The Darkest Temptation - Danielle Lori - E-Book

The Darkest Temptation E-Book

Danielle Lori

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Beschreibung

Dieses Buch ist eine Dark Romance und wir empfehlen es für Leser:innen ab 18 Jahren. Bitte lest euch vorab die Triggerwarnung durch.

Das Mondlicht liebt sie. Aber nicht so sehr wie meine Schatten

Mila Mikhailova lebt in einem goldenen Käfig. Als Tochter eines erfolgreichen Investors genießt sie puren Luxus, doch wirkliche Freiheit hat Mila noch nie erfahren. Sie hat genug davon, behütet und belogen zu werden, und beschließt kurzerhand, allein in ihr Heimatland zu reisen, um herauszufinden, wer sie wirklich ist und woher sie kommt. Bereits an ihrem ersten Tag in einer neuen, fremden Stadt trifft sie auf ihn. Ronan Allister ist anders als alles, was Mila bisher zu kennen glaubte. Er ist die Dunkelheit - er ist das, was im Schatten lauert. Und dennoch löst jede Berührung seiner rauen tätowierten Hände ein Feuer auf Milas Haut aus, das sie nicht zu löschen vermag. Von ihrer ersten Begegnung an spürt Mila etwas hinter Ronans harter Fassade, etwas, dem sie sich einfach nicht entziehen kann. Doch ihre Liebe hat einen hohen Preis - und Mila merkt erst, als es bereits zu spät ist, dass sie keine andere Wahl hat, als ihn zu bezahlen ...

»Zwei einzigartige Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verwoben in eine packende Handlung voller Rache und Leidenschaft. Ein absolutes Muss für alle Fans von Mafia-Romance!« RHYTHMOFBOOKS

Der Abschlussband der MADE-Reihe von Bestseller-Autorin Danielle Lori

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Seitenzahl: 701

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Teil I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Teil II

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

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Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Danielle Lori bei LYX

Impressum

DANIELLE LORI

The Darkest Temptation

Roman

Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer

Zu diesem Buch

Mila Mikhailova lebt in einem goldenen Käfig. Als Tochter eines erfolgreichen Investors genießt sie puren Luxus, doch wirkliche Freiheit hat Mila noch nie erfahren. Sie hat genug davon, behütet und belogen zu werden, und beschließt kurzerhand, allein in ihr Heimatland zu reisen, um herauszufinden, wer sie wirklich ist und woher sie kommt. Bereits an ihrem ersten Tag in einer neuen, fremden Stadt trifft sie auf ihn. Ronan Markov ist anders als alles, was Mila bisher zu kennen glaubte. Er ist die Dunkelheit – er ist das, was im Schatten lauert. Und dennoch löst jede Berührung seiner rauen tätowierten Hände ein Feuer auf Milas Haut aus, das sie nicht zu löschen vermag. Von ihrer ersten Begegnung an spürt Mila etwas hinter Ronans harter Fassade, etwas, dem sie sich einfach nicht entziehen kann. Doch ihre Liebe hat einen hohen Preis – und Mila merkt erst, als es bereits zu spät ist, dass sie keine andere Wahl hat, als ihn zu bezahlen …

Liebe Leser:innen,

The Darkest Temptation enthält Elemente, die triggern können.

Wir möchten euch darauf hinweisen, dass dieses Buch eine Dark Romance ist und explizite Szenen, derbe Wortwahl, Darstellungen von Gewalt und Schilderungen von sexuellen Übergriffen enthält.

Hier findet ihr eine detaillierte Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Gebt bitte acht auf euch und lest diese nur, wenn ihr euch damit wohlfühlt. Hört beim Lesen auf euer Gefühl und wendet euch an jemanden, dem ihr vertraut, oder sucht euch professionelle Hilfe, wenn ihr merkt, dass es euch nicht gut geht.

Ihr seid nicht allein und wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Lesererlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für meine Mutter:

die stärkste Frau, die ich kenne

Playlist

Cry Like Me – Frances

Creep – Radiohead

Slow Dance – AJ Mitchell

Trampoline – SHAED

Liar – Camila Cabello

Cold Little Heart – Michael Kiwanuka

I See Red – Everybody Loves an Outlaw

Señorita – Shawn Mendes and Camila Cabello

Girl – Maren Morris

Someone You Loved – Lewis Capaldi

La La Land – Bryce Vine

Dance Monkey – Tones and I

TEIL I

1

Mila

Fernweh

(Substantiv) Sehnsucht nach einem entfernten Ort

Völlig außer Atem nach dem Spurt, ließ ich meine High Heels ins Gras fallen und ging, ohne stehen zu bleiben, barfuß über den gepflegten Rasen, bis ich den steinigen Uferdamm erklommen hatte und die kühlen Wellen meine Zehen und den Saum meines Abendkleids umspülten. Ich keuchte, während im Vollmondlicht Schweiß auf meiner Haut glänzte. Eine sanfte Brise zerzauste mein langes Haar und raschelte in den Palmen und in meinen Flügelärmeln aus Spitze, aber das Paradies engte mich genauso sehr ein wie der Dior-Gürtel, den ich trug.

Der Fünf-Meilen-Lauf war nicht genug gewesen, um das brennende Gefühl, das sich in mir ausbreitete, loszuwerden – obwohl mich das Meer wie immer zurückhielt.

Ich hatte Lust, mir die Perlen vom Hals und das Kleid in Fetzen zu reißen, wie es Cinderellas Stiefschwestern getan hatten, aber das würde nur eine Fassade zerstören, die ich schon so lange aufrechterhielt, dass ich mir nicht sicher war, was sich darunter befand. Also grub ich stattdessen meine Fingernägel mit ihren French Nails in meine Handflächen.

Es musste mehr geben als das, mehr als eine Welt hinter den Toren von The Mooring, aber der Wunsch nach mehr als einem Leben im Überfluss bereitete mir ein Schuldgefühl. Während ich auf die Biscayne Bay hinausblickte, den breiten, glitzernden Zufluss zum endlosen Meer, fühlte ich mich wie die Boje, die auf dem Wasser tanzte: der Strömung ausgeliefert und zugleich an ihren Ort gebunden.

Der einzige Unterschied war: Ich schwamm auf einem profanen Meer der Erwartungen.

Ich schloss die Augen und wiederholte Je vais bien. Tu vas bien. Nous allons bien. Mir geht’s gut. Dir geht’s gut. Uns geht’s gut.

Ich durfte nur ein paar Sekunden allein bleiben, bis Ivans vertraute Präsenz meinen Rücken streichelte. Er stellte sich neben mich, seine Anzugjacke berührte meinen bloßen Arm.

»Du kannst nicht einfach so davonrennen, Mila.« Ein russischer Akzent und Erschöpfung ließen seine Stimme rau klingen.

Eine gewisse Belustigung überkam mich bei der Vorstellung, wie mich Ivan durch die Straßen von Miami jagte, im Anzug und schlecht gelaunt, doch diese verschwand mit der nächsten Welle, die sich an den Felsen brach.

»Wenn du mir weiter wie ein Stalker folgst, entwickle ich noch Gefühle«, sagte ich trocken.

Er blickte mich böse an. »Du weißt, das ist mein Job.«

Ivan war mit meinem Papa nach einer seiner Geschäftsreisen nach Moskau zu uns gekommen. Damals war ich dreizehn und er acht Jahre älter als ich, und ich hatte ihn für den hübschesten Jungen gehalten, den ich je gesehen hatte. Ich hatte mich in seinen Akzent und seine begrenzten Kenntnisse der englischen Sprache verliebt und mich völlig blamiert, indem ich ihm überallhin in unserem geräumigen Zuhause im spanischen Kolonialstil gefolgt war.

Jetzt folgte er mir.

Eine Hand steckte in seiner Hosentasche, und die andere streckte mir eine kleine Samtschachtel entgegen. »Von deinem Papa.«

Ich starrte die Schachtel lange an, bevor ich sie nahm und öffnete. Blaue herzförmige Ohrringe. Papa sagte immer, ich würde mein Herz auf der Zunge tragen. Die Steine waren nicht echt. Er wusste, dass ich keine echten trug, nicht nachdem ich im frühen Teenageralter Blood Diamond gesehen hatte.

Das war nicht das erste Mal, dass er mir ein Geschenk überreichen ließ, nachdem er etwas, das mir wichtig war, verpasst hatte. Der Unterschied war, dass ich diesmal den aufkeimenden Verdacht nicht mehr beiseiteschieben konnte.

»Ich hoffe, du hast dir nichts verrenkt«, sagte ich.

Ivan warf mir einen fragenden Blick zu.

»Es ist ein anstrengender Job, Papas Geschenkeschublade zu durchwühlen.«

Seufzend strich er sich mit einer Hand durch sein blondes Haar. »Es ist ihm wichtig, Mila.«

»In letzter Zeit hat er eine wirklich interessante Art, das zu zeigen.«

»Er ist sehr beschäftigt«, bemerkte Ivan. »Das weißt du.«

Ich stieß ein unbestimmtes Geräusch aus. Mein Vater musste beschäftigter sein als der Präsident, um zu erklären, weshalb er sich in den letzten drei Monaten nicht hatte blicken lassen. Er hatte die letzten beiden Feiertage verpasst und jetzt meinen zwanzigsten Geburtstag.

