwohl sie das bezweifelte.

Dennoch, es war schön, es in Erwägung zu ziehen. Es bedeutete, dass sie immer noch Kreativität besaß.

Diese Version ihrer selbst, rechnete Regan, hatte fünfzehn Minuten, um zum Art Institute zu gelangen, und wenn sie an die Unmöglichkeit der Dinge geglaubt hätte, hätte sie es für unmöglich gehalten. Glücklicher- oder unglücklicherweise glaubte sie an alles und nichts.

Sie befingerte die blutigen Tränen ihrer Ohrringe und wirbelte herum, wo sie Marcs Gestalt unter den Laken ausmachte.

»Vielleicht sollten wir uns trennen«, sagte sie.

»Regan, es ist sieben Uhr morgens«, erwiderte Marc mit gedämpfter Stimme.

»Es ist beinahe halb drei, du Flachzange.«

Er hob den Kopf und blinzelte. »Welcher Tag ist heute?«

»Donnerstag.«

»Hm.« Wieder vergrub er das Gesicht im Kissen. »Okay, natürlich, Regan.«

»Wir könnten jederzeit einfach, ich weiß nicht, andere Leute treffen?«, schlug sie vor.

Mit einem Seufzer wälzte er sich herum und stützte sich auf die Ellbogen. »Regan, kommst du nicht zu spät?«

»Noch nicht«, antwortete sie, »aber das werde ich, wenn du willst.« Sie wusste, er wollte nicht.

»Wir wissen beide, dass du nirgendwohin gehst, Süße. Deine ganzen Sachen sind hier. Du hasst Umstände. Und du müsstest wieder Kondome benutzen.«

Sie zog eine Grimasse. »Stimmt.«

»Hast du deine Tabletten genommen?«, fragte er.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Wenn sie in fünf Minuten losginge, käme sie wahrscheinlich noch rechtzeitig.

Sie überlegte, was sie in fünf Minuten tun konnte. Das hier funktioniert nicht, ich bin nicht glücklich, es war schön mit dir – das würde wie lange dauern, dreißig Sekunden? Marc würde nicht weinen, ein Zug, der ihr an ihm gefiel, also wäre es auch nicht schrecklich unangenehm. Dann hätte sie noch viereinhalb Minuten, um die wichtigsten Dinge zusammenzusuchen und in eine Tasche zu werfen, wofür sie in Wirklichkeit nur zwei bräuchte. Blieben also zweieinhalb Minuten übrig. Ach, aber dreißig Sekunden für Tabletten, das vergaß sie immer. Fünf Sekunden fürs Einnehmen, aber ungefähr zwanzig, um ausdruckslos auf die Döschen zu starren. Blieben … was konnte sie mit den restlichen zwei Minuten anstellen? Frühstücken? Es war beinahe halb drei Uhr nachmittags. Frühstück kam nicht infrage, zeitlich gesprochen, und außerdem war sie nicht sicher, ob sie schon etwas essen konnte.

Eine Bewegung auf dem Wecker ließ darauf schließen, dass sich Regans fünf Minuten zur Flucht auf vier reduziert hatten. Das würde jetzt zu einer furchtbaren Zeitbeschränkung führen, insofern sie nicht neu kalkulierte, neu plante. Ihre Prioritäten verschob.

»Ich muss etwas erledigen«, sagte sie plötzlich und wandte sich ab.

»Trennen wir uns?«, rief Marc ihr nach.

»Heute nicht«, erklärte sie ihm und schnappte sich die orangefarbenen Döschen von ihrem angestammten Platz neben dem Kühlschrank, bevor sie ins Badezimmer ging. Sie stellte die Tabletten beiseite und zog sich auf das Waschbecken, hob ein Bein hoch, sodass ihre Ferse auf der Marmorfläche ruhte, und ließ eine Hand unter ihren nahtlosen Stringtanga gleiten, während sie mit der anderen, freien Hand ihr Handy entsperrte. Pornos hatten sie noch nie angetörnt, denn die fand sie irgendwie … verstörend unraffiniert. Sie zog das Geheimnisvolle vor – gierte danach wie nach einer Droge –, daher rief sie eine passwortgeschützte Mitteilung auf ihrem Bildschirm auf.

Das erste Fotoist eine körnige Aufnahme von einer unscheinbaren männlichen Hand unter einem kurzen Rock, wo sie lasziv zwischen den schlanken Kurven weiblicher Oberschenkel ruht. Das zweite ist ein Schwarz-Weiß-Bild von zwei sich aneinanderpressenden weiblichen Körpern.

Das, beschloss Regan, war es wert. Das war die bessere Entscheidung. Sie hätte ihre Beziehung beenden können, sicher, doch stattdessen hatte sie diese vier Minuten. Nein, dreieinhalb. Doch sie kannte ihre Körperlichkeit gut und wusste daher, dass sie nur drei bräuchte, höchstens. Damit hatte sie noch mindestens dreißig Sekunden übrig.

In der ihr verbleibenden Zeit konnte Regan etwas für sie sehr Typisches tun, wie etwa ihr Höschen in Marcs Jacketttasche stecken, bevor sie ihm einen Abschiedskuss gab. Das würde er später am Abend finden, wahrscheinlich während er mit irgendeinem Manager im Maßanzug plauderte. Daraufhin würde er sich in eine Toilettenkabine schleichen und ein Foto von seinem Schwanz für sie machen. Vermutlich würde er eine Gegenleistung erwarten, aber höchstwahrscheinlich würde sie dann schon schlafen. Oder vielleicht wäre sie gar nicht nach Hause gekommen. Was für ein Geheimnis, ihr zukünftiges Ich! Die Möglichkeiten waren faszinierend profan und doch, irgendwie, perfekt endlos, was der Euphorie sehr nahe kam.