Wir feierten meinen Geburtstag ausnahmslos jedes Jahr am selben Tisch im selben Fünfsternehotel. Papa bestellte Steak. Ich lächelte Enrique zu, dem Besitzer und Küchenchef, der die Bestellungen persönlich aufnahm, seit ich ein Kind war, und sie in etwas Gesundes fürs Herz verwandelte. Papa sollte auf seinen Cholesterinspiegel achten. Ich war beunruhigt; er argumentierte. Doch schließlich gab er nach.

Heute Abend hatte ich zwei Stunden mit Ivan und meiner makellosen Spiegelung in dem Porzellanteller dort gesessen. Bis die Gäste einer Geburtstagsparty am Nachbartisch in Jubel ausbrachen und sich meine Entschlossenheit in Goldkonfetti auflöste. Ivan machte eine Kellnerin an der Bar an, als ich aus dem Restaurant flüchtete und die fünf Meilen nach Hause rannte.

»Er war noch nie so lange weg, Ivan …« Ich verstummte und fügte dann hinzu: »Etwas stimmt nicht.«

Wie üblich kamen ihm die gleichen nichtssagenden Worte über die Lippen – sehr beschäftigt, wichtiger Geschäftsabschluss, bla, bla, bla. Ich blendete ihn aus, um einer vereinzelten Möwe dabei zuzusehen, wie sie über dem Wasser aufstieg. Ich beneidete sie um ihre Flügel; es erforderte Mut, sich aus einem Nest zu stürzen, ohne zu wissen, ob man fliegen konnte. Hier war ich, festgehalten hinter goldenen Toren von Dior und erfüllt von dem Wunsch nach Papas Anerkennung.

Mir war gar nicht bewusst, dass ich mich zum Gehen gewandt hatte, bis Ivan mich am Arm packte.

»Wohin willst du?«

»Nach Hause«, wollte ich schon sagen, aber etwas völlig anderes, das sogar mich schockierte, kam aus meinem Mund. »Nach Moskau.«

War der coole und gefasste Ivan Volkov etwa gerade bei den Worten erbleicht, oder bildete ich mir das nur ein? Er ließ meinen Arm los, und angesichts seiner wortlosen Intensität stand ich wie erstarrt auf dem nackten Stein.

»Nach Moskau«, wiederholte er langsam, als hätte er mich falsch verstanden.

Ich zog eine Braue hoch. »In die Hauptstadt Russlands? An den Ort, wo ich geboren wurde? Den …«

»Zamolchi.« Sei still. »Wieso willst du nach Moskau?«

»Papa lebt inzwischen im Grunde dort. Du weißt, dass er nicht auf seinen Cholesterinspiegel achtet. Was, wenn er krank ist und es vor mir verheimlicht?«

»Ich verspreche dir, er ist nicht krank.«

Angesichts seines ehrlichen Blicks glaubte ich ihm. Die Information erleichterte mich, sorgte aber für eine andere Befürchtung.

»Was, wenn er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt?« Ich hatte ein paar von Papas Geschäftspartnern kennengelernt, und es hatte nicht einen gegeben, mit dem ich gern allein gewesen wäre.

»Was glaubst du denn, was du ausrichten kannst, falls es so wäre?«

»Die Polizei kontaktieren.«

Ivan sah nicht gerade überzeugt aus. Nachdem er mich sekundenlang angeblickt hatte, warf er einen teilnahmslosen Blick auf die Bucht und stieß einen Seufzer aus, der etwas Angespanntes hatte. Als hätte ihn mein Plan, zur russischen Polizei zu gehen, sowohl amüsiert als auch verstört.

Er richtete den Blick wieder auf mich und schien nicht zu bemerken, dass die auflaufende Flut seine italienischen Loafer nass machte. »Du hast keine Ahnung, wie es dort läuft.«

Meine Finger schlossen sich fester um die Schmuckschachtel. Das traf nur zu, weil ich kaum Bewegungsfreiheit besaß, aber ich behielt den Konter für mich.

»Wenn du nicht aufpasst, Ivan, wirst du angesichts des großen Vertrauens, das du in mich hast, noch platzen.«

Er setzte eine ironische Miene auf und war meilenweit davon entfernt, zu platzen.

»Es ist Januar.«

»Ja, und?«

»Als wir letztes Jahr in Aspen waren, hast du dich über die Kälte beschwert. Es waren vier Grad.«

»Nur ein Inuit denkt, dass vier Grad nicht kalt sind«, erwiderte ich im Brustton der Überzeugung. »Abgesehen davon bin ich nicht so zartbesaitet. Ein wenig Kälte vertrage ich schon.« Es war der schlechteste Zeitpunkt für das Auffrischen des Winds, der eine Kaltfront vom Atlantik herbeitrug. Ich versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken – Ivan bemerkte es trotzdem.

Er zog seine Anzugjacke aus, legte sie mir über die Schultern und strich eine blonde Strähne hinter mein Ohr. »Du bist seit heute zwanzig. Du brauchst deinen Papa nicht mehr, um Händchen zu halten.«

Sein Kommentar versetzte mir einen Stich, aber ich fand nicht, dass ich zu viel verlangte. Ich wollte einfach nicht nur mit ihm und unserem Koch Borya, die beide dafür bezahlt wurden, hier zu sein, vor einem Weihnachtsbaum sitzen. Ich wollte mich nicht fühlen wie die Ballerina in der Spieldose auf meiner Kommode, die sich in einer erschöpfenden und ewigen Pirouette drehte, nur um jemandem zu gefallen, der mich allein gelassen hatte.

Zum Teil ging es aber gar nicht darum.

»Was ist mit deinem Date morgen?«

»Ich will nicht hingehen«, sagte ich und richtete meinen Blick auf die Bucht.

»Warum nicht?«

Ich suchte nach einem vernünftigen Grund, sagte aber nichts. Ivan würde denken, ich sei verrückt, wenn ich ihm die Wahrheit sagte.

»Dein Papa mag Carter.«

»Dann sollte er ihn vielleicht daten.«

»Mila«, tadelte er mich.

Seit Jahren ließ Papa durchblicken, dass er froh wäre, wenn Carter sein Schwiegersohn würde. Ich war mir sicher, dass es nur daran lag, dass sein Vater ein Geschäftspartner und berühmter Anwalt war, der zum alten Geldadel gehörte. Wie immer hatte ich Papas Drängen nachgegeben, und Carter und ich betrieben seit einem halben Jahr einen traditionellen Balztanz.

»Bestimmt wird er morgen die Frage stellen, nicht wahr?«, fragte ich völlig emotionslos.

Es hätte ein Witz sein sollen, das zu fragen, wenn man bedachte, dass wir nicht einmal monogam waren. Man brauchte nur TMZ einschalten, um herauszufinden, mit wem der fünfundzwanzigjährige Playboy Carter Kingston zuletzt geschlafen hatte. Aber er führte mich ins The Grande aus, ein Restaurant, bekannt für Heiratsanträge. Ich vermutete, sein Papa hatte ihn auf diese altmodische Idee gebracht, und meiner ebenfalls.

Ivan sagte nichts, aber sein Blick verriet mir alles, was ich wissen musste.

Ich nickte trotzdem innerlich, und der Gedanke, »Ja« zu sagen, zu wissen, dass ich das Wort über die Lippen bringen würde, war, als wäre ich in einem Glaskasten gefangen, aus dem langsam der Sauerstoff entwich, und ich schlug gegen die Wände, erstickend, hustend und um Luft bettelnd.

Ich verdrängte das Gefühl. »Carter wird noch immer hier sein, wenn ich zurückkomme.«

Ivan verharrte einen Moment lang schweigend, bevor er seine beste Karte zückte. »Du weißt, dass dein Papa das nicht gutheißen würde.«

Ich kaute auf meiner Lippe. Wenn ich früher darum gebeten hatte, auf eine der Geschäftsreisen von Papa mitkommen zu dürfen, hatte er das abgelehnt. Doch bereits als Kind bemerkte ich etwas in seinen Augen, ein Funkeln, das Nein nicht hätte bestimmter sagen können als ein lauter Befehl. Mir war noch nie erlaubt worden, auch nur einen Fuß auf russischen Boden zu setzen, so viel war klar.

»Ich weiß, aber er ist gerade nicht da, oder?«

»Du fährst nicht.«

Ich starrte ihn an.

Ivan meckerte vielleicht manchmal, aber er sagte mir nie, was ich tun oder lassen sollte. Es hieß immer »Ja, Mila«, »Natürlich, Mila«, »Wie du möchtest, Mila«. Scherz beiseite. Das war der liebestrunkene, schwertschwingende Westley in meinen Träumen. Worum es mir ging, war, dass er nie sagte: »Nein, Mila.« Ich wette, wenn ich eine Bank ausrauben wollte, würde er mitmachen, ohne Fragen zu stellen. Natürlich würde er mich danach bei meinem Vater anschwärzen, trotzdem würde er gemeinsam mit mir eine Skimaske aufsetzen.

Der Verdacht, dass ich so hart gearbeitet hatte, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen, tauchte ganz plötzlich auf, packte mein Herz und drückte es zusammen. Was hatte mein Papa in Russland zu verbergen?

Eine andere Familie?

Der einzige nachvollziehbare Grund, weshalb er so etwas womöglich vor mir verbarg, war, dass er mich nicht in ihrem Leben haben wollte. Und letztendlich auch nicht in seinem.

Je ne pleurerai pas. Tu ne pleureras pas. Nous ne pleurerons pas. Ich werde nicht weinen. Du wirst nicht weinen. Wir werden nicht weinen.