Sie kam, verbiss sich das Gefühl und atmete aus.

Fünfundvierzig Sekunden.

Regangreift nach der Tablettendose und sagt nichts. Sie fragt sich, wie lange es dauern wird, bis sie wieder etwas fühlt.

———

Aldo machte seinen Doktor in theoretischer Mathematik, was ein breites Spektrum an Reaktionen hervorrief, je nachdem, wem er es erzählte. Fremde zeigten sich üblicherweise beeindruckt von ihm, wenn es auch eine ungläubige Bewunderung war. Die meisten Leute dachten, er mache Witze, da Menschen, die so aussahen wie er, normalerweise nicht ohne jede Ironie einen Satz wie »Ich mache meinen Doktor in theoretischer Mathematik« aussprachen. Sein Vater war stolz auf ihn, aber blindlings, da ihn die meisten Dinge, die Aldo den größten Teil seines Lebens gesagt oder getan hatte, verwirrt hatten. Andere waren nicht überrascht. »Du bist einer von diesen schlauen Wichsern, stimmt’s?«, fragte Aldos Dealer häufig und wollte immer etwas über die Chancen, dieses oder jenes zu gewinnen, erfahren, und obwohl Aldo ihn stets daran erinnerte, dass Statistiken eine praktische Anwendung waren, sprich angewandte Mathematik, zuckte sein Dealer nur mit den Achseln und stellte eine Frage zum Leben im Weltall (Aldo wusste nichts über das Leben im Weltall) und händigte ihm die verlangte Ware aus.

Die Studierenden konnten Aldo nicht ausstehen. Die wahrhaftig Begabten tolerierten ihn, aber die anderen – die Studienanfänger, die Analysis nur belegten, um die nötigen Anforderungen zu erfüllen – hassten ihn definitiv. Er verschwendete nur wenige Gedanken auf den Grund dieser Ablehnung, was wohl ein Teil des Problems war.

Aldo war auch kein besonders guter Kommunikator. Deshalb hatte er mit den Drogen angefangen, weil er ein ängstliches Kind, dann ein depressiver Teenager und schließlich, für kurze Zeit, ein total Süchtiger gewesen war. Im Laufe der Zeit hatte er gelernt, seine Gedanken für sich zu behalten, was am leichtesten gelang, wenn seine Gehirnaktivität in Kategorien aufgespalten war. Sein Verstand war wie ein Computer mit diversen geöffneten Programmen, von denen einige im Hintergrund Denkarbeit leisteten. Meistens vermittelte Aldo anderen Menschen nicht den Eindruck, dass er zuhörte – ein Verdacht, der im Allgemeinen zutreffend war.

»Exponentielle und logarithmische Funktionen«, sagte Aldo ohne Einleitung, als er in den schlecht beleuchteten Unterrichtsraum trat

Setting:Ein Unterrichtsraum in der Universität.

und wie üblich das Verlangen verspürte, mit einem Hechtsprung durch die Fenster der Lehranstalt zu verschwinden. Er war genau eine Minute zu spät und kam, in der Regel, niemals zu früh. Wäre er auch nur einen Moment eher da gewesen, hätte er eventuell mit seinen Studierenden interagieren müssen, was weder er noch sie wünschten.

»Hatte jemand Probleme mit der Lektüre?«

»Ja«, sagte einer der Studierenden in der zweiten Reihe.

Wenig überraschend.

»Wofür genau wird das benutzt?«, fragte der Student.

Aldo, der sich seine Hände lieber nicht durch praktische Anwendungen schmutzig machte, verabscheute diese Frage ganz besonders. »Zur grafischen Darstellung bakteriellen Wachstums«, antwortete er aus einer Laune heraus. Er fand lineare Funktionen banal. Meist wurden sie dazu benutzt, Dinge zu vereinfachen und auf ein grundlegendes Verständnisniveau zu reduzieren, obwohl nur wenige Dinge auf der Welt vollkommen unkompliziert waren. Schließlich war die Welt naturgemäß entropisch.

Mit wenigen Schritten war Aldo beim Whiteboard, das er hasste, obwohl man sich zumindest nicht so dreckig machte wie an einer Kreidetafel. »Wachstum und Verfall«, sagte er und zeichnete schnell ein Diagramm, bevor er g(x) danebenkritzelte. Historisch betrachtet würde diese Vorlesung für sie alle extrem frustrierend werden. Aldo fiel es schwer, sich auf etwas zu konzentrieren, das so wenig Aufmerksamkeit erforderte; umgekehrt fanden es seine Studierenden schwierig, seinem Gedankengang zu folgen. Er bezweifelte, dass man ihn zum Lehrbeauftragten befördert hätte, wenn die Fakultät nicht händeringend Dozenten gebraucht hätte. Seine Leistungen als Lehrender waren alles andere als herausragend gewesen, aber zum Leidwesen aller (ihn eingeschlossen) war Aldo auf seinem Gebiet brillant.

Die Universität brauchte ihn. Und er brauchte einen Job. Seine Studierenden würden sich also einfach anpassen müssen, genau wie er.

Für Aldo bewegte sich die Zeit im Unterrichtsraum regelmäßig im Schneckentempo. Mehrmals wurde er von Fragen unterbrochen, die er aufgrund der Richtlinien der Universität nicht als dumm bezeichnen durfte. Er löste gern Probleme, richtig, aber Unterrichten fand er eher ermüdend als herausfordernd. Sein Gehirn näherte sich den Dingen nicht auf eine leicht zu beobachtende Art; ohne Absicht übersprang er einzelne Schritte und war dann gezwungen, wieder zurückzugehen, gewöhnlich, weil er ein gequältes Räuspern in seinem Rücken vernahm.

In gewissem Maße war ihm klar, dass Wiederholung für die Aneignung von Grundwissen notwendig war – ausgiebiges Boxtraining hatte einen Teil seines selbst auferlegten Entzugs ausgemacht, daher wusste er, wie wichtig es war, immer wieder die gleiche Übung auszuführen, bis sein Kopf hämmerte und die Glieder schmerzten – aber das änderte nichts an seinem Bedauern. Es änderte nichts an seinem Wunsch, diesen Raum zu verlassen, um eine Ecke zu biegen und eine vollkommen andere Richtung einzuschlagen.

Theoretisch gesprochen, jedenfalls.

———

Mit der ersten Tour des Tages kamen ein älteres Ehepaar, zwei Frauen in ihren Zwanzigern, eine Handvoll deutsche Touristen und, wie Regan sich verstohlen vergewisserte (da sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, unabhängig von ihrem Interesse am Ergebnis, nach Ringen Ausschau zu halten), ein verheiratetes Paar etwa Mitte dreißig. Der Ehemann starrte sie an, armer Loser. Sie kannte diesen speziellen Blick, der ihr nicht mehr besonders schmeichelte. Als Teenager hatte sie angefangen, ihn zu ihrem Vorteil zu nutzen, aber jetzt bewahrte sie ihn nur zwischen ihren anderen Werkzeugen auf. Kreuzschlitzschraubenzieher, Tuschpinsel, Farbsättigungsskala, die Anziehung von Männern, die nicht zu haben waren; das war alles die gleiche Kategorie von Funktionalität.

Dieser Ehemann war gut aussehend, gewissermaßen. Seine Frau hatte ein hübsches, aber unscheinbares Gesicht. Wahrscheinlich sah der Ehemann, ein »guter Fang« aufgrund einer Position, hinter der Regan einen pragmatischen Job wie Versicherungsmakler vermutete, die Mischung chinesischer mit irischen Zügen in Regans Gesicht und hielt es für einen gewissen exotischen Kitzel. In Wirklichkeit hätte sie die genetische Kombination von der Hälfte der derzeitigen Besucher*innen des Art Institute sein können.

»Sicher werden viele von Ihnen das Werk von Jackson Pollock erkennen«, sagte Regan und deutete auf das Ölgemälde auf Leinwand Greyed Rainbow hinter sich.

Die Erzählerin, ein Teenagermädchen, das kaum zuhört:

Das Bild Greyed Rainbow von Jackson Pollock ist im Grunde nur eine schwarze Oberfläche mit grauen und weißen Klecksen Ölfarbe und, keine Ahnung, noch anderen Farben am unteren Ende. Es ist abstrakt oder so.

»Eines der auffälligsten Merkmale von Pollocks Kunstwerken ist, wie taktil sie erfahrbar sind«, fuhr Regan fort. »Ich möchte Sie ermutigen, einen Schritt vorzutreten, um die Tiefe des Gemäldes aus der Nähe zu erleben; die Farbschichten besitzen eine ausgeprägte Festigkeit, die Sie nirgendwo sonst finden werden.«

Die Ehefrau trat näher heran, betrachtete auf Regans Vorschlag hin gespannt das Bild, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Der Ehemann zögerte und verharrte in Regans Blickrichtung.

»Ein Wunder, dass man das überhaupt Kunst nennt, nicht wahr? Ich könnte das malen. Teufel auch, ein sechsjähriges Kind könnte das.« Der Blick des Ehemanns glitt zu ihr. »Ich wette, Sie würden das viel besser hinkriegen.«

Regan schätzte, dass er einen durchschnittlich großen Schwanz hatte, und auch wenn das allein noch nicht zwangsläufig problematisch war, die Tatsache, dass er wahrscheinlich nicht wusste, was er damit anstellen sollte, war es schon. Ein Jammer, da er eigentlich ganz hübsch war. Er hatte ein sympathisches Gesicht. Vermutlich war er unglücklich mit seiner Collegeliebe verheiratet. Regan wäre sogar von seiner Freundin auf der Highschool ausgegangen, da das für Leute mit dieser gedehnten Sprechweise aus Minnesota relativ normal war, aber er sah aus wie ein Spätzünder. Ihr fielen die schwachen Unebenheiten von Aknenarben auf seiner Stirn auf, ein Detail, das die meisten Menschen wohl übersahen – aber in der zehnten Klasse wäre ihnen das nicht entgangen, und Regan entging es auch nicht.

Mehrere Möglichkeiten standen zur Auswahl. Zum Beispiel könnte sie ihn in einer Toilettenkabine vögeln. Immer eine Option und nie der Erwägung wert. Sie wusste, wo sie ungestört sein konnte, wenn sie es wollte, und er wirkte, als wäre er schon ein- oder zweimal zuvor fremdgegangen, daher müsste sie im Vorfeld nicht groß sein Gewissen beruhigen.

Sicher, wenn sie einen mittelmäßigen Schwanz wollte, der war erbärmlich leicht zu finden, ohne diesen mittelmäßigen Schwanz zu nehmen. Dass er unter all den Dingen im Museum seine Konzentration auf Regan als Objekt seiner Wahl richtete, sagte weit mehr über ihn aus als über sie.

Es könnten vergnügliche zehn Minuten sein. Andererseits hatte sie schon mehr Spaß in weniger Zeit gehabt.