Die Konjugationen halfen nicht, und eine einzelne Träne lief mir über die Wange. Ivan hob mein Kinn an und wischte sie weg, und die sanfte Berührung seines Daumens hüllte mich in Wärme und Zufriedenheit. Etwas anderes füllte den Raum zwischen uns. Ein Sog. Eine Anziehungskraft. Ein gewisses Prickeln. An manchen Tagen, wenn ich alles besonders erstickend fand, war es stärker als an anderen.

Keiner von uns reagierte darauf.

Meine Ausrede war die Wahrsagerin, die ich aufgesucht hatte, als ich vierzehn war. In diesem romantischen Alter hatte ich sie gefragt, was meine Aufgabe im Leben wäre. Sie hatte die Stirn gerunzelt, sich hinter ihre Glaskugel gesetzt und mir dann gesagt, dass ich den Mann finden würde, der für mich bestimmt war, und dass er mir den Atem rauben würde. Es war eine typische Antwort, wie sie sie wahrscheinlich jedem erzählte, aber sie blieb mir im Gedächtnis.

Ich konnte in Ivans Gegenwart problemlos atmen.

Und in Carters, auch wenn ich mit ihm aus purer Langeweile herumexperimentierte. Ganz zu schweigen davon, dass er sehr überzeugend war.

Meine Zeit lief ab wie die letzten Körner Sand, die durch ein Stundenglas rieselten. Aber ich wartete noch immer. Auf mehr. Auf eine Vorstellung, die mir Madame Richie in den Kopf gepflanzt hatte.

Das war meine Ausrede.

Jetzt war ich neugierig zu erfahren, welche Ivans war.

Ich schmiegte mich an den Daumen, der über meine Wange strich und blickte blinzelnd zu ihm hinauf. »Wie kommt es, dass du mich noch nie geküsst hast?«

»Weil ich noch eine Weile am Leben bleiben möchte«, witzelte er.

Ich verzog einen Mundwinkel. Ich hatte noch nie erlebt, dass mein Papa seine Stimme erhoben hätte, und ganz gewiss nicht gegenüber Ivan, der praktisch wie ein Sohn für ihn war.

»Und der wahre Grund?«

Er schenkte mir einen ernsten Blick und ließ seine Hand sinken. »Reden wir nicht mehr über Moskau, okay?«

Ich nickte seufzend.

Ich sah ihm hinterher, wie er über den Rasen zum Haus hinaufging, und die Wellen und die Weite des Atlantiks fuhren mir mit einem Gefühl von Sehnsucht und Isolation vom Rest der Welt in die Knochen.

Mein Handy in der Tasche meines Kleids vibrierte, und ich war versucht, es zu ignorieren, doch schließlich griff ich danach.

Papa: Herzlichen Glückwunsch, mein Engel. Tut mir leid, dass ich nicht dabei bin. Alles wie gehabt. Wir feiern, wenn ich zu Hause bin.

Eine weitere Nachricht kam.

Papa: Viel Spaß morgen. Carter tut dir gut.

Ich steckte mein Telefon zurück in meine Tasche und tauschte meine Ohrringe gegen falsche blaue Diamanten aus. Ich stellte mir vor, wie sie glitzerten wie der berühmte Edelstein Heart of the Ocean, während ich hinabgezogen wurde, hinab ins Meer, wo ich für die Ewigkeit inmitten keuchender Atemzüge, Perlenketten und der einsamen Geräuschkulisse des Ozeans schweben würde …

Das war es, was mich überzeugte.

Morgen würde ich in Russland sein.

2

Mila

resfeber

(Substantiv) Das Herzrasen, bevor jemand eine Reise antritt

Ich watete durch einen Haufen Kleidungsstücke, eine Mischung aus unkonventionell und elegant. Was Ersteres betraf, fühlte ich mich fortwährend zum Kauf animiert, ohne die Sachen jemals zu tragen. Papa schien alles Gelbe und Unangepasste stumm zu missbilligen, und ich nahm Peace-Symbole ernst.

Bis jetzt, wie es schien, denn ich packte Farben, strahlender als die Sonne, in einen alten Cheerleader-Turnbeutel.

Ich war allerdings noch nicht ganz von The Moorings frei, also zog ich dementsprechend eine lockere Bluse, schmale Hosen mit Karomuster und weiße Stiefeletten an. Ich betrachtete mich im Spiegel: eine größere, weniger pinke Version von Elle Woods aus Natürlich Blond starrte zurück.

Auf dem Weg zur Tür blieb ich stehen, legte mein Perlenhalsband ab und warf es in meine Schmuckschatulle. Dann zog ich die Ballerina auf und ließ sie einsame Pirouetten drehen, bevor ich um drei Uhr morgens auf Zehenspitzen die Treppe hinunterstieg.

Als ich an Ivans Tür vorbeiging, hielt ich einen Moment inne, als ein sehr weibliches Stöhnen auf der anderen Seite erklang. Ivan war kein Don Juan, aber enthaltsam war er auch nicht. Während mein Vater abwesend war, war ich manchmal zum Frühstück runtergekommen und hatte eine halb nackte Frau in unserer Küche angetroffen. Es hatte mich nie wirklich gestört – meine kindliche Verliebtheit hatte sich längst verflüchtigt –, aber jetzt spürte ich einen Anflug von Ablehnung in meiner Brust.

Er wollte mich vorhin nicht einmal küssen, weil der Tod am Apparat war, und jetzt sagte er schmutzige Wörter auf Russisch zu irgendwem? Das störte mich am allermeisten. Er war so überzeugt davon, mich herumkommandieren zu können, dass er nicht einmal nach unserem Gespräch alarmiert war.

Meine Nerven lagen blank, als ich die Alarmanlage ausschaltete, wobei ich erwartete, dass Borya den leisen Piep hörte und bewaffnet mit einem Pfannenheber hereinkäme. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus, als niemand auftauchte, aber das war nur der erste Schritt, um allein von hier wegzukommen.

Ich schloss leise die Eingangstür, presste meinen Rücken dagegen und blickte auf den Bewegungsmelder an der Garagendecke. Wenn er aktiviert war, würde grelles Licht angehen wie ein Engelschor, und ein ohrenbetäubender Lärm würde erklingen. Der UPS-Bote hasste uns.

Ich hielt den Atem an, drückte die Tasche gegen meine Brust und trat direkt unter den Bewegungsmelder in der Hoffnung, seinen blinden Fleck zu erwischen. Kalter Schweiß brach auf mir aus, als es im Hof dunkel und still blieb.

Nachdem ich mich auf den Bauch gelegt hatte, robbte ich mit meiner Tasche im Armeestil mühsam zu den Büschen, wobei ich mich an den Pfad erinnerte, den ich als kleiner Wildfang benutzt hatte, um James Bond zu spielen. Damals war der Bewegungsmelder allerdings ein Laser, der mir, falls aktiviert, den Arm abgetrennt hätte. Jetzt war es die Missbilligung meines Vaters, die mich mit Blicken durchbohrte, was irgendwie noch schlimmer war.

Als ich auf der anderen Seite der Büsche wieder herauskam, stand ich auf, wischte mir die Hosen ab und joggte die gewundene Straße hinab. Ich bezweifelte, dass mir meine weiblichen Waffen an Carl, der etwas schmierigen Freitagnacht-Wache, vorbeihelfen würden, der bestimmt meinen Vater oder Ivan alarmieren würde, weshalb ich einen Umweg über einen Hinterhof machte, meine Tasche über den schmiedeeisernen Zaun warf und hinüberkletterte.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und bestellte eine Fahrt mit Lyft. Die drei Minuten Wartezeit waren die längsten meines Lebens. Mein Herz schlug unregelmäßig in Erwartung von Ivan, der mir mit offener Hose hinterhergerannt kam, oder eines missbilligenden Anrufs von meinem Vater. Doch keins von beidem geschah. Nicht bevor mich mein Fahrer aufsammelte und auch nicht, nachdem er mich am Flughafen abgesetzt hatte.

Unsicherheit zerrte an meinen Nerven, als ich das Menschengewühl und die Betriebsamkeit sah. Jeder schien zu wissen, wohin er wollte, die Augen leuchtend vor Freude über Urlaub und Freiheit. Ich fühlte mich fehl am Platz. Ich hatte noch nie zuvor meine Tasche selbst tragen müssen, ganz zu schweigen davon, allein zu reisen, aber meine Entschlossenheit drängte mich zum Ticketschalter.

Zum Glück bekam ich dank einer Last-Minute-Stornierung und meines gepolsterten Bankkontos – zu dem ein üppiges monatliches Taschengeld beitrug, weil mein Papa mir vertraute – den letzten freien Platz im Flieger, eingeklemmt zwischen zwei Jungs, die sich mit russischen Schimpfwörtern und Erdnüssen bewarfen. Ich wusste nicht, wo ihre Mutter war, aber mein Gefühl sagte mir, es war die Frau auf der anderen Seite des Gangs, die so tat, als existierten sie nicht.

Die nächtlichen Lichter von Miami verschwanden langsam, und der orangene Schimmer erlosch in der Dunkelheit und im aufgewühlten Wasser. Ich sah mir, meinem Publikum entsprechend, ohne richtig hinzuschauen zwei Filme mit kinderfreundlicher Altersfreigabe an, obwohl Dinge, die explodierten, auf ihren Bildschirmen aus der Mode kamen.

Zwölf Stunden später landeten wir in Moskau.