»Jackson Pollock war stark von der Sandmalerei der Navajo beeinflusst«, sagte Regan, den Blick immer noch fest auf das Gemälde gerichtet. »Bei der Arbeit mit Sand«, erklärte sie, »ist der Schaffensprozess genauso wichtig wie das fertige Werk, im Grunde sogar noch bedeutsamer. Sand kann jeden Moment fortgeweht werden. Innerhalb von Stunden, Minuten, Sekunden kann er verschwinden, deshalb dreht sich der Schaffensprozess um den Moment der Katharsis. Die Ehrerbietung liegt im Schaffen von Kunst – man ist Teil seiner Schöpfung, aber dann überlässt man es der Zerstörung. Was Native Americans mit Sand vollbracht haben, machte Jackson Pollock mit Farbe, und vielleicht ist das nur eine inhaltsleere Interpretation. Tatsächlich hat er niemals offen zugegeben, ihre Techniken übernommen zu haben – was einleuchtet, da sein Werk viel eher eine Aneignung denn eine Hommage ist. Aber könnten Sie das auch?«

Sie wandte sich um und sah zu dem Ehemann, ersparte ihm aber einen desinteressiert musternden Blick.

»Sicher, vielleicht«, fuhr sie fort, und seine Mundwinkel zuckten vor Missvergnügen.

Die Kunst sieht aus der Nähe immer ganz anders aus, oder nicht?, überlegte sie zu sagen, unterließ es aber. Jetzt, da er wusste, dass sie eine Schlampe war, würde er nicht mehr vorgeben zuzuhören.

Schließlich endete die Tour, so wie alle Touren. Der Ehemann ging mit der Ehefrau fort, ohne irgendwelche Museumsführerinnen gevögelt zu haben (von denen sie wusste, denn die Nacht war noch jung). Regan machte sich für die nächste Führung bereit, spürte ein Summen in der Tasche ihres Blazers, das ihr verriet, dass Marc das für ihn hinterlassene Höschen gefunden hatte.

Alles war so zyklisch. So vorhersagbar. Einmal hatte Regans vom Gericht bestellte Psychiaterin sie gefragt, wie es für sie sei, am Leben zu sein,

Die Erzählerin: Die ganze Sache war ehrlich gesagt so dumm.

und Regan hätte gern geantwortet, dass es sich, auch wenn es nie genau das Gleiche war, dennoch auf einer gleichmäßigen Umlaufbahn zu bewegen schien. Alles führte zu allem anderen und folgte dabei den gleichen Mustern, wenn man nur nah genug hinsah. Manchmal hatte Regan das Gefühl, sie würde als Einzige hinsehen, aber sie hatte der Ärztin eine akzeptablere Antwort gegeben, und sie waren beide zufrieden nach Hause gegangen, oder so. In erster Linie hatte Regan Durst verspürt, eine Folge ihrer kürzlich erhöhten Lithiumdosis. Nur ein wenig dehydriert, und schon würden die Tabletten sie freudig mit dem Tatterich bedenken.

»Der heilige Georg und der Drache«, sagte Regan und wies die nächste Gruppe auf das Gemälde hin. Der Teenagersohn einer Familie auf Chicagobesuch glotzte auf ihre Brüste, und seine jüngere Schwester ebenfalls. Das hat keine Eile, wollte Regan ihr sagen. Sieh nur, wie verzerrt die Werke des Mittelalters sind, weil es keine Perspektive gibt; weil die Menschen früher einmal die Welt betrachtet und all ihre Schönheit in sich aufgenommen haben und sie dennoch nur flach sahen.

Viel hat sich nicht verändert, ging Regan durch den Kopf, um das Mädchen zu beruhigen. Sie sehen dich näher, als du bist, aber du bist außer Reichweite, weiter weg, als du oder sie es sich vorstellen können.

———

Aldo wohnte in einem Gebäude mit Lofts, in dem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine Druckerei untergebracht gewesen war. Anfangs hatte er näher bei der University of Chicago gewohnt, auf der Südseite der Stadt, aber die Ruhelosigkeit hatte ihn gen Norden nach South Loop getrieben und dann ein Stückchen weiter östlich nach Printers Row.

Setting:Printers Row ist ein Viertel südlich des Innenstadtbereichs von Chicago, das als The Loop bekannt ist. Viele Gebäude in diesem Gebiet wurden früher von Druckereien und Verlagshäusern genutzt, sind inzwischen aber in Wohnungen umgewandelt worden.

An diesem Abend war es warm, die Luft gab noch den Gastgeber für die Spuren sommerlicher Feuchtigkeit, und Aldo entschloss sich, das für einen abendlichen Lauf zu nutzen. Zwar wohnte er nicht besonders weit vom Seeuferweg,

Der Erzähler, ein fanatischer Cubs-Fan: Kein Ort in Chicago ist zu weit vom Seeuferweg entfernt!

aber häufig zog er es vor, in den Straßen der Stadt zu laufen. Das Hämmern seiner Schritte auf dem Pflaster ähnelte manchmal zu sehr einem Pulsschlag. Ohne Unterbrechung war das beunruhigend, ließ ihn sich seiner Atmung zu sehr bewusst werden.

Das, und außerdem war der Weg am See oft voll.

Nach seinem Lauf waren Schattenboxen, Boxsack-Workout, gelegentlich auch Sparring dran. Aldo trainierte auf kein konkretes Ziel hin, aber vermutlich wäre er bereit, wenn es sich zeigte. Schon immer war er von Natur aus drahtig und dünn gewesen,

Der Erzähler: Einer von diesen dünnen kleinen Scheißern wie mein Cousin Donnie, was?

und es fehlte ihm an Ego und angestauter Wut. Allgemein gesprochen würde Aldo wahrscheinlich nicht in einen Straßenkampf geraten und erst recht keinen offiziellen Boxring betreten. Er wurde nur von Zeit zu Zeit gern daran erinnert, dass er sich die Option von Adrenalin und Schmerz bewahrt hatte.

Nach etwa drei Stunden würde er nach Hause kommen und in der Küche einige Hühnchenbrüste heraussuchen, wahrscheinlich auch Spinat und definitiv Knoblauch, für den er keine Presse benutzte (in Würfel geschnittener Knoblauch war ein Verbrechen, wie sein Vater ihm viele Male gesagt hatte, ein Gräuel, wegen seines mangelnden Geschmacks. Wenn es um Knoblauch ging, erklärte Masso, so musste er zerdrückt oder im Ganzen belassen werden – keine Ausnahmen).

Nur wenige Leute kamen in Aldos Wohnung, aber wer da gewesen war, hatte ausnahmslos eine Bemerkung über seine spärlichen Besitztümer gemacht. Ein offenes, geräumiges Loft mit roten Ikeaschränken und modernen Edelstahlküchengeräten, und Aldo besaß genau einen Topf und eine Pfanne. Zwei Messer: ein Santoku-Messer und ein Schälmesser. Sein Vater hatte immer behauptet, mehr brauche man nicht. Aldo besaß weder einen Dosenöffner noch einen Eiswürfelbehälter. Tatsächlich nannte er eine Nudelmaschine sein Eigen, obwohl er Ravioli und Tortellini lieber auf die Art zubereitete, die seine Nonna zudem für die einzig richtige hielt. Adalina Damiani hatte sowohl ihrem Sohn als auch ihrem Enkelsohn das Kochen beigebracht, doch während es für Masso eine religiöse Erfahrung war, hob Aldo es sich lieber für besondere Gelegenheiten auf, oder für Heimweh. Obwohl seiner Erfahrung nach die meisten Menschen Religion auf genau die gleiche Weise betrachteten.

In Nächten, in denen Aldo nicht schlafen konnte (also den meisten), stieg er aufs Dach hinauf, um anzuzünden, was von dem Joint in seiner Jackentasche übrig geblieben war. Er wählte speziell die Sorte Marihuana aus, die für körperliche Schmerzen und Unbekümmertheit bestimmt war und somit das Geplapper in seinem Hinterkopf beschwichtigte. Seine Knochen würden ihre hektischen Bewegungen zumindest für diesen Abend einstellen, und der Rausch würde sich zwangsläufig wie ein leises Summen in seinem Körper anfühlen, während er auf der Suche nach etwas Neuem war, mit dem er die Leerstellen füllen könnte.

Und jetzt, meine Damen und Herren,freuen wir uns, Ihnen … die Gedanken von Aldo Damiani vorstellen zu dürfen!

Summen. Bienen. Die Flügel einer Honigbiene schlugen 11 400-mal in der Minute, wodurch das Summgeräusch entstand. Bienen waren für Fleiß und Organisation bekannt; siehe auch den Ausdruck »Arbeitsbiene«. Das und Entschlossenheit: der kürzeste Weg – a beeline. Aldo war in ähnlicher Weise auf ein Ziel fokussiert, wenn auch mit den Gedanken abschweifend. Auf einem ausgestoßenen Atemzug schwebte er hinaus und trieb aufs Meer hinaus.

Morgen würde er etwas anderes ausprobieren müssen, da sein Problemlösen an dem Tag nicht sehr erfolgreich gewesen war. Im Bienenkorb der Stadt hatte er mehrere Lieblingsplätze, und üblicherweise wechselte er zwischen ihnen hin und her. Das oberste Stockwerk der öffentlichen Bibliothek war ein Atrium, das Winter Garden genannt wurde, obwohl Aldo den Grund dafür nicht verstand. Die Gestaltung war nicht auf eine bestimmte Jahreszeit ausgerichtet, aber der Raum war angenehm weitläufig, besaß eine gewisse Nähe zu Gipfeln und Himmelsgewölbe, und er war häufig leer. Die Betonbalken, die die Glasdecke in der Höhe stützten, kamen in hexagonalen Schatten auf ihn herab, und wenn er sich richtig unter sie hinstellte, würde ihm vielleicht ein neuer Gedanke kommen. Ansonsten gab es immer noch den Lincoln Park Zoo oder das Kunstmuseum. Dort war häufig ziemlich viel los, aber das versierte Auge konnte immer noch versteckte Ecken ausmachen.

Der Erzähler: Lauter Andeutungen, Süßer!

Aldo atmete den Geschmack von Angebranntem aus, wovon ein dünner Film seine Zunge bedeckte, und nahm das glimmende Endstück des Joints aus dem Mund. Er hatte so viel Summen, wie er brauchte, und Schlaf erschien diese Nacht zwecklos.

Aldo mochte das Gefühl zu schlafen nicht. Es ähnelte sehr dem Gefühl, tot zu sein, was ein unkomplizierter und daher beunruhigender Zustand war. Er fragte sich, ob Bienen so empfanden, wenn ihre Flügel zu schlagen aufhörten. Obwohl, er überlegte, ob das je der Fall war. Er dachte nach, was eine Biene täte, wenn sie wüsste, dass ihr Lebenswerk zum Ökosystem raffinierter Toasts beitrug. Würde das ausreichen, um sie zum Aufhören zu zwingen?

Fraglich.