Als ich das Flugzeug verließ und auf die eisige Fluggastbrücke trat, erschauerte ich. Atmete ein. Atmete aus. Ich konnte meinen Atem sehen. Eine solche Kälte hatte ich in meinem ganzen Leben nicht erlebt. Sie drang in meine Lunge und stahl mir die Körperwärme mit eisigen Fingern. Ich hatte meinen Geburtsort kennenlernen wollen, aber ich hätte auch gleich in einen Eisschrank klettern können.

Als ich stehen blieb, um in meinen Mantel zu schlüpfen, rempelte mich jemand von hinten an. Ich drehte mich mit einer Entschuldigung auf den Lippen um, aber die kleine alte Dame mit einem Chihuahua in einer Korbtasche kam mir zuvor.

»Entschuldigen Sie, Liebes«, sagte sie mit britischem Akzent. »Ich habe Sie gar nicht gesehen.«

»Nein, es tut mir leid. Es war mein Fehler.«

Sie zog ihren Zobelpelz fest um sich und legte den Kopf schräg. »Sie kommen mir bekannt vor? Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Ähm, ich glaube nicht.«

»Nein … ich bin mir sicher, ich habe Sie schon mal gesehen.« Nachdenklich berührte sie ihre protzige Halskette aus Gold. Dann dämmerte ihr irgendetwas. Etwas, das sie dazu veranlasste, sich die Hand auf die Brust zu legen und mich von oben bis unten zu mustern, als wäre ich ein Flittchen.

Es wurde von Sekunde zu Sekunde merkwürdiger, aber bevor ich etwas sagen konnte, fuhr jemand einen Rollstuhl heran, und der winzige Hund in ihrer Tasche begann zu bellen. Während sie den kleinen Rupert zu beruhigen versuchte, entschuldigte ich mich noch einmal stammelnd und machte rasch einen Abgang.

Am Straßenrand vor dem Flughafen entfaltete ich ein Blatt aus einem Notizbuch, das ich in einer von Papas Schreibtischschubladen gefunden hatte. Ich hatte mich wie Nancy Drew gefühlt, als ich mithilfe von Google Translate herausgefunden hatte, dass das russische Gekritzel eine Adresse war, dazu eine Auflistung von Rechnungen, die er seit Jahren beglich. Ich hoffte, dass das keine Sackgasse war, weil ich nicht gewusst hätte, wohin, und ich war nicht bereit, gleich wieder zu Ivan zurückzukriechen.

Ich reichte dem Taxifahrer das Blatt, weil ich keinen blassen Schimmer hatte, wie man das fremde Alphabet las. Der finstere Blick des Fahrers begegnete meinem im Rückspiegel und hielt den Augenkontakt so lange, bis mir ein unbehaglicher Schauer über den Rücken lief.

Er fuhr vorbei an einem geschäftigen Industriegebiet zu einem ruhigeren Bezirk mit Straßen aus Pflastersteinen und alten, wunderschönen Stadthäusern, wo er vor einem lindgrünen Haus mit weißen Fensterläden hielt.

»Pyat’sot rubley.« Fünfhundert Rubel.

Ich bezahlte den Mann mit dem Geld, das ich am Flughafen gewechselt hatte.

Als ich aus dem Wagen stieg, griff ich nach meiner Sporttasche und zog den Gürtel meiner Caban-Jacke enger. Sie war perfekt gewesen für eine Cheerleader-Abschiedsreise nach Aspen im letzten Jahr, aber nicht gerade geeignet, um die bitterkalte russische Luft von meinem Körper fernzuhalten.

Das kalte schmiedeeiserne Tor quietschte, als ich es aufstieß. Ich ging den brüchigen Steinweg entlang, wobei ich vereisten Stellen und Schnee auswich, und klopfte an die Tür.

Eine ältere Frau mit ergrauendem blondem Haar, das sie zu einem Dutt gebunden trug, öffnete einen Moment später. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, als sie meinem Blick begegnete, und während sie mich anblickte, wich die Farbe aus ihren rosa Wangen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich brachte kein einziges Wort heraus, bevor sie mir die Tür vor der Nase zuschlug.

Ich schloss den Mund und spürte, dass sie das Ohr an die Tür gelegt hatte und darauf wartete, dass ich ging.

Als ich erneut klopfte, erklang ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem Aufschrei auf Russisch, wobei die Worte zu gedämpft waren, um sie verstehen zu können.

Die Tür öffnete sich erneut, diesmal tauchte ein dünner Herr in einem schwarzen Frack auf. Er schüttelte den Kopf und sagte leise etwas zu seiner Frau, so als glaubte er fest, dass sie wohl endgültig den Verstand verloren hatte. Sie versteckte sich hinter ihm und hielt dabei die Schürze in ihren Händen.

Als sich unsere Blicke trafen, erstarrte er, als hätte er einen Geist gesehen.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Zdravstvuyte.« Hallo.

Die Frau rannte davon.

»Ich bin Alexei Mikhailovs Tochter … Mila«, sagte ich zögernd und hoffte, er sprach ein wenig Englisch, weil ich, was meine Herkunft anging, eine Versagerin war.

Ich hatte schon vor Jahren den Wunsch aufgegeben, Russisch zu lernen, weil Papa stets behauptet hatte, es sei Zeitverschwendung, weshalb ich nur das gelernt hatte, was Ivan und Borya mir beigebracht hatten. Das umfasste Basiswissen, Gemüsesorten und Flüche.

Erleichterung huschte dem alten Mann übers Gesicht, und dann gab er ein seltsames Glucksen von sich. »Oh, natürlich. Sie haben uns ganz schön erschreckt.« Er trat zurück und winkte mich hinein. »Kommen Sie.«

Mit den eiskalten Händen in den Taschen trat ich ins Haus und warf einen Blick durch das Foyer. Ich erstarrte, als ich ihn dabei ertappte, wie er den Kopf zur Eingangstür hinausstreckte und in beide Richtungen schaute, bevor er sie schloss. Stand ich etwa kurz davor, der nächste Star von Medical Detectives in russischer Version zu werden?

»Das kann nicht gut sein«, murmelte er, schüttelte den Kopf und humpelte an mir vorbei. »Vera, kofe! Wir trinken in diesem Haus Instantkaffee. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«

»Natürlich nicht.«

Ich hasste Kaffee, aber ich würde fünf Tassen davon trinken, wenn es mir ein paar Antworten einbrachte.

»Setzen Sie sich doch, Mädchen.«

Ich stellte meine Tasche auf den Boden und nahm auf einem Sofa mit ausgeblichenem Blumenmuster Platz, während er sich in dem Sessel mir gegenüber niederließ. Ein knisterndes Feuer im Kamin erfüllte den Raum mit dringend benötigter Wärme, und Bücher und Krimskrams bedeckten sämtliche Regale. Der Raum war unaufgeräumt, aber trotzdem gemütlich.

Vera stellte zwei Tassen Kaffee auf den Holztisch zwischen uns und sah mich mit großen Augen an, bevor sie aus dem Raum floh, als wären Höllenhunde hinter ihr her.

Ich starrte ihr hinterher. »Gibt es einen Grund, dass sie solche Angst vor mir hat?«

Er winkte ab. »Sie ist abergläubisch.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du bist Tatianna wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir wussten nicht, dass sie ein Kind hatte. Nun, wir wussten es, aber wir dachten, du wärst kurz nach der Geburt gestorben. Ein Problem mit der Lunge, wie uns dein Vater erzählt hat.«

Ich wusste, dass meine Mutter jung gestorben war, doch ihren Namen kannte ich nur, weil das eine Mal, als Papa betrunken gewesen war, er mir gesagt hatte, dass ich seiner Tatianna wahnsinnig ähnlich sah. Ich fragte mich häufig, ob das der Grund dafür war, warum er, als ich älter wurde, immer weniger Zeit mit mir verbrachte.

»Meiner Lunge geht es gut.«

»Das kann ich sehen«, sagte der Mann leise lachend und nippte an seinem Kaffee. »Was führt dich in unsere Gegend?«

»Ich bin auf einer Art Mission …«

Er brummte missbilligend. »Kennst du nicht den Satz ›Neugier ist der Katze Tod‹? Du bist genau wie deine Mutter. Es gibt Dinge, die besser im Dunkeln bleiben.«

Ich hatte in meinem ganzen Leben nicht so viel über meine Mutter erfahren wie in den letzten Minuten. Endlich bekam ich ein paar Antworten. Und offensichtlich weitere Fragen.

»Wieso hat mein Vater Ihnen erzählt, ich sei tot?«

Er runzelte die Stirn. »Ist das nicht offensichtlich?«

Nein, das war es nicht. Überhaupt nicht.

Ich öffnete den Mund, um weiterzufragen.

»Doch jetzt genug davon. Ich dachte, dein Papa hätte dich vielleicht geschickt, doch wie ich sehen kann, hat er das nicht.« Er stellte den Kaffee ab. »Du musst gehen. Du hättest dir keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um herzukommen.«

Wieso glaubte jeder, ich bräuchte einen Babysitter? »Schon okay. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Niemand weiß, wie er im Angesicht von D’yavol auf sich selbst aufpassen soll.«

Der Teufel?

»Geh jetzt.« Beim Aufstehen zuckte er zusammen und rieb sich sein Knie. »Ich lebe zu gern, um dich zu beherbergen.«

»Ich kann jetzt nicht gehen«, weigerte ich mich und stand auf. »Ich weiß nicht genau, warum Sie glauben, ich sei illegal hier, aber ich verspreche, ich habe Papiere.« Ich wusste, dass Russland ein wenig mittelalterlich war, aber töteten sie wirklich Menschen für ein so harmloses Vergehen, wie ein unschuldiges Mädchen bei sich aufzunehmen?