Aldo ging in seine Wohnung zurück, fiel aufs Bett und starrte auf die Lichtschiene über ihm. Abwechselnd öffnete er erst ein Auge, dann das andere. Er könnte lesen, unter Umständen. Einen Film anschauen. Er könnte alles machen, wirklich, wenn er wollte.

11 400 Schläge in der Minute waren schon echt was Besonderes.

Er schloss die Augen und ließ seine Ideen frei umherschweifen, während er sich dem Sirren und Summen seiner Gedanken überließ.

———

»Also, Charlotte …«

Regan riss sich am Riemen, um nicht zusammenzuzucken, was ihr letztlich gelang, und entschied sich stattdessen dafür, im Sitzen die Füße zu verschränken und sich leicht abzuwenden, mit Blick aus dem Fenster. Es reizte sie, die Beine übereinanderzuschlagen – sich vollkommen zusammenzufalten –, aber einige Gewohnheiten konnte man nicht mehr verlernen, und ihre Mutter hielt es in dieser Hinsicht mit Queen Elizabeth: keine übereinandergeschlagenen Beine. Regan vermutete, dass sie auch gezwungen worden wäre, Strumpfhosen zu tragen, wenn irgendjemand sich die Mühe gemacht hätte, welche in ihrer Hautfarbe herzustellen.

»Wie sind deine Stimmungen in letzter Zeit?«, fragte die Ärztin. Sie war eine sehr nette Frau, zumindest wohlmeinend, und war gleich zu Beginn der Therapie zum Du übergegangen. Regan gegenüber hatte sie eine tröstende, matronenhafte Art und einen Busen, an den sich ihrer Vorstellung nach Enkelkinder schmiegten. »In unserer letzten Sitzung hast du gesagt, du würdest dich manchmal ruhelos fühlen.«

Regan wusste genug über die Praktiken der klinischen Psychologie, um zu erkennen, dass »Ruhelosigkeit« in dieser konkreten Umgebung ein Codewort für »Manie« war, was wiederum ein Code für »wieder in ihre alten Gewohnheiten verfallen« war – zumindest, wenn ihre Mutter zum Übersetzen hier gewesen wäre.

»Mir geht’s gut«, erwiderte Regan, was kein Code für irgendetwas war.

Tatsächlich ging es ihr gut. Der Spaziergang vom Art Institute hierher, als sie am Grant Park vorbei in Richtung Streeterville gelaufen war, hatte ihr Freude gemacht. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, und das gefiel ihr. Es wirkte sehr lebendig und voller Möglichkeiten, nicht wie dieser Raum.

Häufig wählte Regan eine längere Strecke, wenn sie alle zwei Wochen auf dem Weg zu ihren Sitzungen bei der Psychiaterin war. Dann ging sie in Gedanken versunken an all den Türen vorüber, in die sie hätte eintreten können, während die Läden schlossen und die Restaurants sich zu füllen begannen. Sie hatte darüber nachgedacht, was sie an diesem Abend essen wollte – Pasta hörte sich gut an, andererseits hörte sich Pasta immer gut an, und so oder so, Prosecco klang besser – und ob sie es am nächsten Morgen zur Yogastunde schaffen würde, als ihr plötzlich wieder einfiel, dass sie noch ihr Handy checken musste.

Die Erzählerin, eine geliebte Erzieherin aus dem Kindergarten: Regans ständige Unerreichbarkeit war früher einmal eine sorgfältig verfeinerte Praxis, die allmählich zur Gewohnheit wurde. Als Regan noch jünger war, war sie auf die Aussicht eines Anrufs oder einer Nachricht versessen gewesen; es bedeutete in erster Linie Aufmerksamkeit. Es bedeutete, dass sie die Leerstelle in den Gedanken eines anderen gefüllt hatte. Nach einer Weile begann sie zu begreifen, dass Macht darin lag, wenn sie ihren Wert für andere herabsetzte. Sie fing an, sich selbst Grenzen zu setzen; sie würde ihr Handy zehn Minuten lang nicht checken. Dann zwanzig. Schließlich würde sie Stunden dazwischen verstreichen lassen und darauf achten, ihre Gedanken auf etwas anderes zu richten. Wenn die anderen gezwungen waren, auf ihre Zeit zu warten, dachte sie, dann hätte sie ihnen nicht so viel von sich selbst zu verdanken. Inzwischen hat Regan eine dermaßen große Begabung fürs vollkommen Unzuverlässigsein entwickelt, dass die Leute es als Schwäche bezeichnen. Sie ist stolz auf deren Fehlannahmen, denn das heißt, dass die Menschen sich immer für dumm verkaufen lassen.

»Wie läuft es mit deinem Freund?«, fragte die Psychiaterin.

Auf Regans Handy war das erwartete Dickpic von Marc eingegangen, und er hatte die weißen Calvin-Klein-Boxershorts getragen, die Regan, einige Wochen nachdem sie zusammengezogen waren, für ihn gekauft hatte.

Die Erzählerin: Marc Waite und Charlotte Regan lernten sich vor ungefähr eineinhalb Jahren in einer Bar kennen, damals, als Reagan mit einer Freundin eine Galerieeröffnung plante. Sie hatte die Location ausgewählt, die Künstler*innen bestimmt und die Werke, und dann hatte sie Marc kennengelernt. In den Toilettenräumen des Hancock Signature Room war er vor ihr auf die Knie gegangen und hatte sie geleckt – und Regans Meinung nach hatte man von der Damentoilette im fünfundneunzigsten Stockwerk aus den besten Blick auf die Stadt –, als sie eine Sprachnachricht von ihrem Vater erhielt, in der er referierte, wie unpassend er das von ihr gewählte Ausstellungsthema, Lug und Trug der Schönheit, für jemanden fand, der nur haarscharf an einer Gefängnisstrafe wegen Wirtschaftsverbrechen vorbeigeschlittert war. »Es gibt Aufrichtigkeit, Charlotte, und dann gibt es noch Hybris«, hatte er auf ihrer Mailbox gewettert. Tatsächlich hatte sie die Nachricht erst fast drei Tage später abgehört.

»Wie heißt dein Freund? Marcus?«

»Marc«, antwortete Regan, das zog er vor. »Ihm geht’s gut.«

Was der Fall war, im Allgemeinen. Marc war irgendwas bei Hedgefonds. Er verlangte nicht sehr viel von Reagan, was ideal war, denn in der Regel gab sie nicht sehr viel. Wenn sie einander überdrüssig wurden, sprachen sie einfach nicht mehr. Sie waren gut darin, den Raum des jeweils anderen einzunehmen. Häufig betrachtete sie ihn als ein Accessoire, das gut mit allem harmonierte: eine Art magischer Stimmungsring, der sich jeder Persona anpasste, die sie gerade ausfüllte. Wenn sie Stille wünschte, schwieg er. Wenn sie reden wollte, war er generell bereit, ihr zuzuhören. Wenn sie Sex wollte, was häufig vorkam, war er leicht zu überzeugen. Irgendwann würde sie ihn heiraten, und dann würde alles, was sie ausmachte, in seinem Namen verschwinden. Partys würde sie als Mrs Marcus Waite besuchen, und niemand würde je irgendetwas über sie erfahren. Sie konnte ihn sich wie einen Mantel der Unsichtbarkeit über die Schultern werfen und vollkommen aus dem Blickfeld verschwinden.

Nicht, dass das sein Wunsch war. Wenn Regan eines bereitwillig von sich sagte, dann, dass sie eine Zierde war, ein glanzvolles Novum, ein Partytrick. Sie stand im Mittelpunkt, wenn sie es wünschte, geistreich, charmant und tadellos gekleidet, aber dieser Schlag Mädchen wurde langweilig, wenn es keine Überspanntheiten oder Makel gab. Die Welt nahm sich gern eine schöne Frau vor und begeisterte sich lauthals für den Charme ihrer einen Unvollkommenheit; Marilyn Monroes Maulwurfsblindheit oder Audrey Hepburns Unterernährung. Aus dem gleichen Grund hatte Marc kein Problem mit Regans Vergangenheit. Es machte ihm nichts aus, dass sie es einmal nötig gehabt hatte, sich neu zu erfinden; sie bezweifelte, dass er sich für sie interessieren würde, wenn er sich selbst nicht durch ihre Fehler erhöhen könnte.

»Dann habt ihr euch in letzter Zeit gut verstanden?«

»Ja«, antwortete Regan. »Uns geht’s gut.«

Sie verstanden sich immer, denn das erforderte am wenigsten von ihrer Energie. Marc hielt einen Streit für eine schlechte Investition seiner Zeit. Er lächelte gern, wenn Regan diskutierte, und ließ sie sich selbst auspowern.

»Und deine Familie?«, fragte die Psychiaterin.

Regans Mailbox hatte zwei Sprachnachrichten enthalten: eine von ihrer Psychiaterin, die sie bat, eine Stunde früher zu ihrer Sitzung zu kommen (sie hatte die Nachricht nicht bekommen und war zur üblichen Zeit erschienen, was in Ordnung war, es war niemand gestorben), und früher am Abend noch eine von ihrer Schwester.

»Ich weiß, du wirst das hier bestimmt so einen Monat lang nicht abhören«, sagte Madeline, »aber Mum und Dad wünschen sich, dass du zur Party anlässlich ihres Hochzeitstages nach Hause kommst. Gib mir nur Bescheid, ob du jemanden mitbringst, okay? Im Ernst, mehr brauche ich nicht. Schick mir einfach eine Nachricht mit einer Nummer. Eine oder zwei, aber keine ist inakzeptabel. Und sende mir bloß nicht wieder lauter kryptische GIFs, das ist nicht so komisch, wie du denkst. Wirst du das Wickelkleid tragen, das du dir gerade gekauft hast? Denn ich hatte vor … ah, warte, Carissa will mit dir sprechen.« Eine Pause. »Schatz, du kannst mir nicht erst sagen, dass du mit Auntie Charlotte sprechen willst, und dich dann weigern.« Noch eine Pause. »Liebling, bitte, Mommy ist jetzt gerade sehr müde, und du wirst alle deine Sticker für gutes Benehmen verlieren. Möchtest du mit Auntie Charlotte reden oder nicht?« Eine lange Pause und dann ein schrilles Kichern. Ein Seufzer: »Okay, in Ordnung, egal. Carissa vermisst dich. Obwohl, unglaublich, dass ich das sagen muss, aber bitte kauf ihr kein Kaugummi mehr, der Erdnussbuttertrick hilft auch nur bedingt. Mein Gott, sie ist genau wie du als Kind, das schwöre ich. Also, bye, Char.«

Regan dachte an Carissa Easton, die wahrscheinlich einen Spitzenhaarreif trug, vielleicht mit Schleifen, und ein Samtkleid, dessen Waschanleitung chemische Reinigung verlangte; nicht schlicht »chemische Reinigung«, was die beste Methode war, sondern »Professionelle chemische Reinigung«, was die exklusive Methode war – und eine Unterscheidung, die Madeline Easton, geborene Regan, kannte.