»Pah. Ich rede nicht von der Regierung, Mädchen, sondern vom D’yavol.«

Ich starrte ihn an, und mir wurde klar, dass ich womöglich mit einem Verrückten sprach.

»Ich bin Agnostikerin«, sagte ich unpassenderweise.

Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Ich entdeckte Vera, die auf der Türschwelle stand und mich anstarrte, als wäre ich ein Möbelstück, das sich gerade von allein bewegt hatte.

Sie waren beide verrückt.

Sie ließ die Schürze, die sie umklammert hatte, los und verschwand erneut. Wahrscheinlich, um ihr schärfstes Hackmesser zu holen.

»Wieso hat Ihre Frau Angst vor mir, nur weil ich aussehe wie meine Mutter?«

Er blickte mich an, als wäre ich die seltsame Person. »Du siehst nicht nur aus wie deine Mutter.« Er ging hinüber zum Kamin und zog ein weißes Tuch von einem Porträt. »Du könntest sie tatsächlich sein, Mädchen.«

Die Frau in dem Bild lehnte an einem Flügel. Es musste vor Jahrzehnten gemalt worden sein, aber sie hätte auch ich sein können, wie ich heute hier stand. Das lange blonde Haar, die mandelförmigen Augen, die große und anmutige Gestalt, und die Alabasterhaut, die nie so richtig braun wurde.

Die Ähnlichkeit war so frappierend, dass ich Gänsehaut bekam. Sie hatte genauso ausgesehen wie ich, und trotzdem wusste ich nicht die simpelsten Dinge über sie. Ich starrte auf das Porträt, bis das Brennen in meinem Herzen und meinen Augen nachließ.

»Sie war ein Bild für die Götter, das kann ich dir sagen.« Er rieb sich das Kinn. »Aber eine solche Schönheit ist Fluch und Segen zugleich …« Er richtete seinen Blick auf mich, und etwas Ernstes und Resigniertes trat in seine Augen. »Sie landet immer in den falschen Händen.«

Eine Vorahnung befiel mich. Mein übertriebenes Vorstellungsvermögen erschuf eine Szene in meinem Kopf, in der ich um mich trat und schrie, während mich der Teufel hinab in die Hölle zerrte.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.

Ich fand es seltsam, dass sie das Gemälde meiner Mutter wie in vielen Geisterhaus-Filmen an der Wand gelassen hatten. Aber vielleicht staubte Vera einfach nicht gern ab.

»Wann ist sie gestorben?«, fragte ich.

»Kurz nach deiner Geburt, wenn ich mich richtig erinnere. Sie wurde krank, und es wurde nicht mehr besser. Das war ihr Zuhause. Dein Papa konnte sich nicht davon trennen, also passen Vera und ich gut auf das Haus hier auf.«

»Hat mein Vater nicht mit ihr zusammengelebt?«

Er schürzte bedauernd die Lippen. »Nein, Mädchen, dein Vater war verheiratet.«

Da war sie also. Die geheime Familie.

Oder vielleicht war ich ja das Geheimnis.

War das der Grund dafür, dass er Leuten erzählt hatte, ich sei gestorben? Damit er sein angenehmes Leben hier leben konnte, ohne dass ich ihm dazwischenfunkte?

Doch im Grunde wusste ich, dass das nicht stimmte. Papa war an mehr Feiertagen da gewesen als nicht – jedenfalls bis zum vergangenen Jahr.

Aber zu wissen, dass er so etwas vor mir geheim hielt, dass ich vielleicht Geschwister und Verwandte hatte, die ich nie hatte kennenlernen dürfen … Der Schmerz traf mich so hart, dass ich mich auf etwas anderes konzentrieren musste, um weiteratmen zu können. Ich zwang mich, meinen Blick auf das Porträt zu richten, und bemerkte das Kleid, das aus dem achtzehnten Jahrhundert stammen musste.

»Weshalb ist sie so gekleidet?«

Er zog die Brauen hoch. »Das weißt du nicht? Deine Mutter war Opernsängerin. Eine sehr … beliebte. Die Menschen erinnern sich noch immer an sie, deswegen musst du zurück nach Hause.« Er ergriff meine Tasche und führte mich zum Eingang.

»Ich habe noch nicht einmal meinen Kaffee getrunken«, protestierte ich.

»Du willst keinen Kaffee; du willst Geheimnisse lüften, die ich nicht preisgeben kann. Geh nach Hause, wo immer das sein mag, und komm nie wieder zurück.«

»Wissen Sie, wo ich meinen Vater finden kann?«

»Wahrscheinlich in Sibirien«, murmelte er, öffnete die Tür und ließ die Kälte herein.

Sibirien?

»Wieso sollte er …«

»Ich kenne weder seinen Aufenthaltsort noch seine aktuelle Telefonnummer, sonst hätte ich ihn bereits über dein Kommen ins Bild gesetzt.« Er warf meine Tasche auf die Veranda.

»Kann ich wirklich nicht bleiben?«

»Ich mag, wo mein Kopf gerade ist, auf meinem Hals nämlich.«

Ich zwinkerte. »Ist das ein Nein?«

Er stieß mich hinaus in die Kälte.

»Warten Sie«, sagte ich keuchend und wirbelte herum. »Können Sie mir wenigstens ein Taxi rufen?«

Er machte ein finsteres Gesicht. »Dann kann ich ebenso gut den D’yavol anrufen, damit er dich abholt.«

Ich starrte ihn an und dachte, dass ich es wahrscheinlich besser unterließ, das Wasser hier zu trinken.

Er schüttelte den Kopf.

Zum zweiten Mal wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.

3

Mila

schlimazel

(Substantiv) Eine Person, die Pech hat

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, fragte ich mich, was mit der guten alten russischen Gastfreundschaft geschehen war. Man hatte mir nicht einmal etwas zu essen angeboten. Beinahe gotteslästerlich, wie ich in dem russischen Haushalt, in dem ich groß geworden war, gelernt hatte, vor allem von einem Paar, das einen engen Bezug zur Religion zu haben schien.

Mit Papas Geheimnis, das mir auf der Seele lag, und der offensichtlichen Tatsache, dass ich hier nicht willkommen war, wollte der bemitleidenswerte Teil von mir gehorchen und einfach nach Hause zurückkehren. Aber wenn ich das jetzt tat …

Ich würde träumen.

Ich würde mir Fragen stellen.

Ich würde weiterleben.

Und ich wollte für eine Veränderung leben. Nur für ein paar Tage. Bevor mich The Moorings wieder in ihr trostloses Loch zerrten. Bevor ich Carter Kingston heiratete, zweieinhalb Kinder bekam und den Rest meines Daseins mit Mittagessen mit Freunden, pastellfarbenen Strickjacken und Perlenketten verbrachte.

Das schmiedeeiserne Gitter schwang in der eisigen Kälte auf und zu.

Quiiietsch.

Klong.

Quiiietsch.

Klong.

Ich hängte mir die Tasche über die Schulter, steckte meine tauben Hände in die Jackentaschen und marschierte los in der Hoffnung, irgendein Verkehrsmittel zu finden. Es war so kalt, dass ich in ein Taxi gestiegen wäre, auch wenn der Teufel persönlich am Steuer gesessen hätte.

Jetlag und Schlafmangel zerrten an meinen Muskeln. Ich hatte im Flieger kaum ein Auge zugemacht, hauptsächlich, weil die beiden Nervensägen neben mir die Jungsversion vom Duracell-Hasen waren.

Nachdem ich mein Handy aus der Tasche gezogen hatte, schaltete ich es zum ersten Mal seit meiner Landung in Moskau ein und fand dreizehn verpasste Anrufe und fünf Sprachnachrichten von Ivan vor.

Da übertrieb jemand wohl ein bisschen.

Ich las die Textnachrichten, die ich von ein paar Freunden und von Carter bekommen hatte, der unser Date um acht bestätigt hatte, es erneut bestätigt hatte, und nachdem ich es verpasst hatte, hoffte, dass alles in Ordnung war.

Ich hatte ihn versetzt.

Ich sollte mich schuldig fühlen, aber meine Brust fühlte sich leicht an, und zum ersten Mal seit Jahren fiel mir das Atmen leichter.

Es gab an Carter nichts auszusetzen. Unsere Beziehung war freundschaftlich und, auch wenn es mich ein wenig anstrengte, sogar schön. Aber wenn es zur Sache ging … das letzte Mal, als seine Lippen meine berührten, verbrachte ich den gesamten Kuss damit, in Gedanken französische Verben für meine bevorstehende Prüfung zu konjugieren.

Papa wusste nichts von den Online-Kursen, die ich belegt hatte. Er war vor Wut fast geplatzt, als ich darum bat, aufs College gehen zu dürfen, was bedeutete, dass er mich stumm anstarrte, als hätte ich darum gebeten, Nordkorea besuchen zu dürfen, bevor er »Nyet« gesagt hatte. Also hielt ich es für das Beste, meine Kurse geheim zu halten.

Die ersten vier Sprachnachrichten von Ivan klangen sehr nach ihm und waren unumwunden. Er informierte mich darüber, dass er um drei Uhr morgens in Moskau landen würde, und verlangte, dass ich in meinem Hotelzimmer blieb, bis er ankam. Bei der fünften allerdings sträubten sich mir die Nackenhaare.