Die Erzählerin: In Wirklichkeit war Carissa Regan nicht sehr ähnlich. Einerseits vergötterte ihre Mutter sie, und außerdem war Carissa Einzelkind, oder zumindest das zukünftig älteste Kind. Eines Tages wäre Carissa mehr wie Madeline, und genau aus diesem Grund achtete Regan darauf, ihr regelmäßig Kaugummi zu schicken.

»Ihnen geht’s gut«, sagte Regan. »Meine Eltern feiern nächsten Monat groß ihren Hochzeitstag.«

»Ach so?«, fragte die Psychiaterin nach. »Der wievielte ist es denn?«

»Der vierzigste«, erwiderte Regan.

»Das ist sehr beeindruckend. Es muss guttun, eine so stabile Partnerschaft im nahen Umfeld zu haben.«

Die Erzählerin: Regans Eltern schliefen in getrennten Zimmern, seit sie zehn Jahre alt war. Regans Ansicht nach war es sehr leicht, eine Ehe zu führen, wenn man in völlig voneinander getrennten Lebensbereichen agierte. Hätte sie ihre Eltern als Mengendiagramm darstellen sollen, wären die einzigen drei Dinge in der Mitte gewesen: Geld, Madelines Erfolge und Wege, Problemkind Charlotte in den Griff zu kriegen.

»Ja, es ist wundervoll«, sagte Regan. »Sie sind füreinander geschaffen.«

»Ist deine Schwester verheiratet?«

»Ja, ihr Mann ist ebenfalls Arzt.«

»Oh, ich wusste gar nicht, dass deine Schwester Ärztin ist.«

»Doch, ist sie. Kinderchirurgin.«

»Oh.« Es war ein Oh, wie beeindruckend, so wie gewöhnlich.

»Ja, sie ist sehr klug«, erklärte Regan.

Geschwisterrivalität war nichts Neues, obwohl Regan nicht unbedingt das Bedürfnis verspürte, ihre Schwester herabzusetzen. Es war nicht Madelines Schuld, dass sie die bessere Tochter war.

Regan betastete ihre Granatohrringe und dachte darüber nach, was sie sagen würde, wenn sie ihre Schwester zurückrief. Marc zu ihren Eltern mitzubringen, war das Letzte, was sie wollte, und ganz sicher nicht zu dieser Feier. Ihre Eltern konnten ihn nicht ausstehen, aber nicht auf eine unterhaltsame Weise und gewiss nicht aus Sorge um sie. Sie verachteten ihn, weil sie auch Regan nicht besonders mochten, außerdem war es förmlich mit den Händen greifbar – zumindest für Regan –, dass ihre Meinung mehr oder weniger so ausfiel: Zumindest ist Marc reich genug. Er war nicht wegen ihres Geldes hinter Regan her, und das ließ sie erleichtert aufatmen.

Madeline hielt Marc für prollig, aber Reagan fand Madelines Mann passiv und uninteressant. Er vereinte die schlimmsten Eigenschaften von Ärzten in sich, interessierte sich nur für die Diagnose, konnte nicht mit kranken Menschen umgehen. Marc hingegen hatte einen Schlafzimmerblick und ein ansteckendes Lachen, und hatte er schon mal erzählt, wie er einen Wettbewerb im Ziegenmelken gegen einen Einheimischen aus Montreux verloren hatte?

Also, ja. In Regans Erfahrung gab es immer Raum für Meinungsverschiedenheiten.

»Wie auch immer«, sagte die Psychiaterin. »Was macht deine ehrenamtliche Tätigkeit?«

»Läuft gut«, sagte Regan.

Die Ärztin meinte den Job als Museumsführerin, durch den Regan zumindest in das Reich der Kunst aufgenommen worden war, selbst wenn sie das Fach nicht mehr an der Uni studierte oder selbst künstlerisch arbeitete. Hin und wieder besah sie sich die Kunstwerke und spielte mit dem Gedanken, einen Pinsel zur Hand zu nehmen oder direkt nach der Arbeit Ton kaufen zu gehen. Ihre Hände wollten unbedingt beschäftigt sein, irgendetwas zu tun haben, aber jedes Mal, wenn sie sich in letzter Zeit hinsetzte, schien ihr Kopf einfach abzuschalten.

»Hast du schon darüber nachgedacht, was du als Nächstes machen willst?«

Als Nächstes. Die Menschen zerbrachen sich ständig den Kopf darüber, was sie als Nächstes tun könnten. Andere Leute waren stets dabei, ihre Zukunft zu planen, voranzukommen, und nur Regan schien zu bemerken, dass sich alle nur im Kreis drehten.

»Vielleicht gehe ich zur Kunsthochschule«, antwortete Regan. Eine sichere Antwort.

»Das ist eine Idee«, sagte die Psychiaterin anerkennend. »Und wie kommst du mit der neuen Dosierung zurecht?«

Neben dem Kühlschrank fristeten fünf durchsichtig orangefarbene Tablettendosen ihr Dasein. Regan schluckte drei morgens und drei abends (das Lithium nahm sie zweimal ein). Eines der Medikamente, ein Name, den sie sich wahrscheinlich niemals würde merken können, war noch relativ neu und ungefähr so schwierig hinunterzuschlucken wie bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit. Wenn sie vor der Einnahme nur wenig gegessen hatte, wurde ihr unweigerlich schlecht. Wenn sie diese Tabletten zu spät abends schluckte, waren ihre Träume so wild, dass sie beim Aufwachen nicht mehr wusste, wo sie war. Normalerweise blickte sie das Döschen grimassenziehend an, bevor sie schließlich nachgab, es öffnete, die Tabletten auf ihre Zunge legte und sie mit einem Schluck abgestandenem Champagner hinunterschluckte.