Er stieß ein lautes Schnauben aus, dann einen Fluch, und ein dumpfes Geräusch war zu hören, als hätte er etwas einen Schlag versetzt. »Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast. Ich habe darauf vertraut, dass du nicht nach Moskau fährst.«

»Ich habe dir nichts versprochen«, murmelte ich vor mich hin.

Einen Moment lang herrschte Stille, und dann wurde sein flehentlicher Ton kalt und hart.

»Du willst endlich die Wahrheit wissen? Na schön. Wenn du Spielchen spielen willst und mir nicht sagst, wo du bist, Mila … bin ich ein toter Mann.«

Er klang so ernst, dass ich ihm tatsächlich glaubte. Einen Augenblick lang jedenfalls. Bestimmt dachte er nicht, dass mein Vater ihn umbringen würde. Das war eher ein verzweifelter Versuch, mich daran zu hindern, herauszufinden, dass er eine geheim gehaltene Familie hatte.

Zu spät, dachte ich bitter.

Aber ich war ein Schwächling, also rief ich ihn zurück, hinterließ eine Nachricht und befreite ihn von seinem Elend, nur um festzustellen, dass ich keine Balken hatte. Ich hob mein Handy hoch, drehte es um – die ganzen Tricks –, aber nichts. Mein Handy sollte in Moskau eigentlich funktionieren, aber ich hatte nicht gewusst, dass der Dienst so unzuverlässig war.

Mit einem Seufzen ließ ich mein Telefon in meine Manteltasche gleiten. Dann, als ich aufblickte, blieb ich stehen. Der Kies knirschte unter meinen Schuhen, als ich mich langsam umdrehte. Die Sonne war dabei, unterzugehen, und sie war zur Hälfte bereits hinter dem Horizont verschwunden. Nur ein zerfallener Wohnkomplex und ein paar Betonbauten umgaben mich.

Ich war völlig desorientiert.

Ich kämpfte gegen den Schauer an, der mich durchfuhr, und machte mich auf den Weg.

Der Wind pfiff.

Die Schatten wurden länger.

Und plötzlich vermisste ich Ivan ganz furchtbar.

Ich spürte ein Kribbeln im Nacken, das mir über den Rücken kroch. Es war das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich umklammerte meine Tasche fester und kämpfte gegen das Bedürfnis an, mich umzusehen, doch die Anspannung verwandelte sich in Furcht, die mir die Luft nahm, und ich konnte dem Wunsch nicht länger widerstehen.

Ein Mann – erkennbar an seiner Größe und seinem Gang – folgte mir. Er trug Jeans und einen dunklen Mantel, und sein Blick war auf die schwarzen Autofahrerhandschuhe gerichtet, die er anzog, obwohl ich irgendwie wusste, dass ich seine volle Aufmerksamkeit hatte.

Ich blickte wieder nach vorn, Kälte in der Brust.

Ein Windstoß peitschte meinen Pferdeschwanz, und ein Wort erklang flüsternd in meinem Kopf, das mich an einen stockfinsteren Raum und Gänsehaut denken ließ.

D’yavol.

Ich sah mich erneut um. Er kam mit jeder Bewegung näher, denn seine Schritte waren viel länger als meine. Er war jetzt nur noch wenige Meter entfernt, weshalb ich die gezackte Narbe in seinem Gesicht, die vom Ohr bis zum Kinn reichte, erkennen konnte. Der letzte Sonnenstrahl schimmerte auf einem silbernen Messer in seiner Hand.

Als ich wieder nach vorn blickte, keuchte ich schwer, und die Luft verwandelte sich vor meinem Gesicht in Nebel, während mir das Blut in den Adern gefror. Als geparkte Autos und Licht, das aus den Fenstern eines Gebäudes fiel, in Sicht kamen, ließ ich meine Tasche fallen und rannte los.

Meine langen Beine hatten mich immer an die Spitze der Meute beim Cheerleader-Training in der Highschool gebracht, aber die Füße, die auf dem Beton hinter mir auftrafen, waren jetzt ganz nah. Ich würde es nicht bis zur Eingangstür schaffen, weshalb ich die Richtung änderte und die Rückseite des Gebäudes ansteuerte in der Hoffnung, die Tür wäre nicht abgeschlossen.

Bitte, sei nicht abgeschlossen!

Ich blieb vor der Tür stehen, und sofort schlang sich eine der behandschuhten Hände um meinen Pferdeschwanz und zog daran. Ich schrie auf vor Schmerz, während ich rückwärtsflog. Mein Kopf schlug auf dem Asphalt auf, und hinter meinen Augen tanzten bunte Lichter.

Grobe Hände zerrten an meiner Kleidung.

»Nein«, stöhnte ich, aber mein Bewusstsein steckte in klebrigem schwarzem Schlamm fest und kam nicht heraus. Schmerz und eisige Luft umgaben meinen Körper und holten mich aus der Dunkelheit. Ich schlug mühsam die Augen auf.

Narbengesicht.

Dunkler Mantel.

Jeansbeine, die auf meinen Hüften saßen.

»Nein!«

Ich wehrte seine Hände ab, aber mein Körper reagierte nicht richtig. Mein Kopf – er fühlte sich an, als wäre der Schädel gebrochen.

Der Mann riss meine Bluse auf.

»Stopp«, schluchzte ich.

Das tat er.

Es dauerte einen Moment, um zu bemerken, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er hob meine Kette mit dem nautischen Stern an und sah beinahe verwirrt aus … oder ängstlich. Was immer es war, ich nutzte die Ablenkung, um ihm mit den Fingernägeln über die Narbe in seinem Gesicht zu kratzen.

Er wich zurück, um die Wunde zu bedecken, und fauchte: »Ty malen’kaya suka.« Du kleines Miststück.

Ich kroch unter ihm hervor. Er packte meinen Knöchel, aber ich trat mit dem anderen Fuß nach ihm und berührte etwas, das ihn vor Schmerz aufstöhnen ließ.

Während ich mich aufrichtete, kämpfte ich gegen die Benommenheit an, die mich befallen hatte, aber nicht von Dauer war. Mit einer verschwitzten Hand fummelte ich am Türgriff. Die Tür ging auf, und ich schlüpfte hinein, wobei ich als Erstes mit dem Gesicht gegen etwas stieß. Ich schlug es – ihn – so fest, dass die restliche Luft in meiner Lunge bei dem Schlag entwich. Ich fiel rückwärts, doch mit einem leisen Fluch auf Russisch schlang der Mann einen Arm um meine Taille, um mich zu stabilisieren.

Die Tür war gerade erst zugefallen, als ein Schwall kalte Luft verriet, dass sie erneut offen stand. Ich befreite mich aus der Umklammerung des Mannes und trat hinter ihn in der Erwartung, das Narbengesicht zu sehen, aber es war nur ein Junge, der eine weiße Schürze trug und eine Kiste Schnaps hereintrug.

»Potrebovalos’ vsego tri minuty, kak ya skazal«, kicherte er. »Andrei, ty dolzhen mne …« Er entdeckte mich und starrte mich an, wobei er auf Russisch murmelte: »Heilige Scheiße.«

Nachdem ich tief Luft geholt hatte, trat ich zurück und blickte mich um.

Irgendwo draußen in der Gasse hatte ich meinen Mantel verloren, und meine Bluse, unter der ich einen weißen Spitzen-BH trug, war aufgerissen. Es war, als wären meine Gedanken unter Wasser gefangen, und ich konnte nicht die Energie aufbringen, mir über mein Aussehen Gedanken zu machen, nicht einmal in Gesellschaft.

Rauch erfüllte den Raum, der von einer einzigen schwachen Glühbirne beleuchtet wurde. Die Regale waren mit Schachteln gefüllt, Holzkisten standen überall auf dem Boden herum, und drei Männer saßen an einem Klapptisch auf Klappstühlen und starrten mich stumm an. Einer kaute auf einem Zahnstocher, während sich ein anderer auf seinem Stuhl zurücklehnte und eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Seine Anzugjacke war aufgeknöpft, darunter ein weißes Hemd, keine Krawatte.

Ich hustete angesichts des Rauchs, der in der Luft hing.

»Potushi sigaretu.«Mach die Zigarette aus.

Der Befehl kam von hinten, von dem Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, und seine Worte auf Russisch streichelten meinen Rücken mit etwas Heißem und zugleich Kaltem. Es war diese Stimme, die eine Frau mit den Füßen voraus in die Dunkelheit ziehen konnte.

Der Raucher beugte sich nach vorn und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Während ich noch immer versuchte, Luft zu schöpfen, drehte ich mich um.

Barfuß war ich eins achtundsiebzig, aber ich stand nur auf Augenhöhe mit dem obersten schwarzen Knopf eines schwarzen Anzughemds, das sich über breite Schultern und muskulöse Arme spannte.

Ich blickte hinauf.

Und kurz bevor mich Schwindel befiel und die Kontrolle übernahm, dachte ich, er wäre attraktiv.

Attraktiv wie raue Hände, die Schreie ersticken, wie Menschen, die sich vor Königen verbeugen, und vor allem … wie ein Engel, der in Ungnade fällt.

4

Mila

viridity

(Substantiv) Naive Unschuld

Russische Stimmen, eine besorgt, eine rau und leise, krochen in mein Unterbewusstsein. Papa redete durchgehend Russisch, wenn er russische Gäste hatte, aber wieso waren sie in meinem Zimmer?

Es war seltsam.

Und unhöflich.

Ich seufzte und wollte mir die Bettdecke über den Kopf ziehen. Stattdessen glitt meine Hand über die vertraute Struktur einer von Papas Anzugjacken aus Wolle und Kaschmir. Aber etwas war anders. Diese hier roch nach Kiefer und Zimt mit einer Spur Zigarrenrauch. Etwas an dem Geruch war ganz unväterlich, und das überzeugte mich davon, die Augen zu öffnen.

Ich stöhnte, wobei ein scharfer Schmerz durch meinen Schädel schoss.

»Khorosho, ty vstala«, sagte ein silberhaariger Mann und zog einen hochlehnigen Lederstuhl von einem riesigen Mahagonischreibtisch zu mir. Eckige Brille. Weißes Hemd. Schwarze Hosen. Kalter Schweiß brach mir aus, als ich das Stethoskop um seinen Hals sah.

Manche Menschen hatten Albträume über Stürze oder übers Nacktsein in der Öffentlichkeit oder von Gespenstern. Meiner war, aufzuwachen, und ein Arzt stand über mich gebeugt. Ärzte waren so kalt und professionell, das Schnalzen von Latexhandschuhen und die Reflexion von Blut und Nadeln in ihren Augen.

Der Schmerz in meinem Kopf pochte im Rhythmus meines Herzschlags, als ich mich auf dem Sofa aufsetzte. Kalte Luft strich mir über meinen bloßen Bauch, und ich stellte fest, dass meine zerrissene Bluse teilweise von der Anzugjacke bedeckt wurde. Ich schlüpfte hinein und zog sie vorne zusammen.

Meine Gedanken wurden ganz wirr, als ich das maskuline, leicht heruntergekommene Büro betrachtete. Der Atem stockte mir, als mein Blick auf einen Mann fiel, der an dem Schreibtisch lehnte. Der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war. Der Mann, von dem ich einen Blick erhascht hatte, bevor ich zu seinen Füßen bewusstlos zu Boden gesunken war.

Auf einmal war alles wieder da.

Der Mann mit der Narbe.

Die Beinahe-Vergewaltigung.

Alles was ich gerade denken konnte, war, dass Moskau bisher wirklich scheiße war.

Der dunkelhaarige Russe erwiderte meinen Blick mit kühlem Interesse. Ich schluckte und sah weg, als der Arzt seinen Stuhl neben mich stellte und sich setzte. Ich beäugte den Koffer neben ihm misstrauisch, weil ich wusste, ich würde auf die Straße rennen, wenn er eine Nadel zückte.

Nachdem er mich näher betrachtet hatte, hielt der Arzt inne und legte den Kopf schräg. »Ty vyglyadish’ znakomo. My ran’she ne vstrechalis’?«

Meine Gedanken waren wie Brei. Er sprach zu schnell für mich, um irgendetwas verstehen zu können.

Der Doktor rückte seine Brille zurecht und betrachtete mich eingehend. »Mozhesh’ skazat’ svoye imya, dorogoya?«

Ich meinte, »imya« zu verstehen. Fragte er nach meinem Namen? Ich war mir nicht sicher, also blinzelte ich nur.

Er blickte mich besorgt an. »Ty dolzhen byl otvezti yeye v bol’nitsu.«

Ich verstand nur »bol’nitsu«. Das Krankenhaus. Jedenfalls war mir klar, dass seine Worte nicht mir galten, sondern dem einzigen anderen Mann im Raum. Der wie eine Ziegelmauer gebaut sein musste, gemessen daran, wie schmerzhaft es gewesen war, mit ihm zusammenzustoßen.

Auf den ersten Blick sah er wie ein Gentleman aus, als gehörte er in eine Vorstandsetage, von wo aus er durch deckenhohe Fenster auf die Welt hinabblickte. Doch wenn man ihn länger betrachtete, sprach alles an ihm dagegen – wie er am Tisch lehnte, wie er die Arme verschränkte, wie Schatten in seinen Augen kämpften, die Tattoos auf seinen Fingern. Ein machtvoller, vielleicht sogar gefährlicher Ausdruck lag in der entspannten Haltung seiner Schultern.

Er war die Verkörperung von Krieg, eingehüllt in einen teuren schwarzen Anzug, ohne Krawatte und Jackett. Ich wusste, dass ich es war, die es jetzt trug.

Als könnte er meine Blicke spüren, erwiderte er sie. Das Bedürfnis, wegzuschauen, war so intensiv, dass ich einen Juckreiz auf der Haut verspürte. Er erwartete nichts anderes. Doch etwas Fremdartiges und Gerissenes ließ mich standhalten. Den Blickkontakt mit ihm aufrechtzuerhalten fühlte sich an wie ein tödliches Spiel. Wie russisches Roulette. Ein Revolver und eine Kugel. Ein einziges falsches Zwinkern, und ich wäre tot. Aber es bewirkte auch einen Adrenalinstoß, so warm wie eine halbe Flasche UV Blue-Wodka und die Sonne von Miami.

»Poprobuy po-angliyski«, sagte er, den Blick auf mich gerichtet. Versuch’s mit Englisch.

Der Arzt runzelte die Stirn. »Mein Englisch ist nicht gut.«

Der andere Mann stieß sich vom Schreibtisch ab, kam näher und ging vor mir in die Hocke. Seine Hose streifte meine karierte. Die schwarzen Stiefel mit Zehenkappe waren ein Kontrast zu meinen weißen Rothy-Stiefeletten.

Er war kühl und berechnend, von seiner Art, sich zu bewegen, bis zu der Art, wie er seinen Blick auf mich richtete, obwohl etwas unfassbar Lebendiges in seinen Augen tanzte. Augen, die, wie ich jetzt erkennen konnte, nicht dunkel waren, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern von einem tiefen Dunkelblau. Dunkler als die herzförmigen Steine an meinen Ohren.

Ich wusste nicht, ob es meine Nerven waren, die sich plötzlich meldeten, oder seine Nähe oder die Folge von dem Aufprall meines Kopfs, aber die Worte entwichen mir, ohne dass ich vorher darüber nachdachte. »Es ist wirklich nicht angenehm, mit dir zusammenzustoßen.« Ich sagte das so ernst, als wäre es etwas, worüber er sich Gedanken machen müsste.

»Entschuldigung.« Er sprach mit russischem Akzent, und eine gewisse Belustigung lag in seinem Ton.

Ich starrte auf seine Lippen, auf die dünne Narbe auf der unteren. Das Wort hatte rau wie Wodka auf Eis geklungen. Und ich fragte mich, ob er auch wie Wodka schmeckte; ob er in meiner Kehle brennen und meinen Magen wärmen würde. Ich fühlte mich … seltsam. Meine Gedanken knallten wie eine Flipperkugel gegen meinen Schädel.

Ich öffnete meinen Mund, um mich zu erklären, aber alles, was herauskam, war: »Sie sind sehr russisch.«

Er strich sich mit dem Daumen über die Narbe auf seiner Unterlippe. »Sie sind sehr amerikanisch.«

Der Arzt rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sprach, aber ich konnte ihn angesichts der dröhnend lauten Präsenz dieses Mannes kaum hören. Er war eine Eklipse, die sich zwischen meinen Kopf und den Schmerz geschoben hatte, und wahrscheinlich auch vor die Sonne. Obwohl es erdrückend war, war es nicht unangenehm. Es war warm. Eindringlich. Weltlich. Eine königliche Blüte in einem Sündenpfuhl.

»Weißt du noch deinen Namen?«

Ich nickte langsam. »Mila … Mila Mikhailova.«

Der Arzt warf dem Mann vor mir einen strafenden Blick zu, aber dieser bemerkte es entweder nicht, oder es war ihm egal, denn er wandte den Blick nicht von mir ab, was meine Neugier weckte.

»Wie lautet deiner?«, fragte ich mit flachem Atem.

Er lächelte. »Ronan.«

Sein Name lag schwer in der Luft, bis der Arzt sich räusperte und etwas sagte, das ich nicht übersetzen konnte.

»Welcher Wochentag ist heute, Mila?«, fragte Ronan.

»Ich, äh … Frei…?« Ich unterbrach mich selbst, als er mit der Andeutung eines Lächelns den Kopf schüttelte. Ich versuchte es erneut. »Samstag?«

Der Doktor gab ein Hmm von sich, offensichtlich nicht begeistert davon, dass mir der Mann half. Keine Überraschung. Ärzte waren nie zum Scherzen aufgelegt.

»Wie viele Finger halte ich hoch?«, übersetzte Ronan.

Ich blickte auf seine andere Hand, die auf seinem Knie ruhte, auf die Tattoos auf seinen Fingern zwischen dem ersten und dem zweiten Fingerknöchel. Eins war ein Kreuz, das andere ein Rabe. Das dritte ein Herzkönig, der Karten spielte.

Tattoos und ein Déjà-vu.

Ich wusste nicht, was mit mir nicht stimmte, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn zu berühren, und strich mit dem Zeigefinger über seinen tätowierten Raben. Die geflüsterten Worte wurden von einer unwiderstehlichen Kraft meinem tiefsten Innern entlockt.

»Dunkelheit, und sonst nichts …«

Das Zitat verdichtete die Atmosphäre zwischen uns, als wäre sie in etwas Dickes und Dunkles wie Teer eingetaucht worden.

Ich wurde in einen Tunnel zurückversetzt, wo ich Edgar Allan Poe unter dem Schreibtisch meines Vaters las, das Gesicht schmutzig und mit schiefem Pony, den ich selbst geschnitten hatte. Papa sprach mit Ms Marta, der Hauslehrerin meiner Kindheit, ohne zu wissen, dass ich anwesend war. Er machte sich Sorgen über meine erfundenen Freunde und die fehlenden echten, über meine Introversion und mein mangelndes Interesse an Schulaufgaben.

Er dachte, etwas stimmte nicht mit mir.

Ich dachte das auch.

Das Flüstern im Flur schlängelte sich in mich hinein wie die Fangzähne einer Schlange und verströmte im Laufe der Jahre langsam sein Gift. Gift, das mich auf Kriegspfad zur Akzeptanz schickte.

Manchmal waren es die kleinen Dinge, die uns zu dem machten, was wir waren.

Bei Ronans ernstem und mitfühlendem Blick zog sich mir der Magen zusammen wie beim Klicken eines Abzugs. Ich erwartete nicht, dass er verstand, was ich sagte, aber er tat es. Ich wusste es.

»Sleduyushchiy vopros«, sagte Ronan. Nächste Frage.

Der Doktor runzelte die Stirn. »U tebya yest’ sem’ya, s kotoroy ya mogu svyazat’sya?«

»Wie alt bist du, moy kotyonok?«

An der Art, wie die Augen des Doktors missbilligend aufleuchteten, wurde mir klar, dass er den englischen Satz verstanden, er aber etwas anderes gesagt hatte.

Ich antwortete »Neunzehn«, bevor mir wieder einfiel, dass ich gestern ja zwanzig geworden war.

Der Arzt stieß nervös die Luft aus. »Devyatnadtsat. ›Yey devyatnadtsat‹.« Neunzehn. Sie ist neunzehn.

Ronan wandte noch immer nicht den Blick von mir ab. »Ya slyshal.« Ich hab’s gehört.

Ich hörte dem Wortwechsel kaum zu, weil ich mich zu erinnern versuchte, was »moy kotyonok« bedeutete. Mein was?

»Bist du … vergewaltigt worden, Mila?« Ich sah, wie das dunkle Blau seiner Augen schwarz wurde.

Einen Moment lang verwirrte mich seine Frage. Eine Wolke verdunkelte die gesamte Szene auf dem Weg, als wäre es jemand anderem passiert, und ich hätte bloß dabei zugesehen. Es schien nicht real zu sein, und als ich daran dachte, spürte ich nichts als leichte Verärgerung, was mich wahrscheinlich der gleichen verrückten Kategorie zuordnete wie die Mandanten meines Vaters.

Ich schüttelte den Kopf.

»Gut.«

Ein simples Wort mit drei Buchstaben, aber es blähte sich auf in dem Raum, als wäre es das Allerwichtigste. Seine Stimme war rau und sanft zugleich. So beherrscht und artikuliert. So sanft beim Sprechen, dass sie mir unter die Haut ging und die Anspannung in meinem Körper wie Butter schmelzen ließ. Ich wettete, Leute machten einen extra Umweg, um diesen Mann reden zu hören.

»Hast du irgendwelche Schmerzen außer am Kopf?«

Ich nickte, während ich ihn anblickte.

Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Wo?«

»An der Seite.«

Ronan richtete sich zu voller Größe auf. Während er und der Doktor sich unterhielten, betrat ein Junge – der eine Kiste Schnaps getragen hatte – den Raum mit meiner Reisetasche in Händen. Er ließ sie neben dem Sofa fallen und sah mich abschätzig an.

Ronan warf ihm stumm einen warnenden Blick zu. Der Junge schluckte und wandte sich zum Gehen.

»Kirill würde dich gern untersuchen, wenn du gestattest.«

Ich nickte.

Als Ronan zur Tür ging, stand ich auf, wobei mir die plötzliche Bewegung ein Schwindelgefühl verursachte.

»Warte«, platzte ich heraus. »Wohin gehst du?«

Er drehte den Kopf, um mich bedächtig anzuschauen. »Ich will dir ein wenig Privatsphäre geben, kotyonok.«

Ich biss mir auf die Unterlippe, weil ich nicht wusste, was mich dazu veranlasste, darum zu bitten. Ich war verwirrt. Und ich mochte wirklich keine Ärzte.

»Bitte bleib.«

Kirill seufzte und kniff sich in den Nasenrücken.

Nach kurzer Überlegung nickte Ronan einmal und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Es tröstete mich irgendwie, dass er bleiben würde.

Kirill stand auf, zog eine Taschenlampe aus der Tasche seines Anzughemds und überprüfte meine Pupillen. Er hörte Herz und Lunge ab und untersuchte meinen Hinterkopf. Mein Blick fiel immer wieder auf Ronan, der an seinem Schreibtisch lehnte und nichts anderes tat, als die Szenerie zu beobachten.

Als Kirill redete, lenkte ich meinen Blick auf ihn. Er musste bemerkt haben, worauf ich meine Aufmerksamkeit während der Untersuchung gerichtet hatte, denn sein Blick war voller Missbilligung.

»Du musst das Jackett ausziehen.«

Ich ließ das Revers los, und es glitt von meinen Schultern auf den Boden. Ein roter Bluterguss in der Form einer Hand entstellte meine Taille, was erklärte, weshalb mir die Rippen wehtaten. Ich konzentrierte mich jedoch auf das getrocknete Blut auf meinem Bauch. Jetzt bemerkte ich, dass es auch unter meinen Fingernägeln war.

Die gesamte Wärme in mir verschwand, und ein Prickeln lief mir über den Nacken.

Ich war Blut nicht gewohnt.

Ich stieß bebend die Luft aus. Der Magen drehte sich mir um. Der Raum verschwamm. Ich schwankte, und es wurde langsam schwarz in meinem Unterbewusstsein, bis ich ganz darin versank.

Als ich erwachte, hatte ich einen trockenen Mund, Kirills besorgter Blick auf und Ronan in der Hocke neben mir. Ich lag auf dem Sofa.

Als mir klar wurde, dass ich ohnmächtig geworden war, schloss ich erneut die Augen.

Als Kind hatte ich Panikattacken, bevor ich eine Spritze bekam oder mir Blut abgenommen wurde. Papa hielt mich bei diesen Prozeduren immer fest, bis ich schließlich ohnmächtig wurde. Noch heute würde ich einen gebrochenen Arm eher mit Klebeband fixieren, als zum Arzt zu gehen.

Ronan reichte mir eine grüne Dose Limonade, die Kirill ihm gegeben hatte. »Du wirst mir nicht noch einmal ohnmächtig, ja?«

Ich richtete mich langsam auf, schloss meine Bluse mit einer Hand und nahm mit der anderen die Dose. Nur ganz wenige Menschen wussten von meiner Phobie. Ich zwang mich, blutige Horrorfilme anzuschauen, um sie zu überwinden, aber das machte mich nur unempfindlich gegenüber Kettensägenfilmen, nicht aber gegenüber dem wirklichen Leben.

»Ich bin kein großer Fan von Blut«, gestand ich kleinlaut.

Er betrachtete mich neugierig, so als hätte ich etwas Amüsantes gesagt. »Interessant.«

»Tut mir leid. Du siehst wie ein beschäftigter Mann aus, und ich bin mir sicher, ich habe deinen Abend ruiniert.«

»Trink deine Limonade, kotyonok.«

Das tat ich. Das kalte Sprudelgetränk fühlte sich angenehm in meiner Kehle an. Ich leckte mir die trockenen Lippen und sah mich im Raum um, von Kirills Stirnrunzeln über den Riss im Wandputz bis zu dem zerfransten Teppich. Es war nicht gerade ein schickes Managerbüro.

»Ich werde dir alles erstatten«, sagte ich. »Den Arzt und …«. Ich blickte auf die Dose in meiner Hand, was Ronan amüsierte.

»Ich schreibe die Limonade mit auf die Rechnung«, sagte er.

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich seinen teuren Anzug völlig übersehen und geglaubt hatte, dass er sich den Hausbesuch eines Arztes nicht ohne Probleme leisten könnte. Plötzlich begriff ich, dass er nur mit mir spielte, und ich blickte ihn an.

Klick.

Es war kein Abzug, der betätigt wurde. Es war er, der auf einen Kugelschreiber in seiner Hand drückte.

»U nye sotryaseniye mozga, i ona dolzhna byt’ osmotrena v bol’nitse«, sagte Kirill.

»Er glaubt, du hast eine leichte Gehirnerschütterung«, übersetzte Ronan. »Die Symptome halten vielleicht ein paar Tage an.«

Vermutlich erklärte das meine merkwürdigen Gedanken und mein Verhalten. Doch ich fühlte mich schon ein bisschen besser mit etwas Zucker in mir. Der Mangel an Nahrung und Schlaf war wahrscheinlich auch nicht hilfreich gewesen.

Eine Ahnung machte sich plötzlich in mir breit. Kirill hatte erneut »bol’nitse« gesagt, nicht wahr? Ich musste ihn falsch verstanden haben, weil Ronan nicht über ein Krankenhaus gesprochen hatte. Ich würde aber sowieso in keines gehen.

»Würdest du ihm bitte in meinem Namen danken?«, bat ich. »Er hätte nicht extra wegen mir zu kommen brauchen.«

Ronan legte nachdenklich den Kopf schräg – klick – und sagte dann zum Doktor: »Ona ne khochet idti v bol’nitsu.